Die englische Gärtnerin – Blaue Astern - Martina Sahler - E-Book
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Die englische Gärtnerin – Blaue Astern E-Book

Sahler, Martina

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Beschreibung

Die Gärtnerin von Kew Gardens  England, Juni 1920. Charlotte Windley träumt davon, in der prächtigen Parkanlage Kew Gardens zu arbeiten. Schon ihr Großvater war Botaniker und hat ihr auf gemeinsamen Reisen die Schönheit der Pflanzen gezeigt. Charlotte erkämpft sich ihren Platz und bekommt sogar angeboten, mit ihrer großen heimlichen Liebe Dennis auf Expedition zu gehen. Da zerstört ein furchtbarer Unfall alle ihre Hoffnungen. Die Ehe mit dem Deutschen Victor wäre der perfekte Ausweg für Charlotte. Doch sind Victors Versprechen die Antwort auf ihre großen Träume? Englische Gartenkunst, unbändige Blütenpracht und eine junge Frau, deren Träume in den Himmel wachsen.

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Die englische Gärtnerin – Blaue Astern

Die Autorin

Martina Sahler lässt sich bei der Gestaltung ihres eigenen Gartens am liebsten von den englischen Botanikern inspirieren und verbringt im Frühjahr, Sommer und Herbst viel Zeit mit der Recherche in England, bevorzugt in Sissinghurst und Kew Gardens. Mit ihren bisherigen historischen Serien hat sie eine begeisterte Leserschaft gewonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.www.martinasahler.de

Das Buch

London, 1920. Charlotte Windley scheint das Glück auf ihrer Seite zu haben. Bereits als Kind bereiste sie mit ihrem Großvater die englischen Inseln, immer auf der Suche nach seltenen Pflanzen. Jetzt ist sie in der prächtigen Parkanlage Kew Gardens als Botanikerin angestellt und könnte mit ihrem heimlichen Geliebten nach Asien fahren. Doch ein schrecklicher Unfall hinterlässt ihre Familie beinahe mittellos. Charlotte ringt mit sich, soll sie die Expedition absagen? Und auf das Werben von Victor Bromberg eingehen? Die Ehe mit dem weltgewandten deutschen Geschäftsmann würde sie von vielen Sorgen befreien. Victor vergöttert sie und verspricht ihr den Kauf des alten Landhauses Summerlight House. Charlottes Träume wachsen in den Himmel.

Martina Sahler

Die englische Gärtnerin – Blaue Astern

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Januar 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: bürosüd GmbH, MünchenTitelabbildung: Arcangel Images / Rekha Arcangel (Frau);© www.buerosued.de (Landschaft, Blumen, Rahmen)Autorinnenfoto: © franzhamm.deSatz: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2148-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Nachwort

Empfehlungen

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Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Vor dem Haupteingang der Universität richtete Charlotte Hut und Mantel. Der Ärger über ihre eigene Schusseligkeit war verraucht, der Spaziergang durch die Stadt hatte sie belebt. Nun galt es, sich zu konzentrieren. Das fiel ihr nicht immer leicht, aber heute war es wichtig. Sie durfte sich keinen Patzer erlauben, wenn sie mit Dr. Helen die Abschlussarbeit und das Ergebnis besprach. Eine Empfehlung der Professorin wäre ein gewaltiger Vorteil bei ihrer Bewerbung in Kew Gardens.

Sie trat an die Treppe, stolperte über die erste Stufe, fing sich und straffte die Schultern. Da flog die Tür des Hauptportals über ihr auf und eine hoch aufgeschossene Frau in einem grün-blau gestreiften Seidenkleid sprang heraus wie ein Fohlen auf die Frühlingswiese. Sie warf die Arme in die Luft. »Ja, ja, ja!«, schrie sie und strahlte wie die Sonne.

»Du hast es geschafft«, stellte Charlotte fest, als sie ihr gegenüberstand. Sie drückte Ivys Schultern und küsste links und rechts neben ihre Wangen. Die wenigen Frauen an der Botanischen Fakultät kannten sich, doch schon während der Schulzeit hatte Charlotte sich lieber mit Jungen zusammengetan als mit Geschlechtsgenossinnen. Ivy mit ihrer burschikosen Art bildete eine Ausnahme. Die beiden Frauen pflegten eine Freundschaft, die aber vermutlich nicht andauern würde, wenn Ivy mit ihrem Verlobten nach Deutschland ging. In diesem Moment wünschte sich Charlotte nur, dass sie in einer halben Stunde genauso glücklich das Universitätsgebäude verlassen würde.

Ivy löste sich von ihr und wiegte den Kopf, das Lächeln blieb. »Dr. Helen hatte ein paar Kritikpunkte. Wahrscheinlich nimmt sie es mir noch übel, dass ich nicht auf ihren Vorschlag eingegangen bin, mich mit ihren geliebten Pilzen auseinanderzusetzen. Zumindest habe ich bestanden mit meiner Arbeit über Orchideen, und nichts anderes zählt, oder?«

»Nichts anderes zählt«, stimmte Charlotte zu.

»Hey, du zitterst.« Ivy nahm Charlottes Hände in ihre. »Keine Sorge. Wenn ich den Abschluss habe, bekommst du ihn erst recht. Du warst immer besser als ich.«

»Ich werde wahrscheinlich vor Aufregung plappern wie ein Wasserfall. Du kennst mich.«

Ivy lachte. »Na und? Hauptsache, du hältst nachher die Urkunde in der Hand.«

Charlotte stieß einen Seufzer aus. »Drück mir die Daumen, Ivy.« Dann betrat sie das Gebäude. In ihrem Bauch schienen Kieselsteine hin- und herzurollen, aber ihre Schritte waren kräftig, und den Kopf hielt sie aufrecht, während sie sich ein letztes Mal die Brille von der Nasenspitze hochschob.

»Sie sind mir einige Male im Hörsaal aufgefallen, Miss Windley.« Ein warmer Glanz flog über das ausdrucksstarke Gesicht der Professorin. Helen Gwynne-Vaughan war Anfang vierzig und hatte sich mit Pflichtbewusstsein und Ehrgeiz einen Platz im öffentlichen Leben von London erkämpft und die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen errungen. Bei Kriegsausbruch war sie zu einer der führenden Frauen in den Women’s Army Auxiliary Corps aufgestiegen, war Kommandeurin der weiblichen Truppen in Frankreich gewesen und 1919 in Anerkennung ihrer Leistungen zur Dame Commander des Order of the British Empire ernannt worden. Vor Kurzem hatte die Linnean Society, eine der renommiertesten naturforschenden Gesellschaften, sie mit der Trail Medal ausgezeichnet. Sie besaß ein herausragendes Organisationstalent, mit dem sie erstklassiges Lehrpersonal an die Universität geholt hatte, ihre Vorlesungen waren Meilensteine für jeden Studenten der Botanik, und ihre Bücher würden vermutlich zu Standardwerken werden. Einer solchen Frau konnte man nur voller Ehrfurcht begegnen. Charlottes Herz klopfte bis zum Hals, während sie, auf der Kante des Besucherstuhls sitzend, die Finger ineinander verkrampfte.

Dr. Helen hatte die Arme auf ihrem Schreibtisch gekreuzt. Aufmerksam blätterte sie die Papiere vor sich durch. Charlottes Abschlussarbeit. Um die eng beschriebenen Seiten herum waren Stifthalter, Telefon, Brieföffner, Stempelkissen, Ablageordner und Lampe perfekt angeordnet, ein Arbeitsplatz, der von der Disziplin dieser Frau sprach.

Sie war ihr aufgefallen? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Charlottes Hände begannen wieder zu zittern, und sie drückte die Finger umeinander. Den Blick hielt sie starr auf die Professorin gerichtet.

Deren kantige Züge entspannten sich, in ihre Augen trat ein Glitzern. »Waren Sie nicht diejenige, Miss Windley, die für Unterbrechung meiner Vorlesung durch allgemeine Erheiterung gesorgt hat, als Sie mit einem Kopftuch und in Hosen zu spät in den Hörsaal hineingestolpert sind?«

Charlottes Gesicht brannte. »Ich … das war … ich hatte mich für meine Aushilfsarbeit im Botanischen Garten angekleidet, doch auf dem Weg dahin war mir eingefallen, dass an dem Tag Ihre Vorlesung auf meinem Plan stand, und es war keine Zeit mehr …«

Die Professorin zog die Lippen nach innen, als wollte sie ein Lachen unterdrücken. »Und Sie sind die junge Frau, die nach meiner Vorlesung an die Tafel trat, um Ihre Notizen zu vervollständigen, statt währenddessen mitzuschreiben, wobei Ihnen der Ordner mit allen Unterlagen aus den Händen glitt und sich vor meinem Pult verteilte.«

Ob es eine Option war, sich unter dem Schreibtisch zu verstecken? Charlotte wünschte, der Erdboden täte sich vor ihr auf und würde sie verschlingen. Die Scham drohte sie zu überwältigen. Dass die Professorin sich an diese tollpatschigen Zwischenfälle erinnerte, du lieber Himmel, sie war doch nur eine von Hunderten! Und bestimmt nicht die Einzige, die hin und wieder etwas ungeschickt war. Sie riss sich zusammen, um ihre Würde kämpfend. Jetzt bloß nicht noch einmal ins Stottern geraten. »Ich hatte meine Brille verlegt und konnte von meinem Platz aus nicht lesen, was Sie geschrieben hatten. Deswegen habe ich die Notizen nach der Vorlesung übertragen.« Sie wusste, dass ihr Gesicht immer noch radieschenrot leuchtete. Dennoch hielt sie dem Blick der Frau stand.

Die Wissenschaftlerin winkte ab. »Entspannen Sie sich, Miss Windley. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, wie sehr mich Ihre Abschlussarbeit überrascht hat. Ihre Auffassung von wissenschaftlichem Arbeiten scheint im krassen Gegensatz zu Ihren … nun, nennen wir es Unsicherheiten zu stehen. Sie haben exzellent recherchiert und fehlerfrei geschlussfolgert. Ich habe selten eine so saubere Abschlussarbeit gesehen und halte Sie für ein vielversprechendes Talent der Wissenschaft. Sie haben exakt die richtigen Quellen herangezogen und die neuesten Erkenntnisse der Rhodologie herausgefiltert. Gleichzeitig liefern Sie Beurteilungen, die von Belang für die weitere Forschung sein werden. Obwohl ich selbst Pilze reizvoller als Rosen finde.«

Ein Glücksrauschen begann Charlottes Körper zu wärmen. Leichtigkeit und Dankbarkeit durchfluteten sie, und sie begann breit zu lächeln. »Ihr Lob bedeutet mir unendlich viel«, sagte sie. »Mein Leben gehört der Forschung. Wenn meine Arbeit Ihrer Einschätzung nach genügt, dann gehe ich mit Begeisterung meinen Weg weiter.«

»Das freut mich, Miss Windley. Wir brauchen Frauen wie Sie, die Vorbildfunktion für die nachfolgenden Generationen übernehmen. Ich könnte mir gut vorstellen, Sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in meinem Fachbereich einzusetzen. Ich würde Sie mit Projekten betreuen, über die Sie Ihre Doktorarbeit schreiben könnten. In drei bis vier Jahren würden Sie promovieren, und wenn Sie sich dermaßen erfreulich weiterentwickeln, garantiere ich Ihnen: mit der höchsten Auszeichnung summa cum laude.«

Charlotte wurde es abwechselnd heiß und kalt. Einerseits ihr Traum von der Feldarbeit überall auf der Welt für Kew Gardens, andererseits diese Ehre, als Favoritin der Professorin eine Doktorarbeit schreiben zu dürfen. Aber ein ermüdendes Fachgebiet wie Pilze?

Die Professorin beobachtete sie. »Selbstverständlich würde ich Sie, wenn Sie sich nicht für die Mykologie erwärmen können, einem Kollegen der Rhodologie empfehlen, wenn dies Ihren Neigungen mehr entspricht. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass Sie sich fachlich breit aufstellen und wir ein gutes Team wären. Immerhin haben Sie sich am Rande Ihrer Abschlussarbeit mit Pilzen beschäftigt, notwendigerweise, möchte ich sagen.« Sie zwinkerte ihr zu. »Ich mag Sie, Miss Windley. Mit all Ihrem Elan und Ihren Schwächen.« Beim Lächeln zeigte sie ebenmäßige Zähne.

»Ihre Anerkennung ehrt mich, aber ich habe das Studium der Botanik mit einem festen Ziel aufgenommen: Ich will für Kew Gardens arbeiten. Ich kenne und liebe den Botanischen Garten seit meiner Kindheit, habe dort während der Kriegsjahre eine Zeit lang als studentische Aushilfe gearbeitet und kann mir nichts Spannenderes vorstellen als die Erforschung und Sammlung exotischer Pflanzen.«

»Und haben sich dennoch in Ihrer Abschlussarbeit für die heimischen Rosen entschieden.«

Charlotte hob das Kinn. »Ja, mich begeistert die Kultivierung von Wildrosen. Ich finde es grundsätzlich hochspannend, wie es Wissenschaftlern gelingt, in der Natur vorkommende Gewächse zu veredeln, und die Rosenzucht ist in unseren Breitengraden ein hervorragendes Beispiel.« Sie hob die Schultern. »Noch habe ich keine Möglichkeit, mich mit exotischeren Gewächsen zu befassen. Daher kann ich es kaum erwarten, auf einer Expedition eingesetzt zu werden.«

Ihr entging nicht, dass der Teint der Professorin eine Spur fleckiger wurde. Sie hielt die Augen auf die Abschlussarbeit gerichtet und legte die Hände darauf. Als sie aufschaute, lag in ihrer Miene eine steinerne Härte. »Ich werde Sie nicht zu überzeugen versuchen, Miss Windley. Es gibt genügend Studenten, die die wissenschaftliche Mitarbeit in unserer Fakultät anstreben. Wir können aus den Besten auswählen. Sie sind ein vielversprechendes Talent, jedoch beileibe nicht das einzige. Ich verstehe, welche Anziehung das internationale Flair der Royal Botanic Gardens auf angehende Wissenschaftler hat, aber Ihre Bewerbung dort wird wenig Aussicht auf Erfolg haben. Ich kenne den Direktor und seine Ansichten über Frauen in seinem Fachgebiet. Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt noch Botanikerinnen einstellt. Er bevorzugt die männlichen Studenten, die sich nach Kriegsende ins Zeug gelegt haben, um ihre Abschlüsse zu erlangen. Seiner Meinung nach haben die Soldaten, die für uns auf die Schlachtfelder gezogen sind, einen Anspruch darauf, dass ihnen das Empire etwas zurückgibt.«

»Das verstehe ich.« Charlotte räusperte sich, weil ihre Stimme auf einmal kratzig klang. »Meine Chancen würden steigen, wenn Sie mir ein Empfehlungsschreiben …«

Die Professorin hob eine Hand. »Ich habe Ihnen dargelegt, welche Pläne ich mit Ihnen habe. Wenn diese Ihren eigenen Vorstellungen zuwiderlaufen, kann ich nichts für Sie tun. Ich investiere nicht in die Angelegenheiten anderer. Und ich warte nicht ewig auf Ihre Entscheidung. Wenn Sie sich bis Ende nächster Woche nicht gemeldet haben, vergebe ich die Assistenz anderweitig.«

Alles Sanftmütige war aus den Zügen von Helen Gwynne-Vaughan verschwunden. Charlotte plumpste das Herz herab. Die Meinung einer einfachen Gärtnerin wie Vivian Leicester konnte sie wegstecken, aber wenn eine Koryphäe wie die Professorin ihr Vorhaben für wenig aussichtsreich hielt, war es selbst für eine optimistische Frau wie sie bedenklich, an ihren hochfliegenden Plänen festzuhalten. Und trotzdem. Sie hob das Kinn, als sie aufstand. Die Professorin streckte ihr die Urkunde entgegen. »Mit Bestnote«, kommentierte sie dabei emotionslos.

»Ich danke Ihnen, Dr. Helen … äh.« Die Urkunde zitterte in ihrer Hand, als Helen Gwynne-Vaughan sie mit hochgezogenen Brauen anstarrte. »Ich meine, Mrs Professor Dr. Gwynne-Vaughan.«

Dann drehte sie sich um und eilte aus dem Büro. Dass ihre Ohren vor Hitze brannten, verbarg hoffentlich ihr Hut.

»Was bist du für ein Trotzkopf geworden. So warst du früher nicht, Schwesterchen.« Robert Windley übernahm es, im Salon der Wohnung in der Hunter Street den Tee auszuschenken. Mit Beistelltischen aus Mahagoni und goldgelben Lampenschirmen, geblümten Ohrensesseln, der Chesterfield-Sitzgarnitur und Aquarellen über dem Kamin an der Wand hatte Mutter Elizabeth ihn mit Liebe zum Detail eingerichtet. Die Sessel und das Sofa waren allerdings bereits abgewetzt, und durch das Fenster, das nach Norden ging, wehte Zugluft herein, als sich die Zweige der Kastanie im Hof in einer Böe bogen.

Wann immer es möglich war, versuchte die Familie Windley Tee und Sandwiches um fünf Uhr gemeinsam einzunehmen und sich über das Tagesgeschehen auszutauschen. Morgens gingen sie alle zu unterschiedlichen Zeiten aus dem Haus, mittags aßen Robert und Charlotte in der Universität, Debbie in der Schulkantine und Elizabeth daheim. Abends traf sich Robert in den Studentenkneipen mit seinen Kommilitonen.

Heute war die gemeinsame Teatime mit Spannung erwartet worden, weil Charlotte verkünden wollte, ob sie ihren Bachelor of Science erlangt hatte. Zu ihrem Ärger war es, wie häufig, die zwölfjährige Debbie, die sich ausgerechnet heute nicht um das Familienritual scherte. Vermutlich trieb sie sich irgendwo am Piccadilly Circus oder im Hyde Park herum und heckte mit ihrem Freund Tom Dummheiten aus. Darin war sie Meisterin. Ihre Mutter ließ ihr viel zu viel durchgehen, fand Charlotte, was nicht weiter wunderte, wenn man die Mittfünfzigerin beobachtete, wie sie mit zitternden Händen die Teetasse zum Mund führte. Die Tasse klapperte auf dem Unterteller, und das Getränk schwappte über den Rand. Elizabeth hatte wirklich größere Sorgen als die Eskapaden ihrer jüngsten Tochter. Ihre berufliche Existenz stand auf dem Spiel.

Der Tremor war vor zwei Jahren zum ersten Mal aufgetreten, wenige Wochen nachdem Brendon Windley mit­-ten in seiner Praxis im Parterre des Hauses an einem Schlag­-anfall gestorben war. Die Helferinnen und Patienten waren vor Schreck in Hysterie verfallen. Der heranstürmende Praxiskollege Dr. Jacob Tyrell konnte nur noch den Tod seines Freundes feststellen. Brendon und Jacob waren seit ihrer Jugend befreundet gewesen, hatten gemeinsam studiert, zu Beginn des Jahrhunderts zusammen die Praxis aufgebaut und zu großem Ansehen geführt. Die Patienten hatten in dem überaus beliebten und kompetenten, stets gelassenen Dr. Windley vermutlich eine gottgleiche, unsterbliche Gestalt gesehen. Nach seinem Tod ging es mit der Praxis bergab. Zu Jacob Tyrell hatten die Patienten weit weniger Vertrauen als zu Brendon Windley. Zudem verfügte Dr. Tyrell zwar über Empathie, aber ihm fehlte der notwendige Geschäftssinn. Mit seiner weichherzigen Art lockte er Patienten an, zahnlose zerlumpte Gestalten, die sich die Behandlung nicht leisten konnten und ihm das Honorar schuldig blieben.

Im Praxisbetrieb hinterließ Dr. Windley eine klaffende Lücke, und Elizabeth verlor den Mann, den sie seit ihrer Jugend geliebt hatte, der ihr Freund in allen Lebenslagen gewesen war. Charlottes Augen füllten sich mit Tränen, wann immer sie daran dachte, wie groß der Verlust ihrer Mutter war.

Einige Zeit nach Brendons Tod hatte das Zittern begonnen. Dazu kam die Müdigkeit. Ihre Mutter beschrieb zu diesem Zeitpunkt oft das Gefühl, durch Schlamm zu waten. Alles lief in Zeitlupe ab. Ihre Handschrift wurde verkrampfter, Knopflöcher zu Hindernissen, und beim Treppensteigen musste sie sich ans Geländer klammern, um nicht die Balance zu verlieren. Auf seine etwas hektisch wirkende, aber stets durchdachte Art diagnostizierte Dr. Tyrell bei Mutter die parkinsonsche Krankheit. Die Schüttelbewegungen ihrer Hände nahmen mitunter bizarre Formen an. Manchmal wirkte es, als würde sie auf etwas eintrommeln, manchmal schien sie ein Sieb zu halten oder Pillen zu drehen. Charlottes Magen rumorte, wenn sie in der Mimik ihrer Mutter die Hilflosigkeit erkannte, während ihr Körper sich weigerte, ihr zu gehorchen.

Zu den Familienwerten, die Elizabeth genau wie Brendon den Kindern vermittelt hatte, gehörten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Ihre Mutter hatte Charlotte stets in ihren Plänen unterstützt, glaubte aus voller Überzeugung daran, dass es ihrer Tochter gelingen würde, als eine der wenigen Frauen an abenteuerlichen Expeditionen teilzunehmen und im tropischen Regenwald zwischen Schlingpflanzen und Unterholz umherzustreifen. Jetzt erst recht, wo sie ihren erstklassigen Abschluss feiern konnten. Auch Elizabeth hatte vor knapp dreißig Jahren ihre Ideen verwirklicht und war Journalistin geworden, statt als Ehefrau im Hintergrund des bekannten Arztes karitative Ehrenämter zu übernehmen und Kissenhüllen zu besticken. Doch dann setzte das Schicksal ausgerechnet eine fortschrittlich denkende, selbstsicher durchs Leben gehende Frau wie sie schachmatt. Als Journalistin brauchte Elizabeth funktionierende Hände, um ihre Texte auf der Schreibmaschine zu tippen.

Es gab Tage, da fiel das Zittern kaum auf. Und es gab andere, da schaffte Elizabeth es nicht mal, sich ein Stück Sandwich zum Mund zu führen. Charlotte blutete das Herz bei diesem Anblick. Ihre starke, kluge Mutter mit diesem entsetzlichen Handicap, das sie in manchen Stunden in eine hilflose Greisin verwandelte.

Sie kehrte aus ihren Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. Wie hatte ihr Bruder sie gerade genannt? Trotzkopf? Der sollte bloß nicht versuchen, sie von oben herab zu behandeln. Das konnte Charlotte gar nicht leiden. »Was hättest du geantwortet, wenn jemand dir vorgeschlagen hätte, statt Allgemeinmediziner Zahnarzt zu werden?«

Robert schnalzte mit der Zunge. »Das ist nicht zu vergleichen. Als Mann stehen mir alle Wege offen.«

»Und als Frau soll ich nach den Brosamen greifen und die Klappe halten?«, fuhr ihm Charlotte hitzig dazwischen.

Elizabeth grinste und griff nach der Hand der Tochter, um sie zustimmend zu drücken. Charlotte spürte, wie stolz sie auf sie war.

»Tja, ob es uns passt oder nicht, so sind die Dinge«, erwiderte Robert lapidar. »Fabelhaft, dass du einen guten Abschluss geschafft hast, Charlotte, wirklich. Respekt! Aber deine Professorin rät dir nicht ohne Grund davon ab, dich in Kew Gardens zu bewerben. Sie ist vom Fach und kennt sich aus. Warum musst du mit dem Kopf durch die Wand, obwohl sie dir eine akademische Karriere auf dem Silbertablett serviert? Das ist mehr, als die meisten Frauen je erreichen werden. Sei doch realistisch, Charlotte.«

Charlotte brach ein Stück von ihrem Scone ab und bestrich es mit Butter und Marmelade. »Ich weiß das Angebot zu schätzen, Robert. Aber wenn sie mich in Kew Gardens in der Forschung und für die Expeditionen nicht wollen, fange ich lieber dort als einfache Gärtnerin an, bevor ich mich der Theorie widme und dem Kommando einer Dr. Gwynne-Vaughan unterwerfe. Ich werde ihnen schon beweisen, dass sie keine leidenschaftlichere und gewissenhaftere Feldbotanikerin als mich finden.«

Elizabeth drückte erneut ihre Hand und lächelte ihr zu. Der Zuspruch der Mutter tat Charlotte gut. In ihrem Inneren war sie davon überzeugt, dass sie ein Recht darauf hatte, über alle gesellschaftlichen Hindernisse hinweg als Frau ein spannendes Leben zu führen. Nie hatte ihre Mutter ihr etwas anderes vermittelt.

Sie verschränkte die Finger mit denen ihrer Mutter, um ihr für ein paar Momente Halt zu geben. Sofort wanderte das Zittern weiter an Elizabeths Arm hoch. »Soll ich dir einen Eisbeutel holen, Mutter?« Etwas Kaltes, das sie sich auf die Stirn legte, brachte manchmal kurzfristig Besserung.

Elizabeth schüttelte den Kopf. »Es geht bestimmt gleich wieder, sorg dich nicht um mich.« Sie lächelte sie an. »Ich weiß nicht, wie erfolgversprechend dein Weg ist, Lottie, aber ich weiß, dass es die richtige Entscheidung ist, seinem Herzen zu folgen. Ich bin damit immer gut gefahren, obwohl es Verletzungen und Zurückweisungen gab. Ich habe mich nie selbst aufgegeben. Dein Großvater hat mich unterstützt, als ich begann, als Reporterin zu arbeiten. Und ihr könnt mir glauben, das war für eine Frau Ende des vorigen Jahrhunderts wirklich speziell.« Sie schwieg einen Augenblick versonnen. »Genau das fand euer Vater anziehend: dass ich meinen Passionen gegen alle Widerstände nachging.«

In Charlottes Erinnerung war ihre Mutter während ihrer Kindheit stets in munterer Eile gewesen, eine Frau, die nicht still sitzen konnte, hungrig nach dem Leben, immer auf der Suche nach neuen Sinneseindrücken. Für alles, was die Kinder brauchten, gab es die Großeltern, wechselnde Nannys und den Vater, dennoch hatte Charlotte nie die mütterliche Seite Elizabeths vermisst, im Gegenteil – sie hatte sie bewundert für ihre Schönheit, ihre Stärke und ihre Überlegenheit gegenüber den Müttern ihrer Freundinnen, die sich lieber im Hintergrund hielten und sich im Ruhm der Ehemänner sonnten, als nach vorn zu preschen und selbst Erfolg zu haben. Sie müsste sich nur in der aktuellen Situation, da Debbie begann, schwierig zu werden, mehr um die jüngste Tochter kümmern, denn jetzt gab es weder die Großeltern noch den Vater, und für eine Gouvernante fehlte ihnen das Geld. Abgesehen davon, dass man es keiner fremden Frau zumuten konnte, die Zwölfjährige im Zaum zu halten.

Ein paar Sekunden lang legte sich bedrücktes Schweigen über die Windleys. Brendon Windley fehlte überall. Er fehlte seinen Kindern als Ratgeber und Tröster, als Impulsgeber und Ruhepol. Ihre Eltern hatten eine sehr liebevolle Beziehung gepflegt, bei der selbst im Streit nie ein wirklich böses Wort gefallen war. Er hatte eine besondere Art gehabt, die Gemüter zu beruhigen, wenn sich Unstimmigkeiten hochschaukelten. Nur knapp so groß wie Elizabeth und mit schütterem Haupthaar, war er kein übermäßig attraktiver Mann gewesen, dafür aber mit Augen, aus denen die Sanftmut und Klugheit leuchtete, und alabasterweißen Händen, mit denen er bei seinen Patienten Brüche und Geschwüre ertastete und den Kindern die Stirn fühlte, wenn sie kränkelten. Als praktischer Arzt war er der Hauptverdiener der Familie gewesen, und dadurch, dass sich die Praxis im Parterre des Hauses befand, war er für die Kinder sehr präsent, während Mutter Elizabeth kreuz und quer und mitunter tagelang durch London und die Umgebung reiste, immer auf Recherche oder auf der Suche nach neuem Stoff für ihre Reportagen und Berichte.

»Manchmal stellen sich dir Hindernisse in den Weg. Dann brauchst du Alternativen«, griff Robert das Thema wieder auf. Mit seinem blonden Haar und den grünbraunen Augen kam er nach seiner Mutter. Er war hoch gewachsen, breitschultrig, und sein gutes Aussehen in Kombination mit seiner lässigen Eleganz machte ihn zu einer umschwärmten Erscheinung. Trotz seiner siebenundzwanzig Jahre war er noch unverheiratet, mehr als ein paar Monate hatte keine seiner Bewunderinnen durchgehalten. Seit einiger Zeit gab er sich in seinen wenigen freien Stunden die Aura eines Gentlemans, der es sich leisten konnte, in den Tag hinein zu leben. Vermutlich hoffte er damit, die Damenwelt zusätzlich zu beeindrucken. Nach Charlottes Meinung zog er damit allerdings genau die falschen Frauen an, die an solch oberflächlichen Attitüden Gefallen fanden. Nur seine engsten Kommilitonen und seine Familie wussten, wie hart er an seinem Studium arbeitete, um es möglichst bald abschließen zu können. Obwohl Charlotte nicht immer einer Meinung mit ihm war, bewunderte sie ihren älteren Bruder sehr. Er bereitete sich mit beispielhaftem Pflichtgefühl darauf vor, als Partner in die Praxis einzusteigen, die Dr. Tyrell seit Brendons Tod mehr schlecht als recht alleine führte. Dann könnte er endlich die Familie so unterstützen, wie sein Vater es sich gewünscht hatte.

»Ich habe eine Alternative«, gab Charlotte zurück. »Du hörst mir nicht zu.«

»Also Kew Gardens«, stellte er nachgiebig fest.

Charlotte nickte. »Nichts anderes.«

»Nun, wenn es um den Verdienst geht, wirst du als Botanikerin dort genauso schlecht bezahlt wie an der Universität. Wissenschaft und Forschung werden immer noch von Idealisten überschwemmt, die sich für einen Hungerlohn ein Bein ausreißen.«

Charlottes Wangen begannen zu glühen. »Ich werde schon zurechtkommen. Ich bin nicht anspruchsvoll.«

»Und für alles Übrige hast du mich«, gab Robert lächelnd zurück.

Charlotte spürte Unbehagen bei dem Gedanken, dass es auf Roberts Schultern lastete, ob sie das Haus in der Hunter Street halten konnten. Die nächsten Monate würden sie noch vom Ersparten leben können. Und dann?

»Hoffentlich werden bald Mittel gegen diesen verdammten Tremor gefunden. Ich hasse es, mitzuerleben, wie meine Kinder um ihre Existenz ringen.« Elizabeth war den Tränen nahe.

Charlotte nahm sie in den Arm, obwohl sie wusste, dass Trost nicht das war, was ihre Mutter brauchte. Dr. Tyrell hatte ihr diverse Behandlungsmöglichkeiten erläutert, wie das Spritzen von Arsen oder Strychnin, aber die Risiken waren bei der Dosierung dieser Gifte erheblich, sodass Elizabeth sich weigerte. Dann ließ sie lieber das Sticheln mit glühenden Nadeln längs der Wirbelsäule über sich ergehen, das kurzfristig eine Linderung brachte. Sie war stets eine Kämpferin gewesen. Auf das Wohlwollen und die Hilfsbereitschaft der Mitmenschen angewiesen zu sein nagte an ihrer Würde.

»Wir ringen nicht, Mutter. Wir sind beide auf einem guten Weg, das weißt du. Unsere Zukunft und Debbies Ausbildung sind gesichert.«

Elizabeth wischte sich über die Stirn. Debbie war diejenige, um die sie sich noch mehr sorgte als um die finanzielle Existenz. Ihr Lächeln hatte im Zuge der Krankheit jede Leichtigkeit verloren. »Wie geht es Dennis, Lottie? Habt ihr schon Pläne?«

Ein Kribbeln breitete sich unter Charlottes Haut aus. Was zwischen Dennis und ihr war, besprach sie nur ungern im Familienkreis. Mutter und Robert hegten Erwartungen, die Charlotte beunruhigten. Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie, wenn es nach ihr gegangen wäre, schon längst verheiratet wären? Dass sie in einen Mann verliebt war, der sich ihr gegenüber dermaßen zurückhaltend verhielt, war ihr anderen gegenüber peinlich. Sie hasste es, wenn Robert sie deswegen aufzog, und fühlte sich dann mit ihren fünfundzwanzig Jahren wie eine alte Jungfer. Dabei hätten sich einige andere Gelegenheiten ergeben, aber keiner der Männer, die ihr näherkommen wollten, hatte sie so fasziniert wie Dennis mit seiner klugen, tiefsinnigen, manchmal spröden Art und seiner Leidenschaft für die Forschung. »Ich treffe ihn nachher noch im White Swan.«

Robert zog eine Grimasse. »Wenn er nicht aufpasst, schnappt ein anderer dich ihm weg. Und dann ist es für Reue zu spät.«

Wut kochte in ihr hoch, obwohl sie mit einem blöden Spruch gerechnet hatte. »Ich lasse mich nicht wegschnappen. Ich bin kein Beutetier«, gab sie zurück, bewirkte aber nur, dass Robert schallend auflachte und ihr in die Wange kniff. Sie riss den Kopf weg.

»Das weiß ich doch, Schwesterchen. Der Mann, der dich mal zur Ehefrau bekommt, muss hart im Nehmen sein.«

»Streitet nicht, Kinder, bitte.« Elizabeth massierte sich die Schläfen, bevor sie sich an Charlotte wandte. »Bestimmt ist ihm nicht klar, was du für ihn empfindest. Manchen Männern gegenüber muss man deutlich werden, sie sind unempfänglich für die Signale.«

»Überlasst das mir, ja?«, sagte sie, während sie im Geiste hinzufügte: Aber es wäre schon schön, wenn ich mich nach all der Schwarzmalerei an diesem Tag in Dennis’ Arme schmiegen könnte und seine Zärtlichkeiten meine Ängste vertrieben. Bei den Bildern, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, begann Charlottes Herz schneller zu schlagen.

Sie warf einen Blick auf die Standuhr. Schon nach sechs Uhr. Eine Stunde, bis sie Dennis traf. Wo blieb ihre kleine Schwester bloß? Sie stapelte das Teegeschirr auf und trug es in die Küche, während ihre Mutter sich in dem Ohrensessel zurücklehnte, als habe das Gespräch sie ermattet. Robert schlug die Beine übereinander und griff nach der Abendzeitung, die neben dem Ledersofa auf einem Beistelltisch lag. In London gab es nur wenige Menschen, die nicht zwei Zeitungen am Tag lasen. Uninformiertheit war verpönt.

Charlotte nahm die Etagere und den Korb mit den restlichen Scones, die sie in der Küche in Papier einschlagen würde, damit sie bis zum nächsten Tag nicht austrockneten.

Andere Familien ihres Standes bezahlten Hausmädchen für solche Arbeiten. Die Windleys verzichteten darauf, sie beschäftigten lediglich eine Frau, die dreimal in der Woche zum Putzen kam. Greta war die Frau eines Hafenarbeiters, hatte drei Kinder und freute sich über das Zubrot, das sie im Haus Windley verdiente.

Mit einem trockenen Tuch polierte Charlotte die Etagere, als ihr Bruder in die Küche trat. Er lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. »Du solltest nicht den herkömmlichen Weg wählen, wenn du dich in Kew Gardens bewirbst. Vielleicht landen deine Unterlagen im Papierkorb, sobald jemand liest, dass es sich bei dem Bewerber um eine Frau handelt.«

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Kapitel 1

Die Baumkronen breiteten sich wie das Dachgewölbe einer Kirche aus. Durch das Geäst und die jungen Blätter fiel das Sonnenlicht und zeichnete Muster auf den von Steinen begrenzten Pfad. Charlotte lehnte sich auf der schmiedeeisernen Bank zurück, legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Durch die Zweige sah sie den sommerblauen Himmel, an dem nur ein paar Schleierwolken zogen. Dennoch hatte sie den Schirm mitgenommen und ihn an die Rückenlehne gehängt. London war kein Ort, an dem man sich auf den Sommer verlassen konnte. Ihr Atem wurde langsamer, Ruhe breitete sich in ihr aus.

Sie hätte früher nach Kew kommen sollen. Sie wusste doch, welche Wirkung der baumbestandene Park der Royal Botanic Gardens auf sie hatte.

Die Vorstellung, zufällig auf Dennis zu treffen, ließ ihr Herz schneller schlagen, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass er vor der Mittagspause seinen Büroplatz verließ, um sich von der lebenden Flora verzaubern zu lassen. Er arbeitete im Herbarium, im Archiv mit den getrockneten und katalogisierten Pflanzen, das vor dem Haupttor in einem Klinkerbau untergebracht war. Dort, wo das Wachstum zwischen Bögen von Papier zum Stillstand gekommen war.

Im Park blühten und grünten Pflanzen aus allen Ländern der Erde. Korkeichen, Birken, Kastanien und Erlen wuchsen einträchtig neben Bambus, Zedern, Azaleen, Maulbeerbäumen und den nach Schokolade duftenden Tulpenbäumen in den Himmel. Ein lebendes Museum. Im Lauf der Jahrzehnte waren aus manchen mächtige Gewächse geworden. Charlotte glaubte zu spüren, wie sie miteinander flüsterten. Wie sie sich darüber austauschten, wer den anderen überragen durfte und wer sich neue Wege suchen musste, um zu gedeihen. Die Harmonie und Ästhetik ließ sie andächtig werden. Ihre Sorgen traten in den Hintergrund, verloren an Bedeutung angesichts der Geheimnisse der Natur.

Sie liebte den Garten zu jeder Jahreszeit, freute sich an dem frischen Grün der Bäume im April, ein wunderbarer Gegensatz zu den leuchtend gelben Narzissen, die unter ihnen wuchsen. An den Kirschblüten, die im Mai wie duftender Schnee auf die Wege fielen, an den Hyazinthen und Glockenblumen, die einen Teppich zwischen den Baumstämmen bildeten, an dem Steingarten, in dem Pflanzen aus dem Himalaja vom Dach der Welt wuchsen.

Das Arboretum, also der Teil des Gartens, in dem die Bäume und Sträucher standen, war so weitläufig, dass sich die wenigen Spaziergänger an diesem Dienstagvormittag selten über den Weg liefen. Gegen Mittag, wenn die Gewächshäuser öffneten, würde es voller werden. Charlotte war eine der Ersten gewesen, die durch das Haupttor eingetreten war, als die Pforten um zehn Uhr aufglitten.

Linker Hand bei den Azaleen knieten ein paar Arbeiter in den Beeten. Charlotte hörte sie murmeln, während sie die Erde um Setzlinge festklopften. Der Geruch nach Mutterboden stieg ihr in die Nase, mischte sich mit dem Duft von Lorbeer und Eukalyptus. Sie atmete tief ein und genoss es, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper entspannte.

Es hing viel davon ab, was sie am Nachmittag in der Botanischen Fakultät erfahren würde. Würde man ihr die Urkunde überreichen, die sie als Bachelor of Science auszeichnete? Ach, sie hoffte es so sehr! Noch heute würde sie ihre Bewerbung für Kew Gardens vorbereiten. Mit Freude würde sie zunächst in den Laboratorien, Pflanzhallen und Beeten arbeiten. Insgeheim hoffte sie, dass man sie, sobald man von ihrer Kompetenz und ihrer Zuverlässigkeit überzeugt war, auf Expeditionen rund um den Globus schicken würde. Kew Gardens war für sie das Zentrum eines weltweit gespannten Netzes von Botanikern, die ihre Forschungsergebnisse zusammentrugen. Wie gern wollte sie dazugehören!

Und wenn nicht? Wenn ihre Abschlussarbeit nicht den Anforderungen genügte? Ihre Intuition sagte ihr, dass sie sich nicht sorgen musste, sie beherrschte ihren Stoff, aber dennoch. Gerade mit jungen Frauen waren die Professoren besonders streng.

Sie richtete sich den Hut, bevor sie die Brille hochschob und das Gesicht zur Sonne wandte. Nein, sie würde kein weiteres Jahr botanische Theorie an der University of London dranhängen, beschloss sie. Sie mochte nicht mehr nur über Pflanzen lesen, statt sie auf Reisen in exotische Länder und in den Forschungsstätten von Kew Gardens zu betasten, zu riechen, zu untersuchen. Falls sie nicht bestanden hätte, würde sie versuchen, einen Job zu bekommen wie die Gärtner drüben in den Beeten. Mit dieser Arbeit kannte sie sich aus. Im Krieg hatte sie hier als Aushilfe gearbeitet. Keine Forschungsreise, keine Wissenschaft, nur Anzucht und Pflege. Ein akzeptabler Anfang, bei dem sie zumindest schon mal einen Fuß in der Tür hätte. Als Gärtnerin würde sie schon dafür sorgen, dass die Wissenschaftler in ihren Büros und Versuchsräumen auf sie aufmerksam wurden. Es gab nicht nur einen Weg zu ihrem Ziel. Bei allen Plänen musste sie auf ihre Flexibilität vertrauen und Herausforderungen bewältigen, wenn sie sich vor ihr auftaten, statt zu verzweifeln. Ihr unerschütterlicher Optimismus hatte sie immerhin bis hierher gebracht: Mit ihren fünfundzwanzig Jahren hatte sie bei weitgehender Unabhängigkeit eine fast abgeschlossene akademische Ausbildung. Und ein Herz voller Hoffnung.

Sie griff in ihre Manteltasche, ertastete kühles Silber und zog ihr Glücksmedaillon hervor. Es hing an einer Kette und ließ sich mit einem Schnappschloss öffnen. Charlotte erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, dass ihr Großvater das Schmuckstück in einem vollgestopften Geschenkeladen auf der Insel Skye für sie ausgesucht hatte. Darin bewahrte sie die erste Pflanze, die sie bei ihrem Ausflug durch die Sumpfgebiete der Hebriden gefunden hatte, getrocknet und geplättet. Eine Wasser-Lobelie mit einer weiß-rosa Blüte, eine Glockenblumenart, die ihre Wurzeln und Laubblätter im Wasser hielt und den Blütenstand darüber. Lobelia dortmanna hatte sie in ihrer Kinderschrift unter die Blüte geschrieben. Die linke Seite des Medaillons war leer.

Das Schmuckstück fühlte sich wie ein Stück ihrer Kindheit in der Hand an, voller Erinnerungen und Träume. Hoffentlich brachte es ihr heute Glück.

»Kann ich mich für eine kurze Pause zu Ihnen hocken, Miss?«

Charlotte betrachtete die Frau, die sich breitbeinig vor sie stellte und sie im gedehnten Cockney-Slang ansprach. Sie trug eine sandfarbene Hose, dicke umgekrempelte Strickstrümpfe in Clogs und unter einer abgewetzten Lederschürze einen Männerpullover. Charlotte kannte diesen Kampfanzug, wie die Kew-Mitarbeiterinnen Schuhe und Kittel nannten, von ihrer eigenen Aushilfstätigkeit und erinnerte sich gut daran, wie wackelig es sich anfühlte, auf den Holzsohlen über Steine zu balancieren. Um ihre zu einem Knoten gedrehten Haare hatte die Frau ein Tuch geschlungen.

»Aber ja.« Charlotte rückte auf der Bank, um Platz freizugeben. »Ist das Wetter nicht herrlich?« Sie schätzte die Frau auf Ende vierzig. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen und ledrig. Aus dem Schürzenlatz zog sie eine verbeulte flache Dose, die sie mit einem Schnippen öffnete. Sie hielt sie Charlotte hin, ohne auf sie einzugehen. »Zigarette?«

»Danke, nein.« Charlotte wandte sich nach links und rechts, aber keiner beobachtete sie, während sich die Arbeiterin eine Zigarette ansteckte. »Ist das Rauchen im Park immer noch verboten?«, fragte sie mit freundlicher Miene.

Die Frau stieß ein Lachen aus. »Na und? Teepause steht uns auch nicht zu.«

Charlotte runzelte die Stirn, während sie sie musterte. Unter dem harschen Auftreten der Gärtnerin schien mehr zu lauern. Was mochte sie verbittert haben? Sie überwand sich und reichte ihr die Rechte. »Ich bin Charlotte Windley.«

Die Frau drückte kräftig zu wie ein Hafenarbeiter. »Vivian Leicester. Ich hab Sie früher öfter hier gesehen.«

Ihr selbst war die Frau nie aufgefallen. Charlotte zuckte die Schultern. »Ich liebe Kew Gardens, aber mein Studium und … familiäre Verpflichtungen haben mich in den letzten Monaten oft davon abgehalten, meine Freizeit hier zu verbringen.« Bestimmt würde sie dieser angriffslustig wirkenden Fremden nicht von der prekären Situation ihrer Mutter erzählen, die Woche für Woche mehr auf ihre Hilfe angewiesen war.

Vivian Leicester starrte zur Themse, wo das Dampfschiff vorbeifuhr, das die Besucher am Brentford Ferry Gate mit direktem Zugang zum Garten absetzen würde. Zu beiden Seiten mussten die Ruderboote ausweichen. Das Horn des Passagierschiffs hallte über die Anlage hinweg. Bis zur Bank konnte Charlotte den Rauch aus dem Schornstein riechen. Früher hatte sie selbst den Wasserweg genutzt, um von Bloomsbury nach Kew Gardens zu gelangen. Aber inzwischen bevorzugte sie die South Western Railway, die sie von Ludgate Hill direkt zur Kew Bridge Station nördlich von Richmond brachte.

»Ich hab die letzten sechs Jahre hier verbracht, manchmal zehn Stunden am Tag. Tja, 1914 hat man uns Frauen noch mit Handkuss genommen«, begann die Frau. »Als mein Mann zum Kriegsdienst nach Frankreich zog, war es keine Frage, dass ich seine Arbeit übernahm. Ohne uns Frauen wäre Kew Gardens zusammengebrochen.«

Bei Kriegsausbruch hatte Charlotte gerade ihr Studium begonnen. Viele Frauen hatten damals die Stellen der Männer eingenommen, als Fabrikarbeiterinnen, Fahrkartenkontrolleurinnen, Polizistinnen. Charlotte setzte ihr Studium trotz der Personalengpässe in der Universität fort, kam aber nicht so schnell voran, wie sie es sich erhofft hatte. Sie hatte während der Kriegsjahre als studentische Aushilfe in Kew Gardens Setzlinge sortiert, Bäume gewässert und Unkraut gejätet, um sich das Studium zu finanzieren. Obwohl sie damals nur eine von vielen war, vom Gärtner eingestellt und ohne Kontakt zur Forschungsabteilung, war in ihr die Gewissheit gewachsen, dass sie eines Tages als Wissenschaftlerin für den Botanischen Garten arbeiten und um die Welt reisen würde.

Von der direkten Art der Fremden fühlte sich Charlotte unangenehm berührt, ließ sich jedoch nichts anmerken und bewahrte ihre freundliche Miene. »Für mich ist Kew Gardens der schönste Ort in London.«

Ein Lächeln ließ Vivians Gesicht weicher erscheinen. »Und ich hab das Gärtnern von Anfang an geliebt. Welche Welt sich mir hier erschlossen hat! Wissen Sie, dass man mich hier brauchte, war der größte Trost. Es half mir über die Zeit, als ich nicht wusste, wie es Dave ging, und es half mir«, sie schluckte, »als die Postbotin die Nachricht brachte, dass er gefallen war. Als Held, natürlich. Alle waren sie Helden«, fügte sie wieder zynisch an. »Ich durfte mich noch glücklich schätzen, dass er beerdigt werden konnte. Andere Männer galten als vermisst, und ihre Frauen erfuhren nie, wie es ihnen ergangen war.«

Charlotte empfand das Bedürfnis, der Frau die Hand zu streicheln, unterließ es aber. »Es tut mir leid«, murmelte sie. Ihr Bruder Robert war mit einundzwanzig eingezogen worden und als einer der Glücklichen körperlich unversehrt heimgekehrt. Er war damals schon im zweiten Jahr des Medizinstudiums gewesen und deshalb als Sanitäter eingesetzt worden. Wie viel Schaden seine Seele genommen hatte, konnte Charlotte nur erahnen. Robert sprach selten über die Zeit. Sie wandte sich wieder Vivian zu. »Wie gut, dass Sie hier eine Aufgabe gefunden haben.«

Vivian musterte sie abschätzig von der Seite. »Am Freitag ist mein letzter Tag. Dann verlass ich als letzte Frau diesen ach so wundervollen Ort. Alle anderen sind längst weg, nur ich hab bei meiner Anstellung auf einen langfristigen Vertrag gepocht. Vielleicht hatte ich es im Blut, dass es nicht gut enden würde.«

Charlotte schluckte. »Nicht eine einzige Frau ist dann noch hier angestellt?« Mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg waren ihre Geschlechtsgenossinnen aus ihren Jobs vertrieben wurden. Männer regierten die Welt, Männer bestimmten, wo der Platz der Frau im Alltag war, ein unerträglicher Zustand, der den Kampf der Frauenrechtlerinnen befeuerte. Aber hier in Kew Gardens? Es gab nicht den geringsten Anlass zu glauben, eine Frau leiste geringere Arbeit als ein Mann, vor allem nicht in der Wissenschaft und Forschung.

»Nicht eine einzige, jedenfalls nicht als Gärtnerin«, bestätigte Vivian und fischte sich einen Tabakkrümel von der Lippe. »Wir Frauen sind nicht länger willkommen in der Männerwelt. Wir haben ausgedient und können an den Herd zurückkehren.«

Charlotte wusste viel über Kew Gardens, aber dass Frauen generell unerwünscht sein sollten? Unwahrscheinlich. Dennoch hatte es diese Fremde geschafft, ihr Furcht einzuflößen. Was, wenn ihr Lebenstraum platzte? Sie steckte die Hand in die Manteltasche und umfasste schutzsuchend das Medaillon.

Schon als Zehnjährige, als sie mit ihrem Großvater auf den Britischen Inseln nach seltenen Pflanzen gesucht hatte, um sie gepresst dem Herbarium von Kew zu übergeben, hatte sie es geliebt, sich mit der Flora zu beschäftigen. Damals hatte sie ein Feldbuch geführt, in das sie penibel eintrug, wo, wann und unter welchen klimatischen Bedingungen sie die Pflanzen gefunden hatte. Manchmal fertigte sie dazu unbeholfene Zeichnungen an, aber lieber beschrieb sie sie in allen Details von der Wurzel bis zum Blütenstand. Vermutlich hatte sich ihr Großvater als ehemaliger Mitarbeiter im Herbarium von Kew insgeheim darüber amüsiert, aber ihr gegenüber war er voll des Lobes.

Vivian drückte ihren Zigarettenstummel mit der Holzsohle der Clogs aus, hob die Kippe auf und warf sie in den Abfallbehälter neben der Bank. »Aber trösten Sie sich. Als zahlende Besucherin sind Sie jederzeit willkommen in Kew Gardens.«

Ihr scharfzüngiger Humor schmerzte Charlotte körperlich. Erleichtert erwiderte sie den Gruß, als die Frau sich mit einem Nicken verabschiedete und zurück zu ihrer Arbeit stapfte, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Was für ein Jammer, dass die Direktoren mit den Frauen so rigoros verfuhren, obwohl sie erheblichen Anteil daran hatten, dass der berühmteste Garten der Welt mit seinen über zwanzigtausend systematisch arrangierten Pflanzenarten den Krieg überstanden hatte. Charlotte drückte das Kreuz durch und nahm einen tiefen Atemzug. Sie würde ihren Weg als Botanikerin gehen und als Allererstes ihr hoffentlich herausragendes Abschlusszeugnis in der Universität entgegennehmen. Voller Energie stand sie auf und wandte sich zum Ausgang. Nach wenigen Schritten kehrte sie um. Der Schirm. Es wäre der fünfte, den sie in diesem Jahr bereits irgendwo liegen gelassen hatte. Charlotte war in Gedanken versunken, als sie sich an der Kew Bridge Station in die Massen von Menschen einreihte, die von Richmond ins Stadtzentrum von London wollten. Mit quietschenden Bremsen fuhr die Bahn ein. Charlotte ließ sich vom Menschenstrom auf die Zugtüren zutreiben. Nach rechts und links entschuldigte sie sich wie die meisten Bahnfahrer unentwegt, während sie angerempelt wurde. Gerüche nach Fettgebackenem, Ruß und Funkenschlag umwehten sie und weckten ihre Sehnsucht, umzukehren und den Tag im duftenden Botanischen Garten zu verbringen. Aber sie biss die Zähne zusammen und fand sogar einen Sitzplatz am Fenster.

Mit der Schläfe an der Scheibe gingen ihre Gedanken zu Professor Dr. Helen Gwynne-Vaughan, bei der sie an diesem Nachmittag einen Termin hatte. Die Zielstrebigkeit, Disziplin und Klugheit der Botanikerin bewunderte sie über die Maßen, obwohl ihr Fachgebiet für Charlotte eher unspektakulär war. Die Vorlesungen über Pilze hatte sie nur besucht, um die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin zu erleben, nicht etwa, weil sie sich auf die Mykologie spezialisieren wollte. Charlottes Leidenschaft galt allem Blühenden, besonders der Rhodologie. Über die mannigfaltigen Sorten von Rosen und deren Zucht hatte sie für ihre Abschlussarbeit recherchiert. Gründlich hatte sie sich mit der Verbesserung der Kulturbodenschicht befasst, in welchem Verhältnis Sand und Lehm geschichtet werden mussten, um reichlich Faserwurzeln zu erzielen, statt bindfadenartige Wurzeln, die beim Ausgraben der Rosen leicht verloren gingen. Spannend fand sie die Frage, ob aus Samen gezogene Wildlinge widerstandsfähiger waren als in Wald und Feld ausgegrabene Stämme. Mit den von der Professorin geliebten Pilzen hatte Charlotte nur die schlechtesten Erfahrungen gemacht. Erysiphe clandestina bildete auf den Rosen den Mehltau, einen staubigen Überzug der Blätter und Triebe von weißlich grauer Färbung, der sich in rascher Geschwindigkeit ausbreitete. Und die Plage Phragmidium incrassatum verursachte mit ihren Sporen den Rosenrost, der die Unterseite der Blätter mit einem braunroten Pulver überzog und sie mit der Zeit tötete. Charlottes Liebe zu den Pflanzen war breit gefächert, aber um Pilze sollten sich besser andere kümmern und möglichst schnell verwertbare Ergebnisse erzielen, damit sie die Schönheit der blühenden Blumen nicht angriffen.

Dr. Helen, wie Charlotte sie bei sich nannte, hatte sich bereits um die Jahrhundertwende als Studentin der Botanik eingeschrieben und danach als wissenschaftliche Assistentin namhafter Professoren gearbeitet, um wenig später den Doktortitel zu erhalten. Hätte sie sich von ihrer Karriere abbringen lassen, nur weil man ihr schlechte Chancen prophezeite? Nein, niemals! Daran würde Charlotte sich ein Beispiel nehmen. Obwohl ihr keine akademische Karriere vorschwebte. Sie wollte raus in die Welt: zu den chinesischen Teeplantagen, nach Jamaika und Singapur, nach Brasilien, Indien, Sri Lanka, Japan, um die Heimat der Gewürze, des Hanfs, der Gummibäume kennenzulernen und Feldforschung zu betreiben. Was für eine himmlische Vorstellung, durch tropische Wälder, Täler und Flusslandschaften zu schreiten, nach neuen, unbekannten Pflanzen zu suchen und sie in ihrem natürlichen Umfeld zu erforschen.

Wann immer das Fernweh in ihr wuchs, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, und zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass der Mann mit der Schirmmütze und den jungenhaften Zügen, der ihr gegenübersaß, ihre Miene gründlich missverstand. Er erwiderte das Lächeln und tippte sich an die Kappe. »So einen herrlichen Frühsommer hatten wir lange nicht mehr, nicht wahr?«

Charlotte spürte ein Glühen in ihrem Gesicht. Wahrscheinlich sah sie aus wie Klatschmohn. Papaver rhoeas. »Es soll sich aber nicht halten«, erwiderte sie abweisend, um ihm zu signalisieren, dass sie das Gespräch damit als beendet betrachtete. Sie wandte sich von dem Mann ab, der ein enttäuschtes Gesicht machte, wie sie aus dem Augenwinkel mitbekam. Sie schob sich die Brille zurecht.

Ihre Erfahrungen mit Männern waren eher gering. Vor dem Krieg war sie eine Zeitlang mit Francis, einem Freund ihres Bruders, ausgegangen. In den Sommernächten hatten sie an verschwiegenen Plätzen ungeschickt Zärtlichkeiten ausgetauscht. Doch dann war der Krieg ausgebrochen und Francis hatte sich in die Schlange von Männern eingereiht, die sich in ihren besten Sonntagsanzügen als Soldaten bewarben. Er war zu Kriegsbeginn gerade achtzehn Jahre alt gewesen, aber auch jüngere Männer und Schuljungen folgten dem Aufruf, für das Vaterland zu kämpfen. Wie stolz die Eltern auf ihre Burschen waren, die in eine Schlacht ziehen würden, die, wie sie glaubten, kurz und heftig sein würde, und danach wäre der Weltfrieden wieder hergestellt. Ihre Hoffnungen wurden zerstört, als unzählige Söhne auf den belgischen killing fields zurückblieben. Die Rückkehrer hatten dem Krieg ihre Jugend und oft auch ihre Gesundheit geopfert.

Mit Francis hatte Charlotte eine kühne Intimität zugelassen, vielleicht, weil die Zeit drängte. Aber er kehrte aus Belgien nicht zurück.

So nah wie er war ihr Dennis bislang nicht gekommen, obwohl Charlotte bereit war, ihm alles zu geben. Er war vor zwei Jahren in ihr Leben getreten, als er nach dem Krieg sein Studium der Botanik wieder aufnahm und es in Rekordzeit beendete. Seit Herbst vergangenen Jahres arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent in Kew Gardens.

Nach einigen Wochen an der Universität hatte er sie das erste Mal zu einem Tee eingeladen. Sie selbst war zu dem Zeitpunkt schon lange in ihn verliebt gewesen, in seine meergrünen Augen und die rotbraunen Locken, die sich nicht mit Pomade bändigen lassen wollten und die er meist zu lang trug, als dass es noch als modisch durchging.

Dennis hatte keine auf den ersten Blick ersichtlichen Kriegsverletzungen davongetragen, nur auf dem linken Ohr war er taub, weil in seiner Nähe eine Granate explodiert war, als er einen verletzten Kameraden vom Feld in den Schützengraben ziehen wollte. Wie nur wenige andere hatte sich Dennis trotz all der grausamen Erlebnisse seine Lebensfreude bewahrt, ein stiller Mann mit innerer Kraft, dem man die unmenschlichen Erfahrungen nur anmerkte, wenn er den Kopf drehte, um sein gutes Ohr einem Gespräch zuzuwenden. Und wenn man von seiner verlorenen Jugendliebe erfuhr, einer Frau, die ihr Versprechen gebrochen hatte und während der Kriegsjahre nicht auf ihn gewartet hatte. Diese Enttäuschung, davon war Charlotte überzeugt, prägte Dennis’ Umgang mit Frauen. Er war kein Mann, der leichtherzig eine Beziehung hinter sich ließ und die nächste begann. Sie wusste, dass er Angst hatte, erneut verletzt zu werden, und dass er deswegen seine Gefühle zurückhielt. Wie sehr sich Charlotte nach ihm sehnte, nach einer Berührung, einem Versprechen auf die Zukunft … Manchmal meinte sie, er müsste das in ihren Augen sehen. Und manchmal meinte sie, vor Sehnsucht nach mehr Intimität mit ihm zu vergehen. Seine Zurückhaltung war verletzend, aber dann lächelte er sie wieder an und küsste sie voller Liebe, bis sich Charlotte sicher war, dass er das Geschehene irgendwann überwinden und sie um ihre Hand bitten würde. Obwohl seine Küsse eher freundschaftlich waren und sie sich manches Mal gefragt hatte, ob es ihn als Mann nicht nach mehr verlangte. Sie zweifelte nicht daran, dass sie ihm gefiel, aber es wunderte sie, dass er nicht versuchte, ihr körperlich näher zu kommen. Das wäre doch nur natürlich nach all der Zeit, oder? Es gab Tage, da wurde sie aus Dennis einfach nicht schlau und fragte sich, ob sie einer Illusion hinterherhing. Auf jeden Fall würde sie ihn nie im Leben verletzen! Auf sie könnte er zählen, und gemeinsam könnten sie die Welt aus den Angeln heben.

Als der Zug in Ludgate Hill einlief, hatte er sich deutlich geleert. Der junge Mann ihr gegenüber war ausgestiegen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Mit ohrenbetäubendem Quietschen kam die Eisenbahn zum Stehen. Charlotte erhob sich, um mit den anderen Passagieren auszusteigen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Kurz vor zwei. Um drei Uhr hatte sie den Termin in der Universität. Sollte sie den Omnibus nehmen? Nein, sie entschied sich dagegen, als sie von den Stufen auf den Bahnsteig sprang und durch die Menschenmenge hindurch zum Ausgang steuerte. Sie würde den Umweg über Covent Garden nehmen und zu Fuß zur Universität spazieren. Sie liebte das bunte Treiben in der mit Eisenstreben überdachten Markthalle und davor, die Vielfalt an Gerüchen, Farben, Geräuschen. Überall traf man dort auf Straßenmaler und Musiker mit Konzertinas und Drehorgeln, die mit ihrer Kunst ihren Unterhalt bestritten. Händler mit hoch beladenen Karren, Blumenfrauen, Bettler und Bauchladenverkäufer, Schuhputzer und Scherenschleifer. Nur an den Versehrten, die mit amputierten Gliedmaßen in den Ecken kauerten und den Passanten ihre Blechdosen entgegenreckten, ging Charlotte zügig vorbei, wenn sie nicht gerade ein paar Pennys übrig hatte. Dieses Chaos aus Menschen, wackeligen Türmen von Körben und Kisten, die lautstark zum Verkauf angepriesenen Hühner, Enten, Esel und Schafe: Die Überflutung an Sinnesreizen würde sie abhalten von weiteren Grübeleien, ob sie den Universitätsabschluss bekam oder nicht.

Kurz bevor Charlotte den Bahnhof verließ, stockte sie. Verdammt! Sie wirbelte herum, um zurück zum Gleis zu laufen, vielleicht hatte sie Glück und der Zug stand noch da. Aber nein. Er hatte sich bereits gemächlich in Bewegung gesetzt.

Und mit ihm verschwand der Schirm.