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Die schwüle Hitze der Tage und die Schlaflosigkeit in den Nächten verzerren Vilgans Wahrnehmung und lassen ihn zunehmend an seinem Verstand zweifeln. Es gelingt ihm nur noch bedingt, Erinnerung, Gegenwart und Einbildung voneinander zu trennen. Und so gibt er sich diesem alles verschmelzenden Fiebertraum hin, der weder Ort noch Zeit kennt - sehr wohl aber das unabdingbare Ende.
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Seitenzahl: 340
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»Du hast aber auch vergessen, daß der denkende Geist eines jeden gleichsam ein Gott und ein Ausfluß der Gottheit ist;«
Marcus Aurelius Antoninus
›Selbstbetrachtungen‹
Zwölftes Buch, 26., Albert Wittstock
Vorspiel: Birrghs Leere
Kapitel 1: Der Geist im Nebel
Kapitel 2: Die große Isolation
Kapitel 3: Reich der Stille
Kapitel 4: Vom Verwesen einer Hoffnung
Kapitel 5: Bruch der Welten
Kapitel 6: Der Park
1. Zwischenspiel: Blind
Kapitel 7: Im Zwielicht
2. Zwischenspiel: Der Beobachter
Kapitel 8: Verwerfung der Dinge
3. Zwischenspiel: Drifter Yggh.713
Kapitel 9: Im Geflecht
4. Zwischenspiel: Konstrukt
Kapitel 10: Ort des Vergessens
Kapitel 11: Garten der Gefallenen
Kapitel 12: Der Baumwolf
Kapitel 13: Und Gott schwieg
Kapitel 14: Der Leuchtturm
Kapitel 15: Der Brief des Meeres
Kapitel 16: Die heilende Kraft des Ortes
5. Zwischenspiel: Zermürbung
Kapitel 17: Eisen und Porzellan
Kapitel 18: Studenten des Verfalls
6. Zwischenspiel: Auflösung
Kapitel 19: Die alten Adern der Stadt
Kapitel 20: Der Zar
Kapitel 21: Die gute Stube
Kapitel 22: Die Melancholie des Herbstes
Kapitel 23: Der Geist hinter den Dingen
Kapitel 24: Demut
Kapitel 25: Der gefüllte Schlund
Kapitel 26: Hüter der Pein
Kapitel 27: Durchatmen
Kapitel 28: Verborgen
7. Zwischenspiel: Von Lüge und Erkenntnis
Kapitel 29: Dorn der Zeit
Kapitel 30: Der schlafende Koloss
Kapitel 31: Die Halle der Erlösung
Kapitel 32: Bürde der Sonnen
Kapitel 33: Das Streben Gottes
Kapitel 34: Trakt der Angst
Kapitel 35: Sanftheit
8. Zwischenspiel: Der Trug der Akzeptanz
Kapitel 36: Die vergessene Trasse
Kapitel 37: Die Straße zur Wirklichkeit
Nachspiel: Von Fäden, die sich verlieren
Die Sterne, Galaxien und Cluster waren derart weit entfernt, dass sich ihr Licht so verlor wie die Wärme. Alles und nichts waren in dieser Schwärze vereint, in diesem raum- und zeitlosen Monstrum, aus dessen Schlund es kein Entrinnen gab.
Wo es in Boötes Void, Calderas Graben und Idex‘ Klamm – ja sogar im Mahlstrom des Lichts – immerhin vereinzelte Galaxien gab, füllte Birrghs Leere ein Nichts, das sogar den fortschrittlichsten Instrumenten standzuhalten vermochte; selbst ein Rogue Planet war in diesen Weiten so selten, dass er letztendlich gar nicht existierte.
Während man die Voids erforschte, tauchten die wildesten Spekulationen und Theorien auf, nur um widerlegt zu werden oder aus dem allgemeinen Bewusstsein zu verschwinden. Es gab keine Gärten aus Dyson-Sphären, keine hochentwickelten, verborgenen Zivilisationen und keine Übergänge in andere Universen. Es war eine Ödnis ohne Wüste, ein Wahnsinn ohne Gesicht und ein Abgrund ohne Boden.
Die Leere in diesen Räumen wurde jedoch unweigerlich von den furchtbarsten Dingen erfüllt, denn das Fehlen von allem bildete einen perfekten Nährboden für die Phantasie – genau wie die Schatten jenseits eines Lagerfeuers.
Es war Zeit.
Vilgan saß auf dem Balkon seiner Wohnung und spürte das klamme Polster der alten Couch unter sich. Irgendwo im grauen Dunst, der die Stadt, den Hafen und das Meer verschlungen hatte, hörte er ein Nebelhorn, den Ruf zum Aufbruch.
Er fühlte sich auf eine seltsame Art leicht, fast schwerelos, als wäre er in einem Traum oder gar Teil des Nebels; ein Geist im Nebel, eine untrennbare Einheit. Und da die Sonne noch Stunden benötigen würde, um sich durch das feuchte, kühle Grau zu brennen, konnte er die Gunst der Stunde nutzen und dem Ruf folgen. Er würde nichts weiter sein als eine Silhouette, ein flüchtiger Schatten.
Damit erhob er sich, griff den Rucksack, der neben der Couch am Boden stand, und ging in die Wohnung. Er schloss die Balkontüre, schulterte den Rucksack und schaute noch einmal in jedes Zimmer, nur um sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass er nichts zurücklassen würde.
Die Räume waren leer. Weder Möbel noch ein Bild an der Wand. Kein Buch in einer Ecke am Boden, keine Kerze und keine Decke. Er hatte bis auf die Couch auf dem Balkon, die Kleidung an seinem Körper und den spärlichen Inhalt des Rucksacks alles verkauft oder verschenkt, hatte nahezu jeden Vertrag gekündigt und Online-Accounts gelöscht. Selbst auf seinem Bankkonto lag nur noch ein kaum nennenswerter Restbetrag. Mit dem Verlassen der Wohnung würde er sich endlich auflösen und ein wirklicher Geist sein.
Er hatte lediglich darauf verzichtet, den Mietvertrag und die Verträge für die Versorgung mit Strom und Wasser zu kündigen. Ein fixes Datum für einen Auszug hätte ihm nämlich genau die Freiheit geraubt, die er an seiner Entscheidung so schätzte. Und damit würden diese wenigen Verträge schon bald die einzigen greifbaren Überbleibsel seiner Existenz sein.
In diesem Zusammenhang fragte er sich, wie lange es dauern würde, bis jemand feststellte, dass er nicht mehr hier war. Aber eine potenzielle Antwort hätte für ihn nicht bedeutungsloser sein können. Das Wichtigste war aktuell, den Zug zu erreichen und dem Plan zu folgen, die Stadt zu verlassen und weit in den Norden zu reisen, so tief in das grüne Herz der Wälder, dass es nicht einmal mehr einen Trampelpfad gab, diesen letzten Ausläufer der Zivilisation. Es war ein lautloser Ruf; etwas lockte ihn, und er hatte keine Ahnung, weshalb ausgerechnet in diese entlegenen Regionen.
Vilgan zog die Wohnungstüre hinter sich ins Schloss.
Der Flur des Hochhauses war still.
Er nutzte den Fahrstuhl, in welchem es nach Zigarettenqualm, Urin und blumigem Parfum roch. Die Wände, die Decke und sogar der Boden waren übersät mit Kritzeleien. Unten angekommen warf er seinen Schlüsselbund in den Briefkasten und verließ das Gebäude.
Er hatte kein Smartphone mehr und kein anderes elektronisches Gerät, mit dem er eine Spur hätte hinterlassen können. Zudem verschwendete er keinen Gedanken an Überwachungskameras, denn davon würde es weiter draußen auf dem Lande keine geben, schon gar nicht in den abgelegenen Tiefen der Wälder. Da es für ihn ohnehin ungewöhnlich war, eine solche Reise zu unternehmen, würden die Algorithmen nichts Verwertbares erzeugen können. Und selbst wenn, er hatte den zeitlichen Vorteil auf seiner Seite und so einen Vorsprung, der sein Verschwinden sicherstellte.
Im Laufe der letzten beiden Jahre hatte er sämtliche Kontakte mit immer weniger Aufmerksamkeit bedacht, um alles im Sande verlaufen zu lassen. Er hatte Freunden zunehmend mehr Ausreden geliefert, um sich nicht mit ihnen treffen zu müssen, und hatte E-Mails von Bekannten erst nach Tagen, Wochen und später sogar nach Monaten halbherzig beantwortet, nur um letztendlich weder auf das eine noch das andere zu reagieren. Das waren seine ersten Schritte gewesen, um ein Geist zu werden.
Während er sich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof machte und die feuchte, kühle Luft einsog, spürte er eine Ruhe und Klarheit, wie er sie gefühlt noch nie erfahren hatte.
Und so verschwand Vilgan im Nebel dieses Morgens, ohne dass jemand davon wusste.
Seine Gedanken wanderten ziellos umher, während er aus dem Fenster des Zugabteils sah und die Welt an ihm vorüberzog. Er dachte an die zersetzte Gesellschaft, die Perspektivlosigkeit, die in jedem Winkel der tristen, mit Müll und Kriminalität gefüllten Städte klebte. Er dachte an die Leute, die ein angebliches Anrecht auf alles besaßen und selbstbestimmt gegen all jene waren, die es wagten, eine abweichende Meinung zu vertreten, die nicht in das Muster aus Schwarz und Weiß passte. Er dachte an die Gehirnwäsche durch die Medien, an den erfolgreichen Verkauf von Lügen und Halbwahrheiten unter dem Deckmantel von Umweltschutz und Verantwortung. Er dachte an große Worte, die nichts enthielten, an das Bestreben, Kinder und Heranwachsende zu formen und sie zu willenlosen Konsumenten zu machen, die nicht bemerkten und nicht bemerken konnten, was um sie herum geschah. Jeder Wunsch war nur einen Tastendruck entfernt, jede Phantasie nur einen Klick. Man sollte zufrieden lächeln, während man immer weiter in den Abgrund getrieben wurde; dumm genug, um nicht zu rebellieren, jedoch schlau genug, um eventuell die eine oder andere Tätigkeit zu verrichten.
Es war alles so sinnlos. Auch diese Gedanken. Und trotzdem saß Vilgan nun hier und ließ all das und noch mehr durch seinen Kopf ziehen, ohne dass sich darin ein Nährwert für sein Hirn finden ließ; und genau diese Tatsache war ein Element der Summe, die ihn letztendlich zu seinem Plan veranlasst hatte. Er musste froh sein, den Irrsinn erkennen zu können. Auf der anderen Seite hatte ihn die Welt aber förmlich gezwungen. Entweder würde er sich auf diese Reise begeben oder er würde verrückt werden.
Natürlich konnte es ihm gleich sein, was um ihn herum geschah, solange es ihn nicht persönlich betraf. Aber er konnte die Ungerechtigkeit, den Schwachsinn und all das dazwischen nicht einfach wegwischen und ignorieren, auch wenn genau das für sein Seelenheil die beste Option gewesen wäre. Aber wie lange hätte er die künstliche Blindheit ertragen können? Wann hätte er so viel Groll in sich angehäuft, um jeden Augenblick explodieren zu können? Nein, die Augen zu verschließen war kein Weg, um mit den Dingen umzugehen. Dieser stille, unbemerkte Rückzug war die richtige Entscheidung. Eventuell handelte es sich dabei um Bestimmung, etwas, das so oder so eingetreten wäre, völlig unabhängig von äußeren Faktoren. Vielleicht war die Welt ja so, um Vilgan den vorherbestimmten Weg zu zeigen und einen gewissen Anreiz zu geben, alles hinter sich zu lassen.
Er konnte sich umschauen, doch nichts vermochte die Leere in ihm zu füllen, eine Leere, die er nicht herausschreien konnte, selbst wenn dabei seine Stimmbänder reißen würden, denn der Knoten in seinen Eingeweiden war zu fest. Er konnte nichts daran ändern und musste aus den Dingen seine Konsequenzen ziehen, denn das war der einzige Weg, um vernünftig damit umzugehen, sich nicht weiter unnötig aufzureiben und Erlösung und Frieden zu finden.
Die Gedanken waren ihm nicht neu, denn sie beschäftigten ihn schon seit vielen Jahren. Neu hingegen war aber die Entschlossenheit, mit der er aus dem Käfig ausbrechen wollte. Endlich hatten die großen und kleinen Hinweise und Sticheleien des Schicksals Früchte getragen und er wusste, dass er nichts von Bedeutung zurückließ. Er würde nichts verpassen und nichts vermissen. An diesem Punkt gab es nur noch ihn und diese Reise, eine Wallfahrt ohne konkretes Ziel – und ohne Wiederkehr.
Die dichte Wolkendecke über der Landschaft wollte nicht aufreißen. Vilgan hatte vielmehr den Eindruck, als würde das Grau zunehmend dunkler werden. Aber vielleicht sanken die Wolken auch nur tiefer, um die Welt zu erdrücken und zu verschlingen, weil auch sie es leid waren, den Irrsinn einfach zu erdulden.
Er atmete tief durch und sah in die Ferne, wo sich alles im Regen und im Nebel verlor.
War er glücklich? Einerseits könnte man argumentieren, dass er es nicht war, eben weil er hier in diesem Abteil saß und damit seine Absicht verfolgte. Andererseits hatte dieser Entschluss nicht zwingend etwas damit zu tun, schon gar nicht ausschließlich. Es war mehr Resignation als eine pure Reaktion auf widrige Lebensumstände und emotionale Instabilität. Letztendlich war es wohl eine Mischung aus allem; aber als unglücklich würde er sich keineswegs bezeichnen. Ihm war allerdings bewusst, dass jede Sache, an die er dachte und nach der er sich möglicherweise sogar hin und wieder sehnte, nichts weiter darstellte als eine Ablenkung, eine Unterhaltung, etwas, das den Fokus von seinem Selbst nahm. Aber im gleichen Moment würde er die Kontrolle abgeben, denn die externen Faktoren würden sein Innenleben bestimmen – es wäre eine Illusion, keine Wahrheit.
Vielleicht hatte er auch nur zu viele Werke gelesen, die sich mit stoischer Philosophie befassten, und deshalb den Blick für das Wesentliche verloren. Aber was war das schon? Niemand hatte eine allumfassende Lösung, die ein erfülltes, zufriedenes Leben garantierte. Und wo wären Kunst und Medizin ohne Leid?
Vilgan sah auf seine alte Armbanduhr. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er den Bahnhof erreichte, wo er umsteigen musste. Dabei hoffte er, ein ebenfalls leeres Abteil vorzufinden, zumal er die ganze Nacht unterwegs sein würde. Aber er war guter Dinge, denn aus irgendeinem Grund waren die Bahnhöfe, an denen dieser Zug bisher gehalten hatte, beinahe wie ausgestorben; so wie die Straßen, die sich im Dunst jenseits der Fensterscheibe abzeichneten. Und vielleicht bildete er sich das auch nur ein, da er zu lange in der Hektik der Großstadt gelebt hatte, ohne sie wirklich zu verlassen.
Der Zug rollte ratternd dahin, symbolisch für das Leben, das genauso leer war. Leer und bedeutungslos in Anbetracht der Dimensionen und Mächte des Universums. Allerdings war ihm auch klar, dass nicht jeder so denken konnte, denn sonst hätten sich nie irgendwelche Dinge in der Welt bewegt, gleich ob positive oder negative.
Während weitere Gedanken und Ortschaften vorüberzogen, zeigten sich schrittweise hellere Stellen im Grau der Wolken, die sich zaghaft zu kleinen Rissen entwickelten, welche das freundliche Blau des Himmels darüber durchscheinen ließen. Doch so schnell die farblichen Akzente auftauchten, so schnell wurden sie auch wieder verhüllt. Da aber Zahl und Größe wuchsen, bekam die Welt dort draußen langsam ein viel freundlicheres Gesicht. Der Regen ließ nach und irgendwann riss der Wind die letzten Wolkenfetzen auseinander. Was blieb war ein sonniger Tag und das Funkeln der Wassertropfen und nassen Stellen, was allem einen fast magischen Schein verlieh. Vom Asphalt der Straßen und den Dächern der Häuser stieg Dampf auf, der sich schnell verflüchtigte.
Vilgan betrachtete die Felder mit ihren Hainen und kleinen Ortschaften im Hintergrund und spürte dabei eine angenehme, innere Ruhe. Nach einer Weile wanderte sein Blick über die ländliche Gegend, ohne dass er auch nur einen Gedanken hatte; natürlich war ihm das in diesem Moment nicht bewusst.
Und so verstrich die Zeit, während in der Ferne immer wieder das Funkeln des Meeres zu sehen war.
Mehrere Stunden des Marschierens hatten Vilgan immer weiter von den letzten Häusern der kleinen Ortschaft weggeführt, die lediglich zweimal am Tag via Bus mit der nächsten Stadt verbunden war. Diese Gegend war derart abgelegen, dass es nicht einmal einen Laden gab. Die Annehmlichkeiten lösten sich so auf wie der Asphalt unter seinen Füßen.
Die Straße war mittlerweile nichts weiter als eine knirschende Ansammlung von Geröll, das längst nicht mehr unter all dem Gras und Moos erkennbar war und sich nur hin und wieder durch Geräusche und das Gefühl unter Vilgans Sohlen bemerkbar machte. Selbst die Bäume hatten die einstige Schneise durchbrochen und aufgelöst. Ob man hier draußen eine weitere Siedlung geplant und das Vorhaben kurz vor dem ersten Spatenstich aufgegeben hatte?
Er besaß ein paar Flaschen Wasser und mehrere Packungen Energieriegel als Verpflegung. Zudem hatte er einen Regenponcho, einen dünnen Schlafsack und eine Unterlegplane in seinem Rucksack. Es ging um den Zweck, nicht um Bequemlichkeit, zumal er nicht einmal wusste, wie weit er in die Wälder vordringen musste, um ihrem Ruf zu dem unbekannten Ziel zu folgen. Er hatte keine Karte und entsprechend keine Ahnung, was ihn im Detail erwartete. Er verließ sich lediglich auf seinen Kompass, um die Richtung gen Norden beizubehalten, und auf das Wissen, das er sich bei der Planung dieser Reise angeeignet hatte. Er wusste, dass der hinter ihm liegende Ort der letzte Außenposten der Zivilisation war, den es hier oben gab. Vor ihm erstreckten sich ausschließlich endlos weite Wälder bis hinauf zur Küste, die laut seinen Recherchen derart schroff war, dass es in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden niemand gewagt hatte, dort ein Lager aufzuschlagen, sesshaft zu werden und eine Gemeinde zu gründen.
Während er sich durch das teils hüfthohe Gras kämpfte und hoffte, bald das Unterholz des Waldes zu erreichen und dort etwas besser voranzukommen, begann die Sonne damit, sich langsam dem Horizont zu nähern und immer längere Schatten auf die Gegend zu legen. Er hielt immer wieder kurz inne, lauschte und sah sich um, denn er wusste nicht, was die Leute dachten, die ihn gesehen hatten, und ob ihm jemand folgte. Es dürfte mehr als ungewöhnlich sein, dass sich eine Person an diese Stelle auf der Landkarte verirrte. Aber es hatte keiner nach ihm gerufen, ihn angehalten und Fragen gestellt. Allerdings musste er durchaus damit rechnen, dass sich hier draußen ein Jäger aufhielt, der für ein paar Tage die Wildnis durchstreifte, um genau das Tier zu erlegen, für das sich diese Strapazen lohnten.
Irgendwann realisierte Vilgan, dass er nur noch vereinzelte Vögel in der Ferne hörte. Er war umgeben von dem geheimnisvollen Raunen, dem Flüstern der Baumkronen und dem Rauschen und Rascheln von Gräsern und Büschen; die Zivilisation war verstummt. Zeitgleich zog sich das Grün am Boden immer weiter zurück und schaffte Raum für das schattige Graubraun des Waldes. Zwar lockerten Teppiche aus Moos und Inseln mit Gräsern und bunten Blumen die zunehmend erdrückende Tristesse auf, doch selbst ein Meer aus Farn konnte nicht davon ablenken, dass sich Vilgan in eine Abgeschiedenheit vorwagte, welche selbst die Natur zu meiden schien. Nur die Bäume hielten der Veränderung stand, mit ihren knochigen Wurzeln fest im steinigen Boden verankert.
Er konzentrierte sich vermehrt darauf, einen geeigneten Platz für die Nacht zu finden. Zwar gab es immer wieder abgeknickte und entwurzelte Bäume, die einen gewissen Schutz geboten hätten, doch er war sich sicher, noch etwas Besseres zu finden. Ferner musste er berücksichtigen, dass es hier draußen durchaus Wölfe und andere gefährliche Tiere gab, vor denen er sich definitiv zu einem gewissen Maß während der Nacht schützen musste. Obwohl es sein letzter Weg war, wollte er sich keinesfalls zerfleischen lassen und so unkontrolliert aus dem Leben scheiden.
Ob es Zufall war, ließ sich nicht sagen, als Vilgan etwas Gräuliches zwischen den Baumstämmen ausmachte, das sich nach ein paar Minuten als alte Bushaltestelle entpuppte. Diese bestand aus mehreren riesigen Schachtringen, die übereinandergestapelt und mit einer Betonplatte abgedeckt worden waren. Der Zugang war nichts weiter als ein grober Durchbruch, wobei man die eiserne Bewehrung so weit zurückgearbeitet hatte, dass keine Verletzungsgefahr bestand. Im Inneren befanden sich zwei U-Steine aus Beton als Sitzgelegenheit. Moos hatte sich auf dem von der Witterung an manchen Stellen brüchigen Beton ausgebreitet. Ein paar Pflanzen wuchsen in dem eigenwilligen Bushäuschen. Sie blieben aufgrund des Mangels an Sonnenlicht und Wasser jedoch kümmerlicher als ihre Verwandten außerhalb.
Vilgan betrachtete das verrostete Schild neben der Haltestelle. Die verbliebenen Lacksplitter ließen nur noch eine Ahnung zu, wie es vorher ausgesehen haben mochte, während der laminierte Plan darunter bis zur Unleserlichkeit verblichen war; er hatte sich so aufgelöst wie die Straße. Und nun befand sich dieses ungewöhnliche Häuschen so tief in dem Wald und fernab von allem, dass es wie zufällig platziert wirkte. Möglicherweise war er seit Jahrzehnten die erste Person, die einen Fuß an diese Stelle setzte.
Er umrundete die Schachtringe und entschied, die Gunst der Stunde zu nutzen und hier sein Nachtlager aufzuschlagen. Für Vilgan war es mehr als eine Laune des Glücks, dass er auf das Bushäuschen gestoßen war. Er musste nur ein paar Äste und Zweige heranschaffen, um den Zugang zu sichern, und schon wäre er bereit für eine längere Ruhepause, und das ohne die Sorge, alle Richtungen auf einmal im Auge behalten zu müssen.
Als die Farben des Tages immer mehr verblassten, zog sich Vilgan in den Unterschlupf zurück und verbarrikadierte den Zugang von innen mit größtmöglicher Sorgfalt. Es ging nicht um einen perfekten Schutz. Größere Tiere, die ihm potenziell gefährlich werden konnten, sollten lediglich genügend Lärm verursachen, um ihn aus dem Schlaf zu reißen und ihm die Möglichkeit zu geben, nach dem Ast zu greifen, den er gefunden hatte und welcher sich perfekt als Knüppel eignete.
Es dauerte nicht lange, bis er in eine Zwischenwelt aus Traum und Realität glitt, wo sich Erinnerungen und Phantasie vermischten und Sekunden in seinem Unterschlupf zu Stunden und Tagen in der nicht greifbaren Welt in seinem Kopf wurden.
Er betrachtete die von ihm entworfene und in seinem Wagen installierte Vorrichtung, mit der er dicht auffahrende Autofahrer filmen und das Bildmaterial automatisch analysieren lassen konnte, um dann unter Einberechnung von Brechungswinkeln ein Sperrfeuer aus Laserstrahlen zu entfachen, um die Person am Steuer erblinden zu lassen. Zusätzlich gab es kleine Behälter, die von der hinteren Stoßstange verborgen wurden und in denen sich selbstgebaute Krähenfüße befanden. Auf Knopfdruck öffnete sich der jeweilige Behälter und gab zwischen 7 und 9 Krähenfüße in unterschiedlichen Größen frei, um vom kleinen Fahrzeug bis hin zu den größten Sattelschleppern alles fahruntüchtig zu machen.
Vilgan sah durch den Türspion und betrachtete die zwei Männer, die sich für Mitarbeiter eines Telefonanbieters ausgaben. Er öffnete und begrüßte sie freundlich. Sie erzählten ihm irgendetwas, das ihn nicht interessierte und dem er nicht einmal folgte. Er meinte, er würde sich mit all der neuen Technik nicht auskennen und ob sie eventuell sein Telefon und seinen Router sehen wollen würden, um sich ein genaueres Bild machen zu können.
Als die Männer in der Wohnung waren, ließ er die Türe hinter ihnen ins Schloss fallen. Zeitgleich schlug er dem Mann, der ihm am nächsten war und welcher mit dem Rücken zu ihm stand, mit dem Hammer, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Hinterkopf. Er spürte, wie der Knochen nachgab und das Metall in die warme Weichheit des Hirns eindrang.
Während der Mann seltsame Geräusche von sich gab und mit dem Hammer im Kopf zusammenbrach, verrieten die Augen des anderen, dass dieser nicht begriff, was hier eben geschah.
Die Szene wechselte, ehe Vilgan den zweiten Mord beging.
Er saß in einem Büro. Sein Vorgesetzter hinter dem Schreibtisch erzählte vom Erfolg der Firma und dass jeder, sogar Vilgan, Teil dieser herausragenden Leistung war, man aber trotzdem weiterhin alles geben müsse, um nicht das aufgebaute Bewegungsmoment zu verlieren und von der Konkurrenz eingeholt zu werden.
Statt über den Sachverhalt nachzudenken, fragte sich Vilgan, wie der Mann reagieren würde, wenn er sich nun mit einem Teppichmesser die Halsschlagader durchtrennen würde. Wäre sein Chef entsetzt? Oder würde dieser für das nächste Gespräch einfach den Raum wechseln? Lagen in den anderen Büros vielleicht schon seine leblosen Kollegen?
Und wie er all die Zeit über eine Maske tragen und die Fassade aufrechterhalten konnte, verwunderte und entsetzte Vilgan zugleich. Er konnte wirklich jedem ein Schauspiel liefern. Niemand ahnte etwas von seinen Plänen und den Dingen, die in ihm brodelten.
„Ein Mann sollte im Leben ein Gemälde in Öl erschaffen, eine Vision seiner tiefsten Schrecken“, sagte der undefinierte Schatten in der Ecke des Zimmers. „Und ein Mann sollte einen anderen töten.“
Die Dinge flossen ineinander und Vilgan war sich nicht sicher, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Einbildung lag. War er ein Mörder und auf der Flucht? Oder handelte es sich lediglich um Phantasien, die jedem irgendwann einmal durch den Kopf gehen, ohne zwangsläufig eine tiefere Bedeutung zu haben?
Irgendwann hatte er damit begonnen, Menschen als Charaktere zu betrachten, denen er in einem Videospiel begegnete. Die Existenz der meisten Leute hatte keinen Einfluss auf sein Leben. Andere waren unerreichbar, obwohl sie politische Ausrichtungen und wirtschaftliche Aspekte bestimmten und damit aktiven Einfluss auf die gesamte Gesellschaft hatten. Und wieder andere konnten eine positive Wirkung auf sein Leben haben, wenn er ihnen nur wohlwollend begegnete.
Seit er sich mit dieser Herangehensweise an die Geschehnisse in der Welt angefreundet hatte, kam er weitaus besser mit dem alltäglichen Irrsinn zurecht. Das wollte ihm allerdings nicht immer gelingen, denn schließlich war er keine Maschine – und kein Psychopath.
Vor ihm lag ein Tunnel, der sanft in einem Bogen nach unten verlief und sich in der Ferne verlor. Er blickte hinter sich, wo der Tunnel weiter anstieg und ebenfalls kein sichtbares Ende besaß. Die dreckigen Neonröhren an den Wänden legten ein rostiges, schattenloses Licht auf den Beton.
Der Asphalt hatte weder Fahrbahnmarkierungen noch Verfärbungen, die auf eine Benutzung durch Fahrzeuge hingewiesen hätten. Auch sah er keine Bordsteinkanten oder durch Beleuchtung klar hervorgehobene Fluchtwege. Es gab kein einziges Geräusch und nicht den geringsten Lufthauch.
Vilgan fragte sich, wie viele Meter ihn von der Oberfläche trennten. Erhoben sich über dem Gewölbe mächtige Berge? Lag über ihm ein See? Oder gar ein Meer?
Er wusste nicht, wie lang der Tunnel war oder wohin er führte, allerdings stand zugleich fest, dass er nicht einfach hier stehen bleiben und auf ein Wunder hoffen konnte. Also lief er los.
Hinter ihm sangen zahllose Vögel, während vor ihm die Sonne den Horizont in ein flammendes Meer verwandelte. Nur wenige Wolken waren am Himmel zu sehen, doch diese reichten aus, um das Licht helle und dunkle Streifen zeichnen zu lassen. Vor ihm erstreckte sich ein frisch umgepflügter Acker, lehmig, dunkel und feucht. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet. Bei genauerer Betrachtung musste Vilgan allerdings feststellen, dass es sich nicht nur um Brocken von aufgerissenem Erdreich handelte, sondern auch um von Dreck verschmutzte Körper, verrenkt, zusammengepresst und sonderbar verdreht, als bestünden sie aus einem elastischen Kunststoff. Er konnte keinerlei Gesichter ausmachen, aber auch keine Hände oder Füße, lediglich Teile, die an Arme, Beine und Torsi erinnerten – und irgendwie an wilde, riesige Wucherungen. Die erkennbaren Elemente sahen menschlich aus, auf den zweiten Blick jedoch völlig fremdartig.
Plötzlich blendete ihn die Sonne und er musste die Augen zusammenkneifen, während die Vögel in den Baumkronen lauter zu singen schienen.
Er folgte einem Trampelpfad durch einen toten Wald. Die dicht stehenden Bäume und Gehölze hatten ihre Rinde abgeworfen und ragten nun wie Knochen zum zunehmend dunkler werdenden Himmel. Er trat zwischen Gras und Moos immer wieder auf Brocken und Schollen aus Asphalt. Die Bäume schienen immer mehr zu werden und stetig näher zu kommen, als würden sie ihn dazu drängen, sich zu beeilen, um möglichst schnell von hier zu verschwinden. Eventuell wussten sie aber auch, dass die Zeit gegen sie selbst arbeitete, weshalb sie alles daran setzen mussten, um ihn nicht entkommen zu lassen.
Vilgan erreichte kurze Zeit später eine Stelle, an der ein zweiter Pfad den seinen kreuzte. Er blieb stehen und sah nach links, wo sich der Weg hinter einer Biegung verlor. Längst standen die Bäume so dicht, dass sich ihre Kronen über dem Pfad durchdrangen und so ein hölzernes Gewölbe bildeten.
Als er nach rechts blickte, erkannte er eine Silhouette im Halbdunkel unter den blattlosen Bäumen und erschrak.
Ehe er reagieren konnte, hörte er Worte, von denen er nicht wusste, ob sie von der Gestalt kamen oder nur in seinem Kopf existierten.
„Du solltest nicht zwischen toten Bäumen sein“, sagte die Stimme, der Vilgan kein Geschlecht zuordnen konnte.
Er spürte Panik in sich aufsteigen, obwohl sich der Schatten kein Stück bewegte.
„Dir entrinnen Zeit und Weg.“
Ein Druck legte sich auf seine Kehle und es fiel ihm zunehmend schwerer, zu atmen und einen klaren Gedanken zu fassen.
Vilgan öffnete die Augen und brachte damit das Gefühl der Unruhe aus der geträumten Zwischenwelt mit in das Hier und Jetzt. Sein Herz schlug spürbar in der Brust und seine Atemfrequenz war beschleunigt.
Er benötigte einen Moment, bis er realisierte, wo sich die Schwärze befand, in der er zu schweben schien. Dann richtete er sich langsam auf. Der obere, nicht verbarrikadierte Teil des Durchgangs zeichnete sich mittlerweile undeutlich ab.
Die schwach leuchtenden Ziffern seiner Armbanduhr verrieten, dass der Sonnenaufgang noch einige Stunden entfernt war. Er fühlte sich wach und erholt, was in ihm die Frage aufkommen ließ, ob er nicht aufbrechen sollte.
Er lauschte eine Weile, doch abgesehen von dem Ruf eines nachtaktiven Vogels und dem leisen Raunen der Baumkronen, durch die ein leichter Wind zog, gab es nichts zu hören; kein verdächtiges Knacken im Unterholz, kein erregtes Schnüffeln einer namenlosen Bestie.
Kurze Zeit später marschierte Vilgan wieder durch den Wald, dessen dunkle Konturen sich im Licht des Vollmondes aus der nächtlichen Schwärze schälten. Er kam weitaus besser voran als vermutet und konnte so bereits eine größere Strecke zurücklegen, noch ehe sich das erste Glimmen des anbrechenden Tages am Himmel zeigte. Begleitet wurde er von einem angenehm warmen Wind, der sich beinahe unnatürlich mild für diese Zeit und diesen Ort anfühlte.
Er setzte einen Fuß vor den anderen, mit zunehmender Helligkeit immer entschlossener und sicherer, bis er sich in einer Art Trance befand und nicht bemerkte, wie sich die Umgebung veränderte und die Sonne immer mehr den Himmel eroberte.
Sein Körper war hier in diesem Wald, sein Geist allerdings überall und nirgendwo zugleich.
Und so vergingen die Stunden. Unbemerkt und unaufhaltsam.
Wie lange marschierte er bereits? Seit wann kämpfte er sich immer wieder durch unwegsames Gelände inmitten dieser Bäume, die zu mehr wurden als Spendern von Sauerstoff und Schatten. Sie wurden zu Beobachtern, zu stillen Begleitern dieser Reise.
Was sollte er eigentlich hier draußen finden? An welchen Ort lockte ihn dieser unbestimmte, innere Drang? Und wo sollte er sich niederlegen, um einzuschlafen und die Welt und all das Chaos hinter sich zu lassen?
Längst konnte er sich bei Anbruch der Abenddämmerung auf eine beliebige Anhöhe stellen und nirgends auch nur ein Licht ausmachen. Er schien bereits derart abgelegene, alte und unsichtbare Pfade zu beschreiten, dass es nicht einmal die Ahnung eines Kondensstreifens am Himmel gab und in der Ferne keine aufsteigenden Säulen aus Dampf und Rauch, die stumm darauf hingewiesen hätten, dass es außer ihm doch noch andere Menschen in diesen grünen Weiten gab.
Vilgan wusste, dass er nicht ewig in die Wälder eintauchen konnte, denn irgendwann würde der letzte Energieriegel verzehrt sein. Wasser stellte dank der zahllosen Bäche und Flüsse, die frisches Wasser aus den Bergen brachten, kein Problem dar. Allerdings wollte er keinesfalls in die Situation geraten, eine Entscheidung treffen zu müssen, weil er Gefahr lief, irgendwo entkräftet zu verenden anstatt aktiven Einfluss auf sein Ende zu haben. Aber was, wenn genau das der Sinn war, der Preis, den es zu zahlen galt? Was, wenn sich die erlösende Ruhe nur am Ende eines erbarmungslosen Leidensweges zeigte? Und was, wenn ihn etwas lediglich in diese Einsamkeit gelockt hatte, um ihn einem letzten Test zu unterziehen?
Er spürte, wie er seine Gedanken immer weniger kontrollieren konnte. Er sah nur Bäume und den Himmel, hörte den Wind und die Vögel und erblickte jene Bewohner des Waldes, die sich ihm zu zeigen gewillt waren. Trotzdem mangelte es an Eindrücken, eventuell auch einfach an der oft verhassten Ablenkung, die klare Gedanken verwässerte und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte. Doch hier in den Wäldern gab es nichts und so konnte er sich lediglich den Dingen in seinem Kopf ergeben und ihrer Dynamik folgen.
Er fragte sich, inwiefern seine Entscheidung für diesen Schritt direkt und indirekt von anderen bestimmt worden war. Sich über andere Menschen aufregen, Dinge in ihr Tun hineininterpretieren, sich von ihren negativen Gedanken anstecken lassen, all das gab ihnen eine Macht über ihn, jene Kontrolle, die er nie hätte aus der Hand geben dürfen. Auf der anderen Seite war da diese unglaubliche Müdigkeit, die selbst 30 Stunden Schlaf nicht hätten auflösen können. Vermutlich wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich irgendwann – unter einem anderen Vorwand – doch auf den Weg gemacht hätte. Vielleicht war das alles Bestimmung, ein Schicksal, dem er sich nicht entziehen konnte.
Aber wer kannte schon die Wahrheit? Vielleicht lag die höchste Annäherung an sie irgendwo zwischen den philosophischen Texten längst vergangener Jahrhunderte und den neuesten, angesagten 20-Sekunden-Online-Videos.
Und so verschmolzen die Dinge; seine Schritte und das Raunen der Bäume, Gedanken und Minuten, Bilder in seinen Erinnerungen mit den Stunden, das Licht mit den Schatten und die Wolken mit dem Blau des Himmels.
Etwas irritiert blickte Vilgan hinab auf das Lagerfeuer in der kleinen Grube, um die zusätzlich mit Sorgfalt ein Graben gezogen worden war, wohl aus Mangel an Steinen und Geröll. Daneben lag ein Haufen aus Zweigen und kleinen Ästen. Ein morscher Baumstamm bildete die perfekte Sitzgelegenheit.
Der Einbruch der Nacht würde noch einige Stunden auf sich warten lassen. Allerdings zogen immer dunklere Wolken auf, welche den Schatten des Waldes zu neuer Stärke verhalfen, die sie seit dem Morgengrauen kontinuierlich verloren hatten.
Er schaute sich erneut um, konnte aber niemanden hören oder sehen. Er hatte die Stelle für eine ganze Weile beobachtet, ehe er den Entschluss fassen konnte, sich vorsichtig zu nähern. Hier draußen jemanden anzutreffen war eine Sache, daraus resultierendes Misstrauen eine völlig andere. Wer kam schon freiwillig in diese entlegenen Regionen? Spontan fielen ihm Seelen wie er selbst ein, Leute auf der Suche nach Bodenschätzen – wie etwa Gold – und dann noch jene, die sich fernab der Gesellschaft ein ruhiges, neues Leben aufbauen wollten oder gar mussten. Inwiefern Vilgans Phantasie diese Auswahl an Möglichkeiten diktierte, wusste er nicht. Fest stand allerdings, dass hier jeder auf sich allein gestellt war. Und falls sich hier nicht nur eine Person aufhielt, bedeutete das unweigerlich ein zusätzliches Mehr an Gefahr. Jemand konnte ihn in diesem Augenblick beobachten. Selbst wenn er sofort weiterziehen würde, konnte man ihm nachstellen und einen kurzen Moment der Unachtsamkeit abpassen, um den tödlichen Streich auszuführen. Solange er nicht wusste, was hier vor sich ging, konnte er sich nicht sicher fühlen. Weshalb also das Unausweichliche aufschieben?
Wovor hatte er überhaupt Angst? War er nicht von Anfang an auf einer Einbahnstraße unterwegs, die in einer Sackgasse enden würde? Immerhin war er aufgebrochen mit dem Plan, die Wälder nicht mehr zu verlassen. Gut, es würde im schlimmsten Fall nicht alles zu 100% nach seinen Regeln ablaufen. Aber wäre das wirklich so schrecklich? Er hatte von so vielen Dingen losgelassen. Weshalb also nicht auch von dieser letzten Kontrolle?
Vilgan schaute sich nochmals um und blickte über seine Schulter. Als er sich wieder dem knisternden Feuer zuwandte, näherte sich ein Mann von der gegenüberliegenden Seite.
Ehe Vilgan reagieren konnte, sagte der Mann mit ruhiger Stimme: „Und ich dachte, das Feuer ist nicht weit zu sehen.“ Er nickte Vilgan zu und setzte sich auf den Baumstamm, beugte sich nach vorn und stützte seine Ellenbogen auf die Oberschenkel. Er sah einen Moment in die tanzenden Flammen. Dann hob er kurz den Blick. „Entweder setzt du dich oder du ziehst weiter.“
Die Hose des Mannes war ein Flickwerk aus derber Naturfaser und Fellen verschiedener Tiere. Der Oberkörper war in mehrere Wollpullover gehüllt, wobei einer der unteren einen dicken Rollkragen besaß. Darüber trug der Mann einen offenen Mantel mit großer, zurückgeschlagener Kapuze, der aus verschiedenen Rechtecken aus Leder und Fell bestand. Er hatte schwere, abgewetzte Lederstiefel. Seine Hände machten trotz des Drecks daran einen gepflegten Eindruck. Das dunkelblonde Haar war schulterlang und völlig zerzaust. Vilgan konnte darin zwei welke Blätter ausmachen. Das Gesicht war wettergegerbt und die Farbe des wüst gewachsenen Vollbarts erinnerte im Schein des Lagerfeuers an Bronze.
„Dir ist schon bewusst, dass du hier in einer Abgeschiedenheit bist, in die sich keiner bei Verstand wagt und wo alles und jeder lautlos ist und bleibt, um nicht das heraufzubeschwören, was da im Grund unter den trockenen Nadeln und Blättern ruht“, sagte der Mann, der sich als Sihnond Insenbor vorstellte.
Anschließend unterhielten sie sich eine ganze Weile, auch darüber, was Vilgan in diese Gegend gezogen hatte. Als dieser jedoch seinerseits Fragen stellte, blieb Insenbor eher oberflächlich, ohne wirklich etwas preiszugeben. Ein sonderbares Verhalten, wie Vilgan fand. Für ihn selbst machte es an diesem Punkt keinen Unterschied, ob er einer fremden Person von seinen Beweggründen berichtete oder nicht, denn auch das würde bald hinter ihm liegen. Aber vielleicht war Insenbor ja auf dem Weg zurück, zurück in ein altes und zugleich neues Leben, weil er hier draußen etwas gefunden hatte, das ihm einen neuen Impuls und damit Sinn gab; und definitiv war nicht jeder in diesen Wäldern unterwegs, nur um seinem Dasein ein Ende zu bereiten. Vilgan konnte sich gut vorstellen, wie die Isolation Klarheit schenkte, vergleichbar mit einer Auszeit in einem abgelegenen Kloster.
Insenbor sah Vilgan über das Feuer hinweg an. „Hier ist ein Ort, an den sich nicht einmal die Götter wagen. Sie begehen lieber Selbstmord, als sich dem zu stellen, was in den Nebeln des Nordens wartet.“
Die großen aber rätselhaften Worte irritierten Vilgan. Sie fingen alle Gefühle und Gedanken ein, die er selbst mit diesen Regionen verband, und doch besaßen sie keinerlei Substanz. Sie waren so flüchtig wie ein Windhauch und so nichtig wie seine eigene Präsenz unter diesen alten Bäumen.
Aber was lag im Norden? Immerhin war er aufgebrochen mit dem Ziel, in eben diese Richtung zu gehen. Was wusste Sihnond Insenbor? Und was verschwieg er?
„Man nennt sie lediglich die ‚Beobachter‘, aber einen wirklichen Namen besitzen sie nicht“, antwortete Insenbor auf Vilgans Nachfrage. „Sie warten verborgen in den Nebeln, bis die Zeit gekommen ist, um den ‚Verschlingern‘ ein Signal zu senden, den Verschlingern der Welten, riesige Maschinen, die nichts hinterlassen als Leere.“
Etwas veränderte sich in Vilgan, er konnte es deutlich spüren.
Ihm wurde klar, dass er sich nicht mehr einfach hier draußen töten konnte, ohne vorher ergründet zu haben, was genau im Norden lag. Damit starb vorerst seine Hoffnung auf Frieden. Andererseits konnte er auch nicht einfach umkehren. Sicher, die Möglichkeit bestand, denn es war seine Entscheidung, aber es war nicht das, was er wollte, nicht das, wofür er den Weg überhaupt erst auf sich genommen hatte.
Hoch über ihren Köpfen flatterte ein Vogel auf.
Vilgan hob den Blick, konnte das Tier aber nicht ausmachen. Er sah allerdings, dass sich der Himmel über den Baumkronen bereits merklich verdunkelt hatte und bald nicht mehr von den Schatten zu unterscheiden sein würde.
Als er den Blick wieder senkte, erstarrte er kurzzeitig, da er nicht wusste, was los war: Das Feuer vor ihm war erloschen, das Holz nichts weiter als längst erkaltete Asche. Auch der Baumstamm auf der anderen Seite war leer.
Vilgan stand hastig auf; zu schnell, denn ihm wurde leicht schwindelig. Er lauschte und ließ den Blick umherwandern, während ihm plötzlich die Kälte in Kleidung und Glieder drang, jene Kälte, die der Boden des Waldes zu dieser Stunde ausatmete.
Was war hier los? Wo war Sihnond Insenbor? Hatte er schon Stunden an der kleinen Grube gesessen und sich mit einem Hirngespinst unterhalten?
Die Geräusche des Waldes gaben keinen Hinweis darauf, dass sich jemand in der Nähe aufhielt. Auch fühlte sich Vilgan weder beobachtet, bedroht noch auf eine unerklärliche Art und Weise unwohl; er war lediglich irritiert.
Hatte er in den vergangenen Monaten und Jahren schleichend den Verstand verloren und sich in etwas verrannt, das nun an die Oberfläche quoll und ihm vor Augen hielt, dass er keineswegs auf dem richtigen Pfad war? Oder hatte sein Hirn die Illusion erzeugt, weil es schon zu lange nach neuen Eindrücken gierte? Bäume, Wurzeln, Schatten und die beinahe hypnotisierenden Klänge des Waldes, das alles war einfach nicht genug.
Er griff den Rucksack, der neben ihm an einem Baum stand, und prüfte den Inhalt: Er hatte noch Wasser und einige Energieriegel. Das sagte ihm, dass es sich kaum um irgendeine Halluzination aufgrund von Hunger und Durst handeln konnte, zumal er sich körperlich nicht unwohl fühlte. Und doch befand er sich hier, genau an dieser Stelle, an der ein Feuer gebrannt hatte.
Vilgan ging in die Hocke und hielt die Hand über die Asche. Er spürte keinerlei Restwärme. Mit einem Zweig stocherte er etwas darin herum, aber es gab kein verstecktes Glutnest. Allerdings lag auch kein von den Baumkronen abgeworfenes Blatt in der Grube. Die Feuerstelle konnte also noch nicht lange erloschen sein.
Die schlagartige Veränderung der Situation machte ihn unentschlossen. Sollte er einfach an Ort und Stelle die Nacht verbringen oder doch weiterziehen? Ein bequemeres Fleckchen würde er vermutlich kaum finden. Zugleich hatte er keine Ahnung, ob das Feuer nicht doch von einer Person stammte, die sich nach wie vor in der Umgebung aufhielt und bald zurückkehren würde.
Aber wovor hatte er Angst? Es war ja nicht so, dass er sich in einem Spielfilm befand, in welchem es der Dramaturgie wegen bösartige Absichten gab. Wer sollte schon einen Grund haben, jemandem hier draußen etwas anzutun? Es wäre gewiss wahrscheinlicher, dass man sich Sorgen machen und ihm Hilfe anbieten würde, anstatt ihn niederzustrecken, den Rucksack und seine Taschen zu durchsuchen und vor lauter Hunger sein Fleisch in Streifen zu schneiden und es roh oder gegrillt zu verschlingen. Endzeitstimmung und Kannibalismus waren etwas für die Phantasie und die Zukunft, aber nichts für die Gegenwart in diesen Wäldern.
Mit diesen Gedanken machte er sich daran, Laub und frische Triebe zusammenzusuchen, um sich zumindest halbwegs bequem betten zu können. Es war jedoch Eile geboten, denn die Dunkelheit strömte zunehmend energischer aus allen Winkeln und Richtungen auf ihn ein.
Als sich Vilgan wenig später hinlegte, machte er sich noch einmal bewusst, dass es hier nichts zu fürchten gab. Selbst Wölfe, Bären oder andere Räuber, über die er sich anfangs noch Gedanken gemacht hatte, waren nicht aufgetaucht. Zudem glaubte er nicht, dass sie sich in dieser tristen Umgebung aufhielten, wo sich das potenzielle Nahrungsangebot auf ein paar Vögel beschränkte, die für sie unerreichbar waren. Dennoch stellte er sicher, dass sich ein Knüppel griffbereit direkt neben ihm befand.
Ehe Vilgan die Situation aus weiteren Blickwinkeln heraus betrachten und deshalb unsicher werden konnte, dämmerte er weg und sank kurz darauf in einen tiefen, traumlosen Schlaf.