Nebelthron - Troy Dust - E-Book

Nebelthron E-Book

Troy Dust

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Beschreibung

Nach einer gescheiterten Beziehung reduziert Albert seinen gesamten Besitz auf den Inhalt eines einzelnen Rucksacks. So ausgestattet begibt er sich auf eine Reise, die ihn durch Zufall an einen Ort führt, an dem Menschen leben, die alle einem gemeinsamen Traum folgen. Willkommen in Nebelthron.

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Seitenzahl: 225

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Für Marni.

»Einsamkeit ist der Weg, auf dem das Schicksal den Menschen zu sich selber führen will.«

Hermann Hesse

Inhalt

Teil 1 Nächtliche Erinnerungen

Teil 2 Neuordnung

Teil 3 Schlaflos

Teil 4 Der Regen

Teil 5 Die Stadt

Teil 6 Die Aussteiger

Teil 7 Der Friedhof

Teil 8 Thierry

Teil 9 Todesgedicht

Teil 10 Rückkehr

Teil 11 Der Park

Teil 12 Trug und Wahrheit

Teil 13 Unter den Sternen

Teil 14 Tagebuch

Teil 15 Alte Geschichten

Teil 16 Haus der Träume

Teil 17 Das Anwesen

Teil 18 Blick in die Stille

Teil 19 Ein offenes Gespräch

Teil 20 Blicke im Dunkel

Teil 21 Staub der Zeit

Teil 22 Ein Hauch von Freiheit oder Innerer Frieden

Teil 23 Der Leuchtturm

Teil 24 Zweisam

Teil 25 Abschied

Teil 26 Ausklang

Es war ein angenehmer Morgen, an dem die vom Sturm der vergangenen Nacht zerrissenen Wolken schnell am Himmel vorüberzogen und der Wind Wogen über die grünen Wiesen trieb, während sie Hand in Hand am Ufer eines Sees liefen und still die Natur betrachteten. Der kalte Tau berührte dabei ihre Haut und verursachte bei beiden ein angenehmes Frösteln. Irgendwann blieben sie stehen, wandten sich einander zu und küssten sich ...

Teil 1 – Nächtliche Erinnerungen

Er öffnete die Augen und wurde damit unversehens in die Realität zurückgeworfen, welche das beschwingte Gefühl seines Traumes erstickte. Er blickte sich kurz um und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass niemand in das Abteil gekommen war, der ihn hätte stören können. Es gab nur zwei Lichtquellen, welche die Schwärze der Nacht durchbrachen: Die Beleuchtung auf dem Gang vor dem Abteil, deren Schein durch die Lücken zwischen den zugezogenen Vorhängen drang, und die Lichter, die draußen vorübereilten, während sich der Zug ratternd seinem Ziel näherte.

Er mochte Zugfahrten. Sie hatten auf eine gewisse Art etwas Beruhigendes – wenn er keine Angst haben musste, den Anschlusszug zu verpassen –, denn er saß da und konnte lediglich auf die Ankunft warten, ohne Einfluss auf die Fahrt zu haben. Er war quasi aus dem Lauf der Welt gelöst und konnte die Zeit mit etwas verbringen, was ihm Spaß machte oder wozu sich sonst weniger die Gelegenheit bot, wie zum Beispiel das stundenlange Betrachten der sich wandelnden Landstriche. Er verglich es mit einem kleinen Urlaub, zumal er nicht gerade häufig mit der Bahn unterwegs war. Vielleicht war das der Grund, weshalb er so darüber dachte, denn als Pendler hätte er es sicherlich nicht romantisiert.

Kaum waren seine Gedanken wieder in dem Abteil angekommen, begannen sich diese erneut wie wild zu drehen, so dass es ihm krampfhaft den Hals zuschnürte und er sich konzentrieren musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Es war fünf Wochen her. Doch was sind schon fünf Wochen, wenn jeder Tag davon schmerzt wie der vorhergehende? Wenn man nach dem Schock, der alles unreal wie in einem Film erscheinen lässt, am nächsten Morgen im Bett erwacht und erkennen muss, dass man allein ist; wenn es noch eine unbestimmte Zeit dauern wird, bis dieses unwirkliche Empfinden der Erkenntnis weicht, dass die Herzen einen unterschiedlichen Takt haben. Gab es einen statistischen Wert für die Dauer von Liebeskummer? Er fand, er sollte das in Erfahrung bringen, nur um es zu wissen.

Er stellte es sich so vor: Zwei Menschen treffen sich und jeder hat Schrauben und Zahnräder dabei. Es kann nun eine perfekte Maschine entstehen, die ein Leben lang funktioniert, eine, die nach einer gewissen Zeit kaputt geht, weil sich ein Bauteil lockert oder abnutzt, oder eine, bei der die Zähne der Räder nicht passend ineinander greifen können.

Er dachte daran, wie er ihre Hand hatte nehmen wollen und sie diese zurückgezogen und leicht den Kopf geschüttelt hatte. Er erinnerte sich, wie sie beide geweint hatten und wie binnen einiger Minuten alle Zukunftspläne nichtig geworden waren. Der Boden unter seinen Füßen war einfach verschwunden. Und er suchte ihn, nicht wissend, wann und ob er ihn wieder finden würde. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er verlassen worden war, doch half ihm das so wenig wie die tröstenden Worte, die man ihm sagte.

Sein verschwommener Blick wanderte nach links. Es hätte ihm egal sein können, ob er weinte oder nicht, denn es war ja niemand da, der ihn dabei hätte beobachten können. Trotzdem versuchte er, das einsetzende Beben seines Brustkorbes unter Kontrolle zu bekommen, was durch die vereinzelten Tränen, die sich erfolgreich an die Oberfläche drängten, nicht einfacher wurde. Neben ihm lag ein Stift auf einem Schreibblock, der noch immer unbeschrieben war. Ohne danach zu greifen, drehte er seinen Kopf wieder nach rechts und schaute aus dem Fenster, wo er in der Ferne Straßenlaternen erkennen konnte. In keinem der Häuser brannte Licht. Er war einerseits froh, hier zu sein, denn er musste nicht in der Dämmerung die Wohnung verlassen und arbeiten gehen. Andererseits lagen mit Sicherheit zahlreiche verliebte Menschen beieinander, die im Schlaf sogar im gleichen Rhythmus atmeten.

Die Gedanken waren zu wirr, zu zahlreich und zu vielschichtig, um ohne Probleme den Weg auf das Papier finden zu können. Auf der einen Seite glimmte Hoffnung für die Zukunft, denn er wusste genau, dass das Leben weitergehen würde und es nur eine Frage der Zeit war, bis sich die Wunden auf ein erträgliches Maß schließen und später verheilen würden, auf der anderen brannte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben – obgleich sie es verneint hatte. Entweder war es eine Ausrede gewesen, um nicht im Streit auseinander zu gehen, oder die simple Wahrheit. Zu einer Beziehung gehören stets zwei, und da man Liebe und Zuneigung nicht erzwingen oder herbeizaubern kann, hatte er sich seinem Schicksal ergeben. Vielleicht war es ein Fehler gewesen und er hätte kämpfen müssen, aber er hatte es nicht getan, da er nicht den Drang dazu verspürt hatte, und nun war es hinfällig. Was wäre wenn? Genau das war die schier ewige Qual der Fragen, die ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte. Er hoffte nur, dass man sich weiterhin kennen würde und er nicht ein Kapitel in einem Buch war, das man herausriss, nachdem man es ausgelesen hatte. Natürlich konnte es nicht von heute auf morgen geschehen, das war ihm klar und das sollte es auch nicht, doch er wünschte sich, irgendwann wieder mit ihr zusammen etwas unternehmen zu können, mit den Gedanken mehr bei der schönen gemeinsamen Vergangenheit als bei der schmerzlichen Trennung.

Es hatten sich in den letzten Wochen und Monaten nicht wenige Pärchen in seinem Umfeld getrennt und er fragte sich auch jetzt noch, weshalb sein Stück vom Glückskuchen so klein gewesen war. Hatte er es eventuell zu schnell aufgegessen? Oder war er im vergangenen Leben ein schlimmer Herzensbrecher gewesen und musste nun dafür zahlen?

Teilnahmslos lehnte er den Kopf gegen die kalte Scheibe und starrte in die nun wieder lichtlose Welt. Auf seinen Wangen spürte er die kühlen Tränen, während sich sein Hals langsam entspannte. Ablenkung half ihm, um auf andere Gedanken zu kommen, aber spätestens vor dem Einschlafen und in einsamen Situationen wie dieser machten sich die Gefühle daran, aus ihm herauszubrechen. Aber das war normal. Es hätte ihn mehr beunruhigt, wenn es nicht so gewesen wäre.

Er hatte es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten, da in jedem Winkel die Erinnerung an sie lebendig gewesen war, obwohl sie die gesamte Beziehung über ein eigenes Zimmer in einer WG gehabt und nie fest bei ihm gewohnt hatte. Im Zuge dessen hatte er bis auf Dinge des täglichen Lebens und einzelne Kleinigkeiten seinen kompletten Besitz verkauft, sein somit stark reduziertes Hab und Gut in einen großen Rucksack gepackt, die Wohnung gekündigt und diese vorzeitig verlassen, nicht genau wissend, wohin ihn seine Reise führen würde. Das war freilich auch nicht wichtig, denn er war frei und musste auf niemanden Rücksicht nehmen oder Rechenschaft über sein Handeln ablegen. Er war bei Freunden und Bekannten untergekommen und hatte auf diese Art den einen oder anderen Kontakt wieder aufgefrischt, ehe es ihn jeweils nach ein paar Tagen erneut fortgezogen hatte. Er finanzierte sich durch Erspartes, so dass er sich keine Gedanken über einen Job machen musste und sich darauf konzentrieren konnte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Nach dieser Auszeit würde er sich mit frischem Elan neuen Dingen widmen können, denn Stillstand war, das wusste er, alles andere als hilfreich.

Er wischte sich mit dem Handrücken trocknend über die Wangen und mit den Fingern durch die Augen, um den Blick wieder zu schärfen. Anschließend erhob er sich, um das Fenster etwas zu öffnen und frische Luft in das Abteil zu lassen, nahm wieder seinen Platz ein, korrigierte kurz seine Sitzposition und schaute bewusst hinaus, wo nun in nicht zu weiter Entfernung beleuchtete Firmenlogos, Bürogebäude, Hallen und Anlagen zu erkennen waren, die von links nach rechts sein Sichtfeld passierten. Er lehnte sich wieder gegen die Scheibe und atmete tief ein.

Und wie durch ein Wunder war sein Kopf plötzlich frei von jeglichen Gedanken. Er saß nur da, betrachtete und wartete auf die Dämmerung, die in einigen Stunden einsetzen und die Welt zu neuem Leben erwecken würde.

Teil 2 – Neuordnung

„Albert?“ fragte Sandra und nahm einen kleinen Schluck des halbtrockenen Rotweins. „Albert?“

Er reagierte nicht. Er saß nur stumm neben ihr auf dem Ast des Trompetenbaums und starrte auf sein abgebrochenes Stück Baguette, das er in der linken Hand hielt, und auf das Stückchen Käse, das in seiner rechten Hand ruhte.

„Hey“, sagte sie und stieß ihm leicht mit dem Finger in die linke Seite. Da bemerkte sie, dass Tränen über seine Wangen liefen.

„Weißt du, was weh tut?“, fragte er, ohne aufzublicken. Er spielte mit dem Käse und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. „Die Erkenntnis, dass ich nicht mehr zu ihrem Leben gehöre und sie nun eigene Wege gehen wird. Wie vorher auch.“ Er sah sie kurz an. „Es ist praktisch so, als hätten wir uns nie kennengelernt.“

„Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ihr habt euch nicht gestritten und das ist sehr viel wert. Und ich glaube, dass sie kein schlechtes Bild von eurer Beziehung hat. Wieso sollte sie auch?“

„Hmmm...“

Sie wusste, dass ihre Worte nicht helfen würden. Herzschmerz konnte nicht weggeredet werden. Und man gewöhnte sich nicht daran, ob das nun gut war oder nicht. Als Kind verbrannte man sich und weinte. Später verbrennt man sich und flucht herum, anstatt zu weinen. Sie hatte sich nach beendeten Beziehungen oft eine ähnliche Reaktion gewünscht. Auch konnte sie seine Ratlosigkeit nachvollziehen. Hätte einer von beiden den anderen betrogen oder sich neu verliebt, so wäre es ein greifbarer Grund gewesen. Er hatte leider in ihren Augen nichts als schwammige Halbwahrheiten. Sie ging nicht von einer Lüge ihm gegenüber aus, aber ein deutlicheres Gespräch hätte ihm zumindest etwas geholfen, alles besser zu verstehen. Er hatte nicht darauf bestanden, trotz seines Rechts dazu, und konnte sich so auf keinerlei Fakten stützen. Aus Erfahrung wusste Sandra, dass das Spiel mit Schuld und Unschuld das reinste Gift war. Aber war das Gift schlechter als die ungeklärte Frage nach dem Warum? Es war ein wirklicher Teufelskreis an Gedanken, in dessen Mittelpunkt ein gebrochenes Herz lag.

„Scheiße“, fluchte er, als ihm der Käse aus der Hand nach unten ins Gras fiel. Ohne sich weiter darum zu kümmern, schaute er sich um.

Der Baum stand auf einer Anhöhe, von der aus man die gesamte Stadt überblicken konnte, die zu allen Seiten hin von grünen Bergen umgeben war. Überall flatterten Schmetterlinge, flogen Insekten und zwitscherten Vögel, während die Stadt ebenfalls in steter Bewegung war: Man konnte fahrende Autos erkennen, sich drehende Kräne auf Baustellen und in der Nähe kleine Fleckchen, die in Häuser gingen, aus Häusern kamen, sich außerhalb trafen oder andere Dinge verfolgten. Der Hügel war bedeckt von einer wilden Wiese, die früher oder später auf Gestrüpp und Hecken traf. Lediglich der Pfad, der nach hier oben führte, war frei von Grün. Der Ort war idyllisch und nur etwa fünf Minuten zu Fuß von Sandras Wohnung entfernt.

„Willst du noch ein Stück?“ fragte sie und war halb dabei, in den Korb zu greifen, der links neben ihr in einer Astgabel klemmte.

Ohne die Augen von der Innenstadt auf der linken Seite abzuwenden, die durch ihre alten Kirchtürme und einen markanten Neubau mit verspiegelter Fassade erkennbar war, antwortete er: „Nein, danke. Ich denke, ich würde es nur fallen lassen.“ Daraufhin lächelte er leicht und blickte kurz zu Sandra, welche das Lächeln erwiderte und einen Schluck Wein nahm. Humor hatte er noch. „Solange im Gesicht noch Platz für ein Lächeln ist, ist nichts zu spät“, hatte einmal jemand zu ihm gesagt. Darin lag sehr viel Wahrheit.

„Mit der Neuordnung hast du schon Recht. Bei mir in der WG gehen ja viele Leute ein und aus. In letzter Zeit hat fast jeder von einer Trennung oder einer Krise zu berichten, egal ob in der eigenen oder einer anderen Beziehung. Genau wie in deinem Umfeld. Es ist, als würde jemand die Gefühlskarten neu mischen, um Bewegung in die eingeschlafene Welt zu bringen.“

Er biss etwas von dem Baguette ab.

Sie sah zu ihm. „Und vielleicht ist es genau diese Neuordnung, wegen der du durch die Gegend reist und jetzt hier sitzt. Was würdest du in diesem Moment tun, wenn es nicht so gekommen wäre, wie es kam?“

Da war es wieder: Was wäre wenn? Doch er ging nicht darauf ein und lenkte vom Thema ab, indem er nach einem Glas Wein fragte.

Er wäre auf jeden Fall glücklicher, dachte sie. Sie stellte ihr Glas vorsichtig in den Korb, nahm das andere nebst der Flasche heraus und füllte es. „Wie lange kennen wir uns schon?“ Sie stellte die Flasche zurück, nahm ihr Glas und reichte ihm das andere. „Das sind doch gut und gerne zehn Jahre.“

„Das kommt hin“, sagte er, glücklich darüber, dass sie den unterschwelligen Hinweis zum Themenwechsel erhalten hatte. „Und wie oft sehen wir uns? Jedes zweite oder dritte Jahr.“

Sie lachten.

„Weißt du was?“ fragte sie und nahm einen Schluck. Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach 20:00 Uhr. „Ehe die Mücken über uns herfallen, sollten wir lieber zurück. Bei einer Freundin von mir steigt heute eine Party. Und genau da gehen wir hin.“

Er aß den Rest des Baguettes auf und spülte ihn mit einem Schluck Wein hinunter. Dann nahm er das Glas in beide Hände und klemmte sie leicht zwischen seine Oberschenkel. „Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Stimmung bin. Es gibt da bestimmt haufenweise fröhliche Menschen. Und vor allem Pärchen.“

„Es wird dich aber aus deinem Schneckenhaus locken und auf andere Gedanken bringen.“

Dem konnte er unmöglich widersprechen. Einsamkeit war für ihn nur bedingt gut, da er, wenn er nicht im inneren Gleichgewicht war, dazu neigte, zu viel zu denken. Leider auch die falschen Dinge.

„Möglicherweise wirst du dich sogar amüsieren“, fügte Sandra gespielt entsetzt hinzu, trank ihr Glas aus und stellte es in den Korb zurück.

Damit könnte sie richtig liegen, denn es war schon öfters vorgekommen, dass er trotz anfänglicher Zweifel und Proteste Spaß gehabt hatte. Natürlich hatte es Tage gegeben, an denen gar nichts geholfen hatte, aber daran wollte er nicht denken. Er würde freiwillig aus seinem Häuschen kommen, denn er hätte die Reise gar nicht erst unternehmen müssen, wenn es ihm lieber gewesen wäre, mit seinen Grübeleien allein zu sein; davon hatte es in den letzten Tagen und Wochen genug gegeben. Es reichte langsam. Jedenfalls für heute.

Nachdem sein Glas leer und wieder sicher im Korb war, kletterten sie von dem Ast herunter und traten den Weg zurück zu Sandras Wohnung an. Auf dem Trampelpfad, der nach einer Weile von Bäumen gesäumt wurde und an die Miniaturausgabe einer Allee erinnerte, blieben sie stehen, da vor ihnen ein Eichhörnchen auftauchte. Es hielt auf einer der aus dem Erdreich ragenden Wurzeln inne und schaute zu ihnen. Es richtete sich auf und verharrte.

Sandra, die Eichhörnchen zu ihren Lieblingstieren zählte, lächelte und fragte sich dabei, was es wohl dachte, während es schaute und registrierte, von den beiden Riesen beäugt zu werden.

Albert konnte sich noch daran erinnern, wie er einmal auf einem Friedhof sehr zahme Exemplare beobachtet hatte. Die kleinen Racker waren ohne Scheu bis auf einen halben Meter an ihn herangekommen. Er fragte sich nun, ob sie sich diese Eigenart angewöhnt oder ob sie gespürt hatten, dass er ihnen nichts tun würde, da er ein friedvoller Geselle war.

Irgendetwas knackte in der Nähe. Das Eichhörnchen überquerte blitzschnell den Rest des Weges und verschwand links auf einem der Bäume. Kaum war dies geschehen, liefen beide weiter, als hätte eine Ampel auf Grün gewechselt. Als sie den Baum passierten, suchten sie vergeblich nach dem Tier. Es war verschwunden.

Die Party fand in einem großen Altbau statt, welcher ausschließlich von Studenten bewohnt wurde. Die Türen in und zu allen Wohngemeinschaften des Hauses standen offen, das Treppenhaus war voller Menschen und Besucher gingen ein und aus. Selbst der Keller schien belagert zu sein. Überall ertönte verschiedenste Musik – ob nun aus einer Anlage oder von einer Akustikgitarre – und hörte man Stimmen und Geräusche. In der Luft lagen die Gerüche von Rauch, Parfum, Alkohol und Essen, das in der einen oder anderen Küche mehr oder minder spontan zubereitet wurde, ob nun frisch oder aus dem Tiefkühlfach heraus; es war ein anregendes Chaos.

Albert mochte Partys nicht sonderlich, auf denen er niemanden oder kaum eine Person kannte, doch schien er diesmal nicht der einzige zu sein, dem es so ging. Er sah nicht wenige, die offenbar planlos ohne Gegenüber an ihrem Platz standen, lehnten, hockten oder saßen, und sich an ihre Flasche, ihr Glas, ihre Zigarette oder ihren Teller klammerten. Er nahm nicht an, dass alle von ihnen auf jemanden warteten.

Es dauerte nicht sehr lange, bis Sandra die ersten ihr bekannten Gesichter sah oder sie von ihnen entdeckt wurde. Nach einigen kurzen Gesprächen entschied Albert, sich allein umzusehen, da er sich sonderbar dabei vorkam, herumgeführt und immer neuen Leuten vorgestellt zu werden, deren Namen ihm binnen 10 Minuten wieder entfielen und sich in seinem Kopf rauchgleich auflösten. Er konnte auch den drei oder vier Gesichtern keine Namen mehr zuordnen, die er von früheren Besuchen her kannte.

„Ich glaube, ich schaue mich mal eine Runde um“, sagte er zu Sandra in dem Augenblick, in welchem sie eine Flasche Bier öffnete, während er noch überlegte, ob er lieber zu einem Plastikbecher greifen und ihn mit Wein füllen sollte oder nicht.

„Bist du dir sicher?“ fragte sie, da sie wusste, dass er den Hang dazu hatte, sich einfach in eine Ecke zu setzen und schweigend zu beobachten.

Er nickte. „Zur Not habe ich deine Handynummer, sollte ich dich in dem Trubel nicht mehr finden können.“

Sie legte den Flaschenöffner auf den Tisch zurück, wo ihn sogleich ein junger Mann griff, um damit drei Flaschen zu öffnen. Sie warf den Kronkorken zu den anderen unter den Tisch und lächelte Albert zu. „Es ist schön, dass du wieder mal hier bist.“

Er hatte sich für einen herumstehenden und bereits offenen Weißwein entschieden, welchem er vom Etikett her nicht ansehen konnte, ob er lieblich war oder nicht. Auch das Herkunftsland blieb ihm verborgen. Er sah Sandra an und zog zeitgleich einen Becher aus einer Packung. Mit einem beiläufigen Tonfall meinte er: „Ich finde es schön, hier nicht auf der Straße übernachten zu müssen.“

Sie schätzte seinen Humor. Sie legte ihm kurz die Hand auf die Schulter, meinte lachend: „Du mich auch“, ehe sie in der Menschenmasse verschwand, in der sie eine Freundin ausgemacht hatte.

Albert kippte einen Schluck in den Becher, kostete und stellte fest, dass der Wein nicht trocken war. Er füllte bis zur Hälfte nach, ließ den Tisch hinter sich und schlenderte weiter.

Es war bereits nach 00:00 Uhr, wie er überrascht feststellte, als er überlegte, sich zum dritten Mal den Becher zu füllen. Er hatte sich auf einer der Treppen niedergelassen, von welcher aus er die Leute beobachtete, wie diese von A nach B liefen, und dabei der Musik und den zahllosen Stimmen lauschte.

Plötzlich hielt ihm jemand eine volle Weinflasche in das Sichtfeld und setzte sich neben ihn. Er sah nach rechts und erblickte ein herzliches Lächeln.

„Hallo“, sagte sie und schenkte ihm ohne zu fragen ein. „Du trinkst offenbar gerne Wein, wie ich beobachtete.“ Im Anschluss daran füllte sie ihren Becher. „Schon blöd, dass keine Gläser aufzutreiben sind. Ich habe es in jeder verdammten Küche versucht. Es ist nichts zu machen.“

Etwas überrascht wusste er zunächst nicht, was er sagen sollte, doch dann führte eines zum anderen, und ehe er sich versah, unterhielten sie sich, lachten und leerten gemeinsam Becher um Becher. Und wenngleich er nicht wusste, ob es vermeidbar gewesen wäre, landeten sie doch beim Thema Beziehungen – welches in Kombination mit Alkohol und seiner seelischen Verfassung ein ungünstiger Stoff war.

„Seit der Trennung weiß ich aber, was ich von einem Partner erwarte, weil ich genügend Zeit hatte, darüber nachzudenken“, sagte sie. Sie hieß Julia, hatte schwarze Haare, die ihr glatt bis zu den Schultern fielen, grüne Augen und ein wirklich schönes Gesicht. „Ich meine, ich habe es aufgegeben, nach dem perfekten Mann zu suchen. Es gibt ihn eh nicht. Und es wäre langweilig und unfair, denn ich bin auch nicht perfekt. Aber wer ist das schon?“ Sie sah von ihrem Becher auf und nahm einen Schluck.

„Man neigt eventuell dazu, sich in eine Idee zu verrennen“, meinte er.

„Da hast du wohl Recht.“ Sie seufzte. „Es ist seltsam, wie sich alles entwickelt und verändert. Einige Dinge werden niemals wieder so sein, wie sie mal waren. Nie wieder. Erst tut sich eine kleine Kluft auf und ehe man realisiert, was passiert ist, treibt man irgendwo einsam auf einer Eisscholle durch das Meer des Lebens.“

„Einsam. Ja. Von heute auf morgen fehlt etwas sehr Wichtiges.“

„Vor allem, wenn man gemeinsame Pläne hatte. Ich wollte mit ihm zusammenziehen und hatte im Grunde genommen die gesamte nähere Zukunft an ihn geknüpft. Und dann stand ich alleine da.“

„Wie ich, nur dass wir vorerst die getrennten Wohnungen beibehalten wollten, weil wir uns keine größere gemeinsam leisten konnten. Praktisch zwei Paare mit unterschiedlichen Plänen und am Ende mit dem gleichen Schicksal.“

Sie sagte nichts, sondern wirkte gedankenverloren. Offenbar hatte der Alkohol auch bei ihr die Melancholie hervorgelockt.

Sie hatte ihren Exfreund letztens angerufen und ihr war vor dem Telefonat vor lauter Aufregung richtig schlecht gewesen. Da blickte man auf eine Beziehung zurück und dann drehte man innerlich wegen eines Anrufs durch. Schon schlimm, dass sich Dinge so schnell ändern können; und einen noch unfreiwillig an die Aufregung während des Verliebtseins erinnern, wenn man sich nicht recht traut, den Hörer in die zittrige Hand zu nehmen und das erste Telefonat zu führen. Man kommt sich dabei dämlich vor, bis man quasi die eigene Geschichte von einer anderen Person erzählt bekommt. Es war seltsam und es würde seltsam bleiben. Und sie würde weiter darüber nachdenken, wie so viele vor ihr.

„Ich sollte langsam gehen“, brach Julia die Stille zwischen ihnen, trank ihren Becher aus und stellte ihn neben ihre Füße auf die Treppenstufe.

Albert nickte, denn die Idee war nicht schlecht, da er bereits die Müdigkeit fühlte, er noch Sandra suchen musste und sie beide bis zur Nachtruhe einen Fußmarsch von über einer halben Stunde vor sich hatten.

„Ich gehe schnell noch einmal für kleine Mädchen, also lauf nicht zu weit weg“, sagte sie, lächelte, stand auf und stieg die zwei Stufen zur nächsten Etage hinauf, wo sie in die linke Wohnung einbog.

Er schenkte sich den Rest aus der Weinflasche ein und fragte sich selbst, ob er Sandra suchen oder sie einfach von hier aus anrufen sollte. Und ehe er eine Antwort finden konnte, kam Julia zurück und drückte ihm über seine Schulter hinweg einen Zettel in die Hand.

„Meine Nummer. Ruf mich bei Gelegenheit einmal an, ja?“

Er nickte, stellte den Becher ab und erhob sich. „Gerne. Und danke sehr.“ Mehr wusste er vor lauter Überraschung nicht zu sagen. Zu Beginn hatte er nicht wirklich damit gerechnet, hier jemanden zu finden, mit dem er sich hätte unterhalten können. So wurde ein weiteres Mal bewiesen: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung, welche von Julia ausging, wonach sie die Treppe hinab lief, nochmals kurz winkte und dann verschwand.

Er blickte auf den Zettel, erkannte eine Mobilfunknummer, holte sein Handy hervor, ohne sich zu setzen, und speicherte die Nummer, denn wie er sich kannte, würde er den Zettel schnell verlegt haben.

Just in dem Moment, in welchem er die Nummer von Sandra wählen wollte, stand sie auch schon vor ihm.

„Du hattest ja offenbar einen tollen Abend“, sagte sie grinsend. Ihre leuchtenden Wangen verrieten, dass sie einiges getrunken hatte. „Ich habe euch gesehen.“

„Ja, wir haben uns wirklich gut unterhalten.“ Er zog ungläubig die Augenbrauen nach oben und steckte das Mobiltelefon ein. „Sie gab mir sogar ihre Nummer.“

„Das ist doch super!“ Sie boxte ihm leicht gegen die Schulter, leerte mit dem letzten Schluck ihre Bierflasche und stellte diese neben den Becher von Julia. „Wir sollten uns dann wohl langsam auf den Weg machen. Oder was meinst du?“

„Also ich habe nichts dagegen“, war seine Antwort. „Ich wollte dich gerade anrufen.“

Er ließ seinen unausgetrunkenen Becher auf der Treppe stehen und trat mit Sandra den Rückweg an.

Den Weg über schwiegen sie hauptsächlich. Für Albert war eine Stadt bei Nacht etwas Besonderes, da der Kontrast zum Tagesgeschehen sehr stark war; im Licht lärmend und stinkend und im Dunkel nahezu lautlos und erfüllt von dieser eigentümlichen Luft. Er nutzte die Stille, um in sich gekehrt den Abend nochmals Revue passieren zu lassen.

Sandra hingegen beobachtete den Sternenhimmel und registrierte, dass der Lauf ihren Geist belebte und die vom Bier gespendete Leichtigkeit in ihren Bewegungen dämpfte. Dafür machte sich mehr und mehr die Müdigkeit bemerkbar. Sie fand es gut, dass sich Albert nicht verkrochen und in seinem Trübsal gewälzt hatte. Ihr Blick glitt bei diesem Gedanken zu ihm und sie musste schmunzeln, denn nun war er es, der unbeirrt hinauf zum Firmament schaute.

Teil 3 – Schlaflos

Ein Schatten. Damit war am ehesten das zu beschreiben, in was er sich laut anderen Meinungen zu verwandeln drohte. Und irgendwie hatten sie Recht. Seit über drei Wochen wachte er nach maximal zwei bis drei Stunden Schlaf auf, und wenn er den Weg zurück fand, war die Ruhe nicht von längerer Dauer. Er hatte jedoch festgestellt, dass er durchschlafen konnte, wenn er nicht allein im Raum war – leider ohne plausible Erklärung. Zu diesem anhaltenden Schlafmangel gesellte sich der Umstand, kaum ein Hungergefühl zu verspüren. Er musste sich daher ans Essen erinnern und dazu zwingen. Das alles, kombiniert mit der nervlichen Anspannung, war der Grund dafür, dass er innerhalb von kurzer Zeit manches an Gewicht verloren hatte und sich kraftlos und nahezu ununterbrochen müde fühlte.