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Die Geschichte vom Wettlauf zum Südpol wurde früher meist als Heldenepos erzählt, das den ruhmreichen Polarforschern gedenkt: Erhard Oeser schaut hinter den Mythos des Heldentums und beleuchtet kritisch die historischen Antarktis-Expeditionen. Denn die Expeditionen von Scott, Amundsen und anderer Polarfahrer waren zwar heldenhaft, hatten jedoch eine Kehrseite: Die "Helden" nahmen die Zerstörung ihrer Umwelt und den Tod ihrer Mannschaften und Zugtiere billigend in Kauf, um ihre Ziele zu erreichen. Die Folgen dieses Verhaltens waren zwar bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts für das Weltklima wegen der geringen Anzahl der Akteure nur von lokaler Bedeutung. Aber heute weiß man, dass vor allem die Antarktis in hohem Maß das Klima der Erde bestimmt und dass daher selbst minimale Eingriffe des Menschen in dieses sich selbstregulierende System weltweite Konsequenzen haben.
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Seitenzahl: 395
Erhard Oeser
Der Mythos vom Heldentum der Polarforscher
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ISBN 978-3-534-40312-7
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Vorwort
Einleitung
1 Die Suche nach dem Land am Südpol
2 Der Beginn der Südpolarforschung: James Cook
Der Vorläufer von James Cook: Bouvet de Lozier
Die Fahrt Cooks auf den Spuren von Bouvet
3 Der russische Entdecker der Antarktis: Bellingshausen
4 Die Reise eines Robbenfängers nach dem Südpol: James Weddell
5 Die Entdeckung des magnetischen Südpols: James Clark Ross
Die Entdeckung des nördlichen Magnetpols
Der Streit um die Entdeckung von Terre Adelie
Die Pflanzen- und Tierwelt auf der Kerguelen-Insel
Stürme am Weihnachtshafen
Possessions Insel und Schweineinsel
Die Errichtung des Ross Bank Observatoriums
Ausgesetzte Tiere und Waldbrand auf den Auckland Inseln
Im Packeis
Besitzergreifung der Possession-Insel
Pinguinfang und Robbenjagd
Der Zusammenstoß der beiden Schiffe „Erebus“ und „Terror“
Die Heimkehr nach England
6 Dumont d’Urvilles Abstecher zum Südpol
Die Kritik Aragos an dieser Reise
Aufbruch mit zwei Schiffen
Im Eisfeld eingeschlossen und die Befreiungsversuche
Skorbut und Rückreise nach England
Erneute Entdeckungsreise nach den Eisfeldern des Südens
7 Überwinterungen auf Forschungs stationen am Festland: Borchgrevink
Landung und Errichtung der Forschungsstation
Eine gefährliche Schlittenreise
Die lange Winternacht und die Seehundsjagden
Die Ankunft der Pinguine im Frühling
Die Heimfahrt mit zwei Pinguinen
8 Die erste Südpolarnacht: F. A. Cook auf der „Belgica“
Ausstattung und Mitglieder der Expedition
Die Polarnacht: Krankheit, Tod und Wahnsinn
Leiden und Tod der Schiffskatze
Das Ende der Winternacht und die Schlittenreise auf dem Packeis
Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Expedition
Befreiung aus dem Eis und Rückkehr
9 Schiffsuntergang und zwei Überwinterungen auf dem Festland: O. Nordenskjöld 1902/3
Die erste Etappe und das Leiden der Hunde in der Tropenhitze
Der Abstecher zu den Falklandsinseln und Ankauf neuer Hunde
Gefangen im Packeis
Die erste Überwinterung 1902 auf Snow Hill
Die Pinguine und ihre grausame Schlächterei
Die zweite Überwinterung und eine unerwartete Begegnung
Das Schicksal Anderssons und seiner Truppe
Auf den Spuren Nordenskjölds: J.-B. Charcot
10 Ballonaufstiege und Überwinterung auf dem Festland: Erich von Drygalski
Das antarktische Festland: Pinguine auf Besuch und das Verhalten der Hunde
Der Aufstieg mit einem Fesselballon
Das Leben auf der Winterstation
Schlittenreisen ins Festland
Heimkehr mit Hindernissen
11 Die schottische Expedition: William Speirs Bruce
Aufbruch der „Scotia“ nach Süden
Errichtung der Winterstation „Omond House“
Die Schlittenhunde der Expedition
Verhandlungen mit Argentinien über die Wetterstation
Die zweite Reise ins Weddell-Meer
Der Dudelsackspieler und getötete Pinguine im Labor
Die Heimkehr: Ehrungen in Schottland, Missachtung in London
12 Der Beginn der „Heldenzeit“ der Antarktisforschung
Robert F. Scotts erste Fahrt mit der „Discovery“
Ballonaufstiege auf dem Schelfeis
Aufbruch zum Südpol
Schlittenziehen nur mit Menschenkraft
13 Shackletons Nimrod-Expedition
Mandschurische Ponys
Das erste Automobil in der Antarktis
Die Erreichung des südlichsten Punkts
Die Besteigung des Mount Erebus und die Vermessung des magnetischen Südpols
14 Amundsens Entdeckung des Südpols
Die angebliche „Tierquälerei an Bord der „Fram“
Die späte Bekanntgabe des Plans der Entdeckung des Südpols
Vorbereitungen für den Wettlauf zum Südpol
Aufbruch von der Winterstation „Framheim“
Die grausige Metzgerei der Hunde
Am Ziel: der Südpol
15 Scotts letzte Fahrt
Abfahrt von Neuseeland und Landung am Kap Evans
Der Aufbruch zum Südpol
Der Rückmarsch in den Tod
16 Shackletons zweite Expedition mit der „Endurance“
Schwierigkeiten mit dem Packeis zu Beginn der Expedition
Der Untergang der „Endurance“
Die Bootsfahrt nach South Georgia
Die Überquerung von South Georgia
Die Rettung der auf Elephant Island zurückgebliebenen Männer
Das Schicksal der Ross Sea Party
Die Irrfahrt der „Aurora“
17 Shackletons Quest-Expedition und das Ende des Goldenen Zeitalters der Antarktis-Forschung
18 Zum sechsten Erdteil: Die zweite deutsche Antarktisexpedition unter Wilhelm Filchner
Die angebliche britisch-deutsche Rivalität in der Antarktis
Landung mit Ponys und Hunden
Aufbau des Stationshauses
Drachen, Fesselballone und Pilotballone
Erkundigung des Festlandes
Robbenjagden der Hunde
Wilhelm Filchners Bekenntnis zu Deutschland
19 Das technische Zeitalter der Antarktisforschung
Byrds erste Südpolexpedition 1928/30
Landung mit Pinguinen als teilnahmsvolle Zuschauer
Kleinamerika und der Absturz eines Flugzeugs
Der Flug zum Südpol
Byrds zweite Expedition nach dem Sechsten Erdteil 1933/35
Das Leiden Byrds auf der Bollingwarte
Byrds dritte Antarktisexpedition: „High Jump“
20 Konkurrenzkampf am Südpol: Fuchs und Hillary
Die Planung der Expedition
Aufbruch in die Antarktis und erste Überwinterung
Rückkehr und Aufbruch von Fuchs von der „Shackleton Base“
Der Vorstoß Hillarys zum Pol
Die Kontroverse zwischen Hillary und Fuchs
Hillary auf der Polstation
Triumphaler Einmarsch der Gruppe von Fuchs zum Südpol
Der Weitermarsch von Fuchs zur Scott-Basis
21 Helden der Sowjetunion.
Weiterentwicklung der Transportmittel
Gründung der ersten russischen Station in der Antarktis
Vorstoß zum Pol der Unzugänglichkeit
Die Rettung der Belgischen Antarktisexpedition durch die „Helden der Sowjetunion“
22 Im geheimen Auftrag: Die dritte Deutsche Antarktisexpedition 1938/39
Das Expeditionsschiff „Schwabenwald“
Der erste Inlandflug
Besitzergreifung durch Hissen der Reichsflagge
Der Dank des Führers
23 Gebietsansprüche für Walfang und Robbenschlägerei
Das Ende der historischen Gebietsansprüche und der Antarktisvertrag
Frühere Walfangmethoden
Der Pottwal und der Untergang der Essex
Moderne Fangmethoden
Die Errichtung von Meeresschutzgebieten
24 Schlusskapitel:
Die Gefährdung der Antarktis durch Tourismus und wissenschaftliche Forschungstechniken
Zeitplan
Literatur
Abbildungsverzeichnis
In diesem Buch geht es nicht um die Darstellung der geografischen Entdeckungen und naturwissenschaftlichen Ergebnisse der Südpolarexpeditionen. Muteten früher die Berichte darüber wie ein Heldenepos an, die zu Ruhm und Ehre der Polarfahrer verfasst wurden, so soll in diesem Buch vielmehr der Frage nachgegangen werden, ob es sich dabei nicht nur um einen Mythos gehandelt hat, wofür national-politische Motive, wirtschaftliche Interessen und historische Gebietsansprüche verantwortlich waren. Zwar muss man zugeben, dass die Eroberer der Antarktis tatsächlich wahre Heldentaten bis an ihre physischen Leistungsgrenzen oder sogar bis zu ihrem Erschöpfungstod vollbracht haben. Aber diese unbezweifelbaren Heldentaten der Polarforscher hatten auch eine schreckliche Kehrseite. Nach dem in diesem Buch aus den Originalschriften der Antarktiseroberer gesammelten historischen Datenmaterial war ihr Verhalten vielmehr eine Geschichte von Umweltzerstörern und erbarmungslosen Tierschlächtern, die sich auch nicht vor der Tötung der eigenen Zugtiere zurückscheuten.
Ein Rückblick auf die Geschichte der Antarktisforschung versucht diese Ansicht deutlich machen. Walöl- und Pelzgewinnung spielten von allem Anfang an bei dem Vordringen europäischer Walfänger und Robbenschläger, welche die Ersten waren, die diese eisigen Gebiete aufsuchten, eine entscheidende Rolle. Aber auch die im Auftrag ihrer jeweiligen Regierung unternommenen Südpolexpeditionen waren trotz ihrer wissenschaftlichen Aufgabenstellung letzten Endes auf Gebietsansprüche aus, die man durch Aufpflanzen der jeweiligen Nationalflaggen zu sichern versuchte. Vor allem bei den zunächst erfolglosen, aber schließlich doch geglückten Unternehmungen den Südpol zu erreichen, erwiesen sich die über Tausende von Kilometern über die heiße Äquatorzone herbeigeschafften Hunde und Ponys als die eigentlichen Helden der Eroberung der Antarktis. Als Dank für ihre selbstlos vollbrachten Leistungen wurden sie von ihren Herren getötet und aufgegessen. Mit der Anzahl Größe und zeitlicher Dauer der Expeditionen nahm vor allem der Massenmord an Pinguinen und Robben zur eigenen Frischfleischversorgung und zu Fütterung der Schlittenhunde in einem erschreckenden Ausmaß zu.
Die Folgen dieses Verhaltens der Polarfahrer des so genannten „Goldenen Zeitalters“ der Antarktiseroberung waren zwar bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts für das Weltklima wegen der geringen Anzahl der Akteure nur von lokaler von Bedeutung. Aber heute weiß man, dass vor allem die Antarktis in hohem Maß das Klima der Erde bestimmt und dass daher die Eingriffe des Menschen in dieses sich selbst regulierende System weltweite Konsequenzen haben können. Hauptbestandteile des Klimasystems der Antarktis sind die Atmosphäre und das eisige Südpolarmeer um den Kontinent sowie die Biosphäre auf und im Meer. Der Antarktisvertrag legt zwar fest, dass die Landmasse und das Schelfeis südlich des 60. Breitengrades nur wissenschaftlich genutzt werden darf. Manöver, Waffentests, die Stationierung von Soldaten und die Entsorgung von Atommüll sind verboten.
Alle diese politischen und rechtlichen Versuche die Antarktis vor den Eingriffen des Menschen zu schützen scheinen jedoch in der Realität vergeblich zu sein. Tausende von neugierigen abenteuerlustigen Touristen auf Kreuzfahrtschiffen und Jachten verschmutzen das eisige Meer um den Kontinent, der außerdem noch mit Überflügen überquert wird. Hinzu kommt auf dem Kontinent noch der heutzutage immer mehr zunehmende extreme Sportbetrieb mit motorbetriebenen Fahrzeugen wie Motorräder und Trucks, der als eine neue Epoche von Heldentaten vermarktet wird. Nicht zu vergessen ist die technisch hochgerüstete wissenschaftliche Forschung, die in ihrer Suche nach Edelmetallen und wertvollen Mineralien mit ihren Tiefenbohrungen und Sprengungen wie nie zuvor in der Geschichte eine Gefährdung von Umwelt und Tierwelt der Antarktis darstellt. Hinzu kommt noch die bereits durch Regierungsdekrete der USA bedrohten Aufhebung von Meeresschutzgebieten und neuerdings der verhängnisvolle Ausstieg von Präsident Donald Trump aus dem Pariser Klimaschutzabkommen.
Wien im Juni 2017
Erhard Oeser
Die Vorstellung vom Heldentum der Polarforscher war ursprünglich auf die Entdecker beider Pole bezogen. Bereits im Jahr 1913 sprach man von „The Three Polar Stars“: Amundsen, Shackleton, Peary. Wie aus einer zeitgenössischen Fotografie ersichtlich ist, wurde der Antarktisforscher Ernest Shackleton, der nach seiner Rückkehr von der Nimrod-Expedition, auf der er im Jahr 1907 den bisher größten südlichen Breitengrad erreicht hatte, als erster der Antarktisforscher als „Polarheld“ gefeiert.
Abb. 1: Die drei Polarhelden (nach William H. Rau, 16. Januar 1913)
Dieser Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die frühen 1920er Jahre wurde später als heroisches Zeitalter (heroic age) oder als „Goldenes Zeitalter“ der Antarktis-Forschung bezeichnet. In dieser Epoche rückte die Antarktis in den Mittelpunkt internationalen Interesses, was zu einer intensiven naturwissenschaftlichen und geographischen Erforschung führte, während derer sechzehn große Expeditionen von acht verschiedenen Ländern ausgesandt wurden. Alle diese Expeditionen hatten nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Daher erforderte jede dieser Expedition eine extreme Ausdauerleistung, die ihre Teilnehmer an die Grenzen der physischen und mentalen Leistungsfähigkeit brachte. Bezeichnend für die damalige Situation der Südpolfahrer ist der wenig einladende, aber ehrliche Aufruf Shackletons um Bewerbung zu dieser Expedition. Er lautete: „Männer für gefährliche Reise gesucht. Geringer Lohn, bittere Kälte, lange Monate kompletter Dunkelheit, ständige Gefahr, sichere Rückkehr ungewiss. Ehre und Anerkennung im Erfolgsfall“ (zit. nach Julian Watkins, The 100 Greatest Advertisements).
Ehre und Anerkennung erhielt Shackleton im überreichen Maß. So bezeichnete Jameson Adams, der stellvertretende Leiter der Nimrod-Expedition, Shackleton als den „ohne Einschränkung bedeutendsten Führer, der jemals über Gottes Erde wandelte.“ Roald Amundsen findet in seinem Bericht über seine eigene Eroberung des Südpols, den er als Erster erreicht hatte, folgende anerkennende Worte: „Der Name Sir Ernest Shackleton ist für alle Zeiten in den Annalen der Antarktisforschung in Lettern aus Feuer niedergeschrieben“ (Amundsen, The South Pole. Band II. S. 114).
Aber das hervorragendste Beispiel eines Polarhelden war Robert F. Scott, der nach seinem tragischen Tod die höchste Anerkennung in England erhielt. Grundlage dafür, war sein eigenes Tagebuch, in dem er seine letzten Tage vor seinem Tod in der Art und Weise eines Heldenepos schildert. Von dem „Heldenopfer“ (Scott 1913, S. 340) eines seiner Kameraden, der das schützende Zelt während eines Orkans verließ, sprach Scott selbst: „Wir wussten, dass der arme Oates in seinen Tod hinausging, wir versuchten auch, es ihm auszureden, aber er handelte als Held und als englischer Gentleman“ (Scott 1913, S. 346).
Abb. 2: Lawrence Oates
Auch in seinen Abschiedsbriefen an seine Freunde und Verwandten schilderte Scott seinen eigenen Tod und den seiner Gefährten als eine vorbildhafte Heldentat: „Wir zeigen, dass Engländer noch kühnen Mutes zu sterben wissen, den Kampf bis ans Ende ausfechten. Man wird erfahren, dass unser Plan, den Pol zu erreichen, gelungen ist, und dass wir alles, was möglich war, getan haben, ja soweit gegangen sind, uns selbst zu opfern, um kranke Gefährten zu retten. Den Engländern der Zukunft mag dies ein Vorbild sein, und ich hoffe, dass unser Vaterland denen helfen wird, die zurückbleiben, um uns zu betrauern“ (Scott 1913, S. 352). Und in seiner „Botschaft an die Öffentlichkeit“ schrieb er: „Blieben wir am Leben – ich hätte viel zu erzählen von Unerschrockenheit, Ausdauer und Heldenmut meiner Kameraden, was das Herz jedes Engländers tief bewegen würde. Statt meiner müssen diese kurzen Aufzeichnungen und unsere Leichen reden“ (Scott 1913, S. 360).
Es war natürlich klar, dass die Nachricht von seinem tragischen Tod in England eine große Erschütterung und eine Welle des Mitleids auslöste. So erschien in der angesehenen Zeitschrift Daily Mirror in der Ausgabe vom 12. Februar 1913 eine bemerkenswerte Anzeige (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Scotts letzte Botschaft und sein Grab (aus Daily Mirror)
Nach Bekanntgabe dieser Anzeige beschwört der Daily Mirror seine Leser: „Diese Worte aus den letzten, nicht überarbeiteten Tagebuch-Notizen von R. F. Scott sollten an jedem Ort, wo sich Engländer treffen, in goldene Lettern gefasst werden. Die Geschichte kennt kein edleres und kein erhabeneres Ende, keine bewegendere Todesbotschaft als diejenige von Captain Scott, dem Seemann aus Devonshire, der mit seiner Gruppe tapferer Männer das südlichste Ziel modernen Entdeckungsgeistes erreichte und dessen Grab nun unter einem Kontinent aus Eis und Schneebergen liegt. Drei blieben übrig. Sie kämpften weiter und kampierten nur elf Meilen von ihrem Lager entfernt, wo Nahrung und neues Leben auf sie warteten. Nur elf Meilen nach dem endlos weißen Marsch über 550 Meilen durch Eis und Schnee. Die Nahrung und das Öl wurden knapper. Der Tod streckte seine Hand nach ihnen aus. ‚Wir sind schwach, das Schreiben fällt mir schwer‘, kritzelte der große Führer ins Tagebuch, aber er riss alle Kräfte zusammen, um eine aufrüttelnde Bitte zu formulieren; gewiss die beredteste, die je geschrieben wurde, gerichtet an Großbritannien: ‚dafür zu sorgen, dass unsere Angehörigen anständig versorgt werden‘. Jedes Wort in jener tragischen letzten Botschaft geht über menschliche Vorstellungskraft weit hinaus, jeder Satz enthüllt die Tiefen des Leidens und des Heldentums; die äußerste Zurückhaltung, mit der ein Mann der Tat diese Botschaft hingeworfen hat, macht sie umso eindrucksvoller. ‚Dies alles, zusammen mit einem kranken Gefährten, verstärkte unsere Ängste ungeheuer.‘ Mehr erfahren wir nicht von den unvorstellbaren Qualen, die ihnen der stärkste Mann der Gruppe verursacht haben muss, und zwar dadurch, dass er sich in eine hilflose Last verwandelt hatte, wodurch ihre Kraftreserven schnell nachließen. ‚Wir wussten, es war die Tat eines tapferen Mannes, eines englischen Gentleman.‘ Ein englischer Gentleman! Welch ein Ideal für alle Männer Englands! Ein Mann, der in den Schneesturm, in den Tod hinausging, damit er seinen leidenden Kameraden nicht zur Last falle. Unsterblich wie die letzten Worte von Philip Sidney und Nelson sollten die letzten Worte von Robert Scott sein, niedergeschrieben in den zäh dahin fließenden Stunden seines Todes in der großen weißen Wüste“ (Daily Mirror, 12. Februar 1913; dt. Übers. Lesehefte 1939, S. 132ff.).
Nur zwei Tage später erfolgte dann die nationale Ehrung der Toten in der St. Paul’s Cathedral. Diese Kathedrale ist schon oft der Ort großer Feiern gewesen, aber diejenige, die an diesem 14. Februar 1913 zum Gedächtnis von Captain Scott und seinen Gefährten abgehalten wurde, hielt den Vergleich mit den größten aus: „Was die Spontaneität, was die Menge derjenigen, die Einlass in die Kirche begehrten, was die Verehrung und das Mitgefühl aller Schichten des Volkes anbelangt, war sie eine bemerkenswerte Manifestation. Der König war da; die Regierung war vertreten durch den Premierminister und mehrere Kabinettsmitglieder; Botschafter und Minister ausländischer Staaten waren unter der Versammlung. Die nationalen Streitkräfte, wissenschaftliche Gesellschaften, das staatliche und das öffentliche Leben: Alle sandten bedeutende Vertreter. So bemerkenswert diese Huldigung auch war: Sie wurde noch übertroffen durch die Anwesenheit Tausender einfacher Bürger, die ein ausgesprochen echtes Gefühl persönlichen Verlusts veranlasste, sich in solcher Zahl zu versammeln. Die Kathedrale war bis auf den letzten Platz gefüllt. Man schätzte, dass ungefähr 10.000 Personen keinen Einlass mehr erhielten. Die Feier war auf 12 Uhr angesetzt, aber schon um 9:30 Uhr versammelte sich die Gemeinde, und um 11 Uhr umgaben dichte Menschenmassen die Kathedrale und blockierten alle Zufahrtswege. Wirklich nur mit äußerster Schwierigkeit konnten prominente Persönlichkeiten Zugang zu dem Gebäude gewinnen. Die Luft war stickig, neblig und trist, aber die Menschen auf den Straßen gingen erst auseinander, als die Feier vorüber war“ (Times vom 15. Februar1913)
Erschüttert reagierte auch das Unterhaus auf den tragischen Tod von Captain Scott und seinen vier „heldenhaften Kameraden“. Auf die Frage, „ob die Regierung der von Captain Scott vorgetragenen Bitte hinsichtlich der Angehörigen derjenigen, die ihr Leben für dieses Unternehmen zur Ehre ihres Landes geopfert haben“ positiv entsprechen werde, konnte der Premierminister nur mit größter Mühe antworten; nur in der unmittelbaren Umgebung der Ministerbank konnte man ihn verstehen, als er sagte: „Wir stehen in diesem Augenblick unter dem tiefen Eindruck, den die letzte Botschaft Captain Scotts hervorgerufen hat. Sie ist eine der bewegendsten und ergreifendsten Äußerungen in der Geschichte dieses Landes, die Botschaft eines tapferen und standhaften Mannes, der dem tragischen Ende einer Laufbahn selbstaufopfernden Dienstes unmittelbar ins Auge sah. Ich kann nur sagen, dass diese Bitte nicht auf taube Ohren stoßen wird“ (Daily Mirror vom 12. Februar 1913; dt. Übers. Lesehefte 1939, S. 136).
Auf einer Versammlung des Komitees der britischen Antarktis-Expedition wurde dann beschlossen, eine Stiftung zur Unterstützung der Angehörigen ins Leben zu rufen: „Niemand kann Captain Scotts letzte Worte lesen ohne Bewunderung und Mitleid und ohne das Gefühl der Verpflichtung, diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Als das für die missglückte britische Antarktis-Expedition verantwortliche Komitee wagen wir es, die Menschen dieses Landes zu fragen, ob sie Captain Scotts letzte Worte erfüllen wollen. Wir wissen, dass es Captain Scotts Wunsch war, den Mitgliedern der Expedition ihren Lohn nicht vorzuenthalten, obwohl viele von ihnen freiwillig auf einen Teil davon verzichten wollten. Wir sind sicher, unsere Landsleute wünschen, dass diese Schuld beglichen wird und dass für alle Angehörigen der tapferen Männer gesorgt wird, die klaglos ihr Leben gelassen haben für die Ehre ihres Landes und den Fortschritt der Wissenschaft.“ Die Times hatte bereits zuvor am 13. Februar 1913 von einem Beschluss des Londoner Erziehungskomitees berichtet. Nach diesem Beschluss sollte „an allen Schulen Englands ein Bericht über Scotts Expedition sowie Scotts letzte Tagebucheintragungen mit seiner ‚Botschaft an die Öffentlichkeit‘ vorgelesen werden.“
Doch von allem Anfang an gab es unterschiedliche Reaktion auf das Scheitern von Scotts Expedition. Zunächst reagierte man sozusagen von neutraler Seite, das heißt aus einem Land, das selbst nicht an Südpolexpeditionen beteiligt war, auf eine eindeutig positive Weise. So konnte man in der „Neuen Zürcher Zeitung“ lesen, „dass die Scottsche Südpolexpedition nicht bloß auf Polstürmerei angelegt war, sondern vielseitige Forschungen verfolgte und auch solche in großem Umfange erzielte, zeigt sich jetzt in deutlicher Weise. Die Ergebnisse betreffen verschiedene Zweige der Geographie, vor allem die Beschaffenheit der von der englischen Expedition berührten Teile des antarktischen Festlandes sowie die klimatischen Verhältnisse … Besonders interessante Forschungsergebnisse brachte die geologische Arbeit, die zahlreiche Versteinerungen zutage förderte und den Nachweis lieferte, dass in der Antarktis in zwei Erdperioden ein gemäßigtes Klima geherrscht hat, ähnlich wie dies in der nördlichen Eisregion der Fall war … Ferner glaubt man, nachgewiesen zu haben, dass Australien und Südamerika einst durch das antarktische Festland miteinander in Verbindung standen. Überhaupt gereicht es Scott zur höchsten Ehre, dass er selbst bei einem so gewaltigen Unternehmen, wie einer Wanderung vom Winterquartier am 78. Breitengrad, die schon an und für sich alle Kräfte der Teilnehmer in Anspruch nimmt, nicht unterließ, auf dem ganzen Wege noch Forschungen auszuführen. Da die Tagebücher Scotts geborgen werden konnten, werden wenigstens die letzten Arbeiten dieses Helden der Polarforschung der Wissenschaft zugänglich sein … In ihrer Gesamtheit kann die Scottsche Expedition, namentlich im Hinblick auf die unter den schwierigsten Verhältnissen errungenen Forschungsergebnisse, als eine der glänzendsten Taten der englischen Polarforschung bezeichnet werden“ (F. Mewius in: Neue Zürcher Zeitung vom 25. Februar 1913).
Ganz anders klingt ein Zeitungsartikel aus Deutschland in dem die Redaktion darauf hinweist, dass ihr Londoner Korrespondent auf Grund authentischer Berichte das Ende der vielgenannten Südpolexpedition Scotts beleuchtet. Die Folgerungen, zu denen er übereinstimmend mit anderen objektiven Beurteilern kommt, heißt es, werfen ein eigenartiges Licht auf den englischen Heroenkult. Sie lauten in verkürzter Form: „In England wird ein Heldenkult getrieben, den man in Deutschland nicht nur übertrieben, sondern krankhaft nennen würde. Den Brief, den Kapitän Scott hinterlassen hat, nennen englische Redner ‚das Ruhmesblatt, das nie sterben wird‘. Allen Schulkindern, Großbritanniens ist dieses ‚Ruhmesblatt‘ am gleichen Tage und zur gleichen Stunde vorgelesen worden. Die Zeitungen erklären es als eine großartige literarische Leistung, die nur mit gewissen Glanzstellen der Bibel verglichen werden könne. Kapitän Scott hatte, ehe er den letzten Vorstoß nach dem Pol unternahm, gehört, dass Kapitän Amundsen gleichfalls auf dem Wege dorthin war. Er musste seine Vorbereitungen sehr beschleunigen, um sich nicht von dem Norweger den Rang ablaufen zu lassen. Wie von einem ‚Abstecher‘ spricht Amundsen in seinen Berichten über die Fahrt und macht es über allen Zweifel klar, dass dazu kein übermäßiger Heldenmut gehörte, ja, dass die Strapazen, die bisher so grausig ausgemalt worden waren, mit einiger Vorsicht und Umsicht leicht zu überwinden seien. Kapitän Scott erzählt, dass viele Meilen nördlicher Kapitän Oates ‚freiwillig in den Tod ging‘. Kapitän Oates hatte sich Hände und Füße erfroren. Scott gibt seltsamerweise keine Auskunft darüber, wo, wann und unter welchen Umständen das geschehen ist. Wenn sich die Gesellschaft um Kapitän Oates kaum kümmerte, so ist sein Missgeschick leicht erklärlich. Nur ein kritikloses Volk wie das englische kann sich weismachen lassen, dass es unmöglich ist, einen von Krankheit und Entbehrung erschöpften Mann, dem Hände und Füße erfroren sind, abzuhalten, das Zelt zu verlassen. Es bedarf keiner Hellsehergabe, um zu erkennen, was den armen Teufel wirklich in den Tod getrieben hat. Bleibt noch die Frage übrig, was den Tod der drei letzten Teilnehmer der Südpolfahrt verursacht hat. Englischerseits wird kein Versuch gemacht werden, Aufklärung zu schaffen, denn das könnte ihren Helden des Ruhmeskranzes berauben. Aus demselben Grunde hat man sich nun auch gehütet, die Leichen nach der Küste oder nach Hause zu bringen“ (Leipziger Neueste Nachrichten vom 23. Februar 1913).
Im Gegensatz dazu liefert Stefan Zweig in seinem im Jahr 1927 erschienen Buch „Sternstunden der Menschheit“ den Höhepunkt einer romantischen Verklärung von Scott. Er schildert ihn als irgendeinen Kapitän der englischen Marine, an dem keine Besonderheit den Helden andeutet: „Sein Gesicht, rückgespiegelt von der Photographie, das von tausend Engländern, von zehntausend, kalt, energisch, ohne Muskelspiel, gleichsam hartgefroren von verinnerlichter Energie. Stahlgrau die Augen, starr geschlossen der Mund. Nirgends eine romantische Linie, nirgends ein Glanz von Heiterkeit in diesem Antlitz aus Willen und praktischem Weltsinn. Seine Schrift: irgendeine englische Schrift, ohne Schatten und Schnörkel, rasch und sicher“. (Zweig 1932, S. 58)
Abb. 4: Stefan Zweig
Dass Scotts Wille stahlhart ist, das spürt man schon nach Zweigs Meinung vor der Tat: „Scott will vollenden, was Shackleton begonnen. Er rüstet eine Expedition, aber die Mittel reichen nicht aus. Das hindert ihn nicht. Er opfert sein Vermögen und macht Schulden in der Sicherheit des Gelingens“ (Zweig 1932, S. 59) Im Unterschied zu den zu den kritischen Bemerkungen über die aus Hast und Eile unzureichend ausgestattete Expedition sieht Zweig in ihr vielmehr ein abenteuerliches Unternehmen, das aber „kalkuliert ist wie ein Geschäft, eine Verwegenheit mit allen Künsten der Vorsicht – eine Unendlichkeit von genauer, einzelner Berechnung gegen die noch stärkere Unendlichkeit des Zufalls“ (Zweig 1932, S. 59).
Und zum Schluss werden die Ausführungen Zweigs über Scott und seine Gefährten zu einem literarischen Heldenmythos: „In der Kathedrale des Reiches neigt der König dem Gedächtnis der Helden das Knie. So wird, was vergebens schien, noch einmal fruchtbar, das Versäumte zu rauschendem Anruf an die Menschheit, ihre Energien dem Unerreichbaren entgegen zu straffen; in großartigem Widerspiel ersteht aus einem heroischen Tode gesteigertes Leben, aus Untergang Wille zum Aufstieg ins Unendliche empor. Denn nur Ehrgeiz entzündet sich am Zufall des Erfolges und leichten Gelingens, nichts aber erhebt dermaßen herrlich das Herz als der Untergang eines Menschen im Kampf gegen die unbesiegbare Übermacht des Geschickes, diese allzeit großartigste aller Tragödien, die manchmal ein Dichter und tausendmal das Leben gestaltet“ (Zweig 1932, S. 128).
Abb. 5: Scott mit letzter Tagebuchseite
War die romantische Verklärung Scotts durch Stefan Zweig der Höhepunkt der Heldenverehrung der Polarforscher, so sollte das Buch des englischen Skandinavien-Korrespondenten für den „Observer“ in London Roland Huntford der Höhepunkt einer geradezu verleumderischen Destruktion dieses Heldenmythos sein. Denn Huntford begnügt sich nicht nur mit einer radikalen kritischen Interpretation der von Scott selbst gelieferten Darstellung seiner Expedition, sondern setzt an deren Stelle seine eigenen frei erfundenen Fantasien. Am deutlichsten zeigt sich das an der Darstellung des selbstgewählten Todes von Oates. Während Huntford die dramatische Erzählung Scotts von diesem beispiellosen „Heldentod“ seines Leidensgefährten für ein Märchen ansieht, liefert er selbst eine durch keine Aussagen von Augenzeugen gestützte Alternativdarstellung: „Oates kroch mühsam aus den zerschlissenen, feuchten Fellen des Schlafsacks, kroch über die Beine seiner Gefährten durch das Zelt, fasste die Eingangsplane, die wie ein leeres Sack herunterhing, und machte sich daran, sie zu öffnen. Drei Augenpaare starrten ihn an. Irgendeiner versuchte halbherzig, ihn zurückzuhalten. Der Verschlussknoten löste sich; der Sack war offen und wurde zum Durchgang. Wie ein Tier, das wegkriecht, um zu sterben, schleppte sich Oates hinaus und wurde nicht mehr gesehen“ (Huntfort 2003, S. 430).
Doch schon bei Huntford tritt an die Stelle des so demontierten Scotts eine neue verehrungswürdige Figur. Das Gegenbild zu einem „von heroischem Wahn Besessenen“ ist für ihn bezeichnenderweise der Konkurrent Scotts Roald Amundsen, (Huntford 2003, S. 478). Nach Huntfords Meinung war Amundsen der „für alle nach ihm Kommenden der große Lehrmeister“. Seine Fahrt zum Südpol war der „Höhepunkt des klassischen Zeitalters polarer Forschung und vielleicht die bedeutendste Reise, die je in Schneegebieten durchgeführt wurde. Sie war das große Vorbild dafür, wie man ein gewagtes Unternehmen durchführt.“ Huntford weist in diesem Zusammenhang auf Richard Byrd hin: „Byrd hatte zu Füssen Amundsens gesessen, seine Prinzipien und sogar einige seiner Männer übernommen. Byrd hatte Flugzeuge und flog zum Pol. Er verfügte über Funk und alle Hilfsmittel seiner Zeit. Als er sah, was Amundsen mit Hunden und Willenskraft allein geschafft hatte, wuchs seine Bewunderung ins Unermessliche“ (Huntford 2003, S. 479).
Bereits in der Antike gab es Spekulationen über ein Land am Südpol. Claudius Ptolemäus (100–175) vertrat in seiner Geographie die Hypothese von einem unbekannten Südkontinent, den er „Terra Australis incognita“ nannte. Der Grund für eine solche Annahme war aber zunächst rein theoretisch. Denn man erwartete ein Gegengewicht zu der ebenfalls in der Antike angenommenen Landmasse am Nordpol der man den Namen „Ultima Thule“ gab (Oeser 2008, S. 12). Von der Gegenwelt (Antichthon) am Südpol nahm man aber an, dass sie von „Gegenfüßlern“ (Antipoden) bewohnt sei. Nach der antiken Vorstellung von Klimazonen, sollte es ein Land mit unerträglicher Hitze sein, in dem alles verkehrt ist. Die Wolken hängen nach unten, die Flüsse fließen bergauf und am Tag ist Nacht.
Abb. 6: Hypothetischer Kontinent (nach Petrus Bertius ca. 1600)
Von Aristoteles stammt eine ausführliche aber, wie er selbst sagt, theoretische Darstellung dieser polaren Klimazonen: „Es gibt ja zwei bewohnbare Erdzonen, eine (die unsrige) gegen den oberen Pol hin, die andere in Richtung auf den anderen Pol, gegen Mittag.“ Einzig diese Gegenden sind bewohnbar, nicht die Landstriche jenseits der Wendekreise. Was aber die Gegend unter dem Polarstern betrifft, so meint Aristoteles, ist diese der Kälte wegen unbewohnbar. Die extremen Werte von Hitze und Frost zeigen sich nicht auf den Längen-, sondern den Breitengraden. „Wie es auf der einen Seite wegen der Kälte, so gibt auf der anderen Seite wegen der Hitze keine Menschen mehr.“ Aristoteles verbindet mit dieser Einsicht eine vernichtende Kritik an den zu seiner Zeit üblichen Darstellung der Erdkarten, welche sich nur auf die von Menschen bewohnte Erde beziehen: „Darum ist die Weise, wie man gegenwärtig Erdkarten entwirft, lächerlich; sie zeichnen nämlich die bewohnte Erde kreisrund, was ebenso nach praktischer Erfahrung wie auch theoretisch unmöglich ist“ (Meteorologica Book II 5; übers. von Hans Strom 1984)
Dieser Einteilung der Erde des Aristoteles in Klimazonen folgt auch Marcus Tullius Cicero in seinem von 54 bis 52 v. Chr. verfassten „Traum des Scipio“, (Somnium Scipionis, 6. Buch De re publica). Cicero nimmt ebenfalls nur eine bewohnbare Zone an und zwei unbewohnbare Zonen im äußersten Norden und Süden: „Du siehst doch, dass an nur wenigen engbegrenzten Stellen die Erde bewohnt ist. Flecken sozusagen sind’s, wo Menschen wohnen, und zwischen ihnen liegen wüste Einöden gewaltigen Ausmaßes. Daher sind denn auch die Erdbewohner nicht nur so weit voneinander getrennt, dass nichts von den einen zu den anderen gelangen kann, sondern teils wohnen sie überdies auch noch schräg gegeneinander, teils quer entgegengesetzt, teils sind sie Antipoden, d.h. Gegenfüßler, von denen ihr doch sicherlich nicht erwarten könnt, dass sie sich um euren Ruhm bekümmern. Du siehst ferner, dass dieselbe Erde gewissermaßen von Gürteln – Zonen nennt man sie – umwunden und rings umgeben ist. Zwei von ihnen sind besonders weit voneinander getrennt, sie lehnen sich auf beiden Seiten an die Pole des Himmels an und sind ersichtlich von Frost erstarrt, der in der Mitte aber, der größte, wird von der Glut der Sonne gänzlich ausgedörrt. Nur zwei sind bewohnbar: jener südliche dort, dessen Bewohner eure Antipoden sind, steht mit euch in keinerlei Verbindung, dieser hier aber, der nördliche, den ihr bewohnt, sieh nur einmal her, ein wie schmaler Streifen von ihm wirklich euer ist. Das ganze Land nämlich, das von euch bewohnt wird, eingeengt nach den Polen zu, breiter nach den Seiten hin, ist gleichsam nur ein kleines Eiland, rings umströmt von jenem Meer, das ihr das Atlantische, das Große oder auch einfach Ozean nennt“ (Marcus Tullius Cicero, De republica. VI 20–25 Übers. von Karl Atzert).
Der spätantike Philosoph Ambrosius Theodosius Macrobius (geboren um 385/390; gestorben vermutlich nach 430) schrieb im 5. nachchristlichen Jahrhundert einen Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis. Von ihm ist in einer Handschrift aus dem 12. Jahrhundert eine Darstellung der Klimazonen im Kommentar zum Somnium Scipionis überliefert.
Schon Aristoteles hatte infolge seiner Beobachtung von Mondesfinsternissen erkannt, dass die Erde eine Kugel sein müsste (vgl. Oeser 2017) So liefert er im zweiten Buch „Über den Himmel“ einen Beweis für die Kugelform der Erde, wenn er sagt: „Bei den monatlichen Formveränderungen nimmt der Mond alle möglichen Arten der Abteilung an (er wird nämlich sowohl geradlinig als auch rings gewölbt als auch hohl), hingegen bei den Finsternissen hat er die abgrenzende Linie immer gewölbt, so dass, wofern er sich des Vorliegens der Erde verfinstert, wohl der Umfang der Erde, welcher ein kugelförmiger ist, die Ursache sein dürfte“ (Aristoteles übers. von Prantl 1857, S. 181). Und Ptolemäus hatte sich mit den Berechnungen des Erdumfangs von Eratosthenes und Poseidonios befasst, die der Vorstellung von Aristoteles von der Kugelförmigkeit der Erde gefolgt sind. Dabei übernahm Ptolemäus die falschen Ergebnisse des Poseidonios, die dann in die allgemeine Literatur übergingen und bis zu Christoph Kolumbus auf einen zu geringen Erdumfang von ca. 17000 Seemeilen (30.000 km) schließen ließen.
Abb. 7: Darstellung der Klimazonen im Kommentar zum Somnium Scipionis durch Macrobius (Quelle: Copenhagen, Det Kongelige Bibliotek)
Kolumbus ging ebenfalls von der Kugelgestalt der Erde aus und wendete sich gegen die Vorstellung, dass die Erde eine Scheibe sei. Wer meint, ein Seefahrer würde bei seiner riskanten Unternehmung über den Rand der flachen Erde hinaussegeln und in die Hölle stürzen, liegt daher nach seiner Ansicht völlig falsch. Während Kolumbus von Westindien aus nicht weiter nach Süden vordrang, war es Amerigo Vespucci, der die Küste von Südamerika bereiste und sich berechtig fühlte, die Bezeichnung „Mundus Novus“ in seinen berühmten Brief an Lorenzo di Medici zu verwenden. Denn keine seiner Vorläufer besaßen „von diesen Gebieten Kenntnis und deren Existenz allen, die davon hören, völlig neu ist“ (Vespucci 2012, S. 17). Die meisten von ihnen glaubten, dass sich südlich des Äquators kein Festland befände, sondern nur eine unendliche See, die sie Atlantik nannten, und auch diejenigen, die hier einen Kontinent für möglich hielten, waren aus verschiedenen Gründen der Meinung, er müsse nicht bewohnbar sein. Vespucci hat aber bewiesen, dass diese Ansicht falsch ist und der Wahrheit in keiner Weise entspricht, da er südlich des Äquators den anderen Teil von Amerika fand, der mit Völkern und Tieren dichter besiedelt war als Europa oder Asien und Afrika (Vespucci 2012, S. 17).
Aber auch Vespucci war nicht bis zu dem sagenhaften seit der Antike angenommenen Südkontinent Terra Australis vorgedrungen. Die eigentliche Südpolarforschung begann erst im 18. Jahrhundert als James Cook seine zweite Reise um die Welt antrat.
Auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Glaube, dass am Südpol ein großes Land sei, das die Geografen „Terra australis incognita“ nannten, noch immer vorhanden. Einem Schiffskapitän der Indischen Kompanie, Jean Baptiste Charles Bouvet de Lozier, ließ der ungeheure Raum rings um den Südpol keine Ruhe. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr erwachte in ihm das ehrgeizige Bestreben, jenes unbekannte Land zu entdecken. Lange Zeit blieben seine Bemühungen ohne Erfolg. Erst im Jahr 1738 bewilligte ihm die Direktion der Gesellschaft eine Expedition in der Hoffnung, ihrer Handelstätigkeit damit neue Gebiete zu eröffnen. Diesem Mann, der die sonst wenig bekannte Expedition leitete, kommt vor allem der Ruhm zu, dem großen englischen Seefahrer James Cook den Weg vorgezeichnet zu haben.
Unter dem Befehl des Leutnants der französischen Indienkompanie Bouvet de Lozier liefen am 19. Juli 1738 zwei kleine aber zweckentsprechend ausgerüstete Fregatten „Aigle“ und „Marie“ von Brest aus in die hohe See. Einen Monat lang lagen sie an der Küste Brasiliens vor Anker bevor sie sich am 13. November wieder in Richtung Süden in See begaben. Aber bereits Mitte Dezember bemerkte man unter 40°50‘ südlicher Breite einen gewaltigen Eisberg und später noch mehrere andere, umgeben von Eisschollen jeder Form und Größe. Doch Bouvet wollte trotz dieser Hindernisse nach Süden weiter segeln, um seinen Plan der Entdeckung neuer Länder in dieser unbekannten Region zu verwirklichen. Zur Beruhigung der entmutigten Mannschaft sagte er, dass man das Auftreten von Eisbergen als ein günstiges Vorzeichen zu betrachten habe, da es auf die Nähe eines Landes hinweise. Tatsächlich wurde Bouvets Ausdauer durch die Entdeckung eines Landes belohnt, das er „Cap de Circoncision“ nannte. Es war sehr hoch, mit Schnee bedeckt und von Eismassen umgeben, die es unmöglich machten, näher an dieses Land heranzukommen. Man bestimmte seine geografische Lage mit 54° südlicher Breite. Bouvet hätte das vor ihm liegende Land gern näher besichtigt oder zumindest mit Booten sein Ufer erreichen wollen. Dichter Nebel und widrige Winde vereitelten aber ein derartiges Unternehmen.
Abb. 8: Bouvet und die von ihm entdeckte Insel Cap de Circoncision
Am 3. Januar meldete Bouvet in seinem Bericht an die Kompanie, dass er bei weniger bedeckten Himmel das Land schärfer zu erkennen vermochte: „Die in ihrer ganzen Ausdehnung ziemlich steile Küste,“ sagte er, „bildete mehrere Buchten; der Gipfel der Berge lag im Schnee verhüllt, doch schienen deren Abhänge bewaldet.“ Nach wiederholten fruchtlosen Versuchen, ans Ufer zu kommen musste Bouvet diese Absicht aufgeben. Seine Matrosen waren von den Strapazen erschöpft, entmutigt und von Skorbut entkräftet. „Wir haben“, sagt Bouvet in dem schon zitierten Bericht, „auf unbekannten Meeren zwölf- bis fünfzehnhundert Meilen zurückgelegt. Fast siebzig Tage lang litten wir durch einen gleich bleibenden, dichten Nebel. Vierzig Tage lang kreuzten wir zwischen dem Eis, beinahe täglich von Hagelschauern und Schneefällen überschüttet. Häufig waren Deck und Segelwerk dick mit Schnee bedeckt. Wanten und Tauwerk starrten in einer Eiskruste. Die Kälte war für meine nur mangelhaft bekleideten Leute, welche aus warmen Ländern herstammten, gar zu streng. Mehrere erfroren bei ihrer Arbeit die Hände oder die Füße. Anderen brachen die Tränen aus den Augen, wenn sie die Sondleinen aufholten“ (zit. nach Verne 1881, S. 259). Unter solchen katastrophalen Verhältnissen musste Bouvet schließlich seinen Plan aufgeben, weiter nach Süden vorzudringen. Er steuerte sein Schiff zum Kap der Guten Hoffnung das er am 28. Februar 1738 erreichte. Selbstverständlich konnte ein in den Augen der Kompanie so geringfügiges Resultat keine weiteren Aussichten auf eine Fortsetzung solcher Reisen in diese Gegenden haben, die keine wirtschaftlichen Vorteile erwarten ließen, sondern vielmehr Schiffen und Menschen mit dem Verderben bedrohten. Erst mehr als dreißig Jahre später fand mit James Cook eine Fortsetzung dieser Reisen nach dem Süden statt. Sie ist als der eigentliche Beginn der Südpolarforschung anzusehen.
Kaum war das Schiff „Endeavour“ von James Cook im Jahr 1771 von seiner ersten Reise zurückgekommen, wurde schon eine neue Reise in die Südsee geplant, weil man noch immer das Dasein eines großen südlichen Landes notwendig zum Gleichgewicht der Erdkugel hielt. Zwei geeignete Schiffe wurden ausgerüstet und als Kapitäne James Cook zum Befehlshaber der „Resolution“ und Tobias Fourneaux zum Befehlshaber der „Adventure“ ernannt. Die „Resolution“ war ein besonders stark gebautes Schiff von 462 Tonnen und 112 Mann Besatzung. Da Cook damals bereits viel Erfahrung hatte, war er darauf bedacht, nur solche Lebensmittel mitzunehmen, die am besten geeignet waren, die unheimliche Krankheit Skorbut, die von jeher der schlimmste Feind der Polarfahrer war, wenn schon nicht ganz auszuschalten, so doch möglichst einzuschränken.
Abb. 9: James Cook und sein Schiff „Resolution“
Die britische Admiralität schickte Cook mit dem Befehl aus, das große südliche Festland zu entdecken oder zu beweisen, dass es nicht gab. Demzufolge sollte er zunächst zum Cap de la Circoncision fahren, das nach Bouvet unter dem 54.° südlicher Breite liegen soll. „Entdeckt er dieses,“ heißt es in der Anweisung der Admiralität, „so sollte er untersuchen, ob es zum festen südlichen Land gehöre, welches aller Geographen und voriger Seefahrer Aufmerksamkeit erregt hatte, oder ob es nur ein Teil einer Insel sei. Im ersten Fall sollte, soviel als möglich, von der Küste befahren und untersucht, zugleich auch Bemerkungen zum Vorteil des Handels, der Seefahrt und der Naturgeschichte gemacht werden. Wäre aber das Vorgebirge de la Circoncision nur ein Teil einer Insel, oder könnte er es gar nicht antreffen, so bliebe ihm übrig, solange er noch Hoffnung hätte, ein großes oder festes Land zu finden südwärts zu steuern, alsdenn aber seinen Lauf nach Osten zu richten, und in hohen südlichen Breiten, so nahe am Pol als tunlich sein würde rund um die Welt zu segeln“ (zit. nach Forster 1803, S. 4).
Dazu schreibt der wissenschaftliche Begleiter Cooks Johann Georg Adam Forster: „Es war der Gegenstand unserer gefährlichen Reise, die südliche Halbkugel bis zum 60.° der Breite zu untersuchen, ob dort im gemäßigten Erdstrich ein großes festes Land vorhanden sei, oder nicht. Unsre verschiedenen Kurslinien haben aber nicht nur deutlich erwiesen, dass in der südlichen gemäßigten Zone kein großes Land liegt, sondern, da wir innerhalb des gefrorenen Erdgürtels bis zum 71.° südlicher Breite vorgedrungen sind, so ist dadurch höchst wahrscheinlich gemacht worden, dass der jenseits des antarktischen Polarzirkels befindliche Raum bei weitem nicht mit Land ganz angefüllt sei. Dem ungeachtet ist Kapitän Cook noch der Meinung, dass Eiseilande unmöglich anders als an den Küsten und in den Tälern und Häfen des festen Landes formiert werden; weil er es nur auf diese Art für möglich hält, die verschiedenen Gestalten dieser Eismassen zu erklären. Die großen Eilande, die ganz eben sind, sollen in den Häfen, diejenigen aber, die zugespitzt und schroff aussehen, sollen zwischen Felsen und in Tälern von gehäuften und gefrorenen Schnee entstehen. Beide Arten brechen durch ihr eigenes Gewicht von der ganzen unermesslichen Masse ab, und treiben denn bei beständigen nordwärts gehenden Strömungen in gelindere Breiten. Kapitän Cook ist demnach fest versichert, dass ein großes Stück Landes um den Südpol liegt, welches freilich nicht viel taugt, weil er glaubt, dass Sandwich-Land, eine der nördlichsten Spitzen dieses Kontinents sei, und dass letzteres größtenteils innerhalb des Polarzirkels liege“ (Forster 1803, S. 751f.).
Wie nun die Reise nach dem Süden tatsächlich verlief, hat Georg Forster am Beginn seiner Darstellung der zweiten Reise um die Welt ausführlich mit all den Drangsalen berichtet. Cook verließ mit seinem Schiff „Resolution“ und dem Begleitschiff „Adventure“ den Hafen von Plymouth am 13. Juli 1772. Nach einem kurzen Aufenthalt in Madeira erreichte er am 30. Oktober Kapstadt. Bereits, nach einer Woche, nachdem die Resolution das Kap der Guten Hoffnung verlassen hatte, geriet das Schiff in einen fürchterlichen Sturm, bei dem es hin und her geworfen wurde. Das Heulen des Sturmes im Tauwerk, das Brausen der Wellen, die häufig über das Schiff stürzten, gestattete fast keine Beschäftigung an Deck. Das Übelste dabei war, dass die Decken und Fußböden der unteren Räume und Kajüten gar nicht trocken wurden. Hinzu kam noch, dass bereits am 42° südlicher Breite die Luft doch schon sehr scharf zu werden begann. Eines nachts erlebte die Mannschaft einen kritischen Augenblick, der sie in entsetzliche Angst und Schrecken versetzte. Ein Unteroffizier, der im Vorderteil des Schiffsraumes schlief, erwachte dadurch, dass er Wasser durch seine Schlafstelle rauschen hörte. Das Wasser stieg immer mehr und konnte auch nicht durch Schöpf- und Kettenpumpen aufgehalten werden. Endlich entdeckte man, dass das Wasser nicht durch ein verborgenes unzugängliches Leck eindrang, sondern dass es in die Vorratskammer zu einem Fenster hereinkam, das nicht fest genug zugemacht und durch die Gewalt der Wellen eingeschlagen worden war.
Auch in den ersten Tagen des Dezembers gab es fast beständig Sturm mit Regengüssen. Der Wind war kalt und schneidend und das Trinkwasser fing an zu frieren. Diese Kälte war der Vorbote des Treibeises, dem schon man kurz darauf begegnete. Nach der beobachteten südlichen Breite von 51° 5‘, welche mit der Polhöhe von London ungefähr übereinstimmt, war man mitten im Dezember, der auf der südlichen Halbkugel dem Juni entspricht, auf verschiedene Eisberge gestoßen. Da man nur wenige Grade von der Breite entfernt war, an welcher der Kapitän Lozier Bouvet das Cap Cirkoncision gefunden haben wollte, erwartete jedermann mit großer Ungeduld Land. Die trügerische Gestalt der Nebelbänke oder der in Schneegestöber gehüllten Eisinseln veranlasste dabei schon manchen falschen Lärm. Und auch von dem Begleitschiff Adventure erhielt Cook Signale, dass man Land sehe.
Am 9. Januar 1773 bekam man eine riesige Eisinsel zu Gesicht und am 17. Januar wurde zum ersten Mal der südliche Polarkreis überschritten. Cook hatte damit alle früheren Forschungsreisenden weit überholt, aber sein Versuch, noch weiter südlich vorzudringen, wurde durch eine ständig zunehmende Menge von Eisbergen und durch Packeis verhindert. Daher musste er für dieses Jahr sein Vorhaben im Süden aufgeben und sich wieder nach Norden wenden. Am 26. März 1773 erreichten seine beiden Schiffe Neuseeland. Als er im darauffolgenden Jahr von Neuseeland aufbrach und wieder nach Süden steuerte erreichte er seine höchste Breite 71° 10‘.
Abb. 10: Resolution bei der Eisinsel
Ein weiterer Hinweis auf Cooks Fahrten in der Antarktis stammt von James Webber, Draftsman an Bord der Resolution in den Jahren 1776 bis 1780. Er verfertigte eine Zeichnung von einer Schlittenfahrt Cooks (dargestellt in: John Webber 1808). Sie zeigt auch, dass zumindest in der Fantasie des Zeichners die Hoffnung, doch das sagenhafte Südland zu entdecken aufrecht geblieben ist. Dass aber Cook überhaupt Schlittenfahrten mit Hunden auf dem zusammenhängenden Packeis unternommen hat, ist anzunehmen, weil in dem Bericht von Georg Forster mehrfach von Pinguinjagden die Rede ist (Forster 1803, S. 57) und außerdem später, allerdings erst nach dem Tod von Cook, eine detaillierte Beschreibung solcher Hundeschlittenfahrten gegeben wird: „Auf einen Schlitten kann nur eine Person sitzen. Man setzt sich aber von der Seite darauf, so dass die Füße auf dem unteren Teil zu ruhen kommen. Die Lebensmittel und andern Sachen, die man mitnimmt, werden in ein Bündel gepackt, das man hinten auf den Schlitten legt. Ein solcher Schlitten wird gewöhnlich von fünf Hunden gezogen, von denen vier paarweise gehen, der vordere aber den Weg zeigt“ (Cook 1843, S. 316; dt. Forster 1803, S. 256).
Abb. 11: Cooks Hundeschlitten (aus Webber 1808 und Forster 1803)
Den Ruf, Entdecker der Antarktis zu sein, erlangte Fabian Gottlieb von Bellingshausen deswegen, weil er am 28. Januar 1820 erstmals den Rand eines „Eis-Kontinents“ sichtete. Es war das Schelfeis, das als Teil des antarktischen Kontinents betrachtet werden kann. Nach den Forschungsreisen von James Cook war es die zweite Expedition überhaupt, die so weit nach Süden vorstieß. Im August 1820 wurde der 70. Breitengrad erreicht und dabei die antarktische Festlandküste auf einem südlicheren Kurs befahren als von Cooks Expedition.
Die Beschreibung von Bellingshausens Südpolar-Expedition erschien 1831 in russischer Sprache in Sankt Petersburg. Eine deutsche Übersetzung wurde erst 1902 veröffentlicht. Aber bereits im Jahre 1842 erfuhr die Welt im „Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland“ von einer Expedition, die den Auftrag hatte, die weniger bekannten Gegenden des südlichen Oceans genau zu erforschen und so weit wie möglich im Antarktischen Meer vorzudringen. Zu dieser Expedition wurden die Sloops Wostok (der Osten) und Mirny (der Friedfertige) bestimmt, und die Leitung dem Capitain Bellingshausen übertragen (Lowe 1842, S. 127).
Abb. 12: Bellinghausen und Lasarew
Fabian Gottlieb von Bellingshausen, geboren auf der estnischen Insel Ösel (heute Saaremaa) als Kind einer deutschbaltischen Adelsfamilie, begann bereits 1789 mit 11 Jahren seine militärische Laufbahn als Kadett an der Marine-Kadettenschule in Kronstadt. 1797 trat er als Fähnrich zur See in die russische Flotte ein. 1803 bis 1806 diente er auf dem Schiff Nadéjda und nahm an der ersten russischen Weltumseglung unter A. J. von Krusenstern teil. Nach der Reise wurde er zum Kapitänleutnant befördert und war Kommandant verschiedener Schiffe der russischen Baltischen Flotte und der Schwarzmeerflotte. Zum Kommandant des Schiffes Mirny wurde Michail Petrowitsch Lasarew bestimmt. Er war in Wladimir geboren, einer Stadt, die rund 190 km östlich von Moskau liegt. Nach Abschluss der Kadettenschule absolvierte er von 1803 bis 1808 ein Praktikum bei der britischen Flotte. Nach seiner Rückkehr diente er in der russischen Baltischen Flotte.
Bellinghausen fand bei seiner Ankunft in Kronstadt die beiden Schaluppen schon seefertig vor. Doch keins von beiden besaß die Festigkeit, die zu einer so langen Reise unter schwierigen Umständen nötig gewesen wäre. Die vorgerückte Jahreszeit machte es aber unmöglich noch bedeutende Veränderungen vorzunehmen. Das Schiff Mirny, dessen Kommando der Lieut. Lasarew erhalten hatte, konnte im Segeln mit dem Wostok keinen Vergleich aushalten. Es war daher vorauszusehen, wie schwierig es den beiden Schiffen sein würde, zusammen zu bleiben, und welche Verzögerung dadurch in der Fahrt entstehen werde. Auf der Wostok befanden sich insgesamt 117 Mann, auf dem Mirny im Ganzen 72 Mann. Bellingshausen erhielt eine Sonderzahlung von 5000 Rubeln, Lasarew von 3000 Rubeln, alle übrigen Offiziere und die ganze Mannschaft erhielten einen erhöhten Sold.
Am 16. Juli gingen die beiden Schiffe unter den Jubelrufen der Zuschauer von der Kronstädter Reede in See. Bevor sie sich aber nach Süden wandten, begaben sich Bellingshausen und Lasarew nach London, um die dort bestellten astronomischen Instrumente abzuholen. Nachdem sie am 10. September wieder in See gestochen waren, empfanden sie schon bei dieser ersten gemeinsamen Fahrt die Ungleichheit der Geschwindigkeit der beiden Schiffe. Der Wostok war genötigt, um nicht den Mirny weit hinter sich zu lassen, nur wenig Segel zu setzen und konnte daher den günstigen Wind nicht ausnützen. Dem Kapitän Lasarew wurde vorgeschrieben, sich mit dem Mirny bei heiterem Wetter 4,6 bis 8 Meilen entfernt zu halten, des Nachts und bei schlechter, nebeliger Witterung aber in einen Abstand von 5 Kabellängen im Kielwasser des Wostok zu folgen. Im Fall einer Trennung sollten sich beide Schiffe 3 Tage lang auf derjenigen Stelle aufsuchen, an der sie sich zuletzt gesehen hatten, dann aber, je nach der Zeit des Verfehlens nach den Falklands-Inseln und schließlich nach Port Jackson sich begeben.
Trotz dieser Verzögerungen erreichten die beiden Schiffe im Januar des nächsten Jahres die Eiszone. Am 15. Februar 1820 gelang es ihnen zum dritten Mal den südlichen Polarkreis zu überschreiten und die höchste Breite von 69° 25‘ südlicher Breite zu erreichen. Vom 28. Februar bis zum 4. März setzten sie ihre Fahrt fort, fast immer von Treibeis umgeben, das sich in unabsehbaren Feldern von Osten nach Westen ausdehnte. Unter diesen Umständen, da der nächste Hafen Port Jackson wenigstens 5000 Meilen entfernt war, entschloss sich Bellingshausen wieder nach Norden zu segeln und einen weder von Cook noch von andern Seefahrern befahrenen Teil des südlichen Eismeers zu untersuchen. Am 8. April 1820 zeigte sich das Ufer von Neu-Holland wie Australien vor der Besitznahme durch das britische Empire im 19. Jahrhundert bezeichnet wurde und am 10. April erschien ein Lotse am Eingang des Port Jacksons und die Wostok ging an einer ihr angewiesenen Stelle vor Anker. Am 19. April kam auch Lasarew mit dem Mirny an.
Abb. 13: Bellingshausens Schiffe