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Eine zweite Chance für die Liebe: Das Romantik-Highlight »Regency Darlings – Eine Marquis zum Träumen« von Madeline Hunter jetzt als eBook bei dotbooks. London zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Lady Leona Montgomery ist nur aus einem einzigen Grund zurück in ihre Heimat gereist – sie ist fest entschlossen, den Namen ihres Vaters reinzuwaschen und seinen mutigen Kampf gegen den Opiumhandel in den englischen Kolonien fortzusetzen. Doch dafür muss sie sich dem berüchtigten Christian Rothwell stellen, dem Marquis von Easterbrook. Vor sieben Jahren hat das Schicksal sie schon einmal zusammengeführt – und Leona war klug genug, damals vor ihm zu fliehen. Sie ahnt, dass sich hinter seinen dunklen Blicken eine Leidenschaft verbirgt, die zwischen ihnen einen Sturm entfesseln könnte. Aber Christian ist der Einzige, der ihr nun helfen kann, das Erbe ihrer Familie zu bewahren … Eine turbulente Regency-Saga über zwei Londoner Familien: »Die wunderbare Charakterzeichnung und die intensiven Gefühle ziehen die Leser in ihren Bann«, sagt die Romantic Times. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die englische Familiensaga »Regency Darlings – Eine Marquis zum Träumen« von Bestsellerautorin Madeline Hunter ist der fesselnde Abschluss ihrer Regency-Reihe, in der alle Romane unabhängig voneinander gelesen werden können. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 461
Über dieses Buch:
London zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Lady Leona Montgomery ist nur aus einem einzigen Grund zurück in ihre Heimat gereist – sie ist fest entschlossen, den Namen ihres Vaters reinzuwaschen und seinen mutigen Kampf gegen den Opiumhandel in den englischen Kolonien fortzusetzen. Doch dafür muss sie sich dem berüchtigten Christian Rothwell stellen, dem Marquis von Easterbrook. Vor sieben Jahren hat das Schicksal sie schon einmal zusammengeführt – und Leona war klug genug, damals vor ihm zu fliehen. Sie ahnt, dass sich hinter seinen dunklen Blicken eine Leidenschaft verbirgt, die zwischen ihnen einen Sturm entfesseln könnte. Aber Christian ist der Einzige, der ihr nun helfen kann, das Erbe ihrer Familie zu bewahren …
Eine turbulente Regency-Saga über zwei Londoner Familien: »Die wunderbare Charakterzeichnung und die intensiven Gefühle ziehen die Leser in ihren Bann«, sagt die Romantic Times.
Über die Autorin:
Madeline Hunter studierte Kunstgeschichte und arbeitet heute als Lehrerin an einem College. Seit einigen Jahren schreibt sie außerdem mit großem Erfolg historische Liebesromane. Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und sind regelmäßig auf den Bestsellerlisten der »New York Times« und »USA Today« vertreten. Bereits zweimal hat sie den begehrten RITA-Award der »Romance Writers of America« gewonnen. Madeline Hunter lebt mit ihrer Familie in Pennsylvania.
Die Autorin im Internet: www.madelinehunter.com
Madeline Hunter veröffentlichte bei dotbooks ihre »Regency Darlings«-Reihe mit den Bänden:
»Regency Darlings – Ein Lord zum Küssen«
»Regency Darlings – Ein Lord zum Verführen«
»Regency Darlings – Eine Lady zum Verlieben«
»Regency Darlings – Ein Marquis zum Träumen«
Sowie ihre »Regency Flowers«-Reihe mit den Bänden:
»Regency Flowers – Ein skandalöses Rendezvous«
»Regency Flowers – Die widerspenstige Braut«
»Regency Flowers – Eine Lady von zweifelhaftem Ruf«
»Regency Flowers – Lady Daphnes Verehrer«
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eBook-Neuausgabe Juli 2022
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »The Sins of Lord Easterbrook« bei Bantam Dell / Random House, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Verzehrendes Verlangen« bei Heyne.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2009 by Madeline Hunter
This edition published by arrangement with Dell, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-317-6
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Madeline Hunter
Regency Darlings – Ein Marquis zum Träumen
Roman
Aus dem Amerikanischen von Eva Malsch
dotbooks.
Schweigen. Ein lautloses, dunkles Zentrum zieht das Chaos in seine Stille hinein.
Der friedliche Rhythmus von Ausatmen und Einatmen. Ein Puls. Der fundamentale Herzschlag der Natur erstreckt sich bis in die Unendlichkeit. Bewusstsein von allem und nichts. Keine Gedanken. Keine Träume. Kein Hunger. Reine Existenz. Urwissen.
Jetzt schwebt es im Zentrum. Endlich. Einzigartig, aber auch transzendent. Nur ein Puls in der Finsternis. Einsam und doch verbunden mit einem größeren Rhythmus, mit ...
Eine Störung. Eine kleine, stumme Warnung, ein sorgenvoller Ruf dringt in die perfekte Leere.
»Warum schleichen Sie herum, Phippen?«
»Verzeihen Sie, Mylord, ich dachte ... Sie schienen zu schlafen. Und ich wollte nur hereinkommen, das Tablett holen ...«
Ein lauterer Schrei. Jetzt von Angst erfüllt. Immer Angst. Davon wird die ganze Welt erschüttert.
»Ich ziehe mich sofort zurück, Mylord.«
»Nehmen Sie das Tablett, Phippen. Dann hat die Unterbrechung wenigstens einen gewissen Zweck.«
Chaos. Entsetzen. Schläge und ein Knall, die spröde Kakophonie von Metall und klirrendem Geschirr.
»Bitte, verzeihen Sie mir, Mylord. Dieser Schemel ... Gleich werde ich die Bescherung vom Teppich entfernen – noch schneller, als Sie Phippen einen Narren nennen können.«
»In der Tat, Phippen ist ein Narr. Verdammt, Sie sind ja immer noch hier.«
Lärm. Geräusche, vernehmlich und spirituell zugleich. Verzweiflung zwischen Klappern und Seufzern. Das dunkle Zentrum schrumpft und schrumpft ...
Christian, Marquess of Easterbrook, öffnete die Augen und musterte den Dienstboten, der seine Meditation gestört hatte. Verlegen sammelte sein neuer Kammerdiener Phippen den Inhalt des Tabletts ein, eifrig bemüht, keinen weiteren Lärm zu verursachen. Das schaffte er natürlich nicht. Allein schon die Anwesenheit einer Person erzeugte Geräusche.
Das Gesicht hochrot, auf allen vieren, stellte Phippen behutsam eine Tasse auf das Tablett und zuckte zusammen, als sie leise klirrte. Dann zog er sein Taschentuch hervor und wischte die winzige Kaffeepfütze weg, die den Teppich zu beflecken drohte.
Furcht. Sorge. Auch Zorn. Ärger über sich selbst und den neuen Herrn, dessen seltsame Gewohnheiten die Arbeit beträchtlich erschwerten.
Allzu lange würde der Kammerdiener nicht in diesem Hause bleiben. Auch seine Vorgänger waren schnell geflüchtet.
Christian erhob sich aus seinem Sessel und ging zu Phippen. »Geben Sie mir das Tablett, ich halte es fest, während Sie die einzelnen Teile aufheben.«
»Sehr gut, Sir, vielen Dank, Sir. Wirklich, Sie sind zu gütig, Mylord.«
Ein Idiot sind Sie, Sir, ein Exzentriker, launisch, unbegreiflich ...
Noch eine Störung. Ein sonderbares Zittern im Rest des entschwindenden Zentrums.
Die Augen geschlossen, konzentrierte Christian sich auf dieses Beben. Entfernt, aber deutlich. In letzter Zeit hatte es seine Meditation zu oft durchdrungen. Und an diesem Tag hatte es eine halbe Ewigkeit gedauert, bis es ihm gelungen war, die Wirkung der Vibration zu überwinden.
Er schlenderte zum Nordfenster. Offenbar hielt sich niemand im Garten auf. Dann ging er zur anderen Seite seines Schlafzimmers, um aus dem Südfenster zu spähen. Auf Knien rutschte Phippen hinterher und schwenkte eine Tasse durch die Luft. Christian griff danach und stellte sie auf das Tablett, drückte es in die leere Hand des Kammerdieners und setzte seinen Weg fort. Während er sich dem Fenster näherte, folgte ihm erneut der Lärm klirrenden Porzellans.
Auf der Straße, direkt vor der Haustür, wartete eine Kutsche. Eine Gestalt eilte darauf zu, geduckt im Nieselregen, der das Londoner Frühlingswetter so oft begleitete. Hastig stieg eine mittelgroße Frau in das Halbdunkel des Wagens.
Ein grünes Kleid, eine zierliche Nase, ein wohlgeformtes Kinn.
Ein melodischer Seufzer aus der Vergangenheit. Trotz des geschlossenen Fensters und der Entfernung hatte er ihn gehört. Daran zweifelte er nicht.
Nun verscheuchte sein Hirn die letzten Nebel der Meditation. Sein Blut reagierte auf heftige Weise. Plötzlich ein anderer Puls. Schnell. Aggressiv. Mit schmalen Augen starrte er die Kutsche an.
Wegen seines Blickwinkels, des schwachen Lichts und des Huts, den die Frau trug, konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Ihr Lakai schloss den Wagenschlag, ihre Finger tasteten nach dem Fenstervorhang.
Eine Hand. Ihre Hand. Unmöglich.
Der Lakai lief zum Heck der Kutsche. Im Nieselregen nahm er seine Position auf dem Trittbrett ein. Erst jetzt beachtete Christian den Mann. Bisher hatte seine Aufmerksamkeit der Frau gegolten. Deshalb waren ihm die chinesische Kleidung des Dieners und der lange Zopf nicht aufgefallen.
»Ein Mantel, Phippen. Stiefel.«
Langsam und vorsichtig stand der Kammerdiener auf und balancierte das Tablett mit dem Porzellan in einer Hand. »Sehr wohl, Mylord, ich stelle das nur rasch vor der Tür ab und ...«
Christian entriss ihm das Tablett und knallte es so vehement auf den Tisch, dass die Tasse gegen die Kaffeekanne prallte. »Stiefel, Mann. Sofort.«
***
Obwohl Christian nur einen Mantel und Stiefel angezogen hatte, war zu viel Zeit verstrichen. Das gestand er sich erbost ein, als er die Stufen hinuntereilte.
Bevor er die letzte Treppenflucht hinunterlief, hörte er auf die Stimme der Vernunft. Inzwischen würde die Kutsche längst verschwunden sein, insbesondere wegen des dichten Verkehrs rings um den Grosvenor Square. Ob zu Fuß oder zu Pferd – niemals würde er sie einholen.
Und so betrat er den Salon.
Seine Tante Henrietta und seine junge Cousine Caroline saßen auf dem Sofa vor einem der hohen Fenster. Die blonden Köpfe zusammengesteckt, tuschelten sie über irgendetwas. Vermutlich ging es um Carolines zweite Saison. Die Angst um ihre gesellschaftliche Position prägte die Atmosphäre im ganzen Erdgeschoss. Sobald Christian die Tür geöffnet hatte, spürte er dieses wachsende Unbehagen.
Die glänzenden Augen ausdruckslos, mit einem nichtssagenden gekünstelten Lächeln, begrüßte Henrietta ihren Neffen. Ihren Ärger über die Störung verbarg sie. Trotzdem merkte er ihr an, was sie empfand – genauso deutlich, als hätte sie es erwähnt. In diesem Haus wohnten die Tante und ihre Tochter nur, weil er es in einem seltenen Anfall von Großmut vor einem Jahr erlaubt hatte. Nun wünschte Hen, alle Leute würden in ihr die Hausherrin sehen, nicht nur einen Gast. Da Christian das nicht akzeptierte, wurde seine Gesellschaft niemals willkommen geheißen.
»Ah, Easterbrook, heute bist du schon früh auf den Beinen.« Erleichtert bemerkte Henrietta die Stiefel, die seine Absicht bekundeten, das Haus zu verlassen. Aber ihre Augen verrieten ihren gewohnten Unmut, der seinem zerzausten Haar und der fehlenden Krawatte galt.
»Ist dir das unangenehm, Tante Hen?«
»Unangenehm? Nichts würde mir ferner liegen. Immerhin ist das dein Domizil.«
»Nun, ich dachte, du würdest immer noch Besucher empfangen. Von meinem Fenster aus entdeckte ich eine Kutsche. Deshalb zögerte ich, nach unten zu gehen, bevor sich dein Besuch verabschiedet hat.«
»Hättest du dich bloß zu uns gesellt«, sagte Caroline. »Sicher hättest du die Gesellschaft der Dame genossen, im Gegensatz zu Mama. In der Tat, sie ist ein Original, und ich war überrascht, weil Mama sie nicht weggeschickt hat.«
»Beinahe hätte ich es getan«, seufzte Henrietta. »Andererseits kann man nie wissen, wie weit es solche Leute bringen. Die Frau besitzt kein nennenswertes Vermögen, ihre Herkunft ist fragwürdig. Aber das werden einige Gastgeberinnen vielleicht übersehen, weil sie wirklich amüsant ist. Wie würde ich dann dastehen, wenn ich sie bei ihrem Annäherungsversuch geschnitten hätte?« Bekümmert schüttelte sie den Kopf. »So schwierig ist es, diese Exzentriker zu beurteilen! Nicht dass sie wirklich exzentrisch wäre. Nicht so wie Phaedra. Eher exotisch. Darin liegt ein bedeutender Unterschied, Caroline, und du musst aufmerksam und vorsichtig ...«
»Wie heißt sie?«, fiel Christian ihr ins Wort.
Verwirrt blinzelte seine Tante. Normalerweise interessierte er sich nicht für ihre Besucherinnen.
»Miss Montgomery«, antwortete Caroline. »Letzte Woche lernten Mama und ich sie auf einem Fest kennen. Ihr Vater war ein Kaufmann im Fernen Osten. Aber sie behauptet, mütterlicherseits sei sie mit dem portugiesischen Adel verwandt. Jetzt besucht sie London zum ersten Mal in ihrem Leben. Die ganze weite Reise von Macao bis hierher ...«
»Was wollte sie?«
Erstaunt musterte Henrietta ihren Neffen. »Oh, sie wollte mir einfach nur ihre Aufwartung machen, Easterbrook. Offenbar hoffte sie, meine Freundschaft zu gewinnen. Die würde ihr natürlich einige Türen öffnen.«
»Also, ich finde sie sehr interessant«, ergänzte Caroline.
»Zu interessant für ein junges Mädchen. Mit dieser Frau solltest du dich nicht anfreunden, Caroline«, entschied Henrietta. »Dafür erscheint sie mir zu weltgewandt. Ich fürchte, sie ist eine Abenteuerin. Vielleicht sogar eine Schwindlerin, wenn man bedenkt, was sie über die Abstammung ihrer Mutter erzählt hat ...«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Caroline. »Und sie gefällt mir viel besser als die meisten Leute, die uns besuchen.«
Während Tante Hen und ihre Tochter über Miss Montgomery stritten, verließ Christian den Salon und beorderte den Butler zu sich. Nun würde er erfahren, welche Adresse auf der Visitenkarte der Besucherin stand.
***
Leona Montgomery ging an Tong Wei vorbei und wandte sich zum Spiegel, um ihren Hut zurechtzurücken. Kritisch betrachtete sie ihr Gesicht.
Jung, aber nicht blutjung. Hübsch, aber nicht schön. Englisch, aber nicht wirklich englisch.
In London schien man ihr Aussehen und ihre Wirkung in eine Schublade einzuordnen. Das war in Macao anders gewesen. Dort war jeder »nicht wirklich« irgendwas.
Endlich erhob sich Tong Wei von den Knien. Leona schaute zu der Buddhastatue hinüber, die seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Obwohl sie Christin war, verstand sie die Frömmigkeit ihres Beschützers sehr gut. In China beeinflussten die asiatischen religiösen Ansichten nahezu alles, sogar in der europäischen Gemeinde.
»Ich sollte dich begleiten«, sagte Tong Wei. Wenn seine Miene auch ausdruckslos blieb – sie wusste, wie sehr er sich in dieser lärmenden, dicht bevölkerten Stadt, inmitten so vieler fremder Menschen, um ihre Sicherheit sorgte. »Das würde dein Bruder von mir erwarten.«
»Aber ich möchte nicht auffallen.« Leona blickte auf ihr graues Promenadenkleid hinab. Es wirkte sehr englisch und war am Vortag von einer Schneiderin geliefert worden. »Da du dich weigerst, die Kleidung eines korrekten englischen Lakaien zu tragen, darfst du mich nicht begleiten.«
Wie sie beide wussten, würde Tong Wei nicht einmal in einer englischen Livree wie ein korrekter Lakai aussehen. Sein glattrasierter Oberkopf und der lange Zopf, das runde Kinn und die Schlitzaugen bezeugten seine chinesische Herkunft noch deutlicher als die schön bestickten granatroten Stoffbahnen seines exotischen Gewands.
»Dann nimm Isabella mit«, schlug er vor. »Ohne Begleitung darf sich keine Frau in der Öffentlichkeit zeigen. Zumindest keine von höherem Stand.«
Isabella blickte auf. In ihrer Hand erstarrte der Pinsel, mit dem sie elegante Bilder von ihren Abenteuern malte. »Mir macht es nichts aus, englische Kleider zu tragen. Vielleicht findet Tong Wei sie barbarisch. So einseitig bin ich nicht.«
Damit meinte sie nicht nur ihre Anschauungen. Halb chinesisch, halb portugiesisch, vereinte sie in ihrem Wesen den Osten und den Westen. Wenn sie, so wie jetzt, ein lockeres Qipao-Kleid trug, bevorzugte sie es wegen seiner Bequemlichkeit, nicht wegen kultureller Kriterien.
»Allzu lange werde ich nicht in der Royal Exchange bleiben«, erklärte Leona. »Ich will nur sehen, wie dieses große Handelshaus organisiert wird, damit ich es ein anderes Mal zuversichtlich betreten kann. Wenn es den Fabriken in Kanton gleicht, wird’s dort so geschäftlich zugehen, dass mich niemand bemerkt.« Davon war sie fest überzeugt. Um nicht aufzufallen, hatte sie das schlichte graue Kleid gewählt. In gewissen Situationen wollte sie kein Aufsehen erregen.
»Und wenn du Edmund in der Royal Exchange triffst?«, fragte Isabella.
Halb ängstlich, halb erwartungsvoll hielt Leona den Atem an. Diese zwiespältige Reaktion erfolgte, wann immer Edmund auf dieser Reise erwähnt wurde.
»Dort werde ich ihn nicht sehen. Er war ein Gentleman, und solche Männer befassen sich nicht mit Geschäften.« Seit der Ankunft in London hatte sie erkannt, dass Edmund ein Gentleman im englischen Sinn des Worts gewesen war. Erst jetzt verstand sie, was das in dieser Welt ihres Vaters bedeutete.
Natürlich konnte man ein Gentleman sein und trotzdem ein Naturwissenschaftler und Abenteurer, so wie Edmund sich bezeichnete.
Und ein Gentleman konnte sogar ein Dieb sein.
»Dann wirst du ihn vielleicht in einem der Salons wiedersehen, die du besuchst«, meinte Isabella.
Zweifellos wäre das nützlich. Leona nahm an, eine ihrer Missionen in London würde sich schneller erledigen lassen, wenn sie Edmund wiederbegegnete. Übrigens, Edmund, was für ein schlimmer Schurke bist du eigentlich?
Sie betrachtete wieder ihr Spiegelbild. Nicht wirklich englisch, aber englisch genug, um die Aufgabe dieses Tages zu erfüllen. Nicht blutjung, nicht wirklich schön – das sollte ihr helfen, unsichtbar zu bleiben.
»In zwei Stunden bin ich sicher wieder zurück«, sagte sie. »Während meiner Abwesenheit, Isabella – sprich doch bitte mit der Köchin, die ich eingestellt habe. Vielleicht kannst du sie veranlassen, ein nicht ganz so langweiliges Dinner zu kochen.«
In der Bury Street ging es ruhiger zu als auf dem nahen St. James’s Square. Und die Miete war viel billiger. Trotzdem bereute Leona, dass sie keine bessere Adresse ausgesucht hatte. Doch die konnte sie sich gar nicht leisten.
Sie verließ das Haus und blieb erstaunt stehen. Die Stirn gerunzelt, spähte sie nach beiden Seiten.
Wo mochte der Wagen sein? Vor wenigen Minuten hatte er hier gewartet, bevor sie ihren Hut aufgesetzt hatte.
Eine imposante Kutsche versperrte ihr den Blick zum südlichen Ende der Straße. Um daran vorbeizuschauen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor. Bei der nächsten Kreuzung entdeckte sie ihren eigenen Wagen und erkannte Mr. Hubson, den Fahrer. Diesen Mann stellte ihr die Agentur zur Verfügung, bei der sie die Kutsche für die Dauer ihres Aufenthalts in London gemietet hatte.
Möglicherweise hatte das Eintreffen des vornehmen Vehikels Mr. Hubson veranlasst, Platz zu machen. Bisher war sie noch nicht mit allen Nuancen der gesellschaftlichen und protokollarischen Unterschiede in dieser Stadt vertraut.
Sie winkte ihrem Fahrer und ging zu ihm. Als sie an der stattlichen Karosse vorbeikam, trat ihr ein Mann in den Weg.
»Miss Montgomery?«
Seine Frage verwirrte sie. Jung und blond, trug er eine ehrerbietige Miene zur Schau, obwohl er sie zwang, innezuhalten.
Ein Lakai, überlegte sie. Aber er trug keine Livree, so wie die anderen Lakaien, die den großen Wagen begleiteten. Diese beiden wichen zurück und postierten sich außerhalb ihres Blickfelds, weit hinter ihrem Rücken.
»Ja, ich bin Miss Montgomery. Wer sind Sie? Und was wollen Sie?«
Er zeigte auf die Kutschentür. Daran prangten Insignien – ein Wappen. Also stand dieser anmaßende junge Mann in den Diensten eines Aristokraten.
»Miss Montgomery, mein Herr bittet um Ihren Besuch«, begann er. »Wir bringen Sie zu seinem Haus und danach wieder hierher zurück.«
»Wäre eine schriftliche Einladung nicht etwas höflicher gewesen? Wie dreist von Ihnen, mich einfach auf der Straße anzusprechen ...«
»Manchmal verhält sich Lord Easterbrook etwas ungewöhnlich und impulsiv, was seine Einladungen betrifft. Aber ich versichere Ihnen, er wollte Sie keineswegs beleidigen.«
Nachdem Leona den Namen des Kutschenbesitzers erfahren hatte, starrte sie nachdenklich vor sich hin. Vor zwei Tagen hatte sie Easterbrooks Haus betreten, um seine verwitwete Tante, Lady Wallingford, zu besuchen. Vermutlich wollte der Marquess die Tochter des Kaufmanns daran erinnern, dass sie keine passende Gesellschaft für seine Tante war. Das hätte er ihr auch in einem Brief mitteilen können, statt dieses kleine Drama zu inszenieren und seine Macht hervorzuheben.
Natürlich würde sie es bedauern, wenn sie Lady Wallingfords nützliche gesellschaftliche Kontakte aufs Spiel setzte, bevor sie die Früchte erntete, die diese Bekanntschaft verhieß. Und diese Gefahr schürte ihre Abneigung gegen Easterbrook, der sie einfach zu sich beorderte wie eine Sklavin.
»Ich kenne Lord Easterbrooks Haus. Vielen Dank, ich fahre in meinem eigenen Wagen hin. Bitte, kehren Sie zu Ihrem Herrn zurück und teilen Sie ihm mit, ich würde ihn zu gegebener Zeit aufsuchen.«
Als sie an dem jungen Mann vorbeigehen wollte, trat er ihr mit einem geschmeidigen Seitenschritt erneut in den Weg.
»Mein Herr hat mir befohlen, ich soll Sie zu ihm bringen, Miss Montgomery. Und ich wage es nicht, ihm den Gehorsam zu verweigern. Bitte ...« Er streckte seinen Arm in die Richtung des Wagenschlags aus, womit er ihr den Weg noch wirksamer versperrte. Irritiert schaute sie an ihm vorbei, die Straße hinunter.
Inzwischen war ihr eigener Fahrer verschwunden, ließ sie ebenso im Stich wie ihre Equipage. Wie weit wäre der Rückweg zu ihrem Haus? Würde Tong Wei ihre Stimme hören, wenn sie nach ihm rief?
Sie versuchte ihr Unbehagen zu verbergen. »Bitte, richten Sie dem Marquess mein Bedauern aus. Aber ich habe eine andere Einladung erhalten, die meine Zeit an diesem Nachmittag beansprucht. Morgen spreche ich bei Lord Easterbrook vor. Bitte, treten Sie jetzt zu Seite.«
Wortlos blickte der junge Mann an ihr vorbei zu den beiden Lakaien, und seine Miene jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Plötzlich schien ein Schraubstock ihre Taille zu umfangen.
Von kaltem Entsetzen erfasst, wollte Leona schreien. Aber ihre Panik nahm ihr den Atem. Ringsum drehten sich die Straße und die Häuser und verschwammen.
Entschlossen verscheuchte sie die Nebel aus ihrem Hirn. Jetzt saß sie in der Kutsche, neben dem blonden jungen Mann. Der Wagen raste die Straße entlang.
»Wie können Sie es wagen!«, fauchte sie. »Lassen Sie sofort anhalten und erlauben Sie mir auszusteigen! Sonst wende ich mich an die Polizei!«
Statt einer Antwort legte ihr der junge Mann den Finger an den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. Und wie ihr irgendetwas in seinen Augen verriet, war es empfehlenswert, diesen Rat zu befolgen. Mit scharfen, pfeifenden Geräuschen durchschnitten die Degen die Luft. Christian parierte die geschmeidigen Attacken des Fechtmeisters Angelo und erprobte seine eigene Fähigkeit, sich auf das Duell zu konzentrieren.
In letzter Zeit hatte er oft gefochten. Und während des vergangenen Jahres hatte er sein Apartment über den offiziellen Räumen des Hauses vergrößert, so dass es den ganzen ersten Stock einnahm. Das Schlafzimmer der Hausherrin war in einen Privatraum für sein sportliches Training umfunktioniert worden.
Angelo vollführte mit seinem abgestumpften Florett zwei blitzschnelle Scheinangriffe, die Spitze berührte Christians Brust, direkt oberhalb des Herzens. Zufrieden trat der Festmeister zurück, hob seine Waffe zum Salut und verneigte sich.
»In der Tat, Lord Easterbrook, in den letzten paar Monaten haben Sie Ihre Fechtkunst erstaunlich verbessert. So rasante Fortschritte konnte ich nur selten beobachten.«
»Nun, ich habe häufig trainiert.«
»Weder die Technik noch die Übung machen diesen Unterschied aus, sondern etwas, das schwierig zu definieren ist.« Angelo nahm ein Handtuch von einem Lakaien entgegen und wischte sich die Stirn ab. »Vielleicht eine neue Geistesgegenwart.«
Auf diese angedeutete Bitte um eine Erklärung ging Christian nicht ein. Wenn er es täte, würde es verrückt klingen. Und er fürchtete, die Welt würde ohnehin schon glauben, er hätte die Hälfte seines Verstandes verloren. Außerdem würde Angelo den Wendepunkt, der sich vor drei Monaten ereignet hatte, nicht verstehen.
Mittlerweile hatten sich die Konzentration und die Stille, die er in der Meditation erzielte, auch auf seine körperlichen Aktivitäten erstreckt. Um Frieden zu finden, brauchte er das dunkle Zentrum nicht mehr. Für kurze Zeit – wenn er gegen Angelo focht oder über eine Wiese rannte oder auf einem Fluss dahinruderte – errichtete er mit einer anderen Atmung und einer totalen physischen Hingabe unsichtbare Mauern, die den traurigen, stummen Lärm der Welt aussperrten.
Diese neue Kontrolle stellte eine Freiheit dar, um die Christian sehr lange gerungen hatte. Jahrelang.
»Warum kommen Sie nicht in die Akademie, Lord Easterbrook?« Angelo schenkte sich ein Glas von der Bowle ein, die auf einem kleinen Tisch bereitstand. »Dort findet nächste Woche ein Wettkampf statt, den Sie gewinnen könnten. Möchten Sie Ihre Fähigkeiten nicht zeigen? Die hat noch nie niemand außer mir und diesem Lakaien bewundert. Jetzt sind Sie mir fast ebenbürtig. Und so etwas habe ich nur selten erlebt.«
»Für Wettkämpfe interessiere ich mich nicht. Und ob irgendjemand erfährt, ich wäre Ihnen ebenbürtig, ist mir egal.«
»Wie ungewöhnlich ... Die meisten Männer sind stolz auf ihre Leistungen und genießen den Ruhm, den sie ihnen einbringen.«
Sicher meinte Angelo nicht, es sei ungewöhnlich, sondern eher verdächtig. Sonderbar. Exentrisch. All diese Wörter, die sich mit seinem Namen verbanden, kannte Christian zur Genüge. Und wie die meisten Leute begegnete ihm auch Angelo mit äußerster Vorsicht.
Der Fechtmeister ergriff sein Jackett, schlüpfte hastig hinein und wandte sich zum Gehen. Nicht schnell genug. Von unwillkommenen Enthüllungen erfüllt, vibrierten die Absichten und Überlegungen des Mannes durch die Luft.
Von dem Lakaien begleitet, verließ Angelo den Raum. Sekunden später trat ein anderer Mann ein, verriegelte die Tür und ging über den kahlen Holzboden zu Christian.
»Wir haben sie, Mylord. Endlich hat sie ihr Haus ohne den Chinesen verlassen.«
Christian goss Bowle in ein Glas. »Haben Sie ein öffentliches Spektakel vermieden, Miller?«
»Einigermaßen. Glücklicherweise nahm ich die beiden anderen Lakaien mit. Sie wurde misstrauisch. Deshalb mussten wir möglichst schnell vorgehen. Sonst wäre sie davongelaufen, oder sie hätte geschrien.«
»Oh, hoffentlich wurde sie nicht verletzt. Sonst müsste ich Sie umbringen.«
Miller fasste die Warnung als einen Scherz auf. Doch sein Selbstvertrauen verebbte ein wenig. Anscheinend überlegte er, ob es sich nicht doch um eine echte Drohung handelte. Da Christian sich auch nicht ganz sicher war, ließ er den Mann ein bisschen schwitzen.
»Nur ihr Stolz hat gelitten, das schwöre ich Ihnen, Mylord.«
Dass Miller möglichst »schnell« gehandelt hatte, durfte man ihm nicht verübeln. Christian hatte ihm befohlen, Miss Montgomery hierherzubringen. Und genau das hatte der Mann getan. Auf diese Weise machte er sich sehr oft nützlich.
Jung, ehrgeizig und raffiniert – und nicht sonderlich von moralischen oder legalen Regeln behindert – diente er seinem derzeitigen Herrn genauso wie früher seinen Vorgesetzten während einer kurzen Tätigkeit bei der Army. Nämlich, ohne Fragen zu stellen. Die normalen Pflichten eines Sekretärs erledigte er nicht annähernd so gut wie die weniger traditionellen, die ihm in regelmäßigen Abständen auferlegt wurden.
»Sie wirft uns eine Entführung vor«, berichtete er.
»Weil sie entführt wurde.«
»Und sie kündigte an, sie würde sich an die Polizei wenden.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Im grünen Schlafzimmer. Wir haben sie die Dienstbotentreppe hinaufgeführt. Also hat Lady Wallingford nichts bemerkt.«
Ob das stimmte, würde Christian herausfinden, sobald er diesen Raum verließ. Sollte das Misstrauen seiner Tante erwacht sein, würde man es im ganzen Haus hören.
Er entließ Miller. Dann blickte er auf sein Hemd hinab, die Breeches, die Stiefel. Wahrscheinlich müsste er Miss Montgomery in einer präsentableren Aufmachung begrüßen. Darüber dachte er etwa fünf Sekunden lang nach, bevor er das grüne Schlafzimmer ansteuerte.
***
Wütend ging Leona in ihrem luxuriösen Gefängnis auf und ab.
Natürlich war es schwierig, Würde zu bewahren, wenn man wie ein verlorenes Gepäckstück von der Straße aufgelesen wurde. Trotzdem hoffte sie, es wäre ihr irgendwie gelungen.
Auf der kurzen Fahrt zum Grosvenor Square hatte sie ihren Entführer ignoriert und ihn wie den Lakaien behandelt, der er zweifellos war. Nur ein einziges Mal verlor sie beinahe die Beherrschung, weil sie den Eindruck gewann, der junge Spund würde ihre hochnäsige Pose amüsant finden.
Allmählich mischte sich wachsende Sorge in ihren Zorn. In einer Hälfte ihres Gehirns formulierte sie ätzende Anklagen, in der anderen versuchte sie die Bedeutung dieses Affronts zu ergründen. Wie der Marquess of Easterbrook sie behandelte – das ließ nur eine einzige Schlussfolgerung zu. Offensichtlich hielt er nicht viel von ihrem gesellschaftlichen Status und glaubte, sie würde nichts Besseres verdienen.
Wenn andere Leute von seinem beleidigenden Benehmen erfuhren, würden sie es imitieren. Dann würde ihr nichts mehr helfen, ihr Ziel zu erreichen – nicht einmal die Herkunft ihrer Mutter oder die Empfehlungsschreiben. Nach diesem Skandal würde es ihr sehr schwerfallen, ihre Pläne in London durchzuführen. Und einige würden sogar scheitern.
Bedrückt blieb sie stehen. Ihr Blick schweifte über die apfelgrünen seidenen Bett- und Fenstervorhänge, die eleganten Mahagonimöbel. An den cremefarbenen Wänden hingen exquisite Aquarelle in Regenbogenfarben. Und dann sah sie nichts mehr von ihrer Umgebung, nur mehr das Fantasiebild ihres Bruders Gaspar. Lächelnd fuhr er in seinem Boot davon, nachdem er sie in Whampao an Bord des Schiffs gebracht hatte.
So jung war er ihr an jenem Tag erschienen – viel jünger als seine zweiundzwanzig Jahre. Vielleicht sah er wegen seines rückhaltlosen Vertrauens so jugendlich aus. Alles würde er auf ihre Reise setzen, erklärte er. Sein väterliches Erbteil und seine Zukunft standen auf dem Spiel. Aber er hatte sein Schicksal in ihre Hände gelegt.
Die Vision verblasste, und sie sah wieder ihre opulente Umgebung. Noch immer lastete eine bleischwere Bürde auf ihrer Seele. Doch das lag nicht mehr an ihrem verletzten Stolz. Ruhige Entschlossenheit hatte den Zorn verdrängt.
Von ihrem Vater hatte sie etwas Wichtiges gelernt. Wenn man eine unangenehme Situation aus einem anderen Blickwinkel sah, entdeckte man manchmal verborgene Möglichkeiten.
Und wenn sie dieses Erlebnis mit neuen Augen sah, würde sie eine Audienz bei einem der bedeutsamsten englischen Aristokraten erhalten. Ein so einflussreicher Mann konnte ihr zweifellos nützen. Natürlich würde sie Easterbrook am liebsten ohrfeigen. Klüger wäre es jedoch, seine Gunst zu gewinnen.
Sie ging zum Toilettentisch, beugte sich hinab und musterte ihr Spiegelbild. Nicht wirklich hübsch – aber hoffentlich hübsch genug.
Nach einem tiefen Atemzug nahm sie ihren Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Dann kniff sie sich in die Wangen, damit sie sich ein wenig röteten.
»Inspizieren Sie Ihre äußere Erscheinung, weil sie mich beeindrucken möchten, Miss Montgomery?«
Erschrocken über die Stimme, die so plötzlich erklang, schweifte ihr Blick von ihrem eigenen Bild zum Hintergrund des Raums.
Im Schatten bei der Tür sah sie hohe schwarze Stiefel und enge Breeches. Als sie sich etwas tiefer vorbeugte, tauchte ein weißes Hemd im Spiegel auf, dann sehr dunkles Haar. Anscheinend war der Eindringling ein Diener – von ziemlich niedrigem Stand, wenn er in so zwangloser Kleidung arbeitete.
Natürlich war er kein Dienstbote. Sein Selbstvertrauen hüllte ihn in einen aristokratischen Nimbus, wie es keine Kleidung vermocht hätte. Entspannt stand er da und bekundete seinen Anspruch auf diesen Raum – und auf die Welt außerhalb der Mauern.
Leona richtete sich auf und versuchte eine Pose einzunehmen, die ihm imponieren würde. Langsam und anmutig drehte sie sich um.
»Sind Sie Lord Easterbrook?«
»Der bin ich.«
»Ihre Einladung kam unerwartet, Lord Easterbrook. Trotzdem freue ich mich, Sie kennenzulernen«, fügte sie hinzu und knickste.
Offenbar wartete er auf einen weiteren Kommentar. Was sie nach seiner Ansicht sagen sollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Ihr Lächeln fühlte sich allmählich starr an.
Heiliger Himmel, er glich einem Piraten – jetzt, wo sie ihn von Kopf bis Fuß betrachtete. Er trug exquisite Stiefel. Aber im Großen und Ganzen wirkte er nicht modisch. In langen Wellen fiel ihm das Haar über die Schultern und umrahmte ein jüngeres Gesicht, als sie es vermutet hatte. Jedenfalls fand sie ihn attraktiv genug, sodass ihr sein Verzicht auf ein Jackett und eine Krawatte nicht unhöflich, sondern romantisch erschien. Natürlich war die legere Kleidung beleidigend, ebenso wie die Entführung. Und wie die Dienstbotentreppe, die sie gezwungener Maßen benutzt hatte. Doch daran durfte sie in diesem Moment nicht denken.
Endlich verneigte er sich. »Bitte, verzeihen Sie, auf welche rüde Art Sie hierhergebracht wurden. Um mich zu entschuldigen, kann ich nur meine Ungeduld vorbringen – so schnell wie möglich wollte ich Sie sehen.«
Nun ging er zu ihr und trat ins Licht, das durchs Fenster hereinfiel – und die Stiefel noch schwärzer, das weiße Hemd noch weißer wirken ließ. Zudem verlieh es seinen markanten Zügen unerwartete, fein gezeichnete Konturen. Seine Lippen verzogen sich zu einem warmen Lächeln, das sich zweifellos sehr schnell verhärten konnte.
In Leonas Brust erwachten sonderbare Gefühle – eine düstere Ermahnung zur Vorsicht und ein erregendes Prickeln. Wie er sich bewegte – wie seine Stimme klang – und diese Augen ...
Plötzlich glaubte sie ihn mit kurzem Haar zu sehen, in korrekter Kleidung, mit einem jüngeren, weniger strengen Gesicht. Und dann steigerte sich ihre Verwirrung zu ungläubigem Entsetzen. Bestürzt kniff sie die Augen zusammen.
»Edmund?«
Offensichtlich genoss er ihre Verblüffung und amüsierte sich.
Sollte sie nicht vielleicht doch in Easterbrooks Gesicht schlagen?
Was für ein Schurke bist du eigentlich?
Anscheinend ein sehr schlimmer.
»Schon immer nahm ich an, du hättest uns hintergangen. Aber ich erkannte nicht, in welchem Ausmaß.« In Leonas Stimme schwang heißer Zorn mit. Nicht nur in einer Hinsicht kam sie sich wie eine hilflose Närrin vor. Beinahe verdrängte die Erkenntnis ihrer Demütigung die mädchenhafte Freude über das Wiedersehen. Beinahe ...
Nun erlosch sein Lächeln. »Sicher weißt du, warum ich bei meiner Ankunft in Macao nicht verraten durfte, wer ich bin.«
Ja, das wusste sie. Aber hinter seinem Täuschungsmanöver mochte noch mehr stecken, als er andeutete.
In ihrem Kopf gerieten die möglichen Auswirkungen seiner wahren Identität auf die Vergangenheit und die Zukunft, auf ihre Pläne hier in England, durcheinander. Diese wirren Gedanken entfachten ein Chaos der Emotionen. Doch die wehmütigen Erinnerungen drohten alle anderen Reaktionen zu besiegen. Und so bezwang sie diese gefährlichen Gefühle.
Nun entstand ein beklemmendes Unbehagen zwischen ihnen, hervorgerufen von Distanz und langer Zeit, von den Fragen, die ihr auf der Seele brannten. Das Schweigen machte alles noch schlimmer, Easterbrooks Nähe unerträglich. Welchen Anblick er mit seinem langen Haar bot ... Die Jahre hatten ihn auf verschiedene Weise erhärtet. Noch immer spürte sie das Echo seiner jugendlichen Grübelei. Aber Easterbrook strahlte nichts von Edmunds seelenvoller Wehmut aus.
»Du hast dich verändert«, sagte sie.
»So wie du.« Wie sein anerkennender Blick bekundete, fand er ihre Veränderung sehr reizvoll.
Was das betraf, hatte er seine Meinung nie verhehlt. Vor sieben Jahren war er niemals so höflich gewesen, den Eindruck zu erwecken, zwischen ihnen würde keine Anziehungskraft bestehen. Mit voller Absicht hatte er ihr das Blut in die Wangen getrieben. Und er verwirrte sie immer noch, obwohl sie sich das nicht anmerken ließ. Wärme erfüllte ihren Körper, als würde er ihn mit seinem Blick streicheln.
Viel zu rasch schlug ihr Herz. Ungebeten kehrten die Erinnerungen zurück und beschworen eine alte, geheime Sehnsucht herauf.
Ja, alles kehrte zurück – als wäre sie wieder neunzehn Jahre alt, als würde sie vor dem verführerischen, bewundernden Blick eines dreisten Reisenden zur Frau erblühen. Aber jetzt war sie nicht mehr neunzehn. Und der Reisende hatte ihr seinen Adelstitel verheimlicht. Das änderte alles an der einstigen Freundschaft. Denn es bedeutete, dass er sich ein schändliches Spiel mit ihr erlaubt hatte.
Neue Wut stieg in ihr auf und ließ sich nicht mehr bezähmen. »Oh, du verdammter, elender Schurke!«
Easterbrook hob eine Hand und legte ihr zwei Fingerspitzen auf den Mund. »Was für eine Ausdrucksweise ... Was würde Branca dazu sagen?«
Unter der Berührung bebten ihre Lippen, und ein schrecklicher, wunderbarer Schauer rann durch ihren Körper, bis in ihr Herz hinein.
Um der Gefahr auszuweichen, drehte sie den Kopf zur Seite. »Vor zwei Jahren ist Branca gestorben.«
»Tut mir leid, sie war eine gute Duenna, obwohl ich sie ziemlich lästig fand.«
Unfassbar, wie beiläufig er auf seine zynischen Avancen hinwies ... »Auch mein Vater ist gestorben. Ein Jahr, nachdem du Macao verlassen hattest.«
»Das weiß ich. Die Information erreichte mich über die Company.«
»Ja, von diesen Leuten kriegt ein Marquess sicher alles, was er will. Bist du auf diese Weise damals zurückgefahren? Andere Männer müssen ihre Passage bezahlen oder dafür arbeiten. Aber ein Marquess muss sich dem Kapitän eines East-India-Company-Schiffs einfach nur vorstellen, und prompt geht er an Bord, um eine kostenlose Reise anzutreten.«
Lässig zuckte er mit den Schultern, als wären solche Privilegien unwichtig. »Ich war überrascht, weil du den Namen Montgomery benutzt. Also hast du Pedro doch nicht geheiratet.«
»Nach dem Tod meines Vaters wurde die finanzielle Situation seiner Firma offenkundig. Deshalb zog Pedro seinen Heiratsantrag zurück. Das haben alle verstanden.«
»Sicher warst du enttäuscht.«
»In erster Linie wollte ich die Firma vor dem völligen Ruin retten. Glücklicherweise konnte ich sie für meinen Bruder erhalten. Seit er volljährig ist und Kanton besuchen durfte, laufen die Geschäfte viel besser.«
Easterbrook lächelte. Für einen kurzen Moment glich er Edmund, dessen seltenes Lächeln ihr Herz stets mit Freude und Erleichterung erfüllt hatte.
»Eigentlich glaube ich eher, Leona, die Handelsfirma müsste unter deiner Leitung florieren. Dein Vater verließ sich rückhaltlos auf dich. Und ich nehme an, dein Bruder vertraut dir ebenso.«
»Oh, Gaspar ist sehr geschäftstüchtig. Natürlich helfe ich ihm, so gut ich es kann. Deshalb bin ich nach London gefahren. Ich möchte mit Reedern und Kaufleuten sprechen. Und ich hoffe, sie werden profitable Kontakte mit Montgomery and Tavares aufnehmen.«
Forschend schaute er sie an – teils neugierig, teils bewundernd. Leona behielt ihre Pose eines freundlichen, aber beiläufigen Interesses bei.
In seinen dunklen, tiefliegenden Augen sah sie Humor und Herzenswärme – und eine verwirrende Vertrautheit. Jetzt nahmen seine Züge einen sanfteren Ausdruck an und erschienen ihr nicht nur attraktiv, sondern fast schön. Auf diesen Blick reagierten ihre Instinkte ebenso wie damals in Macao. Sie spürte seine Ausstrahlung – einerseits düster, andererseits auf gefährliche Weise verlockend. Besitzergreifend schien diese Aura in ihre Seele einzudringen. Wozu wollte er sie zwingen? Sollte sie ein Geheimnis ergründen, das sie vernichten würde?
Vor sieben Jahren hatte ihre Unerfahrenheit sie in die Flucht geschlagen, wann immer ihr jene Macht bewusst geworden war. Und jetzt stand sie hier, eine erwachsene Frau, die sich in der Welt umgesehen, mit Muslimen verhandelt und Piraten bekämpft hatte, und sie wollte sich immer noch verstecken.
Stattdessen schirmte sie sich gegen Easterbrooks magnetische Wirkung ab, errichtete schützende Barrieren rings um ihre Seele.
Sofort erlosch sein sanftes Lächeln. Nun betrachtete er sie wieder so prüfend wie zuvor, als versuchte er durch die Schutzwälle zu schauen.
»Also bist du nach England gereist, um Geschäfte für deinen Bruder zu erledigen? Aus keinem anderen Grund?«
So nahe stand er vor ihr. Zu nahe. Um in sein Gesicht zu blicken, musste sie den Kopf in den Nacken legen. »Aus keinem anderen Grund.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Daran zweifle ich.«
»Großer Gott – dachtest du, ich hätte die weite Reise unternommen, um dich aufzuspüren?« In gespieltem Staunen runzelte sie die Stirn. »Gewiss, wäre ich über deine wahre Identität informiert gewesen, hätte ich das getan. In einem einzigen Tag könntest du mir zu Kontakten verhelfen, die ich erst nach wochenlanger Mühe knüpfen würde. Hätte ich gewusst, dass Edmund in Wirklichkeit Easterbrook heißt, wäre ich sofort nach meiner Ankunft in London zu dir gekommen.«
Nun schenkte er ihr ein träges Lächeln, und sie spürte, wie seine Aura sie umgarnte, eine tastende Liebkosung, und Lücken in ihren Verteidigungsbastionen suchte. »Das hättest du wohl kaum getan. Ganz egal, ob ich Edmund oder Easterbrook bin – du wärst weggelaufen und hättest dich vor mir versteckt, ohne zu bedenken, wie ich deiner Mission nützen würde.«
»Warum sollte ich mich vor dir verstecken?«
»Weil ich dir Angst einjage. Damals habe ich das Mädchen erschreckt. Und die Frau fürchtet sich noch immer vor mir.«
So leicht fiel es ihm, sie zu durchschauen, das irritierte sie. Entschlossen straffte sie die Schultern. »Du bist ein bisschen sonderbar – und unhöflich. Heute hast du mich beleidigt, damals warst du etwas zu grüblerisch. Aber du hast mich niemals erschreckt.«
Abrupt trat er näher zu ihr, und sie zuckte beinahe zusammen.
Da lachte er leise. »Siehst du’s?«
Obwohl sich ihre Nasen beinahe berührten, hielt Leona ihre Stellung. »Verwirrung und Angst bedeuten nicht dasselbe, Lord Easterbrook.«
»Als ich Macao verlassen musste, warst du erleichtert. Gar nicht schnell genug konntest du mich auf dieses Schiff verfrachten.«
»Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Oder hast du das vergessen?«
»Zwischen uns standen ungeklärte Fragen. Und du hast es nicht bedauert, einer Konfrontation zu entrinnen. Damals warst du noch nicht zur Frau erwacht – und zu unschuldig, um zu erkennen, dass du meine Gefühle erwidert hast.«
»Da irrst du dich. Aber das alles gehört der Vergangenheit an. Jetzt bin ich kein naives Mädchen mehr. Und du bist nicht mehr Edmund. Diese beiden Unterschiede ändern alles.«
»Offen gestanden, Leona – seit ich dieses Zimmer betreten habe, weiß ich, dass Zeit und Raum und Namen gewisse Dinge kein bisschen ändern.«
Nein, allerdings nicht. Verdammt. Und zum Teufel mit ihm.
So dicht stand er vor ihr und beherrschte sie auf subtile Weise. So nahe, dass er womöglich ihre rasenden Herzschläge hörte ...
Der harte Zug um seinen Mund passte zum arroganten Selbstvertrauen in seinen Augen. Mühelos erkannte er, welche Wirkung er auf sie ausübte. O ja, er wusste, er könnte sie immer noch in eine Neunzehnjährige verwandeln, die ihren Verlobten längst nicht so aufregend fand wie den attraktiven Fremden, den Hausgast ihres Vaters.
Aber etwas hatte sich doch verändert. Als erwachsene Frau verstand sie seine Anziehungskraft auf eine Weise, die dem Mädchen verborgen geblieben war. Jetzt führte sie ihre Reaktion auf eine mysteriöse erotische Lockung zurück. Und sie fürchtete, auch das würde er wissen.
Sie wollte sich abwenden. Aber er hielt ihren Arm fest, zog sie an sich, und seine Kühnheit verblüffte sie.
Mit sanften Fingern berührte er ihr Gesicht und befahl ihr stillzustehen. Sein Blick verlangte unbedingten Gehorsam. Und als er ihren Kopf nach hinten bog, gerieten ihre Gedanken in ein heilloses Durcheinander.
Seine warmen, trockenen Lippen berührten die ihren. So verharrten sie eine Zeit lang. Und dann bewiesen sie, dass er sie immer noch verzaubern konnte.
Wärme. Intimität – so bezwingend und intensiv, dass es ihr fast unnatürlich erschien. Tückisches, sinnliches Schaudern, wachsende Verwunderung.
Die Jahre entschwanden, und sie wurde zum ersten Mal von einem verwegenen jungen Mann mit einer dunklen, chaotischen Seele geküsst – von einem gefährlichen Mann, der ihr Abenteuer des Körpers und des Herzens anbot. Doch sie wagte nicht, das Angebot anzunehmen.
Solange der Kuss dauerte, verbannte er alles Misstrauen. Jugendliche Emotionen erfrischten Leona wie eine Meeresbrise. In ihren Brüsten prickelte eine betörende Erregung, reizte eine teuflische Stelle tiefer unten in ihrem Körper.
Entschlossen verbarg sie, welch ein wildes Feuer er in ihr entfachte. Nur ein Seufzer oder ein Stöhnen – und sie würden wahrscheinlich in diesem apfelgrünen Bett landen. Doch sie bekämpfte ihn nicht. Dafür fehlte ihr die Kraft, die ihr die berauschten Sinne geraubt hatten.
»Welch ein Rätsel du bist, Leona«, murmelte er, seine Hand immer noch auf ihrer Wange. Sein Atem streifte ihr Ohr. »So warst du schon immer. Vielleicht faszinierst du mich gerade deshalb so sehr.«
»Ich glaube, wir alle sind einander rätselhaft.«
»Für mich nur wenige Menschen.«
Mit sanfter Gewalt löste sie seine Hand von ihrem Arm, trat zurück und fasste sich.
»Nachdem du dieses unerwartete Wiedersehen arrangiert hast, wirst du mir vielleicht bei meiner Mission helfen, Easterbrook. Um unserer alten Freundschaft in Macao willen.«
Offenbar fand er es ärgerlich, wie gelassen sie den Gesprächsfaden erneut aufnahm, als wäre inzwischen nichts geschehen. »Das hängt von der Art und Weise der Hilfe ab, um die du mich bittest, Leona.«
»Mach mich mit deinem Bruder bekannt, Lord Hayden Rothwell.«
»Was willst du von Hayden?«
»Wie man mir mitgeteilt hat, kennt er die Geschäftsmänner und Investoren, die ich in London treffen möchte.«
Ein so schlichtes Ansinnen schien ihn zu langweilen. »Gut, wenn du willst, organisiere ich eine Begegnung.«
»Wie freundlich von dir! Dafür bin ich dir sehr dankbar. Und jetzt, so wundervoll es auch ist, alte Freunde wiederzusehen – dieser unverhoffte Besuch hat meine Pläne für diesen Tag hinausgezögert. Darf ich gehen? Ist unsere Unterhaltung beendet?«
Seine Augen verengten sich. So leichthin, wie sie das Wiedersehen – und ihn – abtat, missfiel ihm gründlich. »Oh, wir sind noch lange nicht miteinander fertig, Leona.«
»Nach meiner Ansicht schon, Easterbrook, zumindest für heute. Bitte, das solltest du akzeptieren.«
Diesen Worten folgte ein drückendes Schweigen. Wie sie vermutete, dauerte es nicht länger als zehn Sekunden. In diesem kurzen Zeitraum schien Easterbrook einen Entschluss zu fassen. Die intime Umgebung, das Bett und die Kissen und die sinnlichen Seidenstoffe bildeten keinen neutralen Hintergrund mehr. Stattdessen verwandelten sie sich in sichtbare Argumente für den Wunsch des Hausherrn, das Wiedersehen zu verlängern.
Leona wünschte, sie könnte genug Ärger oder Entrüstung oder Stolz aufbringen und ihre Verteidigungsbastionen erneuern. Könnte sie doch behaupten, der Kuss hätte sie nicht erregt ... In Wirklichkeit tobte ein Wirbelsturm rings um ihr Herz, ihr Körper schmerzte vor heißer Sehnsucht, die sie in Easterbrooks Arme zu treiben drohte.
»Natürlich darfst du gehen«, erwiderte er. »Vor der Tür steht kein Wachposten.«
»Dann nehme ich meine Termine für diesen Nachmittag wahr. Guten Tag, Easterbrook.« Hastig ergriff sie ihren Hut und steuerte die Tür an, auf Beinen, die ihr beinahe den Dienst versagten.
»Leona ...«
Seine leise Stimme hielt sie zurück, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, und sandte einen neuen prickelnden Schauer durch ihren Körper.
»Anscheinend bist du kein unschuldiges Mädchen mehr, das noch nicht zur Frau erblüht ist.«
Sie drehte sich um. In seinen Hemdsärmeln und hohen Stiefeln, mit offenem Kragen, kam er ihr viel zu verführerisch vor. Stärker als in ihrer Erinnerung. Und noch arroganter. Damals hatte es berührende Momente gegeben, wo Edmund ihr verletzlich erschienen war. Diesen Eindruck würde Easterbrook niemals erwecken.
»Welch ein sonderbarer Abschied, Easterbrook. Vielleicht laufe ich doch noch davon und verstecke mich, so wie du es prophezeit hast.«
»Deshalb sorge ich mich nicht. Dank deiner Missionen werden wir in Verbindung bleiben. Und diesmal, Leona, bevor uns irgendein Schiff wieder auseinanderreißt, wirst du mir gehören.«
»Bitte, erklären Sie mir Ihre Wünsche, Lord Easterbrook. Beschreiben Sie, was Sie sich vorstellen, während wir gemeinsam Ihr Spiegelbild studieren.«
Christian spähte in den Spiegel. Über seinen Schultern blickte ihm ein rundes Gesicht entgegen.
»Nun, ich wünsche, dass Sie mein Haar schneiden. So etwas tun Sie doch, nicht wahr?«
In geheuchelter Bescheidenheit lächelte das Mondgesicht. »Ich pflege die Haare nicht nur zu schneiden, Lord Easterbrook. Das könnte auch Ihr Kammerdiener erledigen. Ich arrangiere das Haar der Gentlemen, ich stilisiere es. Denn ich bin ein Künstler. So wie ein Bildhauer den Stein nicht nur meißelt ...«
»Ja, ja. Also gut, seien Sie ein Künstler. Aber übertreiben Sie es nicht.«
Das Gesicht verschwand, und zwei fleischige Hände hoben das Haar hoch, wogen es, schienen zu überlegen und dann ein Urteil zu fällen.
Jetzt tauchte eine Schere auf. »Lassen wir Ihrem Haar seinen Willen, Sir – mit diesen rastlosen Wellen. Nur ein kleines bisschen wollen wir es zähmen und bis hierher kürzen.« Die Schere berührte Christians Schulter.
Weil Christian nicht sehen wollte, wie die Locken herabfielen, schloss er die Augen. Genauso entzog er sich der seltsamen Intensität, die der »Künstler« bei seiner Arbeit ausstrahlte.
In diesem Moment bildete sich das Zentrum nicht. Aber Christians eigene Gedanken erzeugten einen nebulösen Zufluchtsort, der seine Sensibilität zerstreute. Während der letzten Tage hatte er geübt, und inzwischen fand er diesen Ruhepunkt viel leichter. Den würde er in den nächsten Wochen brauchen.
In seiner Fantasie beobachtete er noch einmal durch das Schlafzimmerfenster, wie Leona sein Haus verlassen hatte.
Bevor sie in die Kutsche stieg, hielt sie inne, wandte sich zur Fassade und blickte zu dem Fenster hinauf, an dem er stand. Sie hatte ihn nicht gesehen. Da war er sicher. Aber selbst wenn sie seinen prüfenden Blick bemerkt hätte – niemals würde sie ihrer Miene gestatten, dergleichen zu verraten.
Ihr Zorn war offensichtlich gewesen. Und ihre Entrüstung. Was hatte er sonst noch entdeckt? Verlegenheit? Wahrscheinlich. Und noch etwas hatte sich in ihren Augen gezeigt. Sorge? Misstrauen? Kummer? Was in ihr vorging, konnte er niemals feststellen. Sie besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, sein sonderbares Wahrnehmungsvermögen, das die Gefühle anderer Menschen betraf, abzuwehren. Bisher war er nur wenigen Leuten begegnet, die diese Immunität demonstrierten.
Was Leona empfand oder dachte, blieb ihm ein Rätsel. Abgesehen von ihrer Leidenschaft. Um diese Emotion in einer Frau zu spüren, brauchte kein Mann ein besonderes Talent. Schon gar nicht, wenn er sie küsste.
Daran hatte sich nichts geändert, trotz all ihrer Mühe, etwas anderes vorzutäuschen. Sobald er das grüne Schlafzimmer betreten hatte, war die Anziehungskraft zwischen ihnen so stark gewesen wie eh und je – die Realität noch stärker als die Erinnerung – und die Erinnerung kaum verblasst. Nach sieben Jahren ein reines Wunder, dass er sie nicht sofort in seine Arme gerissen hatte ...
Christian würde es vorziehen, sie hätte sofort akzeptiert, was sie mit ihm verband und was das bedeutete. Was sein musste, sollte sie sich eingestehen. Stattdessen wollte sie umworben werden. Dadurch zwang sie ihn, vorerst seinen Teil seiner Gewohnheiten aufzugeben.
Nun, meinetwegen, dachte er.
Wie große, lästige Insekten schwirrten die Finger um sein Gesicht herum. Die klappernde Schere störte die Erinnerung an jenen aufschlussreichen Kuss. Plötzlich verstummten die Geräusche, und Christian öffnete die Augen. Über seiner Schulter strahlte ein rundes Gesicht im Spiegel.
»Gefällt Ihnen die Frisur, Lord Easterbrook? Ich glaube, sie steht Ihnen gut. Sogar sehr gut.«
Sein Haar sah fast genauso aus wie vor einer Stunde. Nur etwas kürzer und nicht mehr so zerzaust. Falls der Künstler diesen Stil für modern hielt, stimmte es vermutlich.
»Ja, ich bin zufrieden.« Christian streifte den Umhang ab, der seine Kleidung schützte.
Eine Tasche mit Scheren, Kämmen und Pomaden in der Hand, zog sich der Friseur zurück, und Christian läutete nach seinem Kammerdiener.
»Mylord?«
»Bestellen Sie den Schneider hierher.«
Verwirrung. Sorge. Armer Phippen. Die morgendliche Parade der Boten, Händler und anderer Besucher beunruhigte ihn. Immerhin legte diese abrupte, uncharakteristische Aktivität die Vermutung nahe, die schlimmsten Gerüchte über den Geisteszustand seines neuen Herrn würden den Tatsachen entsprechen. »Darf ich fragen, Mylord – welchen Schneider? Weston? Stulze?«
»Nein, Davidson«, befahl eine Stimme.
Bestürzt wandte Phippen sich zu dem Mann, der soeben den Ankleideraum betreten hatte. »Soll ich nach Mr. Davidson schicken, so wie es Lord Hayden empfohlen hat?«
»Schon seit Jahren weiß unsere Familie Davidsons Dienste zu schätzen«, erklärte Hayden. »Wenn Lord Easterbrook einen Schneider erwähnt, meint er nur diesen. Empfängst du ihn neuerdings noch vor der ersten Anprobe, Christian? Er hat deine Maße. Normalerweise überlässt du ihm die Wahl des Stoffs und des Schnitts, wenn du einen neuen Anzug brauchst. Und da du nur selten einen Fuß vor deine Haustür setzt, gibt es keinen Grund, warum du dich mit solchen Dingen befassen solltest.«
»Teilen Sie Davidson mit, ich möchte ihn heute Nachmittag hier sehen, Phippen«, sagte Christian.
***
Hayden warf sich in einen Sessel. Einige Sekunden lang ließ er seinen Blick durch den Ankleideraum schweifen, bevor er sich zu Christian wandte.
Beim Anblick des gekürzten Haars verengten sich seine blauen Augen. Neugier. Intensive Neugier.
»Heute scheinst du die Dienste sehr vieler Leute zu beanspruchen, Christian. Schneider, außerdem Friseure, wenn ich mich nicht irre. Und mich.«
Christian sank in einen anderen Polstersessel. Im Ankleidezimmer standen fünf von dieser Sorte – alle ziemlich abgewetzt, wie er feststellte. »Bereitet dir meine Bitte irgendwelche Unannehmlichkeiten?«
»Komm vor zwölf Uhr mittags hierher – das ist keine Bitte.«
»Das habe ich dir geschrieben? Eigentlich hatte ich vor, es anders zu formulieren. Bitte, besuch mich vor zwölf Uhr mittags, wenn deine liebe Gemahlin dich entbehren kann. Wie geht es Alexia?«
»Bald ist es so weit. Spätestens in vierzehn Tagen.«
Stolz. Liebe. Auch Angst. Letztere Emotion, die Hayden nur selten empfand, war verständlich, wenn ein Mann der Geburt eines Kindes entgegenblickte.
»Was willst du, Christian?«
»Ich möchte dich mit jemandem bekanntmachen.«
Erneut verengten sich Haydens Augen, als er Christians Frisur betrachtete. Dann spähte er zur Tür und schien sich an den Schneider zu erinnern, den Phippen gerade verständigte. »Geht es um eine Frau?«
»Ja.«
»Hoffentlich forderst du uns nicht auf, deine Geliebte zu empfangen. Wie ich gewissen indiskreten Gerüchten entnehme, hast du dich mit Mrs. Napier eingelassen. Unter den Umständen, die Alexias Cousine Rose und die delikate gesellschaftliche Situation betreffen, würde ich lieber warten, bis ...«
»Keine Geliebte. Und ganz sicher nicht Mrs. Napier. Die Dame ist eine alte Freundin, die dich kennenlernen möchte. Also habe ich versprochen, ich würde euch einander vorstellen.«
»Eigentlich nahm ich an, du hättest keine Freunde – weder neue noch alte, männliche oder weibliche.«
»Dann hast du zu viel vorausgesetzt. Manchmal neigst du dazu. Diese Freundin ist ein Besuch aus Macao, und sie möchte aus geschäftlichen Gründen mit dir reden.«
Hayden stand auf und wanderte zum Toilettentisch. Geistesabwesend strich er über die Haarbürsten. Dann drehte er sich plötzlich um und verschränkte die Arme vor der Brust. »Macao?«
»Ihr Vater war ein Country Trader. So nennt man die Geschäftsleute, die von der East India Company autorisiert werden, den Handel zwischen den indischen Häfen zu organisieren. So wie viele andere expandierte er sein Unternehmen und kümmerte sich um den Warenaustausch zwischen Indien und mehreren anderen asiatischen Ländern.«
»Was ein Country Trader ist, weiß ich, Christian. Immerhin verwalte ich die Finanzen unserer Familie.«
»Verzeih mir. Nun, bei meinem Besuch in Macao freundete ich mich mit Montgomery an. Dort hatte er in eine portugiesische Familie eingeheiratet. Dank dieser Verbindung etablierte er sich und stieg via Kanton in den Handel mit den Chinesen ein, zusätzlich zu seinen Geschäften an der indischen Küste. Jetzt ist seine Tochter nach London gekommen und ...«
»Du warst in Macao?« Haydens Empörung schien die Luft zu verpesten. »Während jener Jahre, wo du verschwunden warst und kein Mensch verdammt nochmal deinen Aufenthaltsort kannte?«
»Hab ich Macao nie erwähnt?«
»Nein, zum Henker! Kein einziges Mal hast du von der Zeit gesprochen, wo du plötzlich verreist warst. So schmählich hast du uns im Stich gelassen, deine Pflichten – einfach alles!«
»Also habe ich nie davon erzählt? Das wusste ich gar nicht.«
»Hör mal, du hast unsere Fragen ignoriert! Wenn du das nicht weißt, dann nur wegen deiner überwältigenden Selbstsucht und ...«
»Anscheinend habe ich deine Neugier endlich befriedigt. In Macao lernte ich Miss Montgomery kennen. Inzwischen hat ihr Bruder das Unternehmen des Vaters geerbt. Während der Geschäftsleitung des Vaters erlitt es einige Missgeschicke. Davon hat er sich wahrscheinlich noch nicht erholt. Jetzt möchte Miss Montgomery in London Kontakte knüpfen, die ihrem Bruder helfen würden. Und sie bat mich, ich möge sie vor allem mit dir bekanntmachen.«
»Wo warst du sonst noch? Außer Macao?«
»In Indien, Tibet, zwei Wochen in China, obwohl ich beinahe verhaftet wurde. In Russland ...«
»Was, in Tibet?«
»An allen möglichen Orten, Hayden. Aber du hast unser Gespräch von meinen Plänen abgelenkt.«
»Zum Teufel mit deinen Plänen!«
Haydens Zorn schien in der Luft zu knistern. Das nahm Christian resignierend hin. Nur ganz selten tolerierte er solche gewaltigen Angriffe auf seinen Geist – eigentlich nur, wenn seine beiden Brüder ihn attackierten. Man konnte nicht ständig im dunklen Zentrum existieren. Und letzten Endes glich das Wissen um die Freuden der Brüder das Mitempfinden ihrer Leiden aus.
Geduldig wartete er, bis Haydens Zorn ein wenig verebbte. Sein Bruder war ein sehr vernünftiger Mann. Bald würde der Sturm restlos abflauen.
»Wie ich annehme, wird Miss Montgomery mindestens vierzehn Tage in der Stadt bleiben«, bemerkte Hayden in einem beiläufigen Ton, der zu seiner erneuerten, aber immer noch gefährdeten Gelassenheit passte. »Im Augenblick fällt es mir schwer, an Finanzen und Handelsgeschäfte zu denken.«
»Natürlich kann deine Begegnung mit Miss Montgomery auf einen Zeitpunkt nach der Geburt deines Kindes verschoben werden – falls du das meinst.«
»Dann schick mir eine weitere deiner gebieterischen Vorladungen, wenn es so weit ist, und wir arrangieren ein Treffen mit der Dame.« Seufzend stand Hayden auf und ging zur Tür. »Russland und Tibet. Verdammt!«
***
Nachdem Hayden sich entfernt hatte, kehrte die Erinnerung an Leonas erzwungenen Besuch zurück. Wieder einmal tauchte ihr Gesicht in Christians Fantasie auf – so wie es in jenem Moment ausgesehen hatte, wo sie in die Kutsche gestiegen war, um ihre Nachmittagspläne durchzuführen.
Nun fragte er sich, was sie beabsichtigt hatte. Dass sie sich in London aufhielt, weil sie die Geschäfte ihres Bruders fördern wollte, bezweifelte er nicht. Doch er vermutete, sie hatte noch nicht verziehen, auf welche Art und Weise die Firma vor sieben Jahren fast ruiniert worden war.
Er schlenderte in den Fechtraum und in die einstige Ankleidekammer, die daran grenzte. Jetzt diente sie als Lager. Darin verwahrte er persönliche Gegenstände, die er nicht mehr brauchte. Während er Kisten und Truhen beiseiteschob, schweifte sein Blick zu einer Wand, an der gerahmte Sammlungen von aufgespießten Insekten, Farnen und Samenkörnern hingen.
Mit diesen Sammlungen verschwendest du zu viel Zeit, Christian. Sicher wäre es besser, du würdest Bücher lesen oder Schießübungen mit deinen Pistolen absolvieren. Mit einem Sohn, der sich zu einem dieser verrückten Schmetterlingsjäger entwickelt, kann ich wirklich nichts anfangen.
Aber er hatte sehr viele Bücher gelesen und seine Pistolen oft genug abgefeuert. Bücher und Waffen. Damit konnte man sich privat befassen. Allein.
Genau genommen hatte er sich nicht besonders für Insekten und Samenkörner interessiert. Diese Beschäftigung hatte er nur als Vorwand benutzt, um über Wiesen und durch Wälder zu wandern. Denn dort wurde er von seiner unangenehmen, oftmals schmerzlichen Fähigkeit verschont, das Unglück anderer Menschen zu spüren. Im Heim seiner Jugend war das Leid ein ständiger Gast gewesen.
Er rückte eine Truhe in die Mitte des Raums und öffnete sie. Mit den Souvenirs seiner zweijährigen Reise gefüllt, enthielt sie nur wenige wesentliche Erinnerungen. Jene Fahrt hatte er unternommen, um zu flüchten, und keineswegs, um Entdeckungen zu machen.