Die Erfinder des guten Geschmacks - Jörg Zipprick - E-Book

Die Erfinder des guten Geschmacks E-Book

Jörg Zipprick

4,4
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer proklamierte schon 1739 die "nouvelle Cuisine"? Wieso kam später Paul Bocuse in den Verdacht, eine "neue Küche" erfunden zu haben? Wer verfasste ein Rezept für Elefantenfuß? Und wie beurteilte der Guide Michelin das Können von Bernard Loiseau, kurz bevor der Küchenchef Selbstmord beging?

Dieses Buch erzählt die Geschichte europäischer Köche von den Anfängen bis zu den Starköchen heutiger Prägung. Anschaulich schildert es, wie Moden, Politik, Transportwege oder die Erfindungen der chemischen Industrie das Kochen prägten - von Guillaume Tirel über Antonin Carême, Alexis Soyer, Auguste Escoffier, Franz Pfordte, Eugénie Brazier, Fernand Point, Paul Bocuse, Eckart Witzigmann, Fredy Girardet bis zu Santi Santamaria, Alain Ducasse und Joel Robuchon. Mit vielen Rezepten großer Köche.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 396

Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
10
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über den Autor

Jörg Zipprick, war 20 Jahre lang als Restauranttester in Europa unterwegs. Über seine Erfahrungen schrieb er das Buch In Teufels Küche. Ein Restaurantkritiker packt aus, das 2011 bei Eichborn erschien. Heute ist er als freier Autor und Journalist tätig und schreibt für Magazine in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Jörg Zipprick lebt bei Paris.

Jörg Zipprick

DIE ERFINDER DES GUTEN GESCHMACKS

Eine Kulturgeschichte der Köche

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2013 by Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Barbara van Benthem, Tutzing

Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung, Berlin

Umschlagmotiv: © getty-images/Florilegius

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-4535-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

INHALT

Amuse-Bouche: Unser Dreierlei vom Flamingo

1.

Vorspeise: Schwan medievale

Fleischverzehr verboten

Die 6000-Kalorien-Diät

Taillevent

Das Haushaltsbuch einer 15-Jährigen

2.

Italienische Antipasti und Dialog der Leckereien aus der Neuen Welt

Zwei Italiener in Paris

Die Urgroßeltern des Lebensmittelrechts

Die Welt wird größer

Der Siegeszug der Schokolade

Lancelot kochte Kartoffeln

3.

Die Geburt der Grande Cuisine

Ein Plädoyer für den Eigengeschmack

Dom Pérignon

»Nach französischer Art«

Der Tag, als der Fisch nicht kam

Berufsrisiko eines Zeremonienmeisters

Der Koch mit den drei Buchstaben: LSR

Im Gemüsegarten des Königs

Der Herr der 30 Grillspieße

Die Erfindung der Nouvelle Cuisine

Regionales ist begehrt

Das erste Restaurant

Beauvilliers, der Gaumenoffizier

4.

Die Französische Revolution und das Restaurant

»Sollen sie doch Kuchen essen«

Der Spezialist für Fleisch

Die Revolution entlässt ihre Köche

Koch mit Konserve

5.

Der Aufstieg der französischen Küche

Der erste Kritiker

Koch des Kaisers

Carême: Kaiser der Köche

Kunstförderung

Dandy und Philanthrop

Tournedos mit Rossini, Kabeljau mit Dumas

Rattenküche

Die »schöne Zeit«

6.

Der Siegeszug des Tourismus

Ein Restaurantführer von Portugal bis Russland

Der wunderbare Pfordte

Cäsar und Auguste erobern Europa

Vorbild Frankreich: Die Brigade

Montagné und seine Enzyklopädie

Der Anti-Escoffier

7.

Die martialische Avantgarde

8.

Die Mütter von Lyon

Die Frau mit der goldenen Küche

Der Prinz der Gastrosophen

Frauen raus!

9.

Kriege und Wirtschaftskrisen

Die Zeit der Ersatzprodukte

Otto Horcher

10.

Fresswelle und Nachkriegszeit

Die deutsche Pute marschiert

11.

Die Nouvelle Cuisine

Der Schlankheitskoch

Als Gault Millau traf

Monsieur Paul

Küche ist mehr als nur Rezepte

Das Duo aus Roanne

Fluchen, bis der Stern kommt

Der Caterer aus Nairobi

Die Dynastie von Valence

Wo die Deutschen essen lernten

Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben

12.

Nouvelle Cuisine rund um die Welt

Das Genie aus der Schweiz

Der Lehrmeister Spaniens

Nordische Küche aus Schweden

Das deutsche Küchenwunder

Hamlet am Herd

Neue Köche allerorten

13.

Das Nachspiel des Neuen

Der Perfektionist

Der stille Star

Individualisten am Herd

Der Meister des Meeres

Der Koch als Unternehmer

Die Fusionierer

Große Küche, große Probleme

Das Boot war voll

Der Aufstieg Spaniens

Gegen den Strom

14.

Die Allianz von Köchen und Industrie

Zusatzstoffe – Spitzenkochs neuer Liebling

Das Zeitalter der Kommunikation: Kreationen für Millionen

Von der Restaurantkritik zur Hofberichterstattung

Vorgekocht und abserviert

Und morgen?

Quellenverzeichnis

Personenregister

Bildnachweise

AMUSE-BOUCHE:UNSER DREIERLEI VOM FLAMINGO

Blättern Sie um und genießen Sie die Geschichte der großen Köche. Erleben Sie, wie ein Gassenjunge es zum größten Koch seiner Zeit brachte und sowohl bei Napoleon als auch dem russischen Zaren Festbanketts organisierte. Lesen Sie, wer das Restaurant erfand, woher der Pfirsich Melba stammt, wer mit Maiglöckchenessenz kochte und für welches Omelett sich Pilger ins Meer warfen. Staunen Sie über eine couragierte Frau, die eine Küche aus purem Gold ablehnte, oder wundern Sie sich über den eitlen Starkoch, der sich nur in Rautenmuster gewandete und später eine Suppenküche für die Ärmsten der Armen eröffnete. Trauern Sie um den Koch, der sich ins Schwert warf, weil der Fischlieferant zu spät kam.

Eine Geschichte der Köche ist keine Geschichte des Essens. Wir wissen, was vor Jahrtausenden auf die Tische kam. Doch wer es zubereitete, das wissen wir nicht. Wir wissen, dass bereits Archestratos von Gela im 4. Jahrhundert v. Chr. die Zutaten des östlichen Mittelmeerraums für frische, unverschnörkelte Gerichte auf Basis lokaler Fischsorten nutzte. Archestratos kannte den Weg zu den Hummerbänken, er kannte die richtige Art, in Sikyon Aale zuzubereiten, und wusste, dass die besten Bäcker seiner Zeit aus Phönizien oder Lydien stammten. Ihm ging es darum, das perfekte Stück Fisch zu dem Zeitpunkt zu verzehren, an dem es am besten schmeckte. Und natürlich musste der Fisch aus dem Ort stammen, wo der beste seiner Art gefangen wurde. So wie für Generationen von Feinschmeckern die besten Hühner aus der französischen Bresse stammen, kam der beste Oktopus für Archestratos aus Thasos.

Archestratos beschrieb Rezepte, doch ein Koch war der Reisende in Sachen Gourmandise nicht. Unser Wissen über die Köche im antiken Griechenland – ihre Namen, ihr Leben – ist begrenzt. In den griechischen Komödien tobte auf der Bühne ironisch überspitzt die Diskussion, ob Küche denn nun Kunst, Wissenschaft oder Handwerk sei. Der Poet Damoxenos zum Beispiel schildert einen arroganten Koch, der seine Berufskollegen für Ignoranten hält, sich selbst zum Wissenschaftler und Künstler erklärt und dabei die Küche selber meidet:

»Sie [die jungen Köche von heute, Verzeihung, damals] machen aus ganz entgegengesetzten Fischen eine Sauce und reiben Sesam drein. Solche Disharmonie zu durchschauen ist die Sache der geistreichen Kunst und nicht, Töpfe zu waschen und nach Rauch zu stinken. Ich gehe gar nicht mehr in die Küche; ich sitze nur in der Nähe und sehe zu, und während andere arbeiten, erkläre ich ihnen Ursache und Wirkung.«

Wir wissen, dass Platon in der Gorgias Kochen nicht als Kunst, sondern als manuelle Verrichtung sah. Und wir kennen die Festmähler des Feldherrn Lucius Licinius Lucullus (117 v. Chr – 56 v. Chr.), der über eigene Meerwasserbecken verfügte, damit er zu jeder Tageszeit frischen Fisch auftischen konnte. Oft verbanden Kanäle diese Piscinae mit dem Meer. Laut Plutarch kamen bei Lucullus alle Sorten Fleisch und sorgfältig präparierte Gerichte auf den Tisch, in prächtigem Ambiente, untermalt von einem Chor. Als der Feldherr Pompeius erkrankte, rieten ihm seine Ärzte, Drosseln zu essen. Doch seine Diener erklärten, es gäbe keine, außer natürlich bei Lucullus, der sie stopfen ließ. Fast nebenbei soll er die Kirschen in Europa eingeführt haben, als er Bäume aus der pontischen Stadt Giresun in seiner Heimat anpflanzte.

Der Name Marcus Gavius Apicius (25 v. Chr – 37 n. Chr.) steht bis heute für den Heißhunger nach Extravagantem:

Apicius lebte in Kampanien, in Minturnae. Als er von Größe und Geschmack der Krebse an der libyschen Küste hörte, stach er prompt in See und nahm Kurs auf das vermeintliche Krustentierparadies. Bei seiner Ankunft wurde er von Fischerbooten begrüßt. Kritisch betrachtete er die angebotenen Krebse und fragte, ob es noch bessere gäbe. Die Fischer verneinten. Apicius ließ prompt Segel setzen und kehrte nach Hause zurück, natürlich ohne einen Fuß auf das libysche Festland gesetzt zu haben. Libyens Krebse waren für ihn keine Reise wert.

Eines seiner Lieblingsgerichte waren Flamingozungen. Rotbarben waren laut Apicius am besten, wenn sie vor dem Kochen in einer Fischsauce – aus Rotbarben – ertränkt wurden. Letztlich trieb die Feinschmeckerei Apicius in den Tod: Als er bemerkte, dass er gut 100 Millionen Sesterzen für seine kulinarischen Vorlieben ausgegeben hatte und ihm »nur« noch zehn Millionen Sesterzen zum Leben blieben, vergiftete er sich. Offensichtlich empfand er ein Millionärsleben mit geringfügig bescheidenerem Essen als nicht lebenswert.

Zum Vergleich: Das verbliebene Vermögen hätte für den Erwerb von etwa 4000 Sklaven ausgereicht, es hätte auch 130 römische Normalbürger nach damaligen Preisen je 100 Jahre ernähren können.

Der Nachwelt hinterließ Apicius angeblich das erste Kochbuch mit Namen De re coquinaria, wovon lediglich zwei karolingische Handschriften des 9. Jahrhunderts erhalten sind. Eine stammt aus einem Kloster in Fulda und wurde 1929 von der New York Academy of Medicine erworben. Das zweite Exemplar befindet sich in der Bibliothek des Vatikans.

Ob Apicius wirklich selbst zur Feder griff, weiß niemand. Vielleicht wurden die Rezepte auch zu Ehren des römischen Feinschmeckers zusammengestellt. Aber was heißt überhaupt Rezepte? Nach unserem heutigen Verständnis sind es eher Kochideen. De re coquinaria liest sich wie ein halbwegs alltagstaugliches Kochbuch, auch wenn der Autor auf gefüllte Haselmäuse und das folgende Flamingorezept nicht verzichten wollte.

FLAMINGOREZEPT AUS DE RE COQUINARIA:

1. Enthäute den Flamingo, wasche […] ihn und verschließe ihn in einem Topf, gib Wasser, Salz, Dill und ein wenig Essig dazu. Wenn er halb gar ist, binde ein Bündelchen Lauch und Koriander zusammen, um es damit zu kochen. Wenn er fast gar ist, gib Defrutum dazu und färbe ihn. Gib in einen Mörser Pfeffer, Kümmel, Koriander, Laserwurzel, Minze und Raute und zermahle es, gieße Essig hinzu, gib Datteln hinein und gieße vom eigenen Saft darüber. Schütte es in denselben Topf, binde mit Stärkemehl, gieße die Sauce darüber und serviere. Das Gleiche mache auch mit Papagei.

2. Anders: Grille den Vogel und zerstoße Pfeffer, Liebstöckel, Selleriesamen, gerösteten Sesam, Petersilie, Minze, getrocknete Zwiebel und Datteln. Schmecke mit Honig, Wein, Liquamen, Essig, Öl und Defrutum ab.

Liquamen oder Garum war die römische »Universalwürze«. Für sie wurden Sardellen, Thunfisch, Aal und Makrelen samt Eingeweiden mit Salzlake vermischt, der Mix vergor anschließend in der Sonne. Geschmacklich ähnelte es wahrscheinlich dem vietnamesischen Nuoc Mam. So beliebt die Sauce war, so unbeliebt war ihre Herstellung. Garum-Fabrikanten arbeiteten meist außerhalb der Städte, da die Fisch-Fermentation nur sehr geruchsintensiv betrieben werden konnte.

Defrutum hingegen war eingedickter Traubensaft, der unter starker Hitze in einem Bleigefäß auf die Hälfte oder um zwei Drittel reduziert wurde. Er diente zum Beispiel als Honigersatz. Durch diese Art der Zubereitung gelangte eine erhebliche Menge Blei in den beliebten Most. Mit Defrutum süßte man auch Weine. Untersuchungen zum Bleigehalt haben ergeben, dass damalige Aristokraten sich tatsächlich mit dem konzentrierten Most vergiften konnten. Kurioserweise standen die Römer selbst dem behandelten Wein skeptisch gegenüber. Plinius der Ältere (23 n. Chr. – 79 n. Chr.) beschwerte sich, dass viele Gifte eingesetzt würden, um Wein dem Geschmack der Trinker anzupassen. Je günstiger der Wein, desto freier sei er von Unreinheiten.

All diese Details sind bekannt und dokumentiert. Doch wer bei Lucullus die Gerichte »sorgfältig präparierte« und die Drosseln zubereitete, wer für Apicius die Rotbarben in Barbensaucen ertränkte und die Flamingos häutete, das wissen wir nicht. Es waren Küchensklaven, und mit ziemlicher Sicherheit die besten Küchensklaven, die man für viele, viele Sesterzen erwerben konnte. Köche waren Hauspersonal, Sklaven, Diener. Weite Teile der Geschichte der Köche zeigen, dass die Mitglieder dieses Berufsstands stets besonders hart um den sozialen Aufstieg kämpften. Viele Köche haben uns seit dem Mittelalter Bücher mit ihren Rezepten und ihrem Wissen hinterlassen. »Wer schreibt, der bleibt« sagt eine Redensart. Hier trifft sie zu, denn die Geschichte der Köche wird fast ausschließlich von Kochbuchautoren geprägt. Vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert kennen wir die Namen einiger Köche, die an Fürsten- und Königshöfen arbeiteten. Ihre Bücher und Rezepte sind teilweise erhalten, ab und an ist ein biografisches Detail überliefert. Erst als – schreibende – Profiköche nicht mehr ausschließlich in den Privatküchen des Adels wirkten, traten die Köche in die Öffentlichkeit. Fortan gab es nicht nur Rezepte, sondern regelrechte Biografien.

Viele davon gleichen mittelalterlichen Hagiografien, egal ob der Herr am Herd selbst zur Feder griff oder Zeitgenossen ihn in Werken würdigten.

Der Protagonist war ein Mann (viel seltener: eine Frau) ohne Fehl und Tadel, zielstrebig, fleißig und kreativ, somit also der kulinarischen Verehrung würdig. Und ab und zu behauptete einer oder gleich zwei, sie hätten eine »neue Küche« erfunden. Die weitaus meisten großen Köche haben freilich weder die Welt des Kulinarischen umgekrempelt noch »neue Küchen« erfunden.

Quer durch die Jahrhunderte wirkten sich Horden von kleinen und großen Veränderungen auf die Küche aus, zum Beispiel verbesserte Transportwege, ausgefeiltere Kühltechniken oder zuvor nicht verfügbare Zutaten. Die sicherlich größten Revolutionen in der Küchenlandschaft der letzten 1000 Jahre entstanden durch die Entdeckung der »Neuen Welt«. Reis, Tomaten, Kartoffeln, Schokolade, nichts davon gab es in unseren Breiten vor der Entdeckung Amerikas. Gerichte, die wir heute als kulinarisches Erbe Europas betrachten, waren unbekannt. Weder Spaghetti mit Tomatensauce noch Schweinebraten mit Kartoffeln standen auf dem Speiseplan unserer Vorfahren. Und weiter: Ohne zahlungskräftige Klientel, ohne gute Zutaten und ohne zuverlässige Lieferanten kann es keine »große Küche« geben. Die Grande Cuisine entwickelte sich folgerichtig erst, als die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt waren. Und sie war über lange Zeit ein Privileg der ganz Wenigen – wobei nach kurzen Demokratisierungsversuchen auch heute wieder die Gästeauswahl über den Menüpreis gesteuert wird.

Auch wenn die Köche sich gern als maßgebliche Akteure jedweden kulinarischen Geschehens ausgeben, bleibt ihr Handwerk deshalb letztlich abhängig von den äußeren Umständen: ein Spielball der Geschichte.

Quer durch die Küchengeschichte wurden über Jahrhunderte »neue Küchen« ausgerufen, haben Köche das Wirken ihrer Vorgänger als schwer und überladen kritisiert. Dabei wurde schon früh versucht, mit visuellen Effekten mancherlei zu maskieren. So etwa im 19. Jahrhundert, als einige Köche Stammkunden in Geschäften für Malerbedarf waren. Heute greifen ihre Kollegen mit beiden Händen in die prallvollen Schränke der Lebensmittelindustrie, bedienen sich an Farbstoffen, Emulgatoren und Flüssigaromen. Zuweilen, auch das ist nicht neu, trafen experimentierfreudige Köche auf eine Klientel, die schon alles zu kennen glaubte. Essen und Genuss traten in den Hintergrund, wurden abgelöst durch spektakuläre Effekte: Je nach Epoche brachen Köche die Hirnschalen von Flamingos auf, ließen mit Baumaterialien verstärkte »Butterschiffe« über die Tische wogen, oder sie bauen wie im 21. Jahrhundert Türmchen und Spiralen aus Zusatzstoffen. Kulinarische Moden verhalten sich wie ein Pendel: Nach jeder Periode extravaganter visueller Effekte riefen – und rufen – Köche und Kochbuchautoren dazu auf, zur reinen Lehre zurückzukehren und den Geschmack der natürlichen Zutaten neu zu entdecken. In den hohen Sphären des besseren Essens wurde – und wird – eben derjenige belohnt, der vermeintliche Neuerungen am besten zu verkaufen weiß. Das Klappern mit Schöpfkelle und Kochtopf gehört seit jeher zum Handwerk.

Einige der historischen Kochrezepte, die ich für dieses Buch ausgewählt habe, wirken auch nach Jahrhunderten noch buchstäblich »zum Reinbeißen«, während andere eher irritierend ausfallen. Was wiederum auch für moderne Rezepte zutreffen kann.

Rezepte von Köchen aus vergangenen Jahrhunderten können Anregungen liefern. Genau nachkochen kann sie niemand, denn niemand wird den Originalgeschmack heute auf die Teller bringen können. Nicht nur, dass alte Kochanleitungen keine Maße enthielten, da es noch keine verbindlichen Maßeinheiten wie Kilogramm gab. Wir wissen auch nichts über die verwendeten Zutaten. Eine mittelalterliche Karotte ist zum Beispiel mit ihrer heute erhältlichen Kollegin kaum vergleichbar. Ob Rind oder Schwein, Huhn, Ziege oder Lamm, wir haben keine Ahnung, welcher Rasse die Tiere angehörten, die auf den Tellern unserer Vorfahren landeten. Wir wissen oft nicht, wie sie gezüchtet, wie sie ernährt und in welchem Alter sie geschlachtet wurden. All diese Faktoren wirken sich auf den Geschmack aus. Was der Koch Antonin Carême am Hof des russischen Zaren kochte, werden wir deshalb nie mit eigener Zunge erleben dürfen.

Ein Koch ist nicht nur, wer eine Kochlehre hinter sich gebracht hat – auch in diesem Buch nicht. Denn noch heute gibt es in weiten Teilen der Welt keine verbindliche Ausbildung für Köche. Koch ist, wer sich dem Kochen widmet, ob am eigenen Herd oder als Herrscher über eine Brigade am Königshof.

Und jetzt blättern Sie bitte um und entdecken die Geschichte der größten Köche aller Zeiten.

1. VORSPEISE: SCHWAN MEDIEVALE

An den Tisch des römischen Emporkömmlings trat »ein riesiger Bartträger mit riemenumwundenen Beinen und einem Zipfelmantel aus Damast«. Er schwang ein Jagdmesser, stieß es kräftig in die Flanke eines gebratenen Wildschweins. Prompt flatterten aus der Wunde lebende Drosseln, die namenlose Köche sorgsam in die Bauchhöhle eingenäht hatten. Vogelfänger »standen mit ihren Ruten bereit und fingen sie, obwohl sie im Speisezimmer herumflatterten, im Handumdrehen«. Jeder Gast bekam eine Drossel, großzügig wurden Datteln und Eicheln aus Syrien und Ägypten verteilt.

Dies ist nur ein halber Gang aus einem Festmahl des Satyricon, verfasst von Titus Petronius (22-66). So speisten reiche Römer, denen es offenbar nichts ausmachte, dass die panischen Piepmätze in der Bauchhöhle des Schweins vielleicht die eine oder andere »Hinterlassenschaft« deponiert hatten. Spektakelküche quer durch die Jahrhunderte, von Lucullus bis zu Kaiser Elagabal, der auch Bediensteten in Anfällen von Großzügigkeit Straußenhirne servieren ließ.

Wann immer die Grundbedürfnisse einer Gesellschaft gedeckt sind, wenden sich ihre Mitglieder der Verfeinerung zu. Das gilt natürlich auch für das Kulinarische. Doch auch Verfeinerung lässt sich übertreffen, mit Protz, Pracht und theatralischen Inszenierungen. Dazu braucht es nur ein wenig Fantasie, jedoch weit mehr Geld. Die gastronomischen Extravaganzen eines Lucullus und Apicius waren nur durch eine prall gefüllte Geldbörse möglich. Was aber, wenn die Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind? Wenn sogar die Superreichen andere Sorgen als die nächste Mahlzeit haben? Oder wenn die nächste Mahlzeit gar die letzte sein kann?

Es ist eine schreckliche Vorstellung: Eines finsteren Tages im 5. Jahrhundert n. Chr. stürmen die Hunnen herbei, die römischen Legionen fallen wie die Fliegen, in ganz Europa wird gemordet, geplündert.

Vielleicht aber läuteten auch die Germanen oder die Goten den letzten Akt für das Römische Reich ein. Alarich, Führer der Westgoten, eroberte schließlich 410 Rom und ließ die Stadt drei Tage lang plündern. Der Germane Odoaker setzte 476 den römischen Kaiser Romulus Augustulus (»das Kaiserchen«) kurzerhand ab. Zwar hatte Odoaker einst für Attila, den Hunnenkönig »Etzel« des Nibelungenliedes, gekämpft, weigerte sich nun aber als ehemaliger Offizier der weströmischen Armee, über Gebühr barbarisches Verhalten an den Tag zu legen. Er verzichtete darauf, das Kaiserchen zu töten, zahlte ihm lieber eine jährliche Pension und ließ auch den römischen Senat, das Rechtssystem und die Verwaltung bestehen. Fortan war Odoaker König Italiens und es herrschte Mittelalter, zumindest nach unserer heutigen Vorstellung.

Rom wurde also weder an einem Tag gebaut noch an einem Tag zerstört. Auch die römische Küche verließ Tische und Teller nicht von heute auf morgen. Schließlich wurde das Kochbuch des Apicius in den Klöstern fleißig kopiert.

Doch die Tage der Völlerei waren vorüber: Mit dem Christentum kamen veränderte Essgewohnheiten. Papst Gregor der Große (540-604) erwähnt in den Moralia ausdrücklich die Völlerei als eine von sieben Todsünden. Neu war dieser Gedanke nicht: Für den Kirchenvater Hieronymus (347-420) war der Fleischverzehr minderwertig. Gott hätte schließlich den Fleischverzehr erst Noah zu Zeiten der Sintflut gestattet, während die ursprüngliche Nahrung der Menschen aus Früchten und Gemüse bestand.

Das Mittelalter, immerhin ein Zeitraum von 1000 Jahren, hat einen finsteren Ruf, weil es nur wenige schriftliche Zeugnisse gibt. Ein vollständiger Rückfall in die Steinzeit war es dennoch nicht: Die Bürger Ostroms, alias Byzanz, lebten opulent. Sie verfügten über einen Lebensstandard, der weit über den des restlichen Europas hinausging. Das wirkte sich auf ihren Speisezettel aus. Zu seiner Blütezeit reichte das Byzantinische Reich vom Nordosten des Mittelmeeres über die Türkei bis zur Arabischen Halbinsel, was den Byzantinern eine große Auswahl an Zutaten, Gewürzen, Kräutern, Früchten und Gemüse bescherte. Die Küche war so vielfältig wie die Region des Reichs. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es eine Fusionsküche mit Einflüssen aus Griechenland, Rom, Syrien und ganz Arabien. Die vermögenden Bürger von Byzanz schätzten Fischrogen, aßen Spinat, der ursprünglich aus dem persischen Raum kam, und Auberginen, die aus Indien stammten. Sie bauten Zitronen und Orangen an. Etliche Gerichte, die wir heute in der türkischen oder griechischen Küche schätzen, haben ihren Ursprung in Byzanz, etwa stark gesüßte Speisen wie Baklava oder gefüllte Weinblätter.

Von 632 bis 1100 n. Chr. erlebte zudem die junge islamische Zivilisation eine wahre Blütezeit: Algebra, Sextanten, Injektionsspritzen, Astrolabien, das alles und vieles mehr wurde von arabischen Gelehrten er- und gefunden. Ob Augenheilkunde oder Pharmakologie, die arabische Zivilisation verfügte gegenüber der westlichen Welt über einen technologischen Vorsprung. Inspiriert wurden die Gelehrten vom antiken Griechenland. Besonders nach der Einnahme von Alexandria im Jahr 642 studierten Philosophen die Werke Platons und Aristoteles’. Bagdad avancierte zum geistigen Zentrum des Mittelalters, Manuskripte aller Völker, auch der Griechen und Römer, wurden ins Arabische übersetzt. Die Landwirte erhielten Kenntnis von Struktur und Feuchtigkeit des Bodens und konnten so vier Mal im Jahr ernten. Auch die Bewässerungstechnologie wurde verbessert, weshalb viele arabische Bewässerungsanlagen in Nordafrika fälschlicherweise den Römern zugeschrieben würden, behauptet der amerikanische Autor Clifford A. Wright in seinem Buch AMediterranean Feast. Die neuen Techniken wurden selbstverständlich auch in den islamischen Gebieten in Europa, zum Beispiel in Spanien, genutzt, das von 711 bis 1492 von Mauren beherrscht wurde.

Die schlechte Nachricht für Köche: Sie waren, zumindest nach heutigem Kenntnisstand, immer noch namenlos. Immerhin wissen wir, dass es sie gab.

Im Jahr 512 brachte der byzantinische Arzt Anthimus am Hofe Theoderichs des Großen (471-526) sein Werk De observatione ciborum zu Papier – kein Kochbuch, sondern eine Art »Gesundheitsbuch« mit Rezepten. Der Mediziner empfahl Gewürze, Essig und Honig zu einem Rindsragout und vergaß nicht zu erwähnen, ob die Zutaten in Theoderichs Heimat bei Metz überhaupt verfügbar waren. Typische Zutaten der römischen Küche wie Oxymel aus Honig, Essig, Regenwasser und Meersalz oder Oenomel aus Honig und Traubensaft tauchten auf. Das waren römische Essensempfehlungen für einen König, der nie ein Römer gewesen war.

Wenn wir ans Mittelalter denken, erscheinen vor unserem inneren Auge weder Oxymel noch Oenomel, sondern dicke, geröstete Schweine und Ochsen, dazu gegrillte Hirschkeule und ein paar ordentlich durchgebratene Hühner, dargeboten auf einem hölzernen Tisch neben einem Fass Wein. Das ist Hollywood. Die mittelalterlichen Bauern kannten solche filmreifen Festmähler nicht, bei denen ganze Hühner mit bloßen Händen in zwei Teile geteilt und verschlungen wurden. Der Ernährungsalltag bestand aus Suppe und Brot.

Aus Frankreich ist bekannt, dass Brote ein bis zwei Mal pro Monat in Gemeinschaftsöfen gebacken wurden. In die Suppe wanderten Lauch, Karotten, Rüben oder Kohl. Einmal gekocht, wurde sie über eine Scheibe Roggenbrot geschüttet. Weil nur zwei Mal im Monat gebacken wurde, war das Brot natürlich hart. Erst die Flüssigkeit weichte es wieder auf. Die Bauern verzehrten die gute Suppe mit Brot morgens, mittags und abends, direkt auf dem Tisch, ohne Teller. Im Spätmittelalter, um 1300, verzehrte jeder Esser im Schnitt 200 Kilogramm Brot im Laufe eines Jahres, fast vier Mal mehr als heute. Wild wachsende Früchte und Beeren sowie Kastanien ergänzten den Speiseplan.

Damals wurden, so der deutsche Historiker Ernst Schubert, 80 Prozent des Haushaltseinkommens für den Nahrungserwerb aufgewendet. Falls die Preise auf den Märkten anzogen, etwa nach Missernten, war die Versorgungslage der Menschen akut bedroht. Das Konservieren von Nahrungsmitteln für schlechte Zeiten war daher überlebenswichtig. Wie in der Antike wurde getrocknet, gedörrt, gebeizt und geräuchert. Dazu kam, je nach Region, das Einlegen von Fleisch im eigenen Fett, wie es beim französischen Confit heute noch üblich ist.

Für die Konservierung von Fisch und anderen Lebensmitteln war die Salzversorgung elementar. Handelsrouten verbanden »Salzregionen« wie die Ostalpen, Lothringen oder das Elbe-Saale-Gebiet mit den Städten. Schon im 9. Jahrhundert wurde auf der französischen Île de Noirmoutier mit der Meersalzgewinnung begonnen. Doch Salz war kostspielig, den Reichen vorbehalten und ein politischer Machtfaktor. Städte wie Reichenhall machte es reich, zwischen Salzburg und Bayern herrschte später, 1610, gar ein »Krieg um’s Salz«, der 1611 mit dem Einmarsch der Bayern in Salzburg endete.

Seit dem 11. Jahrhundert verbesserte sich die Versorgungslage langsam durch die Einführung der Dreifelderwirtschaft. Dazu wurde die Anbaufläche in drei Teile geteilt. Jeder davon lag ein Jahr lang brach und wurde dann als Weide genutzt. Sommergetreide wuchs auf einem zweiten, Wintergetreide auf dem dritten Acker. So blieb der Boden fruchtbarer. Auf dem brach liegenden Feld gediehen außerdem Hülsenfrüchte wie Erbsen, die fortan zur Alltagsernärung beitrugen. Historiker Schubert nennt dies den »Siegeszug der Erbse«. Gesichert war die Nahrungsmittelversorgung deshalb aber noch lange nicht. Regelrechte Hungerkatastrophen sind für die Jahre 1043 bis 1045, 1195, 1198 und 1225/1226 nachgewiesen, dazu kamen regional begrenzte Hungersnöte, etwa 1272/1273 in Friesland. In Frankreich durchlitten die Menschen im 12. und 13. Jahrhundert 81 Hungersnöte.

Getrunken wurde Wein, Bier und Regenwasser. Wer am Brunnen trank, lief Gefahr, sich mit diversen Keimen zu vergiften.

Auf Lebensmittelfälscher war im Mittelalter niemand gut zu sprechen. Unsere Vorfahren verstanden beim Panschen keinerlei Spaß. Mit einer Meldung in der Lokalpresse und einer Geldbuße war es damals nicht getan. Im Jahr 1316 wurden 16 Bäcker an den Pranger gestellt und ins Exil geschickt, weil sie ihr Brot mit Abfällen durchmischt hatten. 1444 wurde in Nürnberg der »Safranschmierer« Jobst Findeker mitsamt seiner Ware auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zwölf Jahre später begruben die Nürnberger als Strafe für dieses Delikt eine gewisse Elsa Fragnerin bei lebendigem Leib.

Fleischverzehr verboten

In den christlichen Gesellschaften des Mittelalters bestimmte die Religion den Speiseplan. An Fastentagen untersagte die Kirche den Fleischkonsum. Zu manchen Zeiten, etwa vor Ostern, mussten die Menschen zudem auf Eier, Käse und Milch verzichten. Das christliche Jahr kannte bis zu 150 solcher Fastentage!

Folgerichtig stellten sich mittelalterliche Köche die Frage, wie sie das Verbot möglichst wohlschmeckend und gleichzeitig frei von Sünden umgehen konnten: Mandelmilch ersetzte Kuhmilch, das galt als problemlos. Fisch war erlaubt, zur Not gab es die »konservierten Varianten« wie Salzhering und Stockfisch. Letztendlich hing der Speiseplan jedoch an der kreativen Interpretation des Wörtchens »Fisch«. Waren das wirklich nur Tiere mit Flossen und Gräten? Oder nicht vielleicht auch noch Krebse und Muscheln? Und dann gab es auch noch Biber, Otter und Wasservögel, die einen beträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit im Wasser verbrachten. All das wurde an Fastentagen munter vertilgt.

Auf die Spitze getrieben wurde die sehr freie Auslegung der kirchlichen Regeln mit der Nonnengans. Nach mittelalterlichem Glauben schlüpfte die nämlich aus einer Muschel an einer Art »Seepockenbaum«. Das Tier heißt auf Englisch barnacle goose, wobei barnacle mit »Seepocke« übersetzt werden kann. Ergo war die Gans sozusagen der Abkömmling der Muschel und damit eine ideale Speise für die Fastentage.

Die Adligen hingegen schwelgten in Luxus. Ludwig IX. ließ sich in Frankreich im Jahr 1241 Suppen, Fische, Braten, Zwischengerichte mit farbigen Gelees, Schwäne, Pfauen und Fasane auftischen. Schnäbel und Krallen des Geflügels waren vergoldet, man gönnte sich ja sonst nichts. Überhaupt das Geflügel: Der Adel verzehrte Pfauen, Schwäne, Kraniche, Drosseln, Fettammern und Reiher. Dem Bürgertum blieb das Huhn.

Gewürze brachten es im Mittelalter zum Statussymbol. Sie kamen über die Seidenstraße aus China nach Arabien, wo sie nach Venedig, Amalfi, Pisa und Genua verschifft wurden. Pfeffer galt als Kostbarkeit, dazu kamen Ingwer, Zimt, Gewürznelken, Safran, Kümmel, Mandeln und Muskat. Bezüglich der Dosierung streiten sich die Gelehrten: Einerseits gab es bei Hofe fast überall regelrechte Gewürzspeicher, allerdings wurden dort auch Dutzende, manchmal sogar Hunderte von Gästen bewirtet. Andererseits verlangt das Libro per cuoco, ein italienisches Kochbuch aus dem 14./15. Jahrhundert, nach etwa 220 Gramm Gewürzen für zwölf Personen.

Zuweilen wird behauptet, Ingwer, Zimt und Safran mussten den strengen Odeur vergammelnden Fleisches überdecken; wer nicht über die »Luxusgewürze« verfügte, der nutzte dazu Knoblauch oder Bohnenkraut. Jedoch konnten sich Adlige, deren Vermögen zur Füllung von Gewürzspeichern reichte, mit Sicherheit auch frisches Fleisch leisten.

Das älteste derzeit bekannte Kochbuch des Mittelalters stammt aus der Kathedrale von Durham in Großbritannien. Um das Jahr 1160 wurden die Rezepte in Latein auf dünnem Pergament notiert. Professor Faith Wallis entriss sie 2013 dem Vergessen.

Der unbekannte Verfasser listet Saucen zu Hammel, Ente und Rind. Eines der Rezepte empfiehlt eine Minzvariante zum Hammelfleisch – ein Vorgänger des britischen Lamms in Mintsauce? Zu Schwein oder Rind wurden gemahlene Senfsamen in Essig gereicht. Dabei gab es Senf, wie wir ihn kennen, damals noch nicht.

»Winzigkleine Fischchen« wurden mit Koriander, Knoblauch und Pfeffer zubereitet.

Eines der Rezepte trägt den hübschen Titel »Henne im Winter«. Historiker Dr. Giles Gasper kommentiert es in der offiziellen Pressemitteilung der Universität Durham vom April 2013 mit den Worten: »Wir glauben, dieses Rezept ist eine saisonale Variation, mit Zutaten aus den kälteren Monaten und natürlich der Angabe ›Henne‹ statt ›Huhn‹. Das heißt, es war älteres Geflügel.« Knoblauch, Pfeffer und Salbei brauchte der Koch für die Winterhenne.

»Die Saucen werden hauptsächlich mit Petersilie, Salbei, Pfeffer, Knoblauch, Senf und Koriander gemacht, was ihnen wohl einen mediterranen Geschmack verleihen wird, wenn wir sie nachkochen«, sagt Gasper. Und: »Laut Text kam eines der Rezepte aus Poitou in Frankreich.« Was zeigt, dass sich kultureller Austausch im Mittelalter auch auf Rezepte erstreckte.

Wie alle mittelalterlichen Kochbücher liefert auch dieses keine Rezepte mit exakten Maßangaben im heutigen Sinne, sondern eine Art Sammlung von Kochideen für Profis. Doch auf welche Maße hätten sich die Verfasser auch beziehen sollen? Weder verfügten die Verfasser über Uhren, mit denen sie die Garzeit präzise messen konnten, noch gab es Maßeinheiten wie das Kilogramm.

Welcher Koch die »Henne im Winter« zubereitete, ist unbekannt. Notiert wurden die Rezepte höchstwahrscheinlich von einem Mönch. Wer sonst sollte damals nicht nur des Schreibens, sondern auch der lateinischen Sprache mächtig gewesen sein?

Die 6000-Kalorien-Diät

Nur logisch ist es hingegen, dass die Kochanleitungen in einer Kirche lagerten. Im Mittelalter wurde die Küche an Adelshöfen und vor allem in Klöstern und Abteien gepflegt. Ab dem 7. Jahrhundert pflanzten zahlreiche Abteien eigene Rebstöcke und widmeten sich der Weinherstellung, etwa im Burgund, wo es seit 640 den berühmten Clos de Bèze gibt. Im Jahr 803 wurde der Stiftskeller St. Peter in Salzburg, die älteste noch existierende Gaststätte Europas, erstmals urkundlich erwähnt.

Außerdem verfügten die mittelalterlichen Mönche über großen Appetit. Nach Untersuchungen der britischen Archäologin Philippa Patrick, deren Ergebnisse sie unter anderem in einem Vortrag auf dem International Medieval Congress 2004 in Leeds zusammenfasste, nahmen Mönche pro Tag 6000 Kalorien zu sich. An den zahlreichen Fastentagen waren es immerhin noch 4500. Sechs Eier hätte so ein Mönch pro Tag verzehrt, von 11 bis 13 Uhr gab es drei Eier, gekocht oder in Schmalz gebraten, dazu Gemüsebrei mit Bohnen, Lauch, Karotten und andere Zutaten aus dem Klostergarten sowie Schweinekoteletts, Speck und Hammelfleisch, dazu Kapaun, Ente und Gans mit Orangen sowie ein halbes Pfund Brot. Danach Pfirsiche, Erdbeeren und Heidelbeeren mit Eierflan. Begossen wurde das Ganze mit reichlich wässrigem Bier. Drei Stunden später ging es nochmals zu Tisch. Es folgten Hammelfleisch, Haferschleim mit Knoblauch und Zwiebeln, Milch und Feigen, Rehrücken mit Vogelbeeren, Schlehen, Haselnüsse und Apfel, dazu geschmorte Aale, Heringe, Hecht, Neunaugen, Lachs, Kabeljau und Forelle, begleitet vom obligatorischen Brot, das auch hier in der Suppe landete. Bier oder Wein aus Spanien, Frankreich oder Portugal rundeten das Mahl um 18 Uhr ab – um am nächsten Tag erneut zu beginnen.

Patrick glaubt, dass diese Völlerei nicht auf die von ihr untersuchten 300 Skelette von Mönchen begrenzt war, sie sieht die Völlerei der Klosterbrüder als europaweites Phänomen und verweist auf das portugiesische Kloster von Alcobaça. Eine schmale Tür hätte dort allzu füllige Gottesmänner vom Zugang zu den Süßspeisen abgehalten. Die nämlich lockten in einem separaten Raum.

»Schmalere Tür zur Küche einziehen lassen«, wäre das nicht eine Idee für »die Mönchs-Diät«, ein zukunftsweisendes Konzept, entlehnt aus dem Mittelalter?

Und die Köche? Sklaven wie in der Antike waren sie nicht mehr. Sie wirkten jedoch über Jahrhunderte anonym im Hintergrund. Immerhin: Das Ständebuch Livre de métiers von Etienne Boileau berichtet 1268, dass Köche eine Lehrzeit von zwei Jahren absolvieren mussten.

Taillevent

Zu Ruhm brachte es Guillaume Tirel genannt Taillevent, also »Schneidewind« (1310-1395), der in Diensten von König Philipp VI., des Herzogs der Normandie sowie der Könige Karl V. und Karl VI. in Frankreich stand. Im Jahr 1362 soll der normannische Herzog ihm für gute und loyale Dienste 100 Goldfrancs überlassen haben, auf dass er ein Haus in Paris erwerbe. Sein Grabstein steht heute im Museum von Saint-Germain-en-Laye: Neben dem Koch, damals noch nicht in Uniform, zeigt Letzterer auch seine beiden Ehefrauen.

Taillevent wird das Kochbuch Le Viandier zugeschrieben, inzwischen gilt jedoch als gesichert, dass es schon vor Tirels aktiver Zeit verfasst wurde. Le Viandier ist ein festliches Kochbuch für den Gebrauch bei Hofe. Natürlich verrät es, wie man einen Schwan zünftig zubereitet; mehr noch, Taillevent verrät, wie man mit schimmelnden Schwänen umzugehen hat:

AUS LE VIANDIER:

22. Fleisch, Kaninchen und Hühnersuppe Nehme Fleisch, zerschneide es und brate es leicht in Schmalz mit etwas fein gehackten Zwiebeln. Zermahle reichlich Mandeln, weiche sie in Wein und Rinderbrühe ein und koche sie mit Fleisch. Zermahle Ingwer, Zimt, Nelken, Paradieskörner, Muskatnuss und nur ein bisschen Safran, und gebe es in Verjus. Es sollte ziemlich gelb und dick ausfallen.

50. Pfau, Schwan Töte ihn wie Gans, lasse den Kopf und den Schwanz, spicke ihn, brate ihn golden, und esse es mit feinem Salz. Er hält mindestens einen Monat, nachdem er gekocht wurde. Wenn es oben schimmelt, entferne den Schimmel, darunter ist er weiß, gut und solide.

52. Störche Feder sie wie Gans, lasse die Füße, Schwanz und Kopf, brate ihn, spicke ihn, und esse ihn mit feinem Salz.

135. Austern Koche sie in Wasser, brate sie in Öl mit Zwiebeln, und esse sie als Austernragout oder (Gewürz-)Pulver oder Knoblauch.

136. Miesmuscheln Koche sie in Wasser mit etwas Essig und (wenn gewünscht) etwas Minze. Beim Herausnehmen Gewürzpuder zufügen. Einige wünschen Butter mit ihnen. Esse sie mit Essig, grünem Verjus [Saft unreifer Trauben] oder grünem Knoblauch. Sie können ein Ragout aus ihnen machen, wenn Sie es wünschen.

137. Jakobsmuscheln Wähle sie gut, reinige und wasche sie, bräune sie in Öl mit gehackten Zwiebeln und Gewürzpulver, und esse sie mit gutem weißem Knoblauch.

Knoblauch ist hier ein Synonym für Saucen aus zerstampftem Knoblauch, Brot und Verjus (weiße Variante) sowie zerstampftem Knoblauch, Brot, Gemüse und Verjus (grüne Variante).

Le Viandier gibt wichtige Tipps zur Präsentation pompöser Gerichte. So kann der Koch einen Schwan häuten, die Karkasse braten, mit gelbem Ei bestreichen, in der Haut verstecken und den Hals mit Hilfe von versteckten Holzstäbchen aufstellen. Pfauen werden identisch behandelt, benötigen jedoch Holz und Kupferdraht, damit sie bei Tisch post mortem ein Rad schlagen können.

Als ältestes »Rezeptbuch« in deutscher Sprache gilt das Buoch von guoter Spîse. Es entstand um 1350 am fürstbischöflichen Hof in Würzburg und überliefert unter anderem folgende Rezepte.

REZEPT AUS BUOCH VON GUOTER SPÎSE

21. Eine gute Speise [Schweinsdarm und Magen] Nehme einen gekochten Schweinedarm und den Magen, schneide den gekochten Darm in vier Teile, den großen und den kleinen, danach schneide das Ganze in Streifen und den Magen schneide man auch klein, und schneide dann beide, Magen und Darm, jeweils auch seitwärts, so klein man möchte. Man nehme Petersilie, Poleiminze und Pfefferminze, Salbei, hart gekochte Eier und viele schöne Brotkrümel und ein wenig Pfeffer und ein Ei in eine Schüssel. Dies mahle man mit Essig und mit guter Brühe, sodass es nicht zu sauer werde, und gebe es auf die Innereien und gebe Schmalz hinzu. Man lasse es erhitzen und sobald es dick wird, serviere man es und versalze es nicht.

Wichtiger Hinweis: Falls Sie dieses Rezept auch nur in Ansätzen nachkochen, verwenden Sie bitte nur wenig Poleiminze. Sie enthält das Gift Pulegon.

REZEPT AUS BUOCH VON GUOTER SPÎSE

30.Eine gute Speise [Hühnerragout mit Quitten] Nehme Hühner und brate sie, dass sie noch nicht völlig gar sind, zerteile sie in Häppchen und lasse sie nur in Wasser und Schmalz sieden. Und nehme eine Brotkruste und Ingwer und ein wenig Pfeffer und Anis, das man mit Essig und mit derselben Stärke zerstößt. Und nimm vier gebratene Quitten und die Würze zu den Hühnern, lasse es gut damit kochen, dass es gerade dick wird. Wenn man keine Quitten hat, so nimmt man gebratene Birnen und mache es damit und serviere es und versalze es nicht.

Höchstwahrscheinlich handelt es sich beim Buoch von guoter Spîse um die Abschrift einer älteren Vorlage, die vom Protonotar Michael de Leone in Auftrag gegeben wurde.

Aus dem deutschsprachigen Raum stammen außerdem das Alemannische büchlein von guter Speise (um 1400) des Meister Hansen, nach eigenen Angaben »des von Wirtenberg Koch«, sowie das Kochbuch des Meister Eberhard. Der stand in Diensten von Herzog Heinrich XVI. von Bayern-Landshut, der zwischen 1404 und 1450 regierte.

Meister Eberhard brachte freilich nur 24 Rezepte zu Papier, der Rest seiner Schriften betrifft Arzneien, Salben und Öle sowie Eigenschaften von Kräutern und anderen Zutaten. Er war des Lateinischen mächtig und schrieb wie ein Gelehrter.

Ob Viandier oder das Buoch von guoter Spîse: Die spätmittelalterlichen Schriften zeigen, dass die Köche ihre römischen Vorbilder abgelegt hatten.

Vollends ausgestorben war die Kost des Römischen Reiches deshalb allerdings immer noch nicht. Noch 1550 erzählt der Franzose Pierre Belon von einem höchst populären Garum auf Basis von Makreleninnereien, das in Konstantinopel serviert wurde.

Noch leistet der Schwan Widerstand, doch der Koch schwingt schon das Messer. Sein Fleisch wird auf einem Festbankett serviert.

Ein Klassiker der gehobenen Küche des Mittelalters: Der Pfau wurde gern optisch herausgeputzt, musste dank Draht und Streben noch post mortem sein Rad schlagen.

Das Haushaltsbuch einer 15-Jährigen

Ein klein wenig bescheidener und praktischer fallen die Rezeptempfehlungen im Pariser Haushaltsbuch Le Ménagier de Paris (um 1392-1394) aus. Das Werk ist eine Art Haushaltsanleitung für alle Aspekte des täglichen Lebens, die von einem vermögenden, älteren Bürger seiner 15-jährigen Ehefrau überreicht wurde. Die junge Dame studierte dort nicht nur Anleitungen für Pasteten, Fisch, Suppen und Fleisch – etliche Rezepte entstammen dem Viandier –, sie lernte auch vieles zur Verwaltung des Gartens und des Hauses sowie ihren Mann zu lieben und ihm zu gehorchen.

Offenbar fanden Generationen von Leserinnen solche Tipps durchaus angemessen. Gut 550 Jahre nach dem Haushaltsbuch erklärte Marianne Berger 1957 in Besser kochen – besser leben aus dem Labor, Verzeihung, aus der Versuchsküche des stets wohlmeinenden Maggi-Konzerns: »Der Haushalt ist unser Beruf. Der Gatte hat einen anderen. Es tut ihm wohl, wenn wir immer neu sein Talent, sein berufliches Geschick, seine geschäftliche Tätigkeit loben und ihn nicht stets daran erinnern, dass es auch Frauen gibt, die Brücken bauen, Traktoren führen, Magen operieren, predigen, fliegen, Kleider entwerfen, Banken leiten und Gesetze aufstellen […] Es freut ihn, wenn wir an einem gewöhnlichen Wochentag sein Lieblingsgericht kochen.«

Womit wir wieder bei Maggi wären. Oder beim Pariser Haushaltsbuch.

2. ITALIENISCHE ANTIPASTI UND DIALOG DER LECKEREIEN AUS DER NEUEN WELT

Dank François Rabelais (1494-1553), einem Mediziner, Priester und Schriftsteller, fanden Essen und Trinken zur Zeit der Renaissance einen verdienten Platz in der Literatur. Seine Romanfiguren Gargantua und Pantagruel kosteten sich förmlich durch ihr Leben. Gargantua und Pantagruel waren Riesen, verfügten daher über riesenhaften Appetit und stehen als solche symbolhaft für den Renaissance-Menschen in seinem Übermaß, der sich als wahren König des Universums betrachtete. Noch heute werden üppige Menüs in Frankreich mit den Worten gargantuesque und pantagruelique beschrieben. Überhaupt müssen Völlerei und Übermaß für Menschen, denen der Hunger eine alltägliche Gefahr war, verlockend geklungen haben.

Denn Übermaß herrschte nach wie vor nur am Königshof.

Als Katharina von Medici den späteren König Heinrich II. im Jahr 1547 heiratete, kam sie mit italienischen Hofköchen nach Paris. Die krempelten sofort die Ärmel hoch, schafften die mittelalterliche Küche ab und entwickelten dank ihrer transalpinen Techniken neben ihren Pflichten bei Hofe auch die französische Haute Cuisine.

So zumindest wird die Genese der französischen Küche allgemein erklärt.

Der Appetit des Riesen Gargantua wurde vom Schriftsteller Francois Rabelais beschrieben. Noch heute steht sein Name für üppige Festmähler.

Zwei Italiener in Paris

Doch kann es so einfach gewesen sein? Zwei Köche kochen dem Rest des Landes etwas vor und alle machen es nach?

Fest steht, dass die italienischen Köche damals ausnehmend erfolgreich waren. Sie beherrschten Techniken, die bei ihren französischen Kollegen unbekannt waren. Zum Beispiel verwendeten sie bei der Herstellung von Saucen ein Passiertuch, wie im Kochbuch De honesta voluptate ac valetudine aus dem Jahr 1475 geschrieben steht. Der päpstliche Bibliotheksverwalter Bartolomeo Sacchi, auch Platina genannt, dokumentiert darin die Rezepte von Martino da Como, einem Koch, der im Vatikan arbeitete.

Es heißt, De honesta voluptate sei das erste gedruckte Kochbuch gewesen, seit Gutenberg um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand. Wie ein moderner Bestseller wurde es natürlich auch übersetzt: Von der Eehrlichen, zimlichen, auch erlaubten Wollust des leibs lautet der deutsche Titel. In den verschiedenen fremdsprachlichen Versionen wurde das nach Belieben erweitert oder zensiert. Keine Übersetzung ist inhaltlich identisch mit dem Original.

Eigentlich war Platinas Werk ein Gesundheitsbuch. Wie die Mediziner der Antike und des Mittelalters hielt er darin die Viersäftelehre in Ehren, wonach Gesundheit und Krankheit, aber auch das »Temperament« vom Gleichgewicht oder Ungleichgewicht der »Körpersäfte« Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle abhängen. Auch Nahrungsmitteln waren solche Begriffspaare zugeordnet, die auf die Lehren der antiken Ärzte Hippokrates und Galen zurückgingen. Milch bitte nicht mit Fisch servieren, denn beide sind »feucht und kalt« wie der Schleim. Gewürze hingegen galten als »warm und trocken« wie die gelbe Galle und deshalb für die ebenfalls »warmen und trockenen« Choleriker weniger geeignet. Solche gesundheitlichen Erwägungen waren für die Zusammenstellung vieler mittelalterlicher Gerichte wichtiger als ihr Geschmack.

Als Verfasser eines umfangreichen Ratgebers gab Platina sogar Tipps zum Liebesleben. Geschlechtsverkehr sei, so Platina, weniger befriedigend im Sommer und Herbst. Winter und Frühling seien besser geeignet.

Er erklärt eindeutig, dass die Rezepte des Buches auf den Koch Martino da Como zurückgehen, nennt diesen sogar seinen Freund. Einige der rund 200 Rezepte könnte man als Vorläufer einer Regionalküche sehen: Krebse aus Venedig und Würste aus Bologna sind darunter. Bei Gewürzen zeigte er eine ruhigere Hand als seine mittelalterlichen Kollegen. Minze, Salbei, Majoran, Fenchel und Zimt liegen ihm mehr als kräftige Aromenspender wie Pfeffer und Ingwer. Neben vielen anderen Rezepten enthält das Buch auch eine frühe Version der beliebten Polpette. Damals waren das keine Fleischbällchen. Martino nutzte eine Scheibe aus der Kalbshaxe, auf die er eine Mischung aus gut gehacktem Fenchel, Pinienkernen, Majoran, Petersilie, Speck, Gewürzen und Salz gab. Dann wurde das Fleisch gerollt und am Spieß gebraten. Der Koch des Papstes kannte die Werke des Apicius ebenso wie die Arbeit seiner Kollegen im Ausland. Gebratene Rebhühner nach katalanischer Art bekamen einen Schuss Orangensaft und wurden mit Zucker, süßen Gewürzen und dem Saft unreifer Trauben gebraten.

Bartholomeo Sacchi, genannt Platina, war Humanist, Bibliothekar und Kochbuchautor. Seine Einsichten gingen weit über Küche und Keller hinaus.

Die Italiener konnten kochen. Zahlungskräftige Klientel in Rom und Florenz sowie die Blüte der Künste und der Philosophie in Italien hatten die Vorgänger von Martino da Como anscheinend zu Höchstleistungen angespornt. Schriftsteller wie Dante und Boccaccio oder Maler wie Giotto hatten den Aufstieg der italienischen Metropolen begleitet. Mit dem Vatikan und der Patrizierfamilie der Medici, immerhin Bankiers des Papstes, verfügten die italienischen Köche auch über anspruchsvolle und zahlungskräftige Auftraggeber. Bartolomeo Scappi (1500-1577), Leibkoch von Papst Pius VI., legte 1570 die reich illustrierte Rezeptsammlung Opera dell’ arte del cucinare vor. Er servierte bereits Tortellini mit Kräutern und Parmesan in Fleischbrühe und erwähnte die Foie Gras.

Kein Wunder also, dass seine Kollegen nach der Hochzeit der Katharina von Medici auch am französischen Hof arbeiteten. Doch erfanden sie dort wirklich die französische Küche?

Ganz Frankreich konnte wohl kaum am Königshof geändert werden. Reisende aus dem 16. Jahrhundert, darunter viele Adlige, berichteten von der hohen Qualität der französischen Küche. Einer davon war Jérôme Lippomano, venezianischer Botschafter in Frankreich, der 1577 nicht an Lob sparte:

»In allen Städten und selbst in den Dörfern findet man alle Arten fertiger Speisen und alle Speisefolgen sind so arrangiert, dass sie nur noch gegart werden müssen. Da gibt es etwas, das mir unglaublich erschien und das meine Leser mir nie glauben werden, dass nämlich ein Kapaun, ein Rebhuhn und ein Hase fertig gespickt und gebraten weniger kosten, als wenn man sie lebend auf dem Markt oder in den Vororten von Paris kaufte […]

Schwein ist die Nahrung der Armen, derjenigen, die wirklich arm sind. Jeder Arbeiter, jeder Händler möchte an guten Tagen Hammel, Wild, Rebhuhn, genau wie die Reichen, und an armen Tagen Lachs, Stockfisch, Salzhering, die aus den Niederlanden kommen […] Die Geschäfte von Paris sind voll davon. Man isst auch frische Butter und Milchprodukte. Es gibt jede Menge Gemüse […]

Paris hat in aller Fülle alles, was man sich wünschen kann: Lebensmittel kommen über die Seine aus der Picardie, der Auvergne, dem Burgund, der Champagne, der Normandie; auch wenn die Bevölkerung unzählbar ist, fehlt nichts, alles scheint vom Himmel zu fallen. Jedoch ist der Preis der Nahrungsmittel etwas hoch; ehrlich gesagt geben die Franzosen nur für Essen Geld aus […] Deshalb gibt es hier Metzger, Rôtisseure, Verkäufer, Zuckerbäcker, Tavernen in einer Zahl, die wirklich verwirrt […]

Die Rôtisseure und die Konditoren arrangieren in weniger als einer Stunde ein Diner, ein Souper für zehn, zwanzig oder 100 Personen, der Rôtisseur gibt das Fleisch, der Konditor Pasteten, Tourtes, Entrées und Desserts, der Koch Gelees, Saucen und Ragout.«

Den Rôtisseur kann man vage mit »Garer« oder »Griller« übersetzen. Schon 1248 gab es den Berufsstand des »Oyeur«, des Gänsebraters, nachdem König Ludwig IX. zur Bildung von Ständen nebst verbindlicher Lehrzeit aufgerufen hatte. Unter Ludwig XII. änderte sich deren Name zum »Rôtisseur«. Gebraten wurden damals Geflügel, Wild und Hammel. Restaurants im heutigen Sinne gab es nicht, gekocht wurde in Tavernen, Geschäften oder beim »Rôtisseur«.

Lippomano jedenfalls scheint eine lebendige Feinschmeckernation zu beschreiben und schildert bereits das heute noch vorherrschende Bild vom genießerischen Franzosen, der, egal ob arm oder reich, seine finanziellen Mittel in kulinarische Genüsse investiert. Auch der Schweizer Thomas Platter bewunderte im ausgehenden 16. Jahrhundert die Pariser Gastronomie: »In der langen und wichtigen Rue St Denis und in vielen anderen Orten der Stadt gibt es zahlreiche Auberges […], Herbergen und Patisserien […] und niemand kann, sollte plötzlich ein Gast erscheinen, und sei es der König selbst, sich entschuldigen, ihn nicht empfangen zu können, denn in einer halben Stunde kann man […] ein eines Prinzen würdiges Mahl organisieren […] Man glaubt an das Paradies auf Erden […] Man kann staunen, dass allerorten die Hotels und Auberges voll ausgebucht sind.«

Übrigens wurden genau wie bei Martino da Como auch damals in Frankreich schon Regionalgerichte beschrieben. Der Lyoner Mediziner Jean-Baptiste Bruyerin erklärte in De re cibaria von 1560, dass in der Auvergne viel Käse aus lokaler Produktion gegessen werde. Im Périgord und im Limousin hingegen aßen die Leute Kastanien. In den Regionen Hainaut und Artois standen Butter und Milchprodukte auf dem Speiseplan, »weil das Land eine Fülle von Weiden hat«. In der Normandie hingegen ernährte man sich von Äpfeln und Birnen. Und natürlich wurde genau wie in der Bretagne Fisch gegessen. Auch am Mittelmeer liebte man Meerestiere, Oliven und Kapern, dazu Feigen, Weintrauben, Rosinen, Zitronen und Orangen.

Der Autor erläuterte, dass sich diese Art zu speisen der der Spanier annähere. Man würde dort auch keine Butter kennen, sondern mit Öl würzen. Aus der Region Burgund überliefert der Mediziner ein Sprichwort: »besser eine gute Mahlzeit als schöne Kleider«. Und lästert, ein Burgunder hätte folglich Därme aus Seide (zitiert nach Philippe Gillet: Par Mets et par Vins).

Olivier de Serres (1539-1619), einer der führenden Agronomen seiner Zeit, widmete sich dem Weinbau und sprach sich für naturbelassenen Rebensaft aus. Besonders missfiel ihm die Praxis der Zugabe von Calciumsulfat. Schon Plinius der Ältere hatte um 77 n. Chr. auf die Gesundheitsgefährdung durch solche Weine hingewiesen. Per Gesetz abgeschafft wurde der Zusatz in Frankreich aber erst im Juli 1891.

Auch die Tischsitten wurden feiner und, nun ja, zumindest in Italien gesitteter. So hat der Legende nach König Heinrich III. im Tour d’Argent zum ersten Mal die Gabel benutzt. Platter berichtet, dass Heinrich IV. bei einem Diner in Orléans zu jedem Gang eine Serviette aus feinem weißem Tuch gereicht wurde.

Der Historiker Philippe Gillet glaubt, dass sich die Küche änderte, weil sich die Transportwege verbesserten. Im Mittelalter war der Vorrat an Gewürzen ein Privileg der Adligen, und der Zugang zu den damals kostspieligen Frischwaren zeigte, wie wohlhabend und einflussreich man war. Nun gab es auf einmal (halbwegs) frischen Fisch in Paris.

Wenig später war die Küche des Mittelalters in Frankreich vergessen und französische Reisende beschwerten sich über die mittelalterliche Gewürzküche in anderen Ländern.

»Tatsächlich gab es bei den Medicis italienische Hofköche«, erklärt Philippe Gillet in einem Interview, das ich vor einigen Jahren mit ihm geführt habe. »Die Geburt der französischen Küche am Königshof ist dennoch eine Legende, historisch so wertvoll, als würde man die Politik eines Staatsmannes ausschließlich mit dem Einfluss seiner Mätresse erklären.«