Quell der Leere - Troy Dust - E-Book

Quell der Leere E-Book

Troy Dust

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Beschreibung

Es ist ein sonderbarer Fall: Bereits kurz nach dem Fund von mehreren zerstückelten Leichen werden die Ermittlungen eingestellt, denn die Täterin wurde von ihrem Freund erstochen, ehe dieser ebenfalls ums Leben kam. Es gibt weder Zeugen noch Antworten. Genau diese Konstellation der Ereignisse ist es, die Sark keine Ruhe lässt. Und dann ist da noch sein Leben, das immer weiter zerfällt ...

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Da sprach Sordell: »Laßt uns hinuntersteigen

Zu jenen großen Schatten, sie zu sprechen.

Sie werden sich an eurem Anblick freuen.«

Dante Alighieri ›Die Göttliche Komödie‹ Der Läuterungsberg, Achter Gesang, Hermann Gmelin

Inhaltsverzeichnis

Vorspiel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Zwischenspiel

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Zwischenspiel

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zwischenspiel

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Zwischenspiel

Kapitel 17

Kapitel 18

Zwischenspiel

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Zwischenspiel

Kapitel 24

Zwischenspiel

Kapitel 25

Zwischenspiel

Kapitel 26

Zwischenspiel

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Zwischenspiel

Kapitel 30

Kapitel 31

Zwischenspiel

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Zwischenspiel

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Nachspiel

Vorspiel

Absturz

Sark torkelte von der Straße in das dunkle Treppenhaus und tastete mehrmals vergeblich nach dem Lichtschalter, bevor er ihn fand und drückte. Die Glühbirne hinter dem schmutzigen, zerbrochenen Glas an der Wand flackerte, dann spie sie ihr dumpfes Licht in die Schatten. Die schwüle Luft roch nach Urin. Der Gestank zog an warmen Tagen stets aus dem Hinterhof in das Gebäude.

Er schleppte sich die schmale Treppe hinauf und stieß dabei unentwegt mit der Schulter an die dreckige Wand, beschmiert von Kindern und Jugendlichen und zerkratzt von unzähligen Möbelkanten und anderen Objekten. Auf dem Weg in die dritte Etage musste er auf den Treppenabsätzen pausieren und sich fangen.

Vor der Wohnung angekommen, suchte er den Schlüssel in seinen Hosentaschen. Da fiel ihm der schmale, schwarze Streifen auf, der die Tür vom Rahmen trennte. Sark drückte sie auf.

In der Küche am Ende des Flurs brannte Licht.

Mit ungeschickten Schritten betrat er die Wohnung und schwankte auf wackeligen Beinen durch das Halbdunkel dem hellen Schein entgegen. Die Türen zu den Zimmern standen weit offen, wie tiefschwarze, riesige Augen, die ihn beobachteten. Trotz seines Zustands bemerkte er die Stille. Nach einer Weile drang es zu ihm durch, dass Mara und seine kleine Tochter Anna nicht hier waren.

In der Küche blieb er ratlos stehen.

Im Flur hinter ihm ging das Licht an.

„Sie sind weg“, sagte eine weibliche Stimme. Es war die Nachbarin aus der Wohnung gegenüber.

Sark betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Wenn er sich konzentrierte, konnte er auf der anderen Seite der Scheibe die Lichter der Stadt ausmachen. Alles um ihn herum wurde verzerrt und befand sich in stetiger Bewegung.

„Sie hat dich doch um fünf Uhr erwartet, Anna wollte ins Hallenbad.“ In der Stimme der Nachbarin lag eine Mischung aus Enttäuschung und Bedauern. „Sie will die übrigen Sachen demnächst holen. Sie sind erst einmal zu Maras Eltern gefahren.“

Etwas berührte Sarks Beine. Er sah nach unten und beobachtete den Kater der Nachbarin dabei, wie sich dieser schnurrend an der Hose rieb.

„Und du sollst dir keine Sorgen machen.“

Sark ging in die Hocke und kraulte das verschmuste Tier hinter den Ohren. Dabei verlor er das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Es gelang ihm, sich abzufangen.

Die Dinge waren außer Kontrolle geraten. Wie oft hatte er versucht, trocken zu werden und es zu bleiben? Aber dann waren die Bilder zurückgekehrt, die Bilder mit all den Schrecken, die für ihn während der Polizeiausbildung Theorie gewesen waren, nur um dann schleichend und giftig in die Realität zu dringen und sein Inneres zu zersetzen.

Er blickte über die Schulter und wollte etwas sagen, doch die Nachbarin hatte die Wohnung bereits verlassen und die Tür geschlossen. Auch der Kater war nicht mehr da.

Wie lange er wohl schon hier in der leeren Küche am Boden kauerte? Zehn Minuten? Eine Stunde?

Sark wollte sich nur einen Moment ausgestreckt auf den Boden legen, um seinen Rücken zu entlasten, doch er schlief sofort ein.

Kapitel 1

Vorahnung

Sark wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als ihm ein Schwall warmer Luft entgegenschlug, stinkend wie der Atem eines alten, längst vergessenen Ungetüms. Er nickte dem Beamten zu, der neben der offenen Tür zum Dachboden stand. Sark vernahm Stimmen. Blitzlichter zerrissen die Schatten in den Ecken und Winkeln, doch sie kehrten stets beharrlich zurück.

Der Geruch des Todes setzte sich in Sarks Nase fest, durchdrang den Stoff seiner Kleidung wie eine unsichtbare Flüssigkeit und heftete sich an jedes einzelne Haar auf seinem Kopf.

Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, welche Schrecken ihn erwarteten, welch groteske Formen aus Knochen, Eisen und Fleisch, zusammengehalten von Streifen menschlicher Haut, Garn und Draht. In einer Ecke, deren Boden nicht durchzogen war von Blut und anderen Flüssigkeiten, standen ein paar leere Einmachgläser. Daneben lagen kleine und große Zahnräder, trockene Zweige, verschiedene Federn und Tierknochen, alles Elemente innerhalb der Kreationen, die es auf dem Dachboden zu sehen gab und deren Basis die Leichen von mehreren Personen waren: Hier ein Mobile aus Fingern, das von einem Dachbalken hing und sich in der Zugluft bewegte, und dort eine undefinierbare Form aus verschlungenen Armen und Beinen, die von Draht und Darm zusammengehalten wurde und am Boden lag wie ein Seeungeheuer, das als Beifang zufällig ans Tageslicht gelangt war.

In einem der Verschläge befanden sich ungenutzte Reste der Leichen und das grob von den Knochen geschabte Fleisch. In einem anderen lagen Kleidung und Schuhe der Opfer. Im Verschlag, der laut Schild zu der Wohnung gehörte, der das Hauptinteresse galt, hing ein teils entfleischter Kopf an einem Seil von der Decke. In den Schädel, der weder Identität noch Geschlecht erkennen ließ, waren teils mit Alufolie umhüllte Rippen getrieben worden, so viele, dass das Objekt an eine Sonne oder einen grotesken Weihnachtsstern erinnerte. Vor einem Stapel Kartons, in denen Bücher und Unrat waren, lagen vier abgetrennte, blutverkrustete Köpfe, gedankenlos hingeworfen wie unnützes Spielzeug. Sark konnte von den kaum noch erkennbaren Gesichtszügen ableiten, dass zwei der Opfer Frauen waren.

In diesem Moment drang das Summen der Fliegen in Sarks Bewusstsein, die sich von der polizeilichen Arbeit unbeeindruckt an dem madendurchsetzten Festmahl labten. Der Klang wurde zunehmend intensiver, pochte in Sarks Kopf und ließ ihn schwanken. Er musste hier raus. Damit verließ er den Dachboden.

In der Wohnung, auf die sich ein Großteil der Ermittlungen konzentrierte, lief Sark in das Arbeitszimmer, wo zwei Polizisten den Inhalt der Schubladen sichteten. Er schaute sich um.

Auf dem Fensterbrett standen Einmachgläser, einige davon ohne Deckel, gefüllt mit Schneckenhäusern, runden Steinen, Knochen, Schnäbeln von Enten und Hühnern, geschliffenen Stöckchen aus Holz, dazu Murmeln, Muscheln, Zähne verschiedener Tiere und Einzelteile zerlegter Uhren und Wecker. Die Reihe wies mehrere Lücken auf – vermutlich die Gläser auf dem Dachboden. Auf einem der beiden Schreibtische stand eine Vase mit getrockneten Blumen, daneben eine Tasse mit Vogelfedern. Weitere Federn steckten in einem Quader aus Steckschaum. Vier Elsterfedern bildeten die Flügel einer Libelle, deren Körper aus verdrehtem Kupferdraht bestand. Nun saß das Insekt auf dem oberen Rand eines Bilderrahmens, der ein Polaroid-Foto fasste, das vor unscharfen Kornblumen fokussierte Ähren und einen zartblauen Schmetterling zeigte.

Auf dem zweiten Tisch stand ein Aquarell-Farbkasten. Daneben lag ein Zeichenblock mit einer kaum sichtbaren Bleistiftskizze, die einen Leuchtturm erahnen ließ. Bis auf mehrere Stifthalter und Gläser mit Pinseln war der Tisch leer. Das Regal dahinter beherbergte neben Malutensilien Bücher über Architektur, Kunst und Geschichte. Auf dem Regal fand er ein Wesen, das aus dem Schädel und der Wirbelsäule eines Fisches bestand. Unterschiedlich große Federn waren seitlich so angebracht, dass sie an Flügel erinnerten. Eine weitere Schöpfung lag irgendwo zwischen Krake, Qualle und Perlboot: Die Fangarme bestanden aus kleinen Wirbelsäulen, die aus zwei zusammengefügten Hasenschädeln ragten, die den länglichen Körper bildeten. Die Wirbel stammten vermutlich von Hasen, Katzen oder Tieren ähnlicher Größe. Überall im Raum hingen Fäden mit getrockneten Blumen, die zu abwechslungsreichen Sträußen gebunden waren.

Die Kollegen hatten bereits mehrere Kartons mit sorgsam eingetüteten Gebilden aus Knochen, Federn und Draht gefüllt, um diese genauer untersuchen zu lassen. Einige Objekte formten Lebewesen, andere fingen Geometrien ein, mal undefiniert, mal harmonisch, dann chaotisch und grob. Sark entdeckte auch Fell, verdreckt, zerzaust und verklebt. Wahrscheinlich hatte das Tier erst vor kurzem auf einer Straße den Tod gefunden. Ein leichter Geruch von Fäulnis lag in der Luft. Oder war es der Gestank vom Dachboden, der ihn wie ein Schatten begleitete?

Sark verließ das Arbeitszimmer in die angrenzende Küche, wo es nichts Auffälliges gab. Im Flur waren noch die Kampfspuren und das Blut zu sehen. Die Leiche der Frau, die man hier gefunden hatte, war bereits in der Gerichtsmedizin. Geblieben waren einige Markierungen am Boden. Er sah sich im Badezimmer um, anschließend im Schlafzimmer und im Wohnzimmer. Vom Fenster aus schaute er auf die Straße. Durch das Kopfsteinpflaster, die hohen Bordsteine und die Fachwerkhäuser wirkte alles wie aus einer anderen Zeit. Beamte liefen umher und klingelten an den Häusern, um die Anwohner zu befragen.

Er drehte sich um, lehnte sich an die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust. Die meisten der Kollegen hatten keine bis wenig Erfahrung mit derartigen Gewaltverbrechen, die ein Grund dafür waren, dass Sark mittels Alkohol vergessen wollte. Diebstahl, Drogen und häusliche Gewalt standen auf der Tagesordnung; hier eine Kneipenschlägerei und dort ein Verkehrsunfall, aber Mord war eine Seltenheit in dieser Gegend – das sah in der größeren Nachbarstadt, in der er lebte und von wo man die Unterstützung angefordert hatte, natürlich schon ganz anders aus.

Er war nach dem Ende seiner Ehe mehrfach umgezogen und hatte die Dienststellen gewechselt, um zu versuchen, das Grauen, dem er fast täglich ausgesetzt gewesen war, irgendwie hinter sich zu lassen. Doch er hatte zu viele Dämonen mitgenommen, die sich eingenistet hatten, zu viele offene Wunden und zu viele Erinnerungen, die sich an die Windungen seines Hirns krallten. Einen wirklichen Neustart gab es nie, daran änderte auch das Gefühl nichts, mit jeder neuen Stelle immerhin einen Teil der Vergangenheit abgelegt zu haben. Jeder Kollege wusste von Sarks Laufbahn und wollte Geschichten hören, Geschichten, deren Inhalt so weit vom Leben der Menschen hier entfernt war, dass ein solcher Fall alles ins Wanken brachte, wie ein Erdbeben, das eine Stadt erschütterte. Es stand außer Frage, dass mehrere Morde für eine Stadt mit nicht einmal 8.000 Einwohnern sehr ungewöhnlich waren, die Brutalität hätte aber auch in einer Metropole mit Millionen von Bürgern herausgestochen. Fast bedauerte er die Polizisten, die sich plötzlich mit einem solchen Fall beschäftigen mussten. Wahrscheinlich hatte sich jeder von ihnen beim Frühstück den Tag ganz anders vorgestellt.

Was sie bisher wussten: Die Tochter einer Bewohnerin des Hauses hatte nach dem Rechten sehen wollen, da sich ihre Mutter seit ein paar Tagen nicht gemeldet hatte. Sie stellte fest, dass niemand in der Wohnung war, obwohl in der Küche Essen stand – bereits von Fliegen und Maden belagert. Auch der Fernseher lief. Sie klingelte an den übrigen drei Wohnungen im Haus, doch niemand öffnete. Ihr fiel ein seltsamer Geruch im Treppenhaus auf, der sich bis zum Dachboden zurückverfolgen ließ, woraufhin sie aus der Wohnung ihrer Mutter den Schlüssel holte und kurz darauf das Grauen entdeckte. Nun war sie für eine psychologische Betreuung und die Aufnahme eines Protokolls im Präsidium.

Man hatte alle Wohnungen geöffnet. Bis die Identität der Opfer auf dem Dachboden nicht zweifelsfrei geklärt war, musste davon ausgegangen werden, dass es sich um die Mieter des Hauses handelte – bis auf die junge Frau namens Chloé, 28, die mit zahllosen Messerstichen übersät in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Tatverdächtig war ein Mann namens Vali, 32, der mit ihr zusammenlebte. Es wurde versucht, sein Mobiltelefon zu orten. Fotos von ihm hatte man bereits für eine Fahndung weitergeleitet. Zudem besaß Chloé einen roten Kleinwagen, der zumindest in der Umgebung nicht auffindbar war. Obwohl aktuell nicht ausgeschlossen werden konnte, dass Vali ebenfalls zu den Opfern auf dem Dachboden gehörte, nahm man an, dass sich dieser auf der Flucht befand. Er und das verschwundene Auto waren die bisher einzigen Anhaltspunkte.

Wer war dieser Vali? Hatte er sich eventuell hier eingenistet und nun gespürt, dass es wieder an der Zeit war, aktiv zu werden und seinem Trieb zu folgen? Oder war er eines Morgens mit der Vorstellung aufgewacht, Herr über Leben und Tod zu sein?

Es musste auf jeden Fall geklärt werden, ob es in den letzten 10 bis 15 Jahren Verbrechen mit Parallelen zu diesem Irrsinn gegeben hatte, und zwar landesweit, vielleicht sogar über die Grenzen hinaus.

Fest stand, dass der Täter viel Zeit investiert hatte, denn das auf dem Dachboden war keine Impulshandlung. Der Mord an Chloé möglicherweise schon. Das ganze Gruselkabinett dort oben hatte etwas von einem Kult, von schwarzer Magie.

„Verdammt, was machen Sie hier?“ rief Seyler, als er das Wohnzimmer betrat und Sark am Fenster erblickte.

Sark wurde aus seinen Gedanken gerissen und hob den Blick.

„Sie legen es wirklich darauf an, kann das sein?“ fragte Seyler.

Sark betrachtete seinen Vorgesetzten und schwieg.

Seyler stellte sich vor Sark. Mit ruhigerem Ton sagte er: „Sie sollen doch eine Weile den Kopf unten halten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Fahren Sie weg, machen Sie mal Urlaub.“ Er hob die Augenbrauen. „Wer hat Ihnen überhaupt den Tipp gegeben?“ Er winkte ab, denn er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde. „Vergessen Sie’s. An Ihrer Freistellung wird sich nichts ändern. Wenn Sie allerdings meinen, sich nicht an die Abmachung halten zu müssen, kann ich gern dafür sorgen, dass Sie nach Ihrer Rückkehr Strafzettel verteilen und sich mit Ruhestörungen beschäftigen dürfen.“

Sark starrte durch Seyler vorbei in den Raum. Er hatte durchaus gehört und verstanden, was ihm gesagt wurde, aber er betrachtete alles aus einer Wolke heraus, einem Dunst, der den Worten ihren Klang raubte; und das ganz ohne Alkohol.

„Verschwinden Sie einfach!“ forderte Seyler und machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Tür. Er wusste genau, dass eine Diskussion nichts bringen würde; das wusste jeder.

Sark löste sich von der Fensterbank und lief langsam in den Flur. Er spürte Seylers Blick im Rücken.

„Und damit es alle noch einmal hören“, begann Seyler mit lauter Stimme, was jeden der Anwesenden zu ihm blicken und jeden in Hörweite innehalten ließ, „sollte einer von euch auf die glorreiche Idee kommen, unserem Freund hier irgendwelche Hinweise zu diesem oder anderen Fällen zu geben, solange er freigestellt ist, darf der- oder diejenige ihm gern Gesellschaft leisten.“

Sark, der vor der Stelle mit dem Umriss von Chloés Leiche stand, fragte sich, was sie kurz vor ihrem Tod hatte tun wollen. Kurz einkaufen gehen? Auf einen Kaffee zu einer Freundin fahren? Vielleicht irgendeine Angelegenheit, die man für selbstverständlich erachtet, bis es zu spät ist.

Wortlos verließ er die Wohnung und das Gebäude und lief zu seinem Wagen, den er in der Nähe geparkt hatte. Er stieg ein, steckte den Schlüssel in das Zündschloss und starrte auf den Staub auf dem Armaturenbrett.

Urlaub? Wo sollte er denn bitte Urlaub machen? Das würde zwangsläufig bedeuten, zur Ruhe zu kommen und sich mit den eigenen Gedanken auseinandersetzen zu müssen, etwas, das er nicht wollte. Zudem wusste er, dass Seylers Drohung gegen seine Kollegen wenig Erfolg haben dürfte. Viele von ihnen standen in Sarks Schuld, da er ihnen aufgrund seiner zahlreichen Verbindungen entweder bei einem Fall oder sogar höchstpersönlich aus einer unschönen Situation geholfen hatte; sie waren ihm gegenüber loyal, trotz oder gerade wegen seines Rufs. Diesen Fall, der nicht seiner war, betrachtete er als Beschäftigung, als Hilfsmittel, um nicht noch weiter abzudriften. Und vielleicht ging es dabei wirklich nicht um das Verbrechen, sondern nur um ihn.

Er griff in die Tasche seines zerknitterten Jacketts und holte daraus einen kleinen Fotorahmen hervor. Chloé lachte ihm entgegen, während Vali von irgendetwas abgelenkt an der Kamera vorbei in die Ferne sah. Vermutlich hatte jemand das Foto ganz spontan geschossen.

Zu ergründen, weshalb diese hübsche, junge Frau sterben musste, würde in seinem Kopf nicht nur ihr die ewige Ruhe schenken, sondern auch ihm dazu dienen, sich zumindest für die nächste Zeit dem Leben zu stellen und seinem Dasein einen Sinn zu geben.

Er steckte das Bild wieder ein und startete den Motor. Dann machte er sich auf den Weg; er musste diesen Vali finden.

Kapitel 2

Ernüchterung

Durch die zahlreichen Kanäle, die Sark zur Verfügung standen, wurde er recht zügig auf den aktuellen Stand gebracht. Jeder arbeitete unter Hochdruck. Je mehr Stunden vergingen, ohne dass der Täter identifiziert und dingfest gemacht wurde, desto mehr breitete sich Ungewissheit unter den Bewohnern der Stadt aus. Alle standen unter Schock. War da ein Serienmörder unter ihnen? Vielleicht liefen sie im Supermarkt sogar an ihm vorüber, ohne es zu ahnen. Auf der einen Seite stellten die Leute ihre Sicherheit in Frage, auf der anderen mussten sie mit dem Wissen um die stattgefundenen Grausamkeiten klarkommen. In ihren Köpfen wuchs eine Pflanze mit überaus biegsamen Ausläufern und langen, harten Dornen: Angst.

Bereits am nächsten Morgen zeigte sich eine Tendenz, die bald bestätigt wurde: Die Fingerabdrücke an den Leichenteilen auf dem Dachboden und an den Tatwerkzeugen stammten nur von einer Person – Chloé. Es gab nicht einmal einen Teilabdruck, der auf einen weiteren Täter hinwies. Man stand vor einem Rätsel.

Zwar gab es die sonderbaren Objekte aus Chloés Wohnung, an denen ebenfalls nur ihre Fingerabdrücke zu finden waren, aber selbst diese passten nicht in das Bild: Chloé kam aus einem normalen Elternhaus, war Einzelkind, hatte drei Semester Kunst studiert, das Studium abgebrochen und eine Ausbildung zur Gärtnerin gemacht. Vor fünf Jahren war sie in die Stadt gezogen und arbeitete seither halbtags in einer Gärtnerei und ein bis zwei Tage die Woche als Bedienung in einem Wirtshaus. Zudem machte sie Besorgungen für ältere und kranke Menschen. In ihrer Freizeit las sie gern, fotografierte und malte. Vor über einem Jahr fing sie damit an, eigene Kreationen über das Internet zu verkaufen, von Libellen mit Flügeln aus Vogelfedern, wie man sie in der Wohnung gefunden hatte, über Tongefäße und Objekte aus Draht, Holz und Glas. Sie half bei Töpferkursen und interessierte sich für Glasbläserei. Auf dem Papier wirkte sie wie jemand, der Geld nur verdiente, um sich in der Freizeit selbst verwirklichen zu können.

Natürlich kam es vor, dass Personen morgens erwachten und entschieden, an diesem Tag zu töten, aber in der Regel handelte es sich dabei um eine Entwicklung. In Chloés Fall entdeckten die Ermittler jedoch keinen Hinweis auf psychische Auffälligkeiten, sei es ein Tagebucheintrag oder eine Skizze mit einem Gewaltszenario.

In Chloés Blut fand man Spuren von THC und eine geringe Menge Alkohol; keine weiteren Drogen, keine Medikamente oder andere Substanzen.

In den Wohnungen der anderen Mieter gab es keine Hinweise auf einen Kampf. Vermutlich hatte Chloé die Opfer unter einem Vorwand nacheinander auf den Dachboden gelockt und sie dort getötet. Das Küchenmesser, mit dem sie selbst erstochen wurde, fand man in der Spüle. Es gab daran keine Fingerabdrücke, jedoch Rückstände von Chloés Blut. In diesem Zusammenhang kam der Gedanke auf, ob nicht die Tochter der Nachbarin als Täterin in Frage kam. Es war nicht abwegig: Sie suchte ihre Mutter, erkundigte sich bei Chloé, diese wurde panisch und es kam zu der tödlichen Auseinandersetzung. Dann fand die Tochter die Leichen, beseitigte ihre Spuren in Chloés Wohnung und verständigte die Polizei. Nur passte hier nicht ins Bild, dass man weder am Körper noch an der Kleidung der Frau etwas finden konnte, um das Szenario zu belegen, keine Kampfspuren, kein Haar oder Blut. Auch eine Wohnungsdurchsuchung blieb ergebnislos. Folglich konnte man sich aktuell nur auf Vali konzentrieren, während die Ergebnisse der zahlreichen DNA-Analysen ausstanden. Leider war nicht auszuschließen, dass weitere Personen in diesen ungewöhnlichen Fall verstrickt waren.

Über Vali fand man heraus, dass er und Chloé seit mehreren Monaten eine Beziehung führten. Offenbar hatten sie sich in dem Wirtshaus kennengelernt, in welchem Chloé bediente. Eine Durchsuchung seiner Wohnung – etwa drei Autostunden entfernt – blieb ohne hilfreiche Ergebnisse, ebenso Befragungen in seinem alten Umfeld. Man erfuhr, dass er seit etwa drei Wochen seiner Arbeitsstelle am Hafen ohne Angabe von Gründen fern blieb. Ohne ein Indiz, das ihn mit den Morden an den Nachbarn in Verbindung brachte, blieb das plötzliche Verschwinden aus seiner Heimatstadt rätselhaft. Hinzu kam, dass es keine Fälle mit einem ähnlichen Muster oder vergleichbaren Umständen gab. Aber was, wenn er Chloé manipuliert, zu einem ausführenden Instrument gemacht und sie nach vollbrachter Arbeit einfach getötet hatte? Je mehr man diese Möglichkeit beleuchtete, desto klarer wurde, dass es ein verzweifelter Versuch war, den schrecklichen Vorfällen einen Sinn zu geben.

Die forensischen Fakten lieferten keine Antworten, die einen Durchbruch in greifbare Nähe rücken ließen. Man drehte sich im Kreis. Es war, als jage man ein Phantom. Und eine solche Jagd war es möglicherweise auch, denn nur einen Tag nach der grausigen Entdeckung auf dem Dachboden fand man Valis Leiche.

Kapitel 3

Der Tod im Wald

Draußen wurde es langsam hell. Sark saß bereits vor seinem Laptop und sichtete die Fotos, die man ihm zugespielt hatte. Sie zeigten ein Waldgebiet, das durchzogen war von großen und kleinen Felsen, fast alle moosbewachsen. Am Boden erkannte er zudem knochiges Wurzelwerk. Die Bilder erinnerten ihn unweigerlich an den Aokigahara in Japan.

Über diesen Wald hatte er vor längerer Zeit eine Dokumentation gesehen. Er konnte verstehen, weshalb es Leute in das Gebiet zog, sie dort nachdachten und sich in vielen Fällen letztendlich das Leben nahmen. Es musste so befreiend sein, im Kopf den Schalter umzulegen, sich dem Unausweichlichen zu stellen und den letzten Schritt zu gehen. Ihm fehlte dazu aktuell noch der Mut.

Auf lange Sicht betrachtet, welche Wahl hatte er schon? Da sank vom Staat gesteuert konstant das Bildungsniveau, neue Kleidung war wichtiger als ein Buch und jeder dachte, er sei der Mittelpunkt der Welt, die ihm zu Füßen lag, nur um sich letztendlich auch so aufzuführen. Hinzu kam, dass die Vernetzungen von Politik und Wirtschaft so tief gingen, dass man nicht einfach ein Messer nehmen und alles trennen konnte. Konsum, Wettbewerb und Macht, alles zusammengehalten und gesteuert durch Geld. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie alles von Großkonzernen zerstört wurde, denn das würde nur die Frage aufkommen lassen, weshalb es eigentlich nicht mehr Öko-Terrorismus gab. Es starben immer wieder Menschen wegen einer nicht greifbaren Sache namens Glauben, aber niemand zog los und lief Amok mit dem Ziel, verantwortliche Aufsichtsräte, Minister und deren hörige Gefolgschaft ins Jenseits zu befördern. Stattdessen wurde diskutiert. Aber es war längst zu spät: Das Schiff war auf Grund gelaufen und dabei leckgeschlagen. Und mit der nächsten Flut, die unweigerlich kommen würde, wäre alles vorbei. Man konnte praktisch nur in die Welt ziehen, irgendwo ein halbwegs unberührtes Stück Natur suchen und sich dort zur ewigen Ruhe betten, und sei es nur für die Gewissheit, diesen Irrsinn nicht einmal mehr dadurch zu unterstützen, indem man atmete.

Vielleicht sollte er aufhören, seinen persönlichen Problemen Aufmerksamkeit zu schenken und sich lieber mit größeren Aufgaben befassen. Wie etwa mit dem Bau einer Bombe. Oder einen Politiker anfallen und dabei rufen, dass es nun Zeit ist, aufzuwachen und sich gegen die großen Systeme aufzulehnen. Aber wer würde seinem Beispiel schon folgen? Die Leute waren doch tief in ihrem Inneren zu bequem. Davon konnte er sich selbst nicht einmal völlig freisprechen, denn auf manche Annehmlichkeiten wollte er ebenfalls nicht verzichten. Am Ende wäre seine Errungenschaft ein Artikel in einer Zeitung, der für jeden darlegte, dass er ein frustrierter Versager war, den seine Frau verlassen hatte und der seine Aggressionen und den Alkoholkonsum nicht unter Kontrolle hatte. Das gezeichnete Bild würde seinen Plan zunichtemachen, einer Bewegung Leben einzuhauchen, um Dinge zu verändern und die Macht zurück in die Hände von denkenden und pflichtbewussten Menschen zu legen. Leute mochten Dramen vermutlich mehr als Selbstreflexion. Am Ende war Habgier die Wurzel allen Übels, und diese reichte bis hinab zu den Resten der ersten Menschen, aus deren Knochen sie noch immer Kraft gewann. Es war alles so aussichtslos. Es blieb wirklich nur die Suche nach einem schönen Baum, um sich daran zu erhängen.

Sark bemerkte das Abgleiten seiner Gedanken und schaute nach links, wo die aufgehende Sonne hinter den Fensterscheiben damit begonnen hatte, ihre goldorangenen Strahlen in den Morgen zu schicken, um die restlichen Schatten zu vertreiben. Am dunkelblauen Himmel sah er die letzten Fetzen der Wolken, die der Sturm der letzten Nacht zerrissen hatte, einige dunkelgrau, andere weiß oder lichtgeküsst rosarot brennend.

Sark stand von der Couch auf, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Mit einer zerknickten Zigarette im Mundwinkel lief er zur Balkontür, öffnete sie und trat in den angenehm frischen Morgen. Er stellte die Tasse auf den kleinen Tisch aus Metall, der neben der kleinen Couch stand, die einen Großteil der Balkonfläche einnahm, und überblickte die Stadt. In der Ferne erhoben sich die Gebäude, Schornsteine, Kräne und Eisenkonstruktionen des Industriegebiets. Die Häuser wirkten beinahe wie Scherenschnitte, die sich dunkel vom Sonnenlicht im Hintergrund abhoben. Rechts lag der große Hafen mit seinen Lagerhallen. Trotz der Entfernung konnte Sark die Geräusche der Fahrzeuge und Maschinen hören.

Ob es ein heißer Tag werden würde? Die Wohnung in einem Hochhaus war nie seine erste Wahl gewesen, aber sie war billig und an warmen Tagen noch immer besser gelegen als all jene in den Straßen, zu denen sich mitunter nicht einmal der Wind verirrte. Über ihm gab es zwei weitere Etagen, aber er war sich nicht einmal sicher, ob dort überhaupt jemand wohnte.

Er war schon oft mit dem Vorsatz auf den Balkon getreten, es endlich hinter sich zu bringen und einfach zu springen. Doch bisher hatte er stets kehrtgemacht und den Schritt aufgeschoben, nicht verworfen. Dieser Tatsache war er sich durchaus bewusst.

Vor seinen Augen verband sich der Zigarettenqualm mit dem Rauch der hohen Schornsteine. Er fröstelte. Es fühlte sich angenehm und belebend an.

Nach einem Schluck Kaffee rauchte er fertig, warf die Kippe in ein Marmeladenglas mit etwas Wasser, holte den Laptop aus dem Wohnzimmer und nahm auf der kleinen Couch Platz, um die Fotos weiter zu studieren. Hin und wieder schloss er die Augen, um das wärmende Licht der Sonne zu genießen, das sein blasses, unrasiertes Gesicht berührte.

Was er den einzelnen Aufnahmen und mehreren Protokollen entnehmen und zu einem Gesamtbild zusammenfügen konnte, sah so aus: Vali war mit Chloés Wagen in ein ausgedehntes Waldgebiet gefahren, hatte dort auf einem Parkplatz eine Vollbremsung gemacht und war aus dem Auto gestiegen. Er hatte weder den Motor abgestellt noch die Tür hinter sich zugeschlagen, ehe er in den Wald gelaufen war. Das legte nahe, dass er vor jemandem flüchten wollte.

Als am nächsten Morgen ein älteres Ehepaar den Parkplatz erreichte, um in der Umgebung Pilze zu sammeln, war der Motor bereits mangels Benzin verstummt. Da es dort in der vorangegangenen Nacht seit über zwei Wochen erstmals nicht geregnet hatte, war das Fahrzeug komplett trocken, und das wiederum sagte den Ermittlern, dass zwischen Chloés Tod und dem Fund ihres Autos nicht nur knapp 630 Kilometer lagen, sondern auch drei Tage. Die Unterlagen erwähnten in diesem Zusammenhang erneut, dass man Chloés Leiche erst zwei Tage nach ihrem Tod fand. Somit war es einerseits Glück, dass Vali in diesem Zeitfenster nicht untergetaucht war, andererseits ein Rückschlag, da er nun keine Fragen mehr beantworten konnte. Leider gab die Entwicklung zudem der Theorie mehr Raum, dass es weitere Beteiligte gab.

Im Kofferraum stellte man eine Einkaufstüte aus Plastik mit blutiger Kleidung sicher. Das Blut stammte ausschließlich von Chloé.

Valis Leiche wurde mittels Spürhunden entdeckt, etwa vier Kilometer vom Parkplatz entfernt, inmitten einer weitläufigen Felsformation: Zahllose große und kleine Felsen ragten von Moos bedeckt unterschiedlich hoch auf, teils getrennt von Spalten, in denen man bei einem ungeschickten Schritt durchaus mit dem Fuß hätte stecken bleiben können. Die Oberfläche der Felsen war glatt, als hätte sie ein gigantischer Strom in Urzeiten von jeder Unebenheit befreit. Den ersten Erkenntnissen zufolge war Vali ausgerutscht, mit dem Kopf auf einen der Steine geprallt und tot seitlich in eine der Spalten gerutscht. Aktuell deutete nichts auf eine Fremdeinwirkung hin. Die einzige Spur, die es gab, waren Kratzer an Valis Händen und Unterarmen. Diese stellten eine Verbindung zu Chloé dar, denn unter ihren Fingernägeln fanden die Ermittler entsprechende Hautpartikel und getrocknetes Blut und damit den Beweis für eine stattgefundene Auseinandersetzung.

Sark trank den Rest des mittlerweile kalten Kaffees und überlegte. Dass es Vali in den drei Tagen lediglich 630 Kilometer weit geschafft hatte, eröffnete zwei Möglichkeiten: Entweder war er mehr oder minder ziellos durch die Gegend gefahren oder er hatte sich zwischenzeitlich irgendwo versteckt.

Wer hatte ihn verfolgt und dazu bewogen, Hals über Kopf in den Wald zu rennen? Jemand, der Chloé bei den Morden geholfen hatte? Vielleicht war Vali hinter die Sache gekommen, hatte Chloé zur Rede gestellt und getötet, als die Situation eskalierte. Möglicherweise war die unbekannte Person zu dieser Zeit sogar im Haus oder in der Wohnung. Wie sonst hätte jemand Vali nach dessen Flucht aufspüren und verfolgen können? Handelte es sich um einen oder mehrere Mitwisser? Wollte man mit Vali einen Risikofaktor beseitigen? Man fand keinen Hinweis auf einen Beifahrer, obwohl das gut ins Bild gepasst hätte: Es kam spontan zu einem Streit, Vali hielt und eilte in den Wald.

Nun hatten sie mehrere Leichen, darunter leider auch die bisher einzigen Personen, die mit den Geschehnissen auf dem Dachboden in Verbindung zu bringen waren. Eine sehr schlechte Ausgangsposition. Aber vielleicht ließ sich etwas Brauchbares in den Daten der Laptops finden, die Sark in der Wohnung gesehen hatte.

Mit diesem Gedanken verfasste er eine E-Mail.

Zwischenspiel

Der Atem des Teufels

Sark beobachtete aus dem Mietwagen heraus, wie der Mann mit einer jungen Frau an seiner Seite das Hotel betrat. Er schaute zur Sicherheit ein weiteres Mal auf das Foto, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Er stopfte die Unterlagen in das Handschuhfach und klappte es zu. Dann prüfte er den Sitz der Pistole, des Kampfmessers und seines Teleskopschlagstocks und stieg aus dem Auto. Er sah sich unmerklich aus den Augenwinkeln heraus um und überquerte die Straße. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz nach 20 Uhr war. Das goldene Licht der einsetzenden Dämmerung warf lange Schatten. Ein lauer Wind ließ die Kronen der Bäume, welche die Straße säumten, leicht raunen. Es waren kaum Leute unterwegs. Ein junges Pärchen lief Hand in Hand am Eingang des Hotels vorüber; die zwei lachten über irgendetwas.

Sark löste die schief sitzende Krawatte mit ihrem schlechten Knoten, nahm sie ab und steckte sie in die Tasche seines Jacketts. Dann drückte er die Schwingtür des Hotels auf und betrat die kleine Empfangshalle.

Der Portier sah von seiner Arbeit hinter dem Tresen auf. Man kannte sich. Sark erlangte die Informationen gekonnt ohne viele Worte. Ein Geldschein stellte zudem sicher, dass die Sache diskret ablief und bereits vergessen war, als er die Treppe betrat und die Stufen nahm, deren dicker, weicher Teppich die Schrittgeräusche fast vollständig schluckte.

In der vierten Etage angekommen, hielt er auf dem Treppenabsatz inne und lauschte. Eine der Türen wurde abgesperrt. Er trat auf den Gang, schaute nach links und rechts, orientierte sich anhand der Zimmernummern und steuerte Nummer 408 an. Er prüfte den Sitz seines Jacketts, um sicherzustellen, dass das Schulterholster mit der Pistole so wenig zu sehen war wie der Teleskopschlagstock seitlich am Gürtel. Schließlich klopfte er an die Tür, doch nichts geschah. Er klopfte erneut, diesmal etwas kräftiger.

Es dauerte einige Sekunden. Dann rief der Mann im Raum mit sichtlich genervter Stimme: „Ja?!“

„Es gibt ein kleines Problem“, antwortete Sark. „ Ihnen wurde ein falsches Zimmer berechnet.“

„Kann das nicht bis morgen warten?“

„Sagen Sie das mal dem Hotelmanager, der sitzt uns im Nacken und wartet nur auf solche Fehler.“ Sark lachte. „Vielleicht kennen Sie das ja.“

„Das ist jetzt wirklich ungünstig!“

„Es wird nicht lange dauern“, beteuerte Sark. Er hoffte, dass der ausgeworfene Köder angenommen wurde; er wollte nicht extra die Tür eintreten. „Eine Unterschrift, Sie bekommen etwas Geld zurück und ich bin wieder weg.“

Sark hörte, wie die Tür aufgesperrt wurde. Sie öffnete sich.

Genervt ausatmend erschien das Gesicht der Zielperson in Sarks Blickfeld.

„Wo muss ich denn unterschreiben?“ fragte der Kerl, der die Tür nur einen Spalt weit geöffnet hatte und so den Blick auf den Raum dahiner blockierte. Er trug nur eine Jeans, deren Gürtelschnalle offen war.

Ehe der Mann registrierte, dass er in eine Falle getappt war, verpasste Sark ihm einen Handballenschlag mitten ins Gesicht und setzte mit einem frontalen Tritt in den Unterleib nach.

Der Mann, blind von den tränenden Augen, hielt sich die gebrochene Nase und taumelte schmerzgekrümmt rückwärts in den Raum.

Sark zückte den Teleskopschlagstock, der klickend zu seiner kompletten Größe wuchs, betrat das Zimmer und schlug dem Mann in den Leberbereich und auf den rechten Oberschenkel. Er warf die Tür hinter sich zu, ohne den Blick von dem Mann zu nehmen, dessen Blut Kleidung und Boden befleckte.

Sark überblickte in Bruchteilen einer Sekunde die Szene: Im leeren Badezimmer brannte Licht, der Zimmerschlüssel lag auf dem kleinen Tisch bei den Fenstern und am Fußende des Doppelbetts, das rechts vor der Wand stand, kniete die junge Frau mit entblößtem Oberkörper.

Der Atem des Teufels. Seit Wochen wurde das Zeug unter Dieben und Vergewaltigern in der Stadt immer beliebter. Sark sah die Vermutung, dass die Droge auch hier zum Einsatz gekommen war, bestätigt: Die Frau war nichts weiter als eine willenlosen Marionette.

„Leg’ ihn um!“ brüllte der Mann und zückte dabei ein kleines, gekrümmtes Kampfmesser. Er spürte deutlich, dass es um alles ging, und genau das verlieh ihm neue Kraft.

Kollegen hätten den Kerl als unberechenbar eingestuft, aber nicht Sark. Er hatte genug gesehen und erlebt, um sich in dieser Situation nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Die junge Frau – Anfang, höchstens Mitte 20 – stand auf. Der Mann hob die Klinge und positionierte sich so, dass die Frau zwischen ihm und Sark war. Sie trat nach Sark und kam kreischend wie eine Furie auf ihn zugesprungen, doch er wich seitlich aus und versetzte ihr mit dem Schlagstock einen Hieb gegen den Kopf, woraufhin sie aus ihrer Bewegung heraus bewusstlos zusammenbrach und mitten im Raum liegen blieb.

Der Mann trat die Stühle am Tisch zur Seite, um Platz zu schaffen. „Was willst du, du Wichser?“ Er wischte sich das Blut, das aus der Nase rann, am Unterarm ab. Es war zwecklos, denn direkt kam neues Blut nach, beinahe wie Wasser.

Sark reagierte gar nicht auf die Frage und griff mit der linken Hand in die Tasche seines Jacketts und holte ein Smartphone hervor. Er hob das Gerät, um wählen zu können, ohne den Kerl aus den Augen zu lassen. Dieser spielte offensichtlich Möglichkeiten durch, sich aus dieser Lage zu befreien, denn er sah sich um und versuchte dabei vergeblich, sich nichts anmerken zu lassen. Ob er es auf einen Wurf mit dem Messer ankommen lassen würde?

Das Gespräch wurde angenommen. „Ich habe ihn.“ Sark gab den Namen des Hotels und die Zimmernummer durch und beendete das Telefonat. Er steckte das Smartphone ein.

Der Mann wusste, dass die Zeit knapp wurde. Deshalb ging er mit dem Messer voran brüllend auf Sark los. Sark tauchte seitlich ab und versetzte dem Mann einen Schlag mitten ins Gesicht. Das Ende des Teleskopschlagstocks ließ Zähne splittern und spaltete die Oberlippe. Der Kerl ließ das Messer fallen. Er ging zu Boden. Sark setzte mit gezielten Schlägen auf die Schultern, den Rücken und die Nieren nach, während er das Messer unter das Bett trat. Der Mann rollte sich zusammen und hielt schützend die Arme über den Kopf.

„Ich werde dir jeden Verrückten der Stadt auf den Hals hetzen!“ schrie der Mann. Durch die Verletzungen klangen die Worte feucht und undeutlich.

„Hoffentlich hältst du dein Wort“, sagte Sark und trat mit seinen Stahlkappenstiefeln nach dem Mann. Er hörte, wie Knochen brachen. „Die Versager suchen nämlich immer das Weite.“

Die Ruhe in der Stimme und der Ton, welcher der einer beiläufigen Äußerung war, verrieten dem Mann mehr über Sarks Innenleben, als dieser sich selbst eingestand. Er wusste, dass das Spiel vorbei war. Und er bedauerte zutiefst, dass der Übergriff jetzt stattgefunden hatte. Wie gerne hätte er sich hier einige Stunden ausgetobt. Das wäre ein schöner Abschied von seiner Freiheit gewesen.

Sark versetzte dem Mann noch einen Hieb in die Nierengegend und ließ dann von ihm ab. Er zog die Decke vom Bett und bedeckte damit den Oberkörper der bewusstlosen Frau, damit sie nicht halbnackt vor den Polizisten liegen würde, die auf dem Weg zum Hotel waren.

Der Mann kroch wie ein verwundetes Tier in die Ecke zwischen Schrank und Fenster und blieb dort gekrümmt hocken. Er hielt sich die Seite und beobachtete jede Bewegung, die Sark machte. Durch den großen Spalt in seiner Oberlippe lagen Reste der Schneidezähne frei, die in all dem Blut nur noch zu erahnen waren.

„Du hast wirklich keine Ahnung, mit wem du dich hier anlegst“, begann der Mann und tastete mit dem Zeigefinger den Mund ab. Der Schmerz ließ seine Hand zurückweichen. „Ich kenne viele Leute.“

Sark betrachtete die junge Frau. Sie atmete ruhig. Dann sagte er: „Ich auch. Einige davon warten auf frisches Fleisch. Und keine Sorge, bevor du deine Zelle beziehst, wird schon jeder wissen, was für ein Genie du bist.“

Es klopfte an der Tür. Ein Polizist, den Sark an der Stimme erkannte, bat um Einlass.

Sark, der den Teleskopschlagstock bereits weggesteckt hatte, lief seitlich zur Tür, um dem Kerl keinesfalls den Rücken zuzukehren, und öffnete.

„Wo ist er?“ fragte der Mann im Anzug. Hinter ihm standen zwei Polizeibeamte in Uniform.

Sark machte den Männern Platz. „Da hinten.“

Als der Polizist im Anzug den Raum betrat und die Szene sah, warf er Sark einen ernsten Blick zu. „Was soll die Scheiße? Seyler wird ausrasten!“

„Die Kleine wird nichts wissen und er hat sich gewehrt“, sagte Sark, ohne weiteren Kommentar. Dann trat er hinaus auf den Flur. Hinter sich hörte er das Klicken der Handschellen und wie einer der Beamten einen Krankenwagen anforderte. Er sah auf seine Uhr und lief Richtung Treppe.

„Warte!“ rief der Mann im Anzug.

Sark blieb stehen und drehte sich um.

„Gute Arbeit“, sagte er anerkennend. „Aber du musst wirklich etwas gegen deine Aggressionen tun, das wird immer schlimmer.“

„Möglich“, entgegnete Sark gleichgültig.

„Irgendwann sterben noch Unbeteiligte.“

„Ich weiß.“ Damit wandte sich Sark ab und ging.

Kapitel 4

Blick nach innen

Woher hätte Sark wissen sollen, dass die Wahl des Kerls an jenem Tag ausgerechnet auf die Tochter eines relativ einflussreichen Politikers fiel? Und nur, weil er ihr eine Gehirnerschütterung verpasst hatte, setzte der Herr Vater offenbar nun einiges daran, ihm das Leben schwer zu machen. Wie es überhaupt zu dem Treffen der beiden kommen konnte, welche möglichen familiären Probleme es im Vorfeld gab, das fragte niemand; es interessierte auch nicht. Sark war der gefundene Sündenbock, auf den alles projiziert wurde. Dabei sollte der Politiker Sark dankbar sein, dass seine Tochter noch lebte. Aber so waren nun einmal nicht die Regeln bei den kleinen und großen Machtspielchen, das war Sark durchaus bewusst, dennoch fand er es lächerlich. Er hatte den Namen des Politikers schnell herausgefunden – Arnio Kerns –, aber ein Besuch hätte die Sache nur verschlimmert. Er widerstand diesem Drang, ein Zeichen dafür, dass sich seine geistige Zurechnungsfähigkeit doch noch nicht völlig im Alkohol aufgelöst hatte. Und währenddessen schwiegen sich die Zeitungen zu dem Thema aus. Es wurde nur berichtet, dass der Kerl verhaftet wurde, nachdem er seit geraumer Zeit sein Unwesen getrieben und insgesamt 19 junge Frauen missbraucht und misshandelt hatte. Eine von ihnen war sogar an den ihr zugefügten Verletzungen gestorben. Doch all das hatte nun glücklicherweise ein Ende. Ehrenwerter Sark. Und niemand richtete den Scheinwerfer auf ihn.

Sark wusste, dass er rücksichtslos alles daran setzen würde, jeden aufzuspüren und unter die Erde zu bringen, der auch nur versuchte, Anna etwas Derartiges anzutun.

Anna. Sie war mittlerweile 15 und längst nicht mehr das kleine Mädchen, das er meist sah, wenn er an sie dachte. Seit Mara ihn verlassen hatte – Anna war damals 7 –, bekam er ihre Entwicklung nur noch bruchstückhaft mit. Zum einen lag das an der Distanz von etwa 9 Autostunden, zum anderen an mehreren Verfehlungen seinerseits, in erster Linie Rückfälle und gebrochene Versprechen und Vorsätze.

Mara hatte vor einigen Jahren wieder geheiratet, einen ihrer Arbeitskollegen. Sie lebten in einem schönen Vorort und besaßen ein kleines Haus mit Garten und Pool. Welch idyllisches Familienleben, etwas, das für ihn so weit weg war und zugleich unvorstellbar. Es gab nie böses Blut zwischen Mara und ihm. Sie hatte Sark schlichtweg aufgegeben. Sie wünschte ihm nichts Schlechtes, das wusste er. Sie war aber auch der Ansicht, und daraus machte sie kein Geheimnis, dass er sein Leben weggeworfen hatte, zumindest einen Teil davon. Völlig falsch lag sie damit nicht. Und er rechnete es ihr hoch an, dass sie ihm nicht vorhielt, auch ihr Leben verschwendet zu haben. Er hatte stets für seine Familie gesorgt und ihnen im Rahmen seiner Möglichkeiten gezeigt, dass er sie liebte. Doch irgendwann hatte seine Aura damit begonnen, Gift zu verströmen, ein Gift, das Mara nicht länger hatte erdulden können; wie ein nerviges Jucken an einer Stelle auf dem Rücken, die man nur schwer erreicht. Sie musste ja auch an Anna denken. Er verstand das. Und trotz allem war er irgendwie dankbar, dass sie die Reißleine gezogen und ihn verlassen hatte, denn so konnte Anna in einer besseren und vor allem freundlicheren, positiveren Umgebung aufwachsen.

Anna hatte das alles damals nicht verstehen können, wie auch, und natürlich hatte sie später auch ihre Phasen, in denen sie nicht mit ihm am Telefon sprechen oder ihn sehen wollte, aber mittlerweile realisierte sie, dass er trotz seiner Fehler stets versucht hatte, nicht so sein, wie die Väter einiger Freundinnen, die einfach ausgezogen waren und sich, wenn überhaupt, nur mit einer lieblosen Weihnachtskarte meldeten. Als sich Mara von ihn trennte, überwies er jeden Monat einen Großteil seines Einkommens, was sie nach ihrer zweiten Heirat jedoch nicht mehr wollte. Sie waren daher übereingekommen, für Anna ein Konto anzulegen, und auf dieses ging nach wie vor jeden Monat ein nicht geringer Betrag, der sie später bei einem Studium oder einer Ausbildung, der ersten Wohnung, dem eigenen Auto oder bei der Wunschreise in ferne Länder unterstützen sollte. Bis zur Volljährigkeit würde Anna davon nichts erfahren.

Mit Maras Mann hingegen kam Sark gar nicht klar. Er hasste ihn nicht, aber sie hatten keinerlei Gemeinsamkeiten. Und irgendwie war das auch gut so, denn das bedeutete mehr Sicherheit und ein besseres Umfeld für Anna. Das war alles, was zählte.

Wenn Sark über diese Dinge nachdachte, erkannte er den Wandel, der die Welt unaufhörlich formte. Nur er blieb wie versteinert auf der Stelle. Nach der Trennung hatte er mehrere Affären, aber nie etwas von Dauer oder gar Bedeutung. Irgendwann wurden ihm die zwischenmenschlichen Verpflichtungen zu anstrengend und er begnügte sich mit dem einen oder anderen Gefallen der Frauen aus dem Rotlichtmilieu, die er durch seine Arbeit kannte und denen er auch nach wie vor half, wenn es beispielsweise Probleme mit Freiern oder einem Zuhälter gab. Mittlerweile hatte er selbst an ihren Diensten kein Interesse mehr. Er war sich nicht sicher, ob es eine Art der Selbstgeißelung war oder der Versuch, sich immer weiter aufzulösen und sämtliche Verbindungen zu Menschen, so oberflächlich oder innig sie auch sein mochten, im Sande verlaufen zu lassen, um letztendlich irgendwo in Ruhe zu sterben und nicht einmal eine Träne zu kosten.

Niemand brauchte ihn. Mara war versorgt und Anna längst nicht mehr in einem Alter, wo sie darauf angewiesen war, dass er ihr Essen kochte, die Haare wusch oder Socken anzog. Sie war selbstständig und er überflüssig, nicht mehr nötig für ihr Überleben. Aber das war gut, oder? Das zeigte doch, dass sie bisher nicht auf die schiefe Bahn geraten war, etwas, das ihr in ihrem alten Umfeld eventuell widerfahren wäre. Anna hieß es nicht gut, dass er damals so viel getrunken hatte, auch nicht, dass er nach wie vor seine Probleme mit Alkohol bekämpfte, aber sie verstand den Preis seiner Arbeit. Er zerstörte sich und sein Leben für das Wohl anderer und für die Gerechtigkeit, sofern es so etwas überhaupt gab. Das waren nicht Sarks Worte, sondern Annas. Er befand sich nur in einem grauen, stinkenden Sumpf, aus dem es kein Entrinnen gab, in einer Welt, die er sich selbst geschaffen hatte.

Immerhin wusste er, dass Schwarz nicht mehr Annas Lieblingsfarbe war. Sie hatte ihm letztens ein Foto auf das Smartphone geschickt, offenbar nicht von ihr selbst aufgenommen. Darauf hatte sie knallrote, halblange, nach allen Seiten hin abstehende Haare und trug zerrissene Jeans, ausgetretene, braune Lederschuhe, einen grünen Schal, einen gelben Pullover und einen halblangen, leichten Mantel in Dunkelgrau, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. So etwas konnte er noch verarbeiten, denn es fiel ihm generell schwer, den Themen der Jugend zu folgen. Aber wer konnte das ab einem bestimmten Alter schon? Er freute sich jedoch immer darüber, etwas von ihr zu erfahren, die Dinge, die er in ihrem Leben verpasste und die sie mit ihm zu teilen bereit war.

Wenn sie ihn besuchte, war es für Sark ein Hauch von Normalität, für Anna hingegen eine Pause von all den wichtigen und unwichtigen Dingen, mit denen ihr Leben gefüllt war. Bei ihm konnte sie im Schlafanzug auf der Couch sitzen und den ganzen Tag ungeschminkt draußen herumlaufen, etwas, das im größten Teil ihres Freundeskreises nicht unkommentiert geblieben wäre.

Er rechnete es Mara hoch an, dass sie ihm den Kontakt zu Anna nicht völlig verwehrt hatte. Sie hätte es tun können, keine Frage, aber vermutlich wusste sie genau, dass ein solcher Entschluss der finale Dolchstoß für Sark gewesen wäre.

Und nun spielte er trotzdem hin und wieder mit dem Gedanken, alles zu beenden. Diese Phantasie hatte allerdings auf ihre Art etwas Gutes, denn sie gab ihm zumindest kurzzeitig das Gefühl, doch noch die Kontrolle über sein Leben zu besitzen.

Kapitel 5

art brut

An Sarks Vorgesetztem vorbei erhielt er weitere Daten – Berichte und Fotografien. Dabei erfuhr er, dass die Ermittlungen mehr oder minder zum Stillstand gekommen waren, nachdem feststand, dass die Leichen auf dem Dachboden in der Tat die Mitbewohner des Hauses waren. In Valis Körper fand man keine auffälligen Substanzen und sein Tod wies nicht ein Indiz auf, das gegen einen Unfall sprach. Zudem gab es keine Hinweise auf eine unbekannte Person, vor der Vali möglicherweise in den Wald geflüchtet war. Zwar stand die Theorie im Raum, dass das Verlassen des Fahrzeugs eine Affekthandlung war und er sich irgendwo das Leben hatte nehmen wollen, aber dafür mehrere Kilometer durch unwegsames Gelände laufen, machte nicht viel Sinn. Zu allem Überfluss ergaben sämtliche Befragungen nichts Hilfreiches. Es wurde weder eine unbekannte Person dabei beobachtet, wie er oder sie das Haus betrat oder sich in der Nähe aufhielt, noch konnten Freunde und Bekannte von Vali und Chloé Angaben machen, mit denen sich die letzten Tage des Paares verlässlich rekonstruieren ließen. Fest stand, dass die Nachbarn innerhalb mehrerer Tage und nicht kurz hintereinander getötet wurden, was die Frage aufwarf, ob Vali nicht doch daran beteiligt gewesen war, auch wenn es keine eindeutigen Spuren gab, die das belegten. Ebenso unklar blieb, ob er von alledem etwas mitbekommen hatte. Er war offenbar keiner neuen Tätigkeit nachgegangen, seit er vor Wochen seine alte Stelle ohne Kündigung verlassen hatte. Dass er in dieser Zeit nicht faul auf der Couch gesessen hatte, legten die Daten nahe, die Sark durchging, doch einen Reim konnte er sich zunächst nicht darauf machen.

Je mehr er über den Fall nachdachte, desto bewusster wurde ihm, dass er wohl die einzige Person war, die Chloé ihren Frieden schenken konnte. Über kurz oder lang würden die Akten immer tiefer im Archiv verschwinden, bis die Erinnerung an sie nichts weiter war als der Staub auf den Kartons. Alle beteiligten Personen waren tot und die Lebenden konnten keine nützlichen Informationen liefern. Tief im Inneren spürte er, dass die noch andauernden Untersuchungen von Spuren und DNA letztendlich in einer Sackgasse enden würden. Positiv hingegen war, dass er bei seinen Nachforschungen Seyler aus dem Weg gehen konnte. Und es bestand nicht das Risiko, die Tochter eines Politikers bewusstlos zu schlagen – zumindest hoffte er das.

Als Sark mitten in der Nacht aus einem Alptraum erwachte, einem Leiden, das ihn seit Jahren in unregelmäßigen Abständen heimsuchte, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Deshalb zog er seinen Bademantel an, griff sich ein Starkbier und setzte sich auf die Couch auf dem Balkon. Er hörte die Sirene eines Krankenwagens irgendwo in der Nähe.

Alpträume. Er konnte ihnen nur mit Alkohol begegnen, denn dieser ließ ihn nicht nur vergessen, er minderte auch die Wahrscheinlichkeit des Träumens. Er konnte vor der Vergangenheit nicht fliehen, aber er konnte zwischen sich und die Bilder einen Schleier spannen, eine nebelige Wand, die zumindest kurzzeitig Linderung versprach.

Er überlegte, ob er eine Zigarette rauchen sollte, während er die wenigen Sterne betrachtete, die sich der Lichtverschmutzung widersetzen konnten. Je größer die Städte wurden, desto leerer wurde der Himmel.

Nach ein paar Schluck stand er auf, lief zurück ins Wohnzimmer und schaltete den Laptop ein, um sich den neuen Daten zu widmen. Das war eine bessere Beschäftigung als sinnloses Rauchen und ein Streifzug durch seine Gedanken; es lenkte ihn ab.

Er wusste bereits, dass sich Vali mit art brut befasst hatte, denn es wurden entsprechende Links zu einer Vielzahl von Quellen im Internet auf seinem Laptop gefunden. Ob das eine Parallele zu den Geschehnissen auf dem Dachboden war, konnte er nicht sagen – und nicht ausschließen, denn einige der Zeichnungen und Plastiken, die Sark bei den Nachforschungen sah, erinnerten durchaus an die Fotos vom Tatort.

Sark ließ sich die Lesezeichen des Internetbrowsers nach ihrem Erstelldatum sortiert anzeigen und verfuhr auf die gleiche Art mit dem Verlauf aller besuchten Links. Dabei wurde klar, dass Vali vor Wochen kurze Videos und längere Dokumentationen zum Thema art brut sah, was danach immer häufiger Gegenstand seiner Online-Aktivität wurde. Vielleicht hatte ein Bericht, auf den er zufällig gestoßen war, sein Interesse geweckt. In seinem Freundes- und Bekanntenkreis und in seiner Familie galt er als ruhig, höflich und ausgeglichen. Er hatte seit seiner Jugend fotografiert und offenbar geplant, einen Bildband in Eigenregie zu veröffentlichen und sich so einen kleinen Traum zu erfüllen. Es gab außer den teils grotesken Bildern, die sich hinter den Links verbargen, absolut nichts, das darauf hindeutete, dass er etwas mit den Morden auf dem Dachboden zu tun haben könnte; gleiches traf theoretisch auch auf Chloé zu, nur dass man sie mit den Taten direkt in Verbindung bringen konnte. Es gab nicht nur Spuren an den Leichenteilen und den Werkzeugen, sondern auch Blut und kleine Geweberückstände an den Sohlen ihrer Schuhe. Zudem fand man einzelne Haare von zwei Opfern im Wäschesack und zahlreiche, mit dem bloßen Auge nicht sichtbare Blutrückstände im Treppenhaus, auf dem Boden ihrer Wohnung und im Badezimmer.

Sark las die letzten Zeilen des Berichts.

Er zuckte zusammen, als er im rechten oberen Augenwinkel eine Bewegung im Türbereich der dunklen Küche ausmachte. Er bekam eine Gänsehaut.

War es wieder einer dieser Momente, in denen Träume ihre Klauen in sein Wachen schlugen? Er kannte es bereits: Entweder hörte er hin und wieder Geräusche, die nicht da waren, oder er sah Schemen und Bewegungen, in die er etwas Falsches hineininterpretierte. So wurde der Schatten eines Vogels, der morgens auf der Balkonbrüstung saß, schnell zu einer Hand, mit der sich etwas nach oben ziehen wollte. Ob es am Alkoholkonsum lag, an den vielen Jahren bei der Polizei oder an einer Kombination aus beidem, konnte er nicht sagen. Er hätte einen Experten aufsuchen können, doch hielt ihn die Angst vor einer Diagnose ab. Sein Glück war auch, dass er sich stets durch die dienstlichen Untersuchungen mogeln konnte. Es ging dabei weniger um die Meinung der anderen – viele hielten ihn ohnehin für verrückt –, es ging um ihn. Wenn er offiziell als geisteskrank eingestuft werden würde, wäre das eine Katastrophe. Der Verlust seiner Stelle wäre das geringste Problem, er konnte zur Not krumme Geschäfte machen, um an Geld zu kommen. Ihm grauste es vor der Möglichkeit, dass Mara ihm gerichtlich den Umgang mit Anna verwehren könnte. Und welche 15-Jährige brauchte schon einen offiziell durchgedrehten Vater?

Er wusste, dass alles vergänglich war, so vergänglich wie seine Träume, die ihn nachts aufschrecken ließen, aber tagsüber normalerweise keine Macht besaßen. Deshalb hatte er sich in den vielen Jahren irgendwie daran gewöhnt, hin und wieder daran erinnert zu werden, dass mit ihm etwas nicht stimmte.