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Seit Lady Cassandra Vernham den Heiratsantrag von Lord Lakewood abgelehnt hat, lebt sie verstoßen von ihrer Familie am Rande der Gesellschaft - und muss zusehen, wie sie über die Runden kommt. Sie ist gezwungen, ihren wertvollen Schmuck zu versteigern. Doch der gutaussehende Lord Amsbury bleibt ihr das Geld schuldig. Als Cassandra ihn wutentbrannt zur Rede stellt, ist sie auf alles gefasst - nur nicht darauf, ihr Herz an den charmanten Lord zu verlieren ...
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Seitenzahl: 504
Titel
Zu diesem Buch
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Die Autorin
Madeline Hunter bei LYX
Impressum
MADELINE HUNTER
der Lady Cassandra
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Anja Mehrmann
Zu diesem Buch
Als Lady Cassandra Vernham den Heiratsantrag von Lord Lakewood ablehnt, wird sie von ihrer Familie auf der Stelle verstoßen und seitdem von der feinen Gesellschaft gemieden. Da sie Spielschulden hat und nun zusehen muss, wie sie finanziell über die Runden kommt, ist sie gezwungen, ihren wertvollen Diamantschmuck zu versteigern. Doch ausgerechnet der Käufer des teuersten Stücks bleibt ihr das Geld schuldig. Cassandra kennt Lord Amsbury nur zu gut – ist er doch ein enger Freund Lord Lakewoods und ihr daher alles andere als zugetan. Als Amsbury behauptet, Cassandras Schmuck sei Diebesgut, für welches er erst zahlt, wenn sie ihm verrät, wie sie in seinen Besitz gekommen ist, beginnt sie selbst Nachforschungen anzustellen. Damit sie ihr altes Leben hinter sich lassen und weit weg von ihrer Familie endlich einen Neuanfang wagen kann, benötigt sie Amsburys Geld dringend und ist fest entschlossen, sich zu holen, was ihr zusteht. Um den attraktiven Lord dazu zu bringen, endlich seine Schulden zu begleichen, ist Cassandra jedes Mittel recht – dass sie dabei ihr Herz an ihn verliert, war allerdings ganz und gar nicht Teil ihres Plans …
August 1798
»Ich bin ja so froh, dass es nur eine kleine Hochzeitsfeier wird«, sagte Emma. Sie blickte in den Spiegel, während die Zofe ihr einen Kranz ins goldbraune Haar steckte.
»Und ich wäre froh, wenn die Gesellschaft größer wäre«, seufzte Cassandra. Sie bedeutete der Zofe mit einer Geste, beiseite zu gehen, und begann, sich selbst um den Kopfschmuck ihrer Freundin zu kümmern. Aus weißer Seide, mit winzigen Perlen bestickt und einer kleinen weißen Feder geschmückt, wirkte die Kreation elegant, aber dennoch zurückhaltend. Und damit war sie einer Braut angemessen, die bereits eine reife Frau und keine Debütantin mehr war, die gerade ihre erste Saison hinter sich gebracht hatte.
Emmas Alter war nur ein Grund für eine kleine Hochzeitsfeier. Weitere waren die ländliche Lage des Ortes, die Tatsache, dass die feine Gesellschaft im August über das ganze Königreich verteilt war, und vielleicht auch Emmas Wunsch, nicht im Mittelpunkt eines großen Festes zu stehen.
»Auf einer Hochzeitsfeier mit vielen Gästen kann man Leuten, die man nicht sehen will, aus dem Weg gehen, ohne dass es allzu sehr auffällt«, fuhr Cassandra fort und befestigte zwei Haarnadeln am richtigen Platz. »Du als Braut kannst das natürlich nicht. Aber ich als Gast kann es sehr wohl.«
Emma betrachtete ihre Freundin im Spiegel. »Gehst du davon aus, dass einige der Anwesenden dich schneiden werden? Bist du deshalb erst gestern aus der Stadt hergekommen?«
»Eigentlich glaube ich eher, dass es vielleicht Gäste gibt, denen ich gern aus dem Weg gehen würde«, sagte Cassandra und lachte. »Ich bin aufgehalten worden, weil mein Bruder auf einem Besuch bestanden hat. Deine Sorge wegen des Empfangs, den die feine Gesellschaft mir bereiten wird, beweist, dass du eine gute Freundin bist. Aber du sorgst dich ganz umsonst. Southwaites Verwandte und Freunde würden weder ihn noch dich je auf diese Weise beleidigen.«
Sie wünschte, sie könnte Emma den wahren Grund für ihre verspätete Abreise aus London offenbaren. Emma besaß viel Gespür und hätte ihr einen guten Rat geben können, wie sie sich angesichts der Drohungen verhalten sollte, die ihr Bruder Gerald, Earl of Barrowmore, gegen ihre Tante Sophie ausgesprochen hatte. Noch vor einem Jahr hätte Emma möglicherweise Mittel und Wege gefunden, Cassandra das Geld zu leihen, das so entscheidend war, um Geralds ruchlose Pläne zu durchkreuzen.
Doch es wäre selbstsüchtig gewesen, ihrer Freundin die Freude an der Hochzeit mit solch traurigen Geschichten zu verderben. Emma würde bald die neue Countess of Southwaite sein, und ihre Möglichkeiten, einer Freundin zu helfen, wurden von weitreichenden Verpflichtungen eingeschränkt. Und von einem Ehemann, der diese Freundin nicht sonderlich mochte.
Emma drehte sich auf dem Stuhl um. Ihre Miene verriet, dass sie Cassandra ansah, wie aufgewühlt sie innerlich war. Sie umarmte Cassandra und schmiegte den Kopf an ihre Hüfte.
»Danke, dass du gekommen bist, wenn auch später als geplant. Wenn du nicht hier wärst, hätte ich heute alles allein vorbereiten müssen, nur mit der Hilfe der Zofe, und niemand hätte mit mir gelacht und meine Nerven beruhigt.«
Cassandra strich Emma über die Locken, die ihr über die Schultern fielen. Mit fünfundzwanzig war Emma die um zwei Jahre Ältere von ihnen beiden, doch wenn es um praktische Dinge ging, kam sie ihr oft wie eine jüngere Schwester vor. Cassandra genoss die Umarmung, vor allem, weil es nicht mehr viele davon geben würde, wenn sie erst eine Möglichkeit gefunden hatte, Tante Sophie Geralds Einflussbereich zu entziehen.
»Du bist meine beste Freundin, Emma, und eine außergewöhnliche noch dazu.«
Zu Emmas bemerkenswerten Eigenschaften gehörte die Fähigkeit, zu kritisieren ohne zu tadeln, und die Entscheidungen ihrer Freundin zu akzeptieren, ohne Erklärungen zu verlangen. »Nichts hätte mich von hier fernhalten können.« Sie griff nach ihrem Ridikül, das auf einem Stuhl lag. »Und nun noch ein bisschen Farbe für deine Lippen und Wangen.«
»Du weißt, dass ich mich nicht schminke.«
»Nur ein wenig, Emma. Nur dieses eine Mal, damit du nicht wie ein verängstigtes Gespenst aussiehst.«
Vor dem Spiegel schnitt Emma eine Grimasse. »Ich bin etwas blass, nicht wahr? Sehe ich tatsächlich ein wenig ängstlich aus?«
»Nicht nur ein wenig. Dabei gibt es dafür gar keinen Grund. Es ist ja nicht so, dass dich später in deinem Schlafgemach ein großes Geheimnis erwartet. War er in der vergangenen Woche ein Gentleman und hat sich von dir ferngehalten, damit er nicht am Morgen der Feier aus deinem Bett steigen musste?«
Emma wurde rot. »Wie hast du das erraten? Er hat sich tatsächlich sehr anständig verhalten.«
»Wie enttäuschend das gewesen sein muss.«
Nun lief Emmas Gesicht feuerrot an. Ihre Blicke trafen sich, und sie mussten beide lachen.
»Wahrscheinlich will er, dass du ungeduldig auf das offizielle erste Mal wartest«, neckte Cassandra sie.
»Ich glaube, die Anwesenheit seiner Tanten und seiner Schwester hat ihn zurückgehalten. Seitdem sie hier sind, ist er ein Ausbund an Tugend.«
»Das liegt daran, dass seine Tanten skrupellose Klatschweiber sind. Wahrscheinlich nehmen sie an, dass nur eine Schwangerschaft diese Hochzeit überhaupt erklären kann. Es würde mich nicht wundern zu erfahren, dass sie nachts abwechselnd auf der Lauer liegen, um ihn dabei zu erwischen, wie er zu dir schleicht.«
»Vermutlich hat Hortense eigens dafür ein Fernglas mitgebracht.« Emma kicherte. »Aber ehrlich gesagt glaube ich eher, Darius wollte Lydia nicht schockieren.«
Cassandra tupfte Emma ein wenig Farbe auf die Wangen und verrieb sie, bis nur noch ein rosiger Schimmer übrig blieb. Der Earl of Southwaite, den Emma innerhalb der nächsten Stunde ehelichen würde, behandelte seine Schwester Lydia wie ein Schulmädchen, obwohl sie bereits dreiundzwanzig Jahre alt war. Um Lydias Unschuld zu bewahren, hatte er ihr die Freundschaft mit Cassandra verboten, was einer von mehreren Gründen war, warum Cassandra ihn nicht mochte.
Angesichts der Vorurteile, die Southwaite ihr gegenüber hegte, hatte sie nicht erwartet, zu dieser Hochzeit eingeladen zu werden, doch Emma hatte sich durchgesetzt. Bei all seinen Fehlern musste man ihm allerdings zugute halten, dass er Emma über alles liebte, so sehr, dass es an Raserei grenzte.
Falls Cassandra in England blieb, würde sie sehen, ob er seine Frau auch nach einigen Monaten Ehe noch verwöhnte. Sie nahm an, dass weder das eine noch das andere geschehen würde. Folglich hatten diese Hochzeitsvorbereitungen einen bitteren Beigeschmack.
»Fertig.« Sie trat zur Seite, damit Emma sich wieder im Spiegel betrachten konnte.
Emma war keine ausgesprochene Schönheit, doch in ihren Augen lag etwas Betörendes und durch ihre offene Art zog sie jeden in ihren Bann. Nun konzentrierte sie sich ganz auf ihr Spiegelbild.
»Es wird Zeit, und ich bin so bereit, wie ich nur bereit sein kann. Gehst du mit mir hinunter, Cassandra? Wenn ich beim Anblick der Gäste zaudere, musst du mich kneifen und dafür sorgen, dass ich weitergehe.«
»Der Mann, den du liebst, wartet auf dich. Wenn die Türen geöffnet werden, wirst du nur noch Augen für ihn haben.« Sie begleitete Emma hinunter, um der Welt, die auf sie wartete, wenigstens dieses eine Mal noch gemeinsam entgegenzutreten.
Ein Mann musste Lady Cassandra Vernham nur ansehen, und schon begann er, sich skandalöse Dinge vorzustellen. Dass es Gerüchte gab, sie verfüge über zumindest einige Erfahrung in der Liebeskunst, half natürlich nicht, solche Gedanken fernzuhalten, wenn sie sich aufdrängten.
Sie stand in der Nähe der Fenster, auf deren Scheiben der Regen ein Muster aus Rinnsalen zeichnete. Gerade hatte sie eine Unterhaltung beendet und musterte nun die Gäste, um ihre nächsten Schritte während dieser Feier zu planen.
Ihre dunklen Locken, die sie, der neuesten Mode folgend, gewagt offen trug, wirkten in dem trüben Licht nahezu schwarz. Ihre großen blauen Augen deuteten eine Unschuld an, der die Röte ihrer vollen Lippen widersprach. Das cremefarbene duftige Kleid umschmeichelte ihren Körper und betonte ihre üppige Weiblichkeit.
Nicht zum ersten Mal dachte Yates Elliston, Viscount Ambury und Erbe des Earl of Highburton, dass Cassandra Vernham äußerst appetitlich aussah. Die Farben und Geräusche um ihn herum verschwammen, als er sich seinen Fantasien hingab. Er küsste ihre schlanken schneeweißen Beine und schob ihr das Kleid hoch und …
»Verdammt dreist von ihr, herzukommen.«
Der angenehme Tagtraum, in dem er die zarte Haut eines samtweichen Oberschenkels berührte, riss ab. Yates drehte sich um und sah seinen Freund Viscount Kendale, der Cassandra zornig anstarrte.
»Die Braut hat sie eingeladen. Sie sind sehr eng befreundet«, sagte Yates, der die Geräusche im Salon nun wieder wahrnahm. Sie schwollen an wie ein Orchester, das die Instrumente stimmt.
»Sie muss doch wissen, dass Southwaite sie nicht leiden kann.«
»Er hat der Einladung Emma zuliebe zugestimmt«, sagte Yates. »Wenn er nichts gegen ihre Anwesenheit hat, warum dann du?«
»Weil ich nicht vor lauter Liebe blind bin, darum. Ich habe genau gesehen, wie du sie gerade gemustert hast. Bei all den Frauen, die du haben könntest, musst du doch nicht ausgerechnet die da ins Visier nehmen.«
Kendale spielte auf die Tatsache an, dass Cassandra es sechs Jahre zuvor abgelehnt hatte, Baron Lakewood zu heiraten, einen ihrer gemeinsamen Freunde, nachdem dieser sie kompromittiert hatte. Für ihre Launenhaftigkeit hatten beide teuer mit ihrem guten Ruf bezahlt. Schlimmer noch, im letzten Frühling war Lakewood bei einem Duell getötet worden, das er wegen einer Frau ausgefochten hatte. Vermutlich war es um Cassandra gegangen, denn er hatte niemals aufgehört, sie zu lieben.
»Ich habe nur über eine Sache nachgedacht, die ich mit ihr zu Ende bringen muss. Darüber, wie ich es anstellen soll.« Dass er die Erledigung jener Angelegenheit bislang hinausgezögert hatte, war unverzeihlich, auch wenn er zu seiner Entschuldigung familiäre Verpflichtungen anführen konnte.
»Den Teufel hast du getan. Ich kenne diesen Blick. Es sei denn … du denkst doch wohl nicht darüber nach, sie aus Rache zu verführen?«
Zumindest nicht in diesem Augenblick, doch diese würdelose Idee war ihm im Laufe der Jahre mehr als nur einmal durch den Kopf gegangen. Es war der schändliche Versuch wollüstiger Gedanken, eine Entschuldigung dafür zu finden, etwas zu tun, das sich nicht gehörte. Cassandra Vernham hatte nie geheiratet. Ein Gentleman sollte ihr nicht die Unschuld rauben, auch wenn die jüngsten Gerüchte besagten, dass sie diese bereits verloren hatte.
Kendale wirkte unentschlossen, ob er diese Idee gutheißen oder ablehnen sollte. Und das bedeutete, dass er diese schwierige Frage erst noch abwägen musste. Normalerweise beharrte Kendale auf strengen Moralvorstellungen, doch Cassandras ostentative Unabhängigkeit machte es unmöglich, diese Ideale auf sie anzuwenden.
»Ich habe eine andere Art von Geschäft mit ihr zu Ende zu bringen. Eines von weniger vergnüglicher Natur.«
Cassandra gab jetzt ihren Platz bei den Fenstern auf und ging mit der Anmut und Beherrschtheit, die sich für die Tochter eines Earls ziemten, zu einer kleinen Gruppe von Gästen. Innerhalb von zwei Minuten war sie zu deren Mittelpunkt geworden, und die Mienen der Gäste, die bei Cassandras Näherkommen ablehnend und misstrauisch gewesen waren, wirkten nun freundlich und wohlwollend.
»Verdammt unguter Start für Southwaites Ehe. Jetzt ist es fast unmöglich für ihn, den Bruch zwischen seiner Frau und dieser Dame zu erzwingen«, sagte Kendale.
Yates verzichtete darauf, dem Freund das Offensichtliche zu erklären: dass Southwaite viel zu verliebt war, um seiner jungen Ehefrau irgendeinen Wunsch abzuschlagen. Immerhin hatte er Miss Fairbourne geheiratet. Trotz ihrer niederen Herkunft. Die meisten Gäste hießen diese Tatsache ebenso wenig gut, wie sie Cassandra Vernham guthießen.
»Vermutlich werden wir die Pflicht erfüllen müssen, die uns aufgetragen wurde.« Kendale fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. »Verdammt.«
»Sie hält sich wacker, auch ohne unsere Hilfe.«
»Aber wir haben es der Braut versprochen.«
»Dann werden wir dieses Versprechen auch halten. Du hast Glück, dass du nur bis zum Frühstück auf deinem Posten sein musst. Danach übernehme ich. Ich denke, in einer Viertelstunde sollten wir anfangen.«
»Und worüber soll ich mit ihr reden? Soll ich sie nach dem letzten Klatsch und Tratsch ausfragen, der über sie verbreitet wurde?«
»Darüber weißt du Bescheid? Ich hatte ja keine Ahnung, dass du die Berichte in den Skandalblättern verfolgst, Kendale.«
»Ich habe nichts gelesen und nichts gehört. Und trotzdem weiß ich, was die Klatschmäuler reden. Genau wie du.«
Tatsächlich wusste das auch Yates. »Die Gerüchte sind ziemlich vage, und keiner der Männer wird mit Namen genannt«, überlegte er laut, während er ein weiteres Mal über seine Pflichten als Gentleman nachdachte.
Er hätte nichts dagegen gehabt zu erfahren, was an diesen Gerüchten stimmte. Immerhin war Cassandra Vernhams Fall so tief gewesen, dass sie zum Freiwild für seine Fantasien geworden war. Und dass sie als Freundin der neuen Lady Southwaite nicht mehr tragbar war. Vermutlich würde Southwaite sich dieses Problems in den kommenden Wochen annehmen.
Cassandra lächelte und ihre Augen funkelten, als sie sich von der Gruppe löste, weiterging und alle Gäste grüßte, denen sie begegnete.
Kendale zwang sich, eine freundlichere Miene aufzusetzen. »Auf geht’s. Eine Viertelstunde, wie gesagt. Aber keine Sekunde länger; dann bist du an der Reihe.«
Cassandra sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Bediensteten die Gesellschaft zu Tisch rufen würden. Jetzt.
Noch zehn Minuten zuvor war sie mit den vierzig Gästen in diesem Salon sehr gut zurechtgekommen. Doch plötzlich hatte sich die Lage geändert. Es war entsetzlich. Aus Gründen, die sie nicht verstand, hatte Viscount Kendale, einer von Southwaites besten Freunden, sie nicht nur angesprochen, sondern offensichtlich beschlossen, nicht mehr von ihrer Seite zu weichen.
Sie ging hierhin und dorthin, und er folgte ihr wie ein Schatten. Sie versuchte, andere Gäste in ein Gespräch zu verwickeln, doch er stand immer hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Wer so höflich war, ihm eine Frage zu stellen, erhielt eine denkbar knappe Antwort. Dass artige Konversation nicht zu Lord Kendales Fähigkeiten gehörte, wäre eine freundliche Beschreibung seines Mangels an gesellschaftlichem Anstand gewesen.
Er hatte in der Armee gedient, also hätte man mehr von ihm erwarten können. Die meisten Offiziere verfügten über geschliffene Manieren. Vermutlich waren es jene, die nicht vermeiden konnten, gesellschaftlichen Umgang zu pflegen. Dass Kendale unerwartet den Titel geerbt hatte, bedeutete, dass er sich nicht länger im Hintergrund halten konnte. Wie es schien, hatte jemand ihm den Rat gegeben, sich bei gesellschaftlichen Anlässen an die Fersen einer Frau zu heften, die mit seinem ungalanten Auftreten umzugehen verstand.
Heute schien er dafür Cassandra auserwählt zu haben.
Um die anderen Gäste vor ihm zu bewahren, verzichtete sie darauf, sich mit ihnen zu unterhalten. Jetzt standen sie und Kendale in der Nähe eines der Fenster, und das Schweigen zwischen ihnen hatte bereits begonnen, sich unbehaglich in die Länge zu ziehen.
»Unangenehmes Wetter.« Zum dritten Mal schon kommentierte er die Tatsache, dass es regnete. Sein attraktives Gesicht wirkte stoisch, als er die anderen Gäste beobachtete.
»Wie gut, dass dieses Haus so weitläufig und behaglich ist, sodass schlechtes Wetter die Feierlichkeiten nicht stören wird.« Wenn er auf diesem Thema bestand, würde sie eben das Beste daraus machen. »Auch sollte der Sturm alle Boote mit Spionen an Bord von dem Versuch abhalten, sich unbemerkt der Küste zu nähern, sodass Sie ganz sicher nicht mit Southwaite losreiten müssen, um das Königreich ausgerechnet an seinem eigenen Hochzeitstag zu verteidigen.«
Kendales Miene verhärtete sich. Sein Blick wirkte undurchdringlich. »Unsere Bemühungen, die Küste vor ungebetenen Gästen zu schützen, mögen klein und unbedeutend sein, doch ich glaube nicht, dass sie Ihren Spott verdienen.«
»Ich verspotte Sie nicht, Lord Kendale. Tatsächlich bin ich eine der wenigen, die genug über Ihre Aktivitäten wissen, um sie angemessen zu würdigen. Von Ihrer Tapferkeit während des Abenteuers, das sich früher in diesem Sommer abgespielt hat, ist mir ausführlich berichtet worden. Außerdem würde ich niemals einen Mann beleidigen, der bei meiner Freundin Emma ein solch hohes Ansehen genießt.«
Er ließ den Blick zu Braut und Bräutigam wandern. »Ich hätte es vorgezogen, wenn Miss Fairbourne darüber geschwiegen hätte. Das hätte kein Gesprächsstoff werden dürfen für solche …« Er unterbrach sich und trank noch etwas Punsch.
Für solche wie Sie. Das war es, was er hatte sagen wollen, bevor sein gesunder Menschenverstand ihm Einhalt geboten hatte. Oder das Aufflackern eines letzten Restes von Manieren.
Wirklich, dieser Mann war unerträglich. Hier war sie und tat Gutes, indem sie ihn duldete, und er besaß die Unverfrorenheit, sie offen zu beleidigen.
»Befürchten Sie, dass ich meinen Liebhabern etwas über Sie ins Ohr flüstern könnte, Lord Kendale? Dass ich Ihren Namen an einen französischen Spion verkaufe?«
»Heutzutage kann man nicht mehr sagen, wer ein französischer Freund und wer ein französischer Spion ist. Bedenken Sie das, falls Sie zur Tat schreiten sollten.«
»Dann kann ich Sie beruhigen, Sir. Was Emma mir im Vertrauen erzählt, darüber rede ich nicht, mit niemandem. Sogar verrufene Frauen kennen so etwas wie Loyalität. Ihre eigenen Erfahrungen mit dem schönen Geschlecht haben Sie das doch sicherlich gelehrt, nicht wahr?«
»Mir sind Erfahrungen mit Frauen erspart geblieben, die um jeden Preis in Verruf geraten wollen. In Anbetracht der Folgen, die ich bei anderen Männern beobachten konnte, bedauere ich keinesfalls, dass mir dadurch etwas entgangen sein könnte.«
»Wie glücklich Sie sich schätzen können. Daraus schließe ich, dass Sie bei Ihren weiblichen Bekanntschaften sehr wählerisch sind und fühle mich durch die Aufmerksamkeit, die Sie mir heute zuteil werden lassen, sehr geschmeichelt. Allerdings kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob Sie überhaupt Erfahrungen mit Frauen haben. Das heißt, außer mit weiblichen Familienangehörigen und Gouvernanten.«
Kendales Augen wurden schmal. Er öffnete den Mund, um zu antworten, als ihm jemand kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter legte und ihn davon abhielt.
»Verzeiht, wenn ich euch unterbreche, aber mir schien, ihr zwei würdet euch gleich in die Haare geraten.« Viscount Ambury lächelte erst seinen Freund an, dann Cassandra. »Sollte es zu Handgreiflichkeiten kommen, ziehen wir uns doch besser in die Abgeschiedenheit der Terrasse zurück. Ich mache den Ringrichter. Und zum Teufel mit dem Regen.«
Kendales Gesicht lief rot an. Seine Verlegenheit machte ihn noch zorniger. Cassandra schaute zu Emma und fragte sich, ob ihre Freundin den kleinen Streit ebenfalls bemerkt hatte. Auf keinen Fall durfte ihre Hochzeit darunter leiden.
Um die unbehagliche Situation aufzulockern, versuchte sie es mit Humor. »Ich würde es nicht wagen, den Regen zum Teufel zu schicken, Lord Ambury. Denn mein Kleid würde nicht einmal einen Nieselregen überleben, geschweige denn den Wolkenbruch dort draußen.«
Aus bemerkenswert blauen Augen musterte Ambury sie von Kopf bis Fuß, bis sein Blick schließlich darauf verweilte, wie die hauchdünne cremefarbene Seide des Kleides ihren Körper unterhalb der hoch angesetzten Taille umspielte.
»Wohl wahr. Ich wage zu behaupten, dass dieses Kleid in feuchtem Zustand an Ihnen kleben würde wie die Gewänder einer griechischen Statue. Verlockend zwar, aber einer Hochzeitsgesellschaft vielleicht nicht ganz angemessen.« Er wandte sich seinem Freund zu, der sich in mürrisches Schweigen gehüllt hatte. »Kendale, dort drüben steht Lady Lydia. Sie sieht aus, als könnte sie etwas zu trinken gebrauchen. Vielleicht solltest du ihr etwas bringen.«
Lord Kendale entfernte sich. Cassandra wünschte, er hätte das nicht getan, denn Ambury gehörte zu den Leuten, die sie zu meiden versuchte. Nun stand er direkt vor ihr, mit einem so herablassenden Lächeln im Gesicht, dass sie sich fragte, wie schlimm es noch werden würde.
Sie kannte Kendale nicht gut, doch sie kannte Ambury. Viele Jahre lang, bis zu diesem Sommer, hatten sie sich bei einer Begegnung stets auf eine knappe Begrüßung beschränkt. In den vergangenen Monaten hatte sich jedoch eine Situation ergeben, die mehr Worte erforderlich machte.
Als sie im vergangenen Frühjahr ihren Schmuck im Auktionshaus Fairbourne’s verkauft hatte, war Ambury derjenige gewesen, der die kostbarsten Stücke ersteigert hatte: ein Paar Ohrringe mit Saphiren und Diamanten. Seitdem schob er die Zahlung dafür auf.
Ihre Kommunikation in dieser Angelegenheit hatte sich bislang auf die Schriftform beschränkt, und zwar auf eine sehr steife und höfliche. Doch vor zwei Tagen hatte Cassandra, in einem Anfall von Panik nach einem Besuch bei ihrem Bruder und nach ihrem Entschluss, Tante Sophie bei ihrer Flucht zu helfen, einen unbeherrschten Brief zu Papier gebracht, der von Forderungen und Anschuldigungen nur so strotzte.
Mit etwas Glück hatte Ambury ihn noch nicht gelesen. Allerdings würde seine Reaktion weder an der Wahrheit des grundlegenden Sachverhaltes etwas ändern noch an dem wahren Grund für sein Schweigen, als sie einander jetzt gegenüberstanden. Ambury hasste sie wegen der Rolle, die sie im Leben eines seiner Freunde gespielt hatte.
Sein Blick und seine Körperhaltung verrieten erwartungsgemäß seine Verachtung für sie. Doch darüber hinaus zeigten sie ein nicht zu leugnendes männliches Interesse, das sie überraschte. Sein Auftreten wirkte wie eine Provokation, und sein Blick schien sie aufzufordern … was zu tun? Mit dem Feuer zu spielen, das zwischen ihnen schwelte, obwohl sie beide wussten, dass sie das besser sein ließen? Eine Spur heißer, ein bisschen gefährlicher nur, und seine Aufmerksamkeit hätte angedeutet, dass er sie für ein Lächeln haben konnte und sie für seine Absichten zugänglich war.
»Danke, dass Sie mir geholfen haben, ihm zu entkommen«, sagte sie. »Ich möchte gern mit Lady Hollenfield sprechen, aber ich habe es nicht gewagt, mit Lord Kendale auf meinen Fersen zu ihr zu gehen.« Sie schlängelte sich an Ambury vorbei, damit er wusste, dass seine Begleitung nicht weiter erforderlich war.
»Sehen Sie es Kendale nach. Wir arbeiten hart daran, seine Manieren zu verbessern. Ich bin zuversichtlich, dass er in ein oder zwei Jahren auf jeder Hochzeit, an der er teilnimmt, höchstens noch drei Zerwürfnisse heraufbeschwören wird.«
Sie lachte leichthin über seinen Scherz. Zu ihrem Entsetzen verstand er dies als Einladung, sie zu begleiten. Fragend blickte sie ihn von der Seite an. »Sind Sie gestern aus London hergekommen, Ambury?«
»Nein, ich bin aus Essex hergeritten.«
»Dann sind Sie also eine Weile nicht in der Stadt gewesen?«
»Familienangelegenheiten hindern mich die meiste Zeit daran, mich dort aufzuhalten, wie ich in meinen Briefen bereits dargelegt habe.«
Wenn er nicht in London gewesen war, hatte er den bewussten Brief wahrscheinlich noch nicht gelesen. Darin beschuldigte sie ihn, seine Familie als Vorwand zu benutzen, um nicht für ihren Schmuck bezahlen zu müssen.
»Reiten Sie nach dem Frühstück in die Stadt?«
»Ich habe noch auf dem Landsitz meiner Familie zu tun. Voraussichtlich kehre ich am Montag nach London zurück.«
Und würde dann den Brief lesen, der ihn dort erwartete und dessen Ton – taktvoll umschrieben – sehr unverblümt war.
Die Musiker beendeten ein Stück. Das Verstummen der Musik hinterließ ein plötzliches Gefühl der Leere.
»Werden Sie heute spielen?«, fragte sie auf der Suche nach einem unverfänglicheren Thema. Ambury war als hervorragender Violinist bekannt. Es war ein ungewöhnliches Talent für einen Lebemann, der in dem Ruf stand, keiner sinnvollen Beschäftigung nachzugehen.
»Ich spiele nur selten in der Öffentlichkeit.«
»Nicht einmal für Ihren guten Freund und seine Braut?«
»Ich habe bereits für sie gespielt. Privat.«
»Das muss sehr romantisch gewesen sein.«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
»Kommen Sie, wollen Sie mir weismachen, Sie hätten Ihre Musik nie dazu benutzt, eine Frau für sich einzunehmen? Sie sind nicht dafür bekannt, in Liebesdingen auf Ihren Vorteil zu verzichten.«
»Wollen wir uns so die Zeit vertreiben? Indem wir unsere Reputation vergleichen? Oder werde ich als Gentleman dazu angehalten sein, nichts zu diesem Thema beizutragen?«
Wie empfindlich er reagierte! Da eine höfliche Unterhaltung mit ihm nicht möglich zu sein schien, begann sie, langsam auf Lady Hollenfield zuzugehen.
Ambury wich nicht von ihrer Seite.
»Ich weiß nicht, warum Kendale mich überhaupt angesprochen hat«, sagte Cassandra, als ihr klar wurde, dass er sie nicht in Ruhe lassen würde. »Er interessiert sich so wenig für mich wie die anderen Leute aus Ihren Kreisen. Es ist verdächtig, dass Sie sich jetzt an seiner Stelle um mich bemühen. Bei all den Frauen hier können Sie sich in der verbleibenden Zeit sicherlich in reizvollerer Gesellschaft amüsieren als in der meinen.«
»Das bezweifle ich. Das äußerst reizvolle Bild Ihres regennassen Kleides hat sich in meinem Kopf festgesetzt und verschafft Ihnen den anderen Damen gegenüber einen Vorteil.«
»Wenn Sie Ihr Augenmerk auf die Vorgeschichte der Frau richten, die es trägt, sollte dieses Bild recht schnell vor Ihrem geistigen Auge verschwinden.«
Er runzelte die Stirn, als versuchte er angestrengt, ihren Rat zu befolgen. Lange blickte er sie prüfend an. Die Prüfung war so gründlich, dass sie sich nackt fühlte, als er ihr schließlich in die Augen blickte. Ein teuflisches Grinsen blitzte in seinem Gesicht auf. »Leider hat Ihr Ratschlag die Sache nur schlimmer gemacht. Nun steckt ein hübscher Körper in dem Kleid, und ich will verdammt sein, wenn mich noch irgendetwas anderes interessiert.«
»Ich bin kein Schulmädchen, das Sie mit Ihrem Charme betören können, Ambury. Ihr dreistes Flirten lässt Ihre Aufmerksamkeit nicht weniger sonderbar wirken.«
Er lachte leichthin, doch sein Blick sagte etwas anderes. Ambury konnte das liebenswürdigste Lächeln aufsetzen, während er einen mit seinen Scherzen zerstückelte wie mit einem Dolch. Sie befürchtete, dass er in diesem Augenblick die Klinge schliff.
»Sie sind einfach zu schlau für uns. Die Wahrheit ist, dass Lady Southwaite Kendale und mich gebeten hat, dafür zu sorgen, dass Sie nicht auf Abwege geraten, zumal die Verwandten ihres frischgebackenen Ehemannes den Großteil der Gesellschaft ausmachen. Sagen Sie ihr nicht, dass ich es Ihnen verraten habe. Sie meint es nur gut.«
Es sah Emma ähnlich, so etwas einzufädeln. Leider wusste Emma nicht, dass Kendale und Ambury die letzten Menschen in diesem Salon waren, die sie mit dieser Aufgabe betrauen sollte.
Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, der zweifellos gezwungen worden war, eine ungeliebte Pflicht zu erfüllen. Attraktiver, als es für ihn gut war, und so charmant, dass die wenigsten Frauen vor ihm sicher waren, verdrehte Ambury fast jeder den Kopf, sobald er einen Raum betrat. Und wie es ungerechterweise bei solchen Männern häufig der Fall war, machte ihn sein reiferes Alter nur noch anziehender.
Er musste bereits über dreißig sein, doch sein dunkles Haar hatte sich noch nicht im Geringsten gelichtet. Die Fältchen, die sich in seine Mundwinkel einzugraben begannen, betonten nur, wie männlich und wohlgeformt dieser Mund war. Seine schlanke Figur wurde von der gegenwärtigen Mode noch betont, die er mit einer Nonchalance trug, die gleichzeitig anspruchsvolle Gepflegtheit und selbstbewusste Lässigkeit vermittelte.
Aus dunkelblauen Augen sah er Cassandra ebenso unverhohlen an wie sie ihn. Man sagte, dass sein Humor sich in seinen Augen widerspiegelte, doch in diesem Moment beruhte seine Heiterkeit wohl eher auf Dingen, die nicht unbedingt schmeichelhaft für sie waren.
»Emma weiß nicht, warum Ihnen beiden solch eine Verpflichtung nicht willkommen sein kann«, sagte sie. »Sie hätten es ihr erklären und sich von dieser lästigen Aufgabe befreien können.«
»Es liegt mir fern, Emma darüber aufzuklären, wie tief Sie gefallen sind, wenn Sie für sich beschlossen haben, es ihr nicht zu sagen. Allerdings scheint mir das in einer so engen Freundschaft eine merkwürdige Unterlassung zu sein.«
»Für alte Geschichten und banales Gerede interessiert Emma sich nicht. Sie ist eine außergewöhnliche Frau, die die Menschen so akzeptiert, wie sie sind, und die sich ihr eigenes Urteil bildet, ohne sich von anderen beeinflussen zu lassen. Es war großzügig von Ihnen, ihren Wunsch zu erfüllen. Ich allerdings benötige Ihre Hilfe nicht.«
»Wir haben unser Wort gegeben. Einer von uns wird immer in Ihrer Nähe sein.«
Wenn sie Lord Kendales Gesellschaft noch einmal aushalten musste, würde es vielleicht tatsächlich zum Streit kommen. Und da Ambury ihren Brief offenbar noch nicht gelesen hatte … »Wie lange müssen wir einander ertragen?«
»Sie hat uns gebeten, Ihnen während des Frühstücks zu Diensten zu sein.«
»So lange.«
»Ich fürchte, ja.«
Offenbar würde sie ihn für mehrere Stunden nicht mehr loswerden. Wie überaus ärgerlich.
»Es macht dir hoffentlich nichts aus, durch diese Tür hinauszugehen«, sagte Lydia, als sie Cassandra durch einen Korridor zur Nordseite des Herrenhauses führte. »Ich würde den Fragen und Blicken meiner Tanten lieber aus dem Weg gehen.«
Vermutlich drehten diese Fragen sich darum, ob es ratsam war, in Cassandras Begleitung einen Ausritt zu unternehmen. Obwohl Lydia alt genug war, um als alte Jungfer zu gelten, stand sie unter der Aufsicht etlicher Erwachsener. Cassandra wusste, dass ihre eigene Familie das brennende Verlangen hatte, sie genauso zu behandeln. Die Freiheit, die sie genoss, beruhte nur darauf, dass Tante Sophie ihr ein Zuhause gegeben hatte.
»Ich bin nur froh, dass es aufgehört hat zu regnen«, sagte sie. »Ein schöner Ritt und dann ein Bad im Meer – das wird wundervoll.«
Cassandra raffte ihren Rock, um nicht auf den Saum des rosafarbenen Reitkleides zu treten, das sie sich von ihrer Freundin geliehen hatte. Dass Lydia von größerer Statur war als sie, erklärte nur zum Teil die Länge des Rockes. Er war absichtlich überlang geschnitten, um auch im Sattel das sittsame Aussehen der Reiterin zu gewährleisten. Mit Unbehagen konstatierte Cassandra, dass ihr das Kleid auch in anderer Hinsicht nicht passte: Es spannte über ihren Brüsten.
»Ich habe den Bediensteten aufgetragen, dir eine trittsichere Stute zu bringen, also sollte der nasse Boden uns keine Probleme bereiten«, sagte Lydia, während sie den Riegel der schweren Tür öffnete.
Für Lydia war eine derartige Vorsorge unnötig. Sie war eine erfahrene Reiterin, was zum Teil daran lag, dass ihrem Bruder eines der besten Gestüte Englands gehörte.
Draußen warteten zwei Stallburschen mit den Pferden auf sie. Als sie ihnen beim Aufsitzen halfen, bemerkte Cassandra zwei weitere Gründe, warum Lydia nicht wollte, dass ihre Tanten diesen Aufbruch beobachteten. Unter dem Rock trug Lydia Pantalons, und sie benutzte einen Sattel, mit dem sie nur im Herrensitz reiten konnte. Cassandras Damensattel erlaubte es zwar, schicklicher zu sitzen, doch Cassandra bezweifelte, dass ein schnelles Reiten damit möglich war. Und das würde Lydia kaum gefallen.
Sie mieden den Hauptweg, der das Haus mit der Straße verband, und ritten querfeldein. Die Sonne schien hell, und vom Boden stieg die Feuchtigkeit als feiner Nebel auf.
»Ich war entzückt, dass du diesen Ausritt vorgeschlagen hast, Lydia. Aber hoffentlich bereust du es nicht, wenn dein Bruder von unserem Ausflug erfährt.«
Lydia lächelte. Im Gegensatz zu dem Lächeln, das sie bei offiziellen Anlässen aufsetzte und das so falsch wirkte, wie es war, ließ dieses Lächeln ihr ganzes Gesicht aufstrahlen. Ihre dunklen Augen, das fast schwarze Haar und ihre feinen, klaren Gesichtszüge verliehen ihr ein liebliches, ausdrucksvolles Aussehen.
»Mein Bruder wird heute Nachmittag sehr beschäftigt sein und dabei wohl kaum an mich denken. Er hat nicht lange damit gezögert, sich sein Vergnügen zu suchen. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte, es gleich noch einmal zu tun.«
Cassandra lachte. »Ich wusste nicht, dass du es mitbekommen hast.«
»Eigentlich sollte ich es nicht wissen, aber ich bin schließlich nicht dumm.«
Lydia lenkte ihr Pferd auf der Küstenstraße nach Norden, sobald sie diese erreicht hatten. Hier schien der Boden noch schlammiger zu sein, und er füllte die Wagenspuren aus, die sich in den schweren Boden gegraben hatten. Cassandra hoffte, dass die Straße morgen in einem besseren Zustand sein würde. Andernfalls würde die Rückreise nach London mehrere Tage dauern.
»Letzte Woche habe ich in einem Skandalblatt etwas über dich gelesen«, sagte Lydia.
»Das ist kaum etwas Neues.« Seit Jahren schon wiesen die Klatschkolumnen immer wieder darauf hin, dass sie sich in jeder Hinsicht schlecht benahm. Es wurden Anspielungen gemacht, und meistens waren sie frei erfunden, doch es gab immer Leute, die alles glaubten – vor allem ihre eigene Familie.
»Sie berichten, dass du schon seit Monaten nicht mehr beim Glücksspiel zu beobachten bist. Dafür, ein Laster aufzugeben, warst du bisher nicht bekannt. Ich hoffe, du hast nicht vor, dich zu bessern. Denn wenn das passiert, muss ich weinen.«
»Wenigstens in dieser Hinsicht muss ich mich bessern, fürchte ich. Die Verluste im Frühjahr haben mich gelehrt, am Spieltisch weder meinem Glück noch der Ehre derjenigen zu trauen, gegen die ich spiele.«
Damit hatte sie Lydias Neugier geweckt, die nun langsamer ritt. »Ich habe gehört, du musstest deinen Schmuck verkaufen, um diese Verluste auszugleichen. Soll das heißen, dass du glaubst, deine Gegenspieler hätten dich betrogen?«
»Ich bin mir beinahe sicher. Allerdings wage ich nicht, das öffentlich zu behaupten. Ich werde es ohnehin auch nie beweisen können.«
»Gibt es keine Möglichkeit, es zu beweisen?«
»Nur wenn jemand auf frischer Tat dabei ertappt wird.«
»Ja, vermutlich wird es anders nicht gehen.«
»Leider würde mir das mein Geld nicht zurückbringen.« Dieser große Verlust hatte alle möglichen Schwierigkeiten nach sich gezogen. Sie war gezwungen gewesen, Schmuck zu verkaufen, um Ladenbesitzer zu bezahlen, die sie ständig mahnten. Nun wünschte sie, sie hätte deren Drohungen noch einige Monate länger keine Beachtung geschenkt und den Erlös aus der Auktion einfach behalten.
»Erzähl mir genau, was passiert ist. Ich werde einen Weg finden, um Vergeltung zu üben. Dann habe ich etwas zu tun und muss mich nicht den Rest des Sommers furchtbar langweilen. Jetzt, da mein Bruder nach Crownhill gekommen ist, werde ich wie eine Gefangene leben.«
»Du klagst zu viel, Lydia. Verglichen mit meinem Bruder ist deiner ein Heiliger. Wenigstens will er nur dein Bestes. Ich habe zunehmend die Befürchtung, dass das für Gerald nicht gilt, obwohl ich nicht weiß, warum.«
»War er grausam zu dir? Was will er dir denn noch antun? Er gibt dir keinen Penny, und er hat dir fast dein ganzes Erbe verweigert.«
»Er sucht nach Wegen, wie er mich zwingen kann, ihm zu gehorchen.« Und er hatte einen Weg gefunden. Sie sehnte sich danach, sich jemandem anzuvertrauen, doch wenn sie dabei allzu wahllos vorging, konnte das zu Gerüchten führen, die Gerald bei der Verwirklichung seiner Pläne helfen würden. Dieser Ausflug war zwar eine Art Wiedervereinigung mit Lydia, doch genau genommen waren sie schon seit langer Zeit keine engen Freundinnen mehr.
»Dieser Schuft. Er glaubt doch nicht allen Ernstes, dass er dich nach so langer Zeit zum Heiraten zwingen kann.«
»Ich fürchte, genau das glaubt er.«
»Dann ist er ein Dummkopf und weiß nicht, was er an dir hat. Wenn du nicht zugelassen hast, dass Lakewood sich wie ein Gentleman benimmt und dich heiratet, und wenn du seit sechs Jahren mit den Folgen lebst, werden dich auch Geralds Drohungen kaum beeindrucken.«
Lydias Meinung schmeichelte ihr mehr, als sie verdient hatte. Außerdem hatte Cassandra versäumt, die Gefahren der gegenwärtigen Entwicklung zu erwähnen. Gerald hatte bemerkt, dass seine Drohungen gegen sie fruchtlos blieben. Doch wenn er sie gegen Tante Sophie richtete, vermochten sie reiche Ernte einzubringen.
Übelkeit stieg in ihr auf, als sie sich daran erinnerte, wie Gerald ihr grinsend dargelegt hatte, dass Tante Sophies geistige Fähigkeiten nachließen und dass sie Pflege und Beaufsichtigung benötigte. Er hatte sich gebrüstet ob des Scharfsinns, mit dem er eine neue Front für ihren Krieg eröffnet hatte. Hoffentlich nahm er ihr das Desinteresse ab, das sie vorgeschützt hatte. Seine Drohungen hatte sie nicht nur als unehrenhaft, sondern als schlichtweg unmöglich abgetan.
Tatsächlich wäre sie innerlich beinahe gestorben, und sie hatte gezittert, als ihr klar wurde, wie verwundbar Tante Sophie war. Ständig und überall wurden Verwandte aus dem Weg geräumt. Offiziell konnte ihr Bruder nicht über Tante Sophie bestimmen, doch als engster männlicher Verwandter, noch dazu als Earl, würde er vermutlich Erfolg haben, wenn er es versuchte.
Er verließ sich darauf, dass Cassandra seine Autorität akzeptierte, um ihre Tante zu schonen. Er wollte, dass sie heiratete, zum Schweigen gebracht wurde und für immer aus London und der feinen Gesellschaft verschwand, damit ihm die Peinlichkeit ihrer Person erspart blieb.
Wie würde ihr Leben aussehen, wenn sie seinen Forderungen nachgab? Sie würde für immer an einen netten, langweiligen Ehemann gebunden sein, der die Wachteljagd liebte und die Saison hasste. Sie würde auf einem Landgut lebendig begraben sein. Selbst Lakewood wäre dem vorzuziehen gewesen, obwohl sie ihn nie gemocht und ihm nicht vertraut hatte.
»Tante Hortense hatte erwogen, uns zu begleiten«, sagte Lydia. »Gott sei Dank ist sie zu der Überzeugung gekommen, dass es heute Nachmittag zu warm ist, um hinauszugehen. Sie hätte uns nur den Spaß verdorben.«
»Hast du ihr gesagt, dass wir ausreiten und im Meer baden wollen?«
»Ja, das war mein Fehler. Diese Idee hat sie gereizt. Wäre sie mitgekommen, hätte sie darauf bestanden, dass am Strand ein Pavillon aufgestellt wird und dass eine Armee von Bediensteten sich um sie kümmert. Wir hätten Stunden mit den Vorbereitungen verschwendet.«
Cassandra entnahm der Antwort, dass sich um sie beide keine Bediensteten kümmern würden und dass es auch keinen Pavillon gab. »Du hast gesagt, es ist ein abgeschiedener Ort.«
»Bist du um deine Sittsamkeit besorgt? Keine Angst. Außer mir kennt niemand auch nur den Weg hinunter ans Wasser, und die Bucht ist so gelegen, dass der Strand nicht einmal von den Fischerbooten aus einzusehen ist. Ich zeige es dir. Folge mir.«
Lydia lenkte ihr Pferd auf die Küste und einen wenig verheißungsvollen Streifen rauen, hügeligen Landes zu. Cassandra folgte ihr, begierig, endlich im Meer baden zu können. Der Sturm hatte die Luft nicht so sehr erfrischt, wie Stürme dies eigentlich im Sommer vermochten. Nun ließ die Sonnenwärme Dunst vom Boden aufsteigen, was die Luft nur noch drückender machte.
»Wir müssen diese Anhöhe hinaufreiten und auf der anderen Seite wieder hinunter«, erklärte Lydia. »Mach dir keine Sorgen, ob das Pferd genug Halt findet. Es wird nicht stürzen.«
»Ist es auf der anderen Seite genauso steil wie hier?«
»Noch steiler. Sobald wir im Wasser sind, wirst du mir zustimmen, dass die Mühe sich gelohnt hat, das verspreche ich dir.«
Lydia ritt einen Pfad hinauf, den nur sie sehen konnte. Cassandra folgte ihr voller Bedenken. Sie war keine schlechte Reiterin, wenn es um Ausritte in den Parkanlagen Londons ging. Doch nun malte sie sich aus, wie sie zwischen die Felsen und Büsche stürzte, an denen sie vorbeiritten.
Ihre stillen Gebete und das Pferd beanspruchten Cassandras Aufmerksamkeit, bis der Pfad eben wurde und sie neben Lydia halten konnte. Zu ihrer Bestürzung schien die kleine Hochebene, auf der sie standen, vor ihnen schroff zu einer Klippe abzufallen.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, als sie über den steilen Abhang in die Tiefe spähte. »Lass uns hier einen Augenblick anhalten, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Ich glaube, wir haben gar keine andere Wahl«, erwiderte Lydia.
Cassandra blickte sie an. Lydia spähte nach unten, mit gesenkten Lidern und einem Gesichtsausdruck, der große Neugier verriet. Cassandra folgte ihrem Blick.
Nicht nur sie beide hatten beschlossen, im Meer zu baden. Unten am Strand waren Ambury und Kendale gerade dabei, ihre Kleider abzulegen. Die Pferde hatten sie am Mast eines gestrandeten Schiffswracks festgebunden, das in der Nähe der Felswand lag.
»Hast du nicht gesagt, dass nur du die Stelle kennst, Lydia?«
»Vermutlich kennt auch mein Bruder sie. Er muss die beiden früher einmal hierher mitgenommen haben.«
Ambury hatte inzwischen seine Weste abgelegt und knöpfte nun die Hemdärmel auf. Wie er dort stand, mit dem Wind im Haar und nur mit Hemd, Hose und Stiefeln bekleidet, sah er wie ein Freibeuter aus. Und in wenigen Augenblicken würde er wie ein nackter Meeresgott aussehen.
Undeutlich nahm Cassandra Kendale wahr, der ein Stück entfernt stand. Sein Hemd hatte er bereits ausgezogen, sodass sein starker, muskulöser Rücken zu sehen war, der einige große Narben aufwies. Auch Ambury hatte sein Hemd abgelegt. Seine Schultermuskeln spannten sich an, als er sich setzte und den Oberkörper vorbeugte, um die Stiefel auszuziehen. Er sagte etwas zu Kendale, und die beiden Männer lachten. Es klang anders als jedes Lachen, das Cassandra jemals gehört hatte. Es war ein männliches Lachen, eines, das nur Männer miteinander teilten.
Es faszinierte sie, heimlich diese Kameradschaft zu beobachten. Und ebenso faszinierte sie der Anblick Amburys, als er sich wieder aufrichtete. Er öffnete den Bund seiner Pantalons und ließ sie über die Hüften hinabgleiten, zusammen mit den Unterhosen. Dann beugte er sich vor, um sich der Kleidungsstücke zu entledigen.
Ein scharfer Atemzug drang an ihr Ohr. Sie drehte sich um und sah Lydia, die die Augen weit aufgerissen hatte.
»Mach die Augen zu, Lydia! Du sollst nicht …«
»Ach, hör auf«, sagte Lydia. »Du klingst wie meine Tanten, oder schlimmer noch, wie mein Bruder. Du siehst auch hin, obwohl du nicht verheiratet bist. Warum darf ich es dann nicht?«
»Ich sollte auch nicht hinsehen.«
»Aber du guckst so genau hin, als wolltest du sie zeichnen.«
»Mein Ruf ist schon ruiniert. Deiner nicht. Außerdem, wenn bekannt wird, dass du hier warst, wird man am Ende mich dafür tadeln.« Cassandra stellte sich vor, welch vernichtende Anschuldigungen Southwaite vorbringen würde, und streckte die Hand aus, um Lydia die Augen zuzuhalten. Lydia lachte und wich ihr auf dem Pferd aus, sodass Cassandra sie nicht zu fassen bekam.
»Lydia! Also wirklich!«
»Ach was, dummes Zeug. Ich finde, ich bin zu alt, um so unwissend zu sein, und wenn man den Gerüchten glaubt, hast du schon vor Jahren deine Unschuld verloren. Wenn man uns ertappt, werden wir eben zusammen verurteilt.«
»Wenn einer von ihnen sich umdreht, musst du wegsehen. Hast du mich gehört? Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du dieses Stück Unschuld aufgibst.«
»Wie delikat. Ich glaube, die Cassandra aus den Skandalblättern gefällt mir besser als die echte.«
»Lydia.«
»Ich verspreche es. Nebenbei gesagt, ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass der Hintern eines Mannes so aussehen kann. Als wäre er aus einem Felsen gehauen. Die Form wirkt so weich wie bei uns, aber manches spricht dafür, dass er hart genug ist, um einen Pfeil abprallen zu lassen.«
Cassandra betrachtete abschätzend die in Frage stehenden Hinterteile. Vor allem das von Ambury fesselte ihre Aufmerksamkeit. Es war in der Tat wohlgeformt und wunderbar gerundet. »Ich habe gehört, nicht alle Männer verfügen über ein Gesäß von solch erhabener Schönheit, Lydia. Sanfte Männer werden auch dort weicher sein, nehme ich an.«
»Ach, das hast du also gehört, ja?«
»Ja. Gerüchteweise.«
»Nun, dann glaube ich, dass mir ein sanfter Mann nicht so gut gefallen würde. Ich finde diese Vertiefung dort an den Seiten ganz hinreißend.«
Ein nicht im Geringsten sanft wirkender Mann stand nun in all seiner nackten Herrlichkeit am Strand und blickte auf die See hinaus. Das Sonnenlicht funkelte auf dem Wasser, auf seinem Haar und seinem Körper. Kleine weiße Brandungswellen kräuselten sich zu seinen Füßen. Breitbeinig und mit angespannten Gliedern stand Ambury da, hob die Arme und streckte die Hände über den Kopf. Er dehnte sich, als wäre er gerade aus nächtlichem Schlaf erwacht, und das Spiel der angespannten Muskeln unter seiner Haut war deutlich zu sehen. Selbst sein anbetungswürdig hartes Hinterteil spannte er noch stärker an.
»Erbarmen, aber die Sonne brennt heute wirklich heiß«, murmelte Cassandra.
»Dasselbe habe ich auch gerade gedacht«, sagte Lydia.
Kendale war schon im Wasser, und nur seine Schultern und Arme waren noch zu sehen, als er gegen die Wellen anschwamm. Ambury watete hinein. Zentimeter für Zentimeter bedeckte ihn das Wasser mehr. Zuerst seine Füße und Waden. Dann die Oberschenkel. Schließlich stand er bis zur Taille im Wasser. Noch immer ging er tiefer hinein und ließ die Hände neben sich durch das Wasser gleiten.
Er blieb stehen. Kendale rief ihm etwas zu und schwamm weiter hinaus. Ambury stand einfach da, die Sonne ließ seinen Rücken wie gemeißelt aussehen, und mit den Händen drückte er das Wasser beiseite, sodass seine Schultern sich anspannten.
Lydia wendete ihr Pferd. »Wir müssen gehen. Sofort! Ich glaube, er weiß, dass wir hier sind.«
»Er hat die ganze Zeit nach Osten gesehen, Lydia.« Auch Cassandra begann, ihr Pferd zu wenden. Auf der kleinen Hochebene nahm das einige Zeit in Anspruch.
Während sie mit den Zügeln kämpfte, sah sie aus dem Augenwinkel, dass Ambury sich umgedreht hatte. Das lenkte sie so sehr ab, dass sie ihrem Pferd die Zügel schießen und es den Weg hinunter selbst finden ließ. Sie drehte sich im Sattel um und bewunderte die Vorderseite von Amburys Oberkörper, als er zurück zum Strand watete. Es schien ein äußerst wohlgestalter Oberkörper zu sein.
Sie wusste nicht, ob er sie sah, ob er überhaupt zu der Stelle blickte, von der aus sie und Lydia ihnen zugesehen hatten.
Im nächsten Augenblick lag er rücklings auf dem Wasser und ließ sich zu Kendale treiben. Die Gischt bedeckte das, was Lydia auf keinen Fall sehen sollte. Allerdings nicht vollständig. Cassandra musste den Blick abwenden, weil ihr Pferd beschlossen hatte, den Abhang schneller hinunter zu rasen, als ihr lieb war.
Unten wartete Lydia auf sie. Sie brach in Lachen aus, als Cassandra herangestürmt kam. »Ich hoffe, mein Bruder genießt seinen Hochzeitstag so sehr wie wir.«
»Du darfst niemandem davon erzählen.«
»Ich weiß, aber ich werde platzen. Wenn wir nach Hause kommen und Hortense uns fragt, ob wir einen schönen Nachmittag hatten, obwohl wir auf ihre Gesellschaft verzichten mussten, werde ich wahrscheinlich ersticken. Glaubst du, einer von ihnen hat uns dort oben gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Und wenn doch? Was ist, wenn sie es verraten?«
»Nichts werden sie verraten.« Jedenfalls nicht Lydia gegenüber. »Ein paar versteckte Neckereien von Ambury vielleicht, aber von Kendale erwarte ich stoisches Schweigen. Sollte einer von ihnen auch nur eine Andeutung machen, musst du so tun, als hättest du keine Ahnung, wovon sie reden. Kein Gekicher, Lydia. Kein Erröten. Du musst durch sie hindurchblicken, als wären sie aus Glas, du darfst überhaupt nicht reagieren.«
»Das ist ganz leicht. Das kann ich.«
Natürlich konnte sie das. Schließlich verbrachte Lydia so den Großteil ihrer Zeit.
»Da wir nicht im Meer baden konnten, werden wir das zu Hause tun müssen«, sagte Cassandra. »Lass uns heimreiten, damit ich mir ein Bad richten lassen kann.«
Und zwar ein kaltes.
»Wenn ich es dir sage, dort oben war etwas«, beharrte Kendale, als er und Yates ihre Pferde die steile Anhöhe hinauflenkten.
»Ich habe niemanden gesehen.«
»Aber ich habe es gespürt. Wir waren nicht allein.«
Auch Yates hatte es gespürt. Kurz bevor Kendale einen warnenden Ruf ausgestoßen hatte, hatte er die Gegenwart jemandes gespürt, der sie beobachtete.
»Ich glaube, es war diese Frau.«
»Sie hat einen Namen, Kendale. Wenn sie dort war, was ich nicht glaube, dann weil sie gehofft hatte, ebenfalls hier unten baden zu können.«
»Mag sein, aber als sie uns gesehen hat, hätte sie wieder gehen müssen. Stattdessen hat sie uns beobachtet.«
»Das weißt du nicht.«
»Ich glaube, ich habe zwischen den Bäumen und im Gebüsch etwas Buntes aufblitzen sehen, und das waren bestimmt keine Blumen. Dort oben war noch jemand.«
Yates zog es vor zu schweigen, denn er wusste, wohin das führen würde. Wenn diese Frau ihnen beim Ausziehen zugesehen hatte, war das schlimm genug. Aber wenn Southwaites Schwester so etwas tat …
»Da du es nicht mit Sicherheit weißt, lass uns einfach davon ausgehen, dass niemand dort war. Zu dieser Schlussfolgerung muss jeder Gentleman kommen.«
Kendale ritt weiter. In seiner Miene spiegelte sich Bestürzung. »Wenn wir sie das nächste Mal sehen, wird es uns schwerfallen, so zu tun, als wäre nichts passiert.«
»Aber genau das müssen wir, denn es ist gewiss nichts passiert.«
»Diese Frau wird uns wahrscheinlich wissen lassen, dass sie uns gesehen hat, ohne es offen auszusprechen. Sie wird klug dabei vorgehen und einen Scherz machen, aber sie wird es uns spüren lassen.«
»Wenn sie das tut, darfst du auf keinen Fall reagieren. Notfalls musst du verwirrt aussehen, aber noch besser ist es, durch sie hindurchzusehen, als wäre sie aus Glas, und als wären dir ihre Anspielungen vollkommen gleichgültig.«
Kendale nickte, doch er schien noch nicht besänftigt zu sein.
Sie erreichten den Scheitelpunkt des Hügels und ritten hinunter zu der Straße. Zwei farbige Punkte, rosa und blau, bewegten sich darauf nach Süden. Die unmittelbare Nähe der fraglichen Damen strafte Amburys Überzeugung Lügen, dass niemand sie von der Erhöhung aus beobachtet hatte.
Kendales Haltung wurde militärisch und steif. Er biss die Zähne fest zusammen, und sein Gesicht lief rot an.
»Es wäre nützlich, wenn du nicht so schuldbewusst blicken würdest, Kendale. Ich habe gesagt, du sollst nicht reagieren. Stattdessen errötest du wie ein Schuljunge, dabei wir sind noch gut fünfhundert Meter von ihnen entfernt.«
»Es gefällt mir nicht, das ist alles.«
»Niemandem gefällt eine solch unbehagliche Lage, aber …«
»Ich meine nicht die Peinlichkeit. Mir gefällt nicht, dass eine Frau mich nackt gesehen hat, aber ich sie nicht. Ich befinde mich im Nachteil, gib es zu.«
»Machst du dir Gedanken darüber, ob sie uns auf dieselbe Weise beurteilen, wie wir sie beurteilen, nämlich hinsichtlich der Schönheit dieses besonderen Anblicks?«
»Zum Teufel, nein!«
»Dann verstehe ich nicht, warum …«
»Frauen tun so etwas nicht. Ich meine, sie sehen Männer nicht auf diese Weise an.« Kendale lachte. »Die Vorstellung ist unnatürlich.«
»Ach ja? Und das weißt du natürlich ganz sicher, weil du mit dem weiblichem Geschlecht auf so vertrautem Fuß stehst. Obwohl du mit vielen von ihnen in unbekleidetem Zustand zusammen warst, hast du also bemerkt, dass keine Einzige jemals freundlich auf den Anblick deines Körpers reagiert hat? Beim Zeus, dann nehme ich alles zurück.«
Wieder zuckten Kendales Kiefermuskeln.
Yates merkte, dass sie inzwischen so langsam ritten, dass sie niemals zu den betreffenden Damen aufschließen konnten, sodass Kendale seinen Willen durchsetzen würde.
»Wenn du meinst, dass Frauen Männer auf diese Weise betrachten, dann muss ich einräumen, dass das passieren kann, da du vermutlich wirklich mit vielen Frauen in unbekleidetem Zustand zusammen warst. Jedenfalls ist das bei einer dieser Frauen da vorn auf jeden Fall im Bereich des Möglichen, das garantiere ich dir.« Übergangslos nahm Kendale den Gesprächsfaden wieder auf, als wären zwischenzeitlich nicht mehrere Minuten vergangen. Offensichtlich hatte er die ganze Zeit über die Enthüllung nachgedacht. »Wenn das stimmt, muss ich mir sicherlich keine Sorgen machen. Im Gegensatz zu dir verbringe ich meine Zeit nicht mit genusssüchtigen Vergnügungen, sondern führe ein aktives Leben. Wenn unsere Körper einer Beurteilung unterzogen wurden, bin ich zuversichtlich, dass zumindest ich den Anforderungen genügt habe.«
»Nun, dann lagen heute ja aller Augen auf dir. Ich bin erleichtert, das zu hören. Jetzt kann ich mich mit den beiden Damen ohne jede Spur von Verlegenheit unterhalten.«
Während Kendale noch die Bedeutung dieser Anspielung zu enträtseln versuchte, trieb Yates sein Pferd zum Galopp.
»Wir haben Gesellschaft«, sagte Lydia und blickte nach Nordosten.
Ein Reiter war die Anhöhe hinuntergestürmt und galoppierte nun auf sie zu. Unter den Hufen des Pferdes spritzten Erdklumpen auf. Ein weiterer Reiter folgte ihm etwas langsamer, und er ritt auf das Haus und nicht auf sie zu.
»Ich glaube, das ist Ambury«, sagte Cassandra.
»Oh je, du hast recht. Er hat uns entdeckt und will uns auf unserem Ausflug begleiten.« Lydia wendete ihr Pferd. »Verzeih mir, Cassandra, aber ich kann ihm nicht ins Gesicht blicken, so bald nach … ich wage es nicht, hierzubleiben. Bestimmt muss ich kichern.«
Und damit galoppierte Lydia von dannen.
Verärgert, weil sie im Stich gelassen wurde, sah Cassandra Ambury an. Falls es ihm merkwürdig vorkam, dass Lydia ausgerechnet in diesem Moment ihrem Pferd Bewegung verschaffen musste, verriet seine Miene das nicht. Er zügelte sein Pferd, als Lydia in dem Wäldchen verschwand.
Nichts in seinem Blick gab zu erkennen, ob er wusste, dass Lydia und sie auf jener Anhöhe gewesen waren. Überhaupt nichts. Und doch wusste sie in diesem Augenblick, dass er es wusste. Was an ihm es ihr verriet, konnte sie nicht erkennen, aber es hätte nicht deutlicher sein können.
Sie erwiderte seinen Blick ebenso ausdruckslos, wie er sie ansah. Ganz bestimmt verriet ihre Miene nicht mehr als die seine. Dennoch sagten beider Blicke alles – gegenseitig bestätigten sie sich, dass Cassandra ihm beim Ausziehen zugesehen hatte, und dass er es wusste.
Vor ihrem geistigen Auge blitzte das Bild dieses Mannes auf, wie er nackt ins Meer ging. Dann noch eines, auf dem er genau jetzt nackt auf dem Pferd saß. Sie schob die Bilder beiseite, damit sie nicht errötete und sich damit verriet.
»Lady Cassandra, wie ich sehe, können Sie das Wetter dazu bringen, Ihrem Befehl zu gehorchen. Sicherlich ist die ganze Gesellschaft Ihnen dankbar dafür, dass Sie der Sonne befohlen haben, am Himmel zu erscheinen.«
»Mein Befehl kann da wenig ausrichten. Es war eine gnädige Geste seitens der Sonne, sodass Lydia und ich uns davonschleichen konnten und uns nicht mit Southwaites Tanten unterhalten mussten. Die beiden Damen hätten sich in meiner Gegenwart nur unbehaglich gefühlt.«
»Wie ich sehe, ist Lydia gerade zu dem Schluss gekommen, dass sich alle in ihrer Gegenwart unbehaglich fühlen.«
»Sie liebt es, schnell zu reiten. Ich habe sie nur aufgehalten.«
»Dann erlauben Sie mir, Sie zum Haus zurück zu begleiten. Wollen wir hoffen, dass die Sonne weiterhin so großzügig scheint.«
Cassandra hielt noch einmal nach Lydia Ausschau, doch die befand sich bereits in weiter Ferne. Sie trieb ihr Pferd an. Ambury folgte ihr.
»Welch ein Zufall, Sie hier draußen zu finden, fernab der Hochzeitsgesellschaft«, sagte er. »Ich möchte Ihnen für Ihre Nachsicht und Verschwiegenheit hinsichtlich der Auktion danken. Es war sehr freundlich von Ihnen, das Thema auf der Feier und beim Frühstück nicht anzusprechen. Sie waren außerordentlich geduldig.«
Sie dachte an den Brief, den sie ihm geschickt hatte, und der ein leuchtendes Beispiel dafür war, wie es ist, wenn jemand die Geduld verliert. »Benötigen Sie noch mehr Zeit? Bitte nehmen Sie mir meine Frage nicht übel. Ich muss es wirklich wissen. Ich habe diese Ohrringe aus der Not heraus verkauft, und meine Lage hat sich nicht geändert. Weil Sie mir versprachen, innerhalb weniger Wochen zu zahlen, habe ich sie nicht anderweitig verkauft. Aber inzwischen ist wesentlich mehr Zeit vergangen.«
»Dass die Bezahlung sich verzögert hat, liegt nicht an mangelnden Mitteln, falls Sie das glauben.«
Genau das glaubte sie. Jeder wusste, dass Amburys Vater, der Earl of Highburton, seinen Erben sehr kurzhielt, was die Spesen betraf, die ein Mann seiner gesellschaftlichen Stellung erwarten konnte. Es war der finanzielle Ausdruck ihrer gegenseitigen Entfremdung.
»Ich habe das in unserer Korrespondenz nicht erwähnt, aber vielleicht hätte ich es tun sollen, damit Sie nicht bezweifeln, dass ich von Familienangelegenheiten in Anspruch genommen bin. Mein Vater ist sehr krank«, sagte Ambury. »Schwer krank. Ich habe in diesem Sommer so viel Zeit wie möglich mit ihm und dem Notar verbracht und ihm dabei geholfen, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«
»Ich bedauere, das zu hören. Es ist vermutlich klug von Ihnen, einzugreifen und sich darum zu kümmern, während er Ihnen noch behilflich sein kann.«
»Er wollte das meiste davon selbst tun. Jedoch fehlt ihm die Kraft, darum sind mir in den letzten Monaten mehr Aufgaben zugefallen, als ich erwartet hatte.«
»Waren Sie diese Woche dort?«
»Ja.«
»Sie scheinen sich große Mühe bei Ihren Pflichten ihm gegenüber zu geben.«
»Es bedeutet ihm viel, dass alles in vollkommener Ordnung ist.«
»Ist das Ihr Friedensangebot an ihn? Ihr Versuch, die Differenzen beizulegen, die im Lauf der Jahre entstanden sind?«
Er blickte sie an, als hätte sie gerade etwas Überraschendes gesagt. Einen Moment lang wirkte er beinahe verletzlich. »Ein kleiner Versuch vielleicht.«
»Jetzt, wo die Zeit abläuft, erscheinen die Gründe für diese Differenzen wahrscheinlich sehr unbedeutend.«
»Ja, verdammt unbedeutend.«
Das war also der Grund für die wiederholten Aufschübe in den letzten Monaten, in denen er sie immer wieder hingehalten hatte. Nun war sie beschämt wegen der scharfen Anschuldigungen in ihrem Brief. Unter diesen Umständen mussten sie ihm unfair und grausam vorkommen.
»Die Ohrringe waren erlesen, und natürlich zahle ich gern den Preis, den ich geboten habe, um sie endgültig in meinen Besitz zu nehmen«, sagte er. »Wie sind Sie zu ihnen gekommen?«
»Nahezu alle Schmuckstücke, die ich bei Fairbourne’s verkauft habe, hat meine Tante mir geschenkt.«
»Waren auch die Ohrringe ein Geschenk Ihrer Tante?«
Die Frage klang ein wenig streng. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er sie ihr auch schon in einer früheren Unterhaltung gestellt.
»Warum wollen Sie das wissen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Bei Fairbourne’s ist man sehr sorgfältig, wenn es um Herkunft und Geschichte der Gemälde geht, die man verkauft. Für den Schmuck gilt das weniger.«
»Die Herkunft des Schmucks ist vollkommen klar. Die Juwelen stammen von mir.«
»Und vor Ihnen?«
»Ein Rubin ist ein Rubin. Ein Diamant ist ein Diamant. Die Herkunft oder Eigentümergeschichte ist nicht nötig, um zu belegen, was es ist, so, wie Sammler es bei einer Zeichnung von Raphael erwarten.«
»Vermutlich nicht. Dennoch würde ich gern mehr über ihre Geschichte erfahren. Sie zu kennen, ist Teil des Vergnügens, wenn man etwas Seltenes und Schönes besitzt«, sagte er. »Für mich zumindest.«
Sie konnte es ihm sagen. Es gab keinen echten Grund, es nicht zu tun. Warum also ertappte sie sich dabei, dass sie zögerte und misstrauisch war? Vielleicht, weil er in diesem Augenblick trotz all seiner Freundlichkeit nicht wirklich wohlwollend wirkte. Seine Augen und sein Mund verrieten es auf nuancierte Weise.
Sie ritten weitere hundert Meter nebeneinander, bevor er wieder das Wort ergriff. »Dann haben Sie sie also von Ihrer Tante bekommen?«
Angesichts seiner Hartnäckigkeit fühlte sie sich immer unbehaglicher, und sie umfasste die Zügel fester. »Ihre Fragen langweilen mich allmählich sehr.«
Er lachte. »Verzeihen Sie. Ich werde versuchen, Sie mit anderen Fragen zu unterhalten. Wie lange waren Sie zum Beispiel dort oben auf dem Hügel und haben mir beim Entkleiden zugesehen?«
Er hatte sie vollkommen unvorbereitet erwischt. Sie wurde rot, begann zu stottern und verhielt sich genauso, wie sie es Lydia schimpfend verboten hatte.
»Ich weiß ganz gewiss nicht, wovon Sie reden«, sagte sie schließlich mit erstickter Stimme.
Er blinzelte. Ganz offensichtlich genoss er es, sie in Verlegenheit gebracht zu haben. »Das war sehr schamlos von Ihnen, aber ich habe nichts dagegen. Es hat mir eine schwierige Entscheidung erleichtert, vor der ich stand.«
Sie fürchtete sich davor, nachzufragen, aber natürlich musste sie es tun. »Was für eine Entscheidung?«
»Ob ich Sie zu meinen Eroberungen hinzufügen soll. Der deutliche Beweis dafür, dass Sie tatsächlich eine Dame mit gewissen Erfahrungen sind, entbindet mich von einigen ärgerlichen Ehrenpflichten in dieser Angelegenheit, die mich noch haben zögern lassen.«
Erneut spürte sie, wie sie errötete. Von oben bis unten, bis zu den Zehen. »Verkünden Sie Ihre Absichten immer so frei heraus?«
»Im Allgemeinen nicht. Ich dachte nur, bei dieser Gelegenheit würde es viel Zeit sparen.«
Sie nahm sich zusammen. Der Mann amüsierte sich zu gut auf ihre Kosten. »Erwarten Sie von mir, dass ich jetzt aus Vorfreude in Ohnmacht falle, Ambury? Oder wochenlang auf Ihren nächsten listigen Schachzug warte? Sie meinen es nicht einmal ernst. Sie spielen ein Spiel und versuchen, mich zum Narren zu halten, um Ihre Missbilligung und Geringschätzung zum Ausdruck zu bringen.« Sie wendete ihr Pferd. »Und nun verabschiede ich mich von Ihnen. Vielleicht können Sie sich nützlich machen und versuchen, Lydia zu finden, bevor es wieder zu regnen beginnt. Ich reite den restlichen Weg allein.«
Er beugte sich hinüber und fasste ihr Pferd am Zügel, sodass sie stehen bleiben musste. »Ich werde bei Ihnen vorsprechen, wenn ich wieder in der Stadt bin.«
»Es wäre mir lieber, Sie täten das nicht. Es wäre mir lästig, mich eines so zynischen Versuchs der Verführung erwehren zu müssen.«
»Ich werde nicht kommen, um Sie zu verführen. So frei heraus verkünde ich meine Absichten nun doch nicht. Ich schulde Ihnen noch etwas für die Ohrringe. Schon vergessen?«
Die Ohrringe. Natürlich.
»Vielleicht empfängt mich auch Ihre Tante zu einem kurzen Besuch.«
Ach richtig, darum ging es. »Sie empfängt derzeit niemanden.«
»Gewiss können Sie sie überreden, für mich eine Ausnahme zu machen.«
»Ich wüsste nicht, warum ich das tun sollte.« Tatsächlich fielen ihr sogar etliche Gründe ein, warum sie das nicht tun sollte. Sie befreite die Zügel des Pferdes aus seinem Griff. »Ich habe meine Meinung geändert. Ich werde weiterreiten und versuchen, Lydia einzuholen. Und was unser Geschäft betrifft – Anfang nächster Woche erwarte ich Sie in London.«
Cassandra schaute sich nach dem Strohhut um, den ihre Tante stets trug, wenn sie sich im Garten um ihre Pflanzen kümmerte. Sie erspähte ihn bei den hohen Rosensträuchern, hinter denen er auf und ab zu tanzen schien.