Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt - Johannes Wallmann - E-Book

Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt E-Book

Johannes Wallmann

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Beschreibung

Das Buch des bekannten Kirchenhistorikers erinnert an in der Evangelischen Kirche Unbekanntes oder Vergessenes zum Verhältnis von Kirche und Judentum. Es beginnt mit der Evangelischen Gemeinde Theresienstadt, der Gemeinde der Protestanten jüdischer Herkunft, die einen beträchtlichen Teil der Menschen im Theresienstädter Lager ausmachten. Sodann behandelt es die Rezeption von Martin Luthers Judenschriften vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, das Verhältnis des Pietismus zum Judentum und die Ursprünge des sogenannten Judensonntags. Weiter wendet es sich dem Hintergrund des Eisenacher "Entjudungsinstituts" zu, bevor es das Verhältnis von Luthertum und Zionismus in der Zeit der Weimarer Republik beleuchtet. [The Protestant Congregation of Theresienstadt] The book wants to remind the public of unknown people and events in the context of Jewish-Christians relations. First it deals with the Protestant congregation of Theresienstadt, i.e., the congregation of the Protestants with Jewish ancestors who made up a considerable part of the people deported to the Nazi Concentration Camp near Prague. It goes on to discuss the reception of Martin Luther's writings on the Jews from the 16th to the 19th centuries, followed by chapters on the relationship of Pietism to the Jews and on the origins of the so-called "Judensonntag" ("Sunday of the Jews"). Next the book examines the background of the "Entjudungsinstitut" (Institute for the elimination of Jewish influence on the church) in Eisenach, before it finally looks into the relationship of Lutheranism and Zionism during the Weimar Republic.

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Johannes Wallmann

Die Evangelische Gemeinde

Theresienstadt

Zum Umgang der evangelischen Kirche mit ihrer Geschichte

Johannes Wallmann, Dr. theol. Dr. h. c., Jahrgang 1930, studierte Evangelische Theologie in Berlin und Tübingen. Er war von 1970 bis 1996 Professor für Kirchengeschichte an der Ruhr-Universität in Bochum, seit 2002 Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Ehrendoktor der Universität Helsinki.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gesamtgestaltung: makena plangrafik, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-06002-3

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Die in diesem Band versammelten Aufsätze, die dem Thema Kirche und Judentum gelten, das mich lebenslang beschäftigt hat, sind zu verschiedenen Zeiten entstanden. Der erste und längste Aufsatz Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt ist der jüngste und erscheint hier zum ersten Mal. Der zweite Aufsatz Die Rezeption von Luthers Judenschriften von der Reformation bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist der älteste, doch erscheint er hier erstmals in deutscher Sprache. Es ist die deutsche Fassung eines Vortrags, den ich aus Anlass des Lutherjubiläums 1983 in New York im Haus des American Jewish Committee vorgetragen habe und der in den USA in der Zeitschrift Lutheran Quarterly unter dem Titel The Reception of Luthers‘s Writings on the Jews from the Reformation to the End of the 19thCentury erschien. Ich ergreife die Gelegenheit nachzuholen, was beim damaligen Druck versäumt worden ist, der Übersetzerin Cornelia Niekus Moore, damals Professorin an der Universität von Hawaii, jetzt Emerita in Fairfax/Virginia, späten, aber herzlichen Dank zu sagen. Seinerzeit habe ich den Aufsatz in Deutschland nicht veröffentlicht, um mit meiner Bestreitung einer wirkungsgeschichtlichen Linie von Luther zu Hitler nicht Beifall von der falschen Seite zu erhalten. Er ist in einigen Einzelheiten, nicht jedoch im Ganzen überholt und wird nach wie vor immer wieder herangezogen, so dass es angebracht erscheint, ihn jetzt auch in deutscher Sprache vorzulegen. Dazu kommen vier weitere Beiträge, die in jüngerer Zeit entstanden und an anderen Stellen schon einmal erschienen sind. Für Hilfe bei der Druckvorbereitung danke ich PD Dr. Andreas Stegmann.

Berlin, im Februar 2019

Johannes Wallmann

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1.Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt

2.Die Rezeption von Luthers Judenschriften von der Reformation bis zum Ende des 19. Jahrhunderts

3.Der Pietismus und das Judentum

4.Der von Luther angeblich eingerichtete Judensonntag

5.Ein Vermächtnis Kaiser Wilhelms II. Was hat Walter Grundmanns Eisenacher »Entjudungsinstitut« mit Martin Luther zu tun?

6.Luthertum und Zionismus in der Zeit der Weimarer Republik

7.Erstveröffentlichungsnachweise

Endnoten

Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt

Unsere Kirche hat nicht nur die Menschen jüdischer Herkunft in ihren Reihen und ihre Biographien endlich zu entdecken … ›Totschweigen‹ wäre ein zweites Auslöschen aus unserer Mitte.1

»Dass es in Theresienstadt eine evangelische Gemeinde gegeben hat, der die jüdische Selbstverwaltung einen Raum für den sonntäglichen Gottesdienst einräumte, kann man in jüdischen Darstellungen lesen. Doch die heutige Generation evangelischer Christen soll, was in der Nachkriegszeit reich dokumentiert war, nicht mehr wissen.« Als ich dies im Oktober 2017 in einem Leserbrief im Deutschen Pfarrerblatt schrieb,2 schickte mir der im Ruhestand lebende Pfarrer Gert Steuernagel, der mit Jugendgruppen Theresienstadt besucht hat, ein Liederheft mit seinem Lied über Theresienstadt.3 Von einer evangelischen Gemeinde in Theresienstadt habe er als evangelischer Pfarrer nie etwas gehört.

Ich habe Pfarrer Steuernagel geantwortet: »Kein Wort Ihres eindrucksvollen Liedes verliert an Gewicht, wenn man sich klarmacht, dass in Theresienstadt nicht nur Glaubensjuden saßen, sondern auch Mitglieder einer evangelischen Gemeinde, die aus Christen jüdischer Herkunft bestand. Ich werfe der EKD vor, dass diese Gemeinde, über die es in der Nachkriegszeit hinreichend Literatur gab und über die eigentlich in der Kirchengeschichte berichtet werden muss […], heute von der EKD verschwiegen wird.«4

Doch kann man von einem Verschweigen reden? Der Berliner Bischof Wolfgang Huber hat in einer Predigt zum Buß- und Bettag 2002 unter dem Eindruck, dass es in Theresienstadt eine evangelische Gemeinde gab, zum Gedenken an die Christen jüdischer Herkunft aufgerufen.5 In seiner Predigt und in dem Geleitwort zu dem Band, in dem diese Predigt gedruckt wurde, sagt er, wie sehr es ihn bewegt habe, von der Gemeinde in Theresienstadt zu erfahren.6 Nachdem der Paulusbund, die Selbsthilfeorganisation von Christen jüdischer Herkunft in den ersten Jahren des Dritten Reiches, schon früher untersucht und auch anderwärts den Christen jüdischer Herkunft nachgegangen worden war,7 bildeten sich auf die Predigt Bischof Hubers hin zahlreiche Gruppen in Gemeinden und Landeskirchen, die in Taufbüchern und kirchlichen Archiven Zahl und Namen der Christen jüdischer Herkunft ausfindig zu machen suchten, um deren leidvolles Schicksal sich in der NS-Zeit niemand gekümmert hatte, so beispielsweise in Berlin8 und in Hessen9. Doch nach den Mitgliedern der evangelischen Gemeinde in Theresienstadt kann man nicht in Taufbüchern oder kirchlichen Archiven suchen. Diese Gemeinde gibt es nicht mehr. Deshalb muss man sich nach anderen Zeugnissen umsehen, die uns von dieser Gemeinde Kenntnis geben.

Die auflagenstarke Zeitschrift idea-Spectrum wollte aus meinem Leserbrief an das Pfarrerblatt eine Meldung machen und schickte mir einen Text zur Genehmigung: »Laut Prof. Wallmann gab es in Theresienstadt eine evangelische Gemeinde«. Ich habe dem Redakteur Matthias Pankau, inzwischen Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, untersagt, das zu drucken.10 Dass es in Theresienstadt eine evangelische Gemeinde gab, sei in der Forschung und, wie ich meinte, in der Öffentlichkeit weithin bekannt.11 Ich hatte gedacht, dass in der Kirche nur unter den Jüngeren durch das Schweigen der EKD Unkenntnis herrsche. Doch Redakteur Pankau wies mich darauf hin, dass er im regelmäßigen Gedankenaustausch mit seinem Großvater, einem hochbetagten sächsischen Pfarrer, stehe, der auch nichts von der evangelischen Gemeinde Theresienstadt wisse. Tatsächlich ist die Existenz dieser Gemeinde, wie Rückfragen bei Kollegen und befreundeten Pfarrern ergaben, heute in der evangelischen Kirche unbekannt.

Von einem Verschweigen der Evangelischen Gemeinde Theresienstadt kann man also nicht reden, wohl aber von einem Vergessensein. Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder haben in Band 4 ihres Sammelwerks Juden – Christen – Deutsche 1933–194512 die evangelische und die katholische Gemeinde Theresienstadt ausführlich behandelt und sogar mit Bildern dokumentiert.13 Doch dieser Band, der mir selbst erst am Ende meiner Forschungen vor Augen kam, ist kaum bekannt. Als ich den Kollegen Röhm und Thierfelder, die wie ich mit Klaus Scholder befreundet waren, von meinem Vorhaben berichtete, die evangelische Gemeinde Theresienstadt in einem Aufsatz darzustellen, forderten sie mich empört auf, die Behauptung, diese Gemeinde sei unbekannt, zu unterlassen. Ihr Werk, in dessen viertem Band diese Gemeinde ausgiebig dargestellt werde, sei wie ihre vorangehende Ausstellung Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz im Deutschen Bundestag von 1981/82, die ein großer Erfolg war, in allen Landeskirchen der evangelischen Kirche gut bekannt und in Rezensionen gründlich besprochen worden. Die EKD habe das Werk unterstützt, große Stiftungen und zwölf Landeskirchen hätten es finanziert. Es würde eine »Gespensterdiskussion« geben, wenn ich etwas anderes behauptete.14 Als Beleg teilten sie mir mit, was einige Kapazitäten ihnen zu Band 4 geschrieben haben. Weil ich meinen Aufsatz mit einem Zitat von Martin Stöhr beginne – ich hatte ihnen die ersten Seiten meines Aufsatzes zugesandt –, ließen sie mir zukommen, was Stöhr als Dank für ein ihm zugesandtes Vorausexemplar von Band 4 geschrieben habe. Er freue sich, dass »ein wahres Jahrhundertwerk« nun abgeschlossen worden ist. Ähnlich überschwänglich hätten andere für den Band 4 gedankt. Der inzwischen verstorbene Martin Greschat habe von einem nun zu einem würdigen Abschluss gekommenen »klassischen Werk« gesprochen, »das auch kommenden Generationen hilft, diese Vergangenheit im Blick zu behalten«. Michael Häusler, der Direktor des Archivs des Diakonischen Werkes der EKD, habe sich gefreut über die Zusendung des letzten Teilbandes des »wirklich umfassenden Werkes über das Schicksal der ›nichtarischen Christen‹ und die Stellung der Kirchen zu den Juden und zu ihren rassisch ausgegrenzten Gliedern«. Die breite Rezeption, die die bisherigen Bände zu Recht bereits erfahren haben, werde sicherlich auch diesem letzten Teilband zukommen. Das sind nur Bruchstücke dessen, was mir Röhm und Thierfelder in einem langen Briefwechsel zusandten. Die Heftigkeit ihrer Reaktion zeigte, dass sie den Eindruck hatten, ich bezweifelte den Erfolg ihres Lebenswerks – was mir ganz fern lag.

Allerdings hatte ich so viele Freunde und Kollegen, dazu eine Reihe mir bekannter Pfarrer, befragt, dass ich meine Behauptung aufrecht erhielt. Der Kollege Wolfgang Sommer (Neuendettelsau), der sich intensiv mit der Kirchengeschichte im Dritten Reich befasst hat, antwortete mir, als ich ihm von meinem Streit mit Röhm und Thierfelder erzählte: »Mir geht es genauso wie den Kollegen [Thomas] Kaufmann und [Martin] Ohst, die keine Kenntnis über die Gemeinde Theresienstadt haben. Als ich von Ihnen hörte, dass Sie einen Aufsatz über eine Gemeinde in Theresienstadt schreiben, war ich verwundert, dass es so etwas überhaupt gibt. […] In unserer Bibliothek habe ich die Bände ›Juden – Christen – Deutsche‹ nun noch einmal angeschaut, die ersten drei waren mir bekannt, die beiden Bände 4 bisher nicht. In Band 4/2 wird im 35. Kapitel über die Gemeinden (es gab wohl auch eine katholische) berichtet, aber m. E. ist das wahrlich völlig unbekannt in der evangelischen Kirche. Ich habe es jedenfalls erst durch Sie erfahren.«

Als mir Röhm und Thierfelder die vielen Rezensionen entgegenhielten, stellte ich Ihnen gegenüber die Behauptung auf, dass es eine Rezension, die den Band 4 bekannt gemacht hätte, wohl nie gegeben habe. Ich erkundigte mich bei der Theologischen Literaturzeitung und erfuhr, dass der Band 4 im Unterschied zu den von Eike Wolgast sehr gründlich rezensierten Bänden 1, 2 und 3 nie rezensiert worden ist.15 Herr Kollege Wolgast antwortete mir auf meine Nachfrage, er sei nie um eine Rezension gebeten worden. Er erfahre erstmals durch mich, dass es einen Band 4 überhaupt gibt. Als ich das Röhm und Thierfelder mitteilte, wurde ihnen klar, dass ich keine »Gespensterdiskussion« begonnen hatte. Sie entschuldigten sich bei mir. Ich stellte daraufhin fest, dass das Einvernehmen unter den Freunden Klaus Scholders wiederhergestellt sei.16

Der Streit um das Bekanntsein der Gemeinde Theresienstadt ist keine Belanglosigkeit, der nach gütlicher Beendigung vergessen werden kann. Durch ihn wird klar, dass bei Band 4 des Werkes von Röhm und Thierfelder eine genaue Parallele zu dem vorliegt, was jüngst Dorothea Wendebourg in ihrem Aufsatz Die Bekanntheit von Luthers Judenschriften im 19. und 20. Jahrhundert aufgewiesen hat.17 Sie hat gezeigt, dass die Publikation eines Buches und sein Vorhandensein in Bibliotheken noch nichts über sein Bekanntsein sagt. Dass Luthers unselige Judenschriften von 1543 jahrhundertelang in den Gesamtausgaben nachgedruckt und so in Bibliotheken vorhanden waren, führt in der Bremer Synodalkundgebung Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum vom 11. November 2015 zu dem Satz »Auf Luthers Ratschläge konnte Jahrhunderte lang zurückgegriffen werden«, was ihr Bekanntsein in evangelischer Kirche und Öffentlichkeit voraussetzt. Das ist ein Fehlschluss.18 Die auch unter Kirchenhistorikern verbreitete Meinung, die Publikation eines Werkes und sein Vorhandensein in den Bibliotheken beweise sein Bekanntsein in der Öffentlichkeit, ist irrig. Deshalb ist dies hier so ausführlich geschildert.

Angesichts der meinem Aufsatz vorangestellten Mahnung Martin Stöhrs muss also an die unbekannte Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt erinnert werden. Ich gehöre nicht einer Generation an, die bei Theresienstadt an die Zeit ihrer Väter und Großväter denkt. Mich bewegt Theresienstadt persönlich, weil ich als elfjähriger Junge jeden Sonntag im Gottesdienst der Bekenntnisgemeinde Berlin-Friedenau zwischen Menschen mit dem gelben Stern auf der Brust saß, die alsbald nach Theresienstadt deportiert wurden. Nachdem Heinrich Grüber ins KZ gebracht worden war, war die Bekenntnisgemeinde Friedenau nach Kriegsbeginn die einzige Gemeinde in Berlin, zu deren Gottesdiensten ausdrücklich auch Juden eingeladen waren.19 Wilhelm Jannasch, der Pfarrer, der 1936 die einzige Denkschrift der Bekennenden Kirche, in der gegen die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten protestiert wurde, in die Reichskanzlei trug, ließ unerschrocken an den Gottesdiensten Menschen mit dem gelben Stern teilnehmen. Elisabeth Schmitz gab in Friedenau Taufunterricht für Juden. Dass ich sonntags neben Menschen mit dem gelben Stern auf dem Mantel saß, war mir unverständlich, aber besonders eindrücklich, weil mein Großvater, ein 1933 von den Deutschen Christen aus seinem Amt gejagter Berliner Superintendent, der mich nach dem frühen Tod meines Vaters zu sich genommen hatte, nachts im Luftschutzkeller, wenn die englischen Bomber über uns dröhnten, laut und mir unvergessen mit dem Luftschutzwart stritt, der behauptete, die Juden seien am Kriege schuld. Sein entschiedenes, oft wiederholtes »Nein, die Juden sind nicht am Kriege schuldig« klingt mir noch heute im Ohr. Das Sitzen neben Menschen mit dem Davidsstern auf der Brust ist mir lebenslang unvergesslich geblieben und hat meinen theologischen Lebensweg entscheidend geprägt.

Dazu kommt ein Zweites. Als wir, in Berlin ausgebombt, bei meiner Mutter in Erfurt Unterkunft fanden und ich kurz vor Kriegsende dort von meinem Großvater konfirmiert werden sollte, bot eine Frau Lebram meiner Mutter den Anzug an, den ihr Sohn Christian zu seiner Konfirmation getragen hatte, damit ich in einem Anzug mit langen Hosen konfirmiert werde. Christian Lebram, mein einige Jahre älterer Schulkamerad, war der Sohn des Medizinalrats August Lebram, der in Theresienstadt saß.20 Ich weigerte mich hartnäckig, den Anzug eines ›Juden‹ zu tragen. Ich hatte, wenn ich jeden Abend die Erträge unserer Buchhandlung bei der Commerzbank abliefern musste, in dem Schaukasten des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer, der am Reglerring in Erfurt vor der Commerzbank stand, als prüde erzogener Knabe immer neugierig Streichers pornographische Artikel verschlungen, denen ich entnahm, dass Juden arische deutsche Mädchen verführten und Ungeziefer seien, das besser ausgerottet würde. Das erzeugte einen unüberwindlichen Widerwillen in mir, den Anzug eines Juden anzuziehen. So war in unserer jüdischversippten Familie – der älteste Bruder meiner Mutter war ein mit einer Nichtarierin verheirateter evangelischer Pfarrer – 21 ich elfjähriger Junge der vom NS-Rassenantisemitismus Verseuchte und muss mich lebenslang schämen, als Antisemit nicht in einem ordentlichen Anzug konfirmiert worden zu sein.

Dass nach Kriegsende Ludwig Brinckmann, ein sogenannter Halbjude, der zur Oberrealschule ging, weil dessen christlicher Direktor ihn als Schüler aufnahm, an unser Humanistisches Gymnasium wechseln konnte und mein enger Freund wurde, machte meiner antisemitischen Jugendphase bald ein Ende. Ludwig, ein Christ, der in Israel Verwandtschaft hatte, ist lebenslang mein Freund geblieben. Als ich ihm später von der Scham über meine Konfirmation berichtete, hat er dies lächelnd für belanglos erklärt und mir von seiner geschiedenen Frau erzählt, dass sie ihn bei Streitigkeiten mit »Du Jude« angeredet habe, was ihn sehr getroffen habe. Doch mein ganzes Leben kann ich nicht vergessen, dass ich der Antisemit in unserer Familie war. Wenn heute selbst ein Redakteur einer evangelischen Zeitschrift von der evangelischen Gemeinde Theresienstadt nichts weiß, halte ich es für meine Pflicht, der Vergesslichkeit der eigenen Kirche entgegenzusteuern.

*

Theresienstadt, eine von Joseph II. gebaute und nach seiner Mutter Maria Theresia benannte Festungsstadt in Nordböhmen, war kein KZ, obwohl es Überlebende so empfunden und in ihren Erinnerungen so genannt haben. In den KZ saßen auch politische Gegner der Nationalsozialisten wie die Kommunisten oder Homosexuelle. In Theresienstadt saßen nur Juden im Sinne der Nürnberger Rassegesetze. Theresienstadt war auch kein Ghetto, wie es die SS in Treblinka, Riga und anderen Orten der osteuropäischen Länder einrichtete. Theresienstadt, jüdisches Siedlungsgebiet genannt, war von der SS als Instrument zur Verschleierung der Vernichtung der Juden gegenüber der westlichen Welt gedacht. Der Führer schenkt den Juden eine Stadt hieß der Propagandafilm, der von August bis September 1944 in Theresienstadt gedreht, im März 1945 fertiggestellt und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz der Schweiz gezeigt wurde. Der Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron, ein Katholik jüdischer Herkunft, der vor 1933 in Brechts Dreigroschenoper gespielt hatte, aber 1933 in die Niederlande emigrierte und im Krieg über Westerbork nach Theresienstadt kam, durfte als Regisseur diesen Film mit jüdischen Schauspielern drehen und der Welt zeigen, welches herrliche, selbstbestimmte Leben die Juden mit Sportvereinen, Konzerten, Opern und bei viel Geselligkeit führten. Der Sprecher der Wochenschau im Herbst 1944 kommentierte Bilder vom Kriegsschauplatz mit eingeblendeten Szenen dieses Films:

»Während in Theresienstadt Juden bei Kaffee und Kuchen sitzen und tanzen, tragen unsere Soldaten alle Lasten eines furchtbaren Krieges, Not und Entbehrungen, um die Heimat zu schützen.«

Vieles, was in dem Film gezeigt wurde, existierte in Theresienstadt wirklich. Der Film log nicht durch das, was er zeigte, sondern durch das, was er nicht zeigte, wie Wolfgang Benz bemerkt: den Hunger, das Elend, die Überfüllung, die Sklavenarbeit für die deutsche Kriegsindustrie, die hohe Sterblichkeit und die alle paar Monate durchgeführten Transporte in die Vernichtungslager nach dem Osten, vor denen nur diejenigen Bewohner Theresienstadts sicher waren, die als Prominente besondere Rechte hatten.22 Am 29. September 1944 wurde auch Gerron nach Auschwitz deportiert und dann dort in den Gaskammern ermordet. Auch die Kinder, die in seinem Film mitspielten, erlitten dasselbe Schicksal. Nur wenige haben überlebt wie der Jazzgitarrist Schoco Schumann (1924–2018), der im Theresienstadtfilm als Schlagzeuger bei den Ghetto Swingers auftritt. Dieser Film, von dem man sich Ausschnitte im Internet ansehen kann, ist der extreme Ausdruck nationalsozialistischen Hohns über die Opfer.23

Theresienstadt war zunächst, von Ende 1941 an, für die Juden aus Böhmen und Mähren bestimmt. Seit Sommer 1942 trafen auch aus Deutschland Transporte ein, zusammengesetzt aus Prominenten, die Kontakte zum westlichen Ausland hatten, älteren Juden ab 65 Jahren und Weltkriegsteilnehmern, dazu Gelehrten, Künstlern, Schauspielern, Professoren und Rabbinern. Dazu kamen Juden aus Dänemark und den Niederlanden. Jüdische Gelehrte konnten in einer großen Bibliothek ihren Studien nachgehen, Dichter konnten ihre eigenen Romane, Musiker ihre eigenen Kompositionen schreiben. Jüdische Gelehrte, Künstler und Intellektuelle hat es an keinem Ort in solcher Fülle gegeben wie in den wenigen Jahren des Ghettos Theresienstadt. Das Judentum erlebte hier eine eigentümliche Blüte. Viele Juden, die ihre traditionellen Gebräuche und Feste nicht mehr begangen hatten, kehrten hier zu ihren religiösen Wurzeln zurück, erinnerten sich zwar zu Weihnachten an die früher bei ihnen üblichen Weihnachtsbäume, feierten aber erstmals wieder Chanukka und zündeten die Kerzen auf dem Leuchter an.

Es gibt eine riesige Literatur über Theresienstadt, dazu eine reiche Erinnerungsliteratur, geschrieben von denen, die Theresienstadt überlebten. Einer, der nicht überlebte, verdient besondere Erwähnung. Der Pelzhändler Philipp Manes, der früher das kulturelle Leben in Berlin aufmerksam beschrieben hatte, wurde in Theresienstadt ein fleißiger Tagebuchschreiber und verstand sich als Tatsachenberichterstatter von Theresienstadt. Als Leiter des Orientierungsdienstes, der verirrten Neuankömmlingen helfen sollte, arrangierte er literarische und wissenschaftliche Vorträge und Theaterlesungen, insgesamt 500 kulturelle Veranstaltungen. Beeindruckt von der Fülle der auf kleinstem Raum zusammengedrängten jüdischen Intelligenz bemühte er sich, die prominenten Juden in Theresienstadt kennenzulernen, und verwendete seine Interviews in seinem Tagebuch. Obwohl Manes und seine Frau Ende Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert wurden und dort ums Leben kamen, konnte sein Tatsachenbericht gerettet werden. Sein Tagebuch ist wohl das beste Zeugnis über das hochstehende geistige Leben in Theresienstadt. Gründlich durchgesehen, mit Anmerkungen und einem biographischen Anhang versehen, ist dieses einzigartige Lebenszeugnis, herausgegeben von Ben Barkow und Klaus Leicht im Ullstein-Verlag, als prächtiger, über 500 Seiten starker Band unter dem Titel Als ob’s ein Leben wär herausgegeben worden.24 »Mit einer fast nüchternen Sachlichkeit gibt Manes’ Bericht einen akribischen Einblick in die Organisation des Lagers. Er erzählt von Menschen, die in schlimmsten Zeiten an ihren Wert- und Lebensmaximen festhielten, nur um zu überleben. Ein persönliches und zu Herzen gehendes Zeugnis, stärker als jedes historische Buch« – so hat der Ullstein-Verlag auf dem Umschlag das Buch vorgestellt. Da die Flut von Augenzeugenberichten Überlebender von Theresienstadt lange zurückliegt, hat es wenig Käufer gefunden und ist nicht mehr lieferbar. Der Ullstein-Verlag teilte mir mit, »dass die immer größer werdende Flut an Neuerscheinungen pro Halbjahr die Marktlebensdauer verkürzt und leider so manch bedeutendes Werk in der Masse untergeht, nicht wahrgenommen und nicht verkauft wird und daher von den Verlagen aus dem Programm genommen wird«25.

Freilich ist dieser Tatsachenbericht mit Nachsicht zu lesen, weil Manes wie die meisten Ghettobewohner die Vernichtungsstrategie der SS nicht durchschaute und geradezu stolz an die Devise Rettung durch Arbeit glaubte, die den nach Theresienstadt Deportierten vorgegaukelt wurde. H. G. Adler, Überlebender des Lagers und Begründer der Theresienstadt-Forschung, spricht deshalb von Ahnungslosigkeit gegenüber der SS; doch sollte man eher von Gutgläubigkeit reden, meinen die Herausgeber des Bandes. Ein Punkt ist für uns Christen von besonderer Bedeutung. Manes wusste und legte Wert auf die Feststellung, was den meisten Bewohnern von Theresienstadt, die nur Juden in diesem Ghetto wähnten, nicht bewusst war: dass es hier viele Christen gab, die durch die nationalsozialistischen Rassegesetze zu Juden gemacht worden waren. So schildert er die vielen nach Theresienstadt gekommenen Vertreter der Wiener geistigen Oberschicht mit den Worten:

»Da traten Hofrätinnen, Oberstleutnants, Generäle, Feldmarschall-Leutnants, große Kaufleute, Adlige auf, die nach hier gekommen sind, obgleich in anderen Religionen erzogen und gewachsen.«26

Und er fährt fort:

»Wir dürfen im Ghetto nicht übersehen, daß es in ihm nicht nur Juden gibt. Wir haben Männer und Frauen unter uns, die evangelisch oder katholisch geboren sind, in ihrem Glauben aufgewachsen sind, keine Ahnung davon hatten, daß sie der Abstammung nach zur jüdischen Rasse gehören. Sie vermögen nicht, jüdisch zu empfinden, kommen aus anderer Umgebung, hielten die Gebote ihrer Kirche und mußten den bitteren Weg nach Theresienstadt antreten.«27

Es muss uns Christen beschämen, durch diese Worte eines in Auschwitz umgekommenen Juden an die Christen in Theresienstadt erinnert zu werden. Wir denken wenig daran, dass die annähernd sechs Millionen Opfer des Holocaust, die in Auschwitz und Treblinka ermordet wurden, Juden waren, die fast durchweg aus den im Krieg von deutschen Truppen besetzten Ländern stammen, nicht nur aus Osteuropa, sondern auch aus Norwegen, den Niederlanden und Frankreich. Das Schicksal der deutschen Juden ist ein anderes gewesen als das der Juden in den von Deutschland nach 1939 besetzten Ländern. Die Zahl der deutschen Juden, die in Auschwitz und Treblinka umkamen, ist verhältnismäßig gering. Von den ungefähr eine halbe Million zählenden Juden, die in Deutschland lebten, konnte ein Drittel bis zur Pogromnacht 1938 emigrieren, einem weiteren Drittel gelang die Ausreise bis 1941, als es keine Ausreise mehr gab. Nur eine kleine Zahl konnte die Lager überleben oder sich in Deutschland in Verborgenheit halten. Die in Deutschland verbliebene Schicht der jüdischen Intelligenz kam mehrheitlich in Theresienstadt ums Leben.

Die Deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat 1994 ihrer jüdischen Mitglieder im Deutschen Reich gedacht.28 Von ihnen konnten mindestens dreiunddreißig in der Zeit des Nationalsozialismus emigrieren, zwanzig von ihnen in die USA. In den Lagern umgekommen sind sechs, davon fünf in Theresienstadt und einer in Mauthausen. Von diesen sechs war mindestens einer ein evangelischer Christ. Kurz vor seiner Deportation nach Theresienstadt schrieb der 90 Jahre alte Maximilian Flesch, Professor der Medizin in Frankfurt a. M. und Generaloberarzt i. R., der der Leopoldina seit 1882 angehörte, an deren Präsidenten, nachdem seine Frau schon über ihr Schicksal berichtet hatte:

»Der kurzen Mitteilung meiner Frau habe ich einiges ergänzendes hinzuzufügen. Vorausschicken muß ich, daß weder meine Frau noch ich bisher und zwar von Geburt an einer jüdischen Gemeinde angehört haben. Schon unsere Eltern waren getauft, hatten nur christliche Schulen besucht, sind christlich konfirmiert, kirchlich getraut. Die Eltern in Berlin bzw. Frankfurt a. M. [sind] auf den christlichen Gemeindefriedhöfen begraben, die rituelle Beschneidung am 7. Tage ist an mir nicht vollzogen. Unsere Kinder und Enkel haben arische evangelisch christliche Ehepartner. Gleichwohl trifft uns jetzt der Großeltern wegen die ganze Härte der ›Nürnberger‹ Gesetze.«29

Auch unter den Opfern von Theresienstadt ist die Zahl von Christen jüdischer Herkunft beträchtlich. Nach H. G. Adler muss man damit rechnen, dass die »Anzahl der Christen verschiedener Bekenntnisse, die infolge der ›Rassengesetze‹ ins Lager kamen, […] im Jahre 1945 auf bis zu 36 % der Gefangenen« anstieg.30 Diese Zahl ist in den Jahren zuvor niedriger, aber immer beträchtlich gewesen und mag im Ganzen zehn Prozent betragen haben.31 In unserer Erinnerungskultur, wie sie sich in Gedenktafeln, Stolpersteinen u. Ä. bekundet, werden nur Juden genannt. An die Identität der Christen jüdischer Herkunft denkt niemand. Die an den Beginn meines Aufsatzes gestellte Warnung Martin Stöhrs sollte ernst genommen werden.

Theresienstadt unterstand der SS in Prag, hatte aber eine eigene Selbstverwaltung, so dass die Bewohner mit der SS nur in Sonderfällen in Berührung kamen. An der Spitze von Theresienstadt stand, im Rathaus amtierend, ein Judenältester, der zusammen mit einem Rat für alle inneren Angelegenheiten sorgte. Drei Judenälteste haben das Ghetto geleitet: Jakob Edelstein, der Leiter der Gemeinde Prag, der Ende 1941 nach Theresienstadt kam, war von 1941 bis 1942 der erste Judenälteste. Er wurde am15. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert und dort am 20. Juni 1944 erschossen, weil er Juden zur Flucht verholfen hatte. Der zweite Judenälteste war Dr. Paul Maximilian Eppstein (1902–1944), ein Soziologe und Mitarbeiter Leo Baecks bei der Reichsvereinigung der Juden in Berlin, der zusammen mit Leo Baeck 1943 nach Theresienstadt kam und dort am 28. Oktober 1944 ermordet wurde. Der dritte Judenälteste Jakob Murmelstein kam aus Wien, wurde 1944 berufen, überlebte Theresienstadt, wurde aber wegen seiner Zusammenarbeit mit der SS von den Juden in Rom, wo er 1948 starb, nicht mehr als einer der Ihren angesehen.

Hauptquelle für meine Darstellung ist die Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942–1945, die bald nach dem Krieg in der von der Arbeitsgemeinschaft katholischer und evangelischer Christen herausgegebenen Reihe Das christliche Deutschland 1933 bis 1945 im Furche-Verlag Tübingen veröffentlicht wurde.32 Der Verfasser Arthur Goldschmidt war Gründer und Pfarrer dieser Gemeinde, überlebte Theresienstadt und schrieb nach seiner Rückkehr nach Hamburg eine lebendige, bis in die Einzelheiten reichende Geschichte über die Gemeinde von ihrer Gründung 1942 über ihr allmähliches Wachstum bis zu ihrer nach der Befreiung mit einem Dankgottesdienst im Sommer 1945 gefeierten Auflösung. Ein Enkel des Verfassers, Detlev Landgrebe, hat diese Geschichte mit historischen Anmerkungen 2009 wieder auflegen lassen, als Anhang zu einem familiengeschichtlichen Erinnerungsbuch, weshalb sie kaum bekannt geworden ist.33 Ein dritter Druck von Goldschmidts Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942– 1945 ist soeben in einem Sammelband zum 90. Geburtstag von Georges-Arthur Goldschmidt, seinem Sohn, einem in den letzten Jahren mit vielen deutschen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftsteller, im Wallstein-Verlag Göttingen erschienen.34 Peter Handke machte diese Edition am 2. Mai 2018 in der Süddeutschen Zeitung in einem Artikel Auf dem Dachboden. Arthur Goldschmidts ›Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt‹ verwandelt sich in eine Novelle bekannt, wobei er Goldschmidts Bericht mit dem Wort »Novelle« unzutreffend charakterisierte, ihn aber sachlich richtig wiedergab.

Einige Jahre nach Erscheinen dieses Berichts ist das Leben in Theresienstadt von einer weiteren Überlebenden anschaulich geschildert worden. Eine im Januar 1944 aus Greiz in Thüringen nach Theresienstadt deportierte hochgebildete Mitinhaberin eines namhaften Stahlwerks, die nach Kriegsende zurückkehren konnte, veröffentlichte 1977 ein über hundert Seiten starkes Taschenbuch, das im Aussaat Verlag Wuppertal erschien und mehrfach aufgelegt wurde, aber praktisch unbekannt ist: Clara Eisenkraft, Damals in Theresienstadt. Erlebnisse einer Judenchristin.35 Ich habe erst nach Abschluss meines Aufsatzes Kenntnis von dieser Schrift bekommen, möchte sie hier nennen, da sie nicht nur ein zweiter, sondern durch den weiteren Horizont auch manche Punkte noch bereichernder Bericht über die Theresienstadter Gemeinde ist.

Außer dem Bericht von Arthur Goldschmidt, an dessen sprachlicher Gestalt ich mich, um eigene Interpretation zurückzuhalten, mit der Angabe der Seitenzahl eng anschließe, nur gelegentlich Zitate mit Anführungszeichen kenntlich machend, benutze ich weitere Quellen. Otto Stargardt, neben Goldschmidt der zweite Pfarrer der evangelischen Gemeinde und ebenfalls Überlebender, stand vor und nach seiner Theresienstadter Zeit mit Helmut Gollwitzer in Beziehung. Seine Briefe an Gollwitzer sind eine weitere Quelle für meine Darstellung. Mit Gollwitzer jahrelang befreundet war auch Georg Hamburger, der der Gemeinde Theresienstadt ebenfalls als Pfarrer dienen wollte. Hamburger unterhielt einen umfangreichen Briefwechsel mit Gollwitzer in der BK-Gemeinde Berlin-Dahlem, die man nach einem Wort Karl Barths exemplarisch für den Kirchenkampf nennen kann,36 zur Zeit Martin Niemöllers und danach Helmut Gollwitzers. Auch diesen Briefwechsel, der bisher unbekannt war, werte ich aus. Dass ich Hamburger in den Mittelpunkt der Geschichte der Gemeinde Theresienstadt und des ihre Einheit bedrohenden Konflikts stelle, ist das Neue meiner Darstellung. Daneben habe ich die Erinnerungen an Theresienstadt von Elsa Bernstein herangezogen, eines evangelischen Gemeindemitglieds, das mit Stargardt in besonderer Beziehung stand und Goldschmidts Bericht durch ihr anderes Urteil ergänzt.37 Schließlich habe ich den genannten umfangreichen Bericht von Philipp Manes auf Namen weiterer Gemeindeglieder der evangelischen Gemeinde durchgesehen. Die Lebenserinnerungen von Fritz Stern, in denen dieser einen nahen Verwandten charakterisiert, der in der Gemeinde Theresienstadt eine Rolle spielte, sowie seine Biographie von Gerson Bleichröder waren mir eine Hilfe, außerdem die umfangreiche Literatur über Theresienstadt, die ich aber nur in kleinen Teilen zur Kenntnis nehmen konnte.

*

Arthur Goldschmidt, geboren am 30. April 1874 in Berlin, entstammte einer angesehenen, mit Felix Mendelssohn-Bartholdy verbundenen jüdischen Hamburger Familie. Sein Großvater hatte die schwedische Sängerin Jenny Lindt geheiratet. Er wurde im Alter von sechzehn Jahren 1889 zugleich mit seinen Eltern getauft, die ihn schon vorher den Konfirmandenunterricht hatten besuchen lassen. Auf dem humanistischen Gymnasium in den alten Sprachen gebildet, las er bis zu seinem Lebensende Platon und Sophokles auf Griechisch. National gesinnt, evangelischer Christ ohne besondere Kirchlichkeit und Soldat im Ersten Weltkrieg, schließlich Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, wurde er 1933 als Jude entlassen. Seitdem lebte er für sich in seinem Haus in Reinbek und malte – das Malen war später auch in Theresienstadt sein Hobby. Vom 1. Januar 1939 an musste er zusätzlich zu seinem Vornamen den Namen Israel und seine Frau den Namen Sara tragen. Im Februar 1942 konnte er sein Haus in Reinbek verkaufen und lebte seitdem als Untermieter in seinem früheren Eigentum. Im Juni 1942 starb seine Frau Kitty. In der Todesanzeige gab er furchtlos und ohne dass ihm etwas passierte, die Namen der drei jüngeren Kinder an, die er ins Ausland hatte bringen können, was an ihrer französischen Adresse erkennbar war. Der Reinbeker Pastor Hartung verweigerte die kirchliche Beerdigung von Kitty Goldschmidt, da die schleswig-holsteinische Landeskirche, deren Präsident Dr. Kinder Unterzeichner der Godesberger Erklärung war, Christen jüdischer Herkunft durch Beschluss vom 11. Februar 1942 ausgeschlossen hatte. Seitdem ging Goldschmidt nicht mehr in seiner Gemeinde zur Kirche. Doch er fand Hilfe in Pfarrer Walter Auerbach, der wegen seiner jüdischen Abstammung sein Amt in der schleswig-holsteinischen Kirche verloren hatte, aber von Präsident Kinder, der Auerbach seit der gemeinsamen Schulzeit in Plön persönlich kannte, zur geistlichen Betreuung von Christen jüdischer Herkunft nach Hamburg abgeschoben worden war.38 Auerbach erklärte sich bereit, die Beerdigung zu übernehmen.39 So wurde Kitty Goldschmidt in Hamburg kirchlich beerdigt. Anfang Juli 1942 erhielt Goldschmidt den »Evakuierungsbefehl« nach Theresienstadt. Freunde wollten ihm auf dem Lande Zuflucht verschaffen.

Doch er lehnte ab. Vor der Deportation ließ er sich von Pfarrer Auerbach zum Laienprediger ausbilden und mit liturgischem Gerät und zwanzig Bibeln ausstatten.40 Am 20. Juli 1942 wurde er mit einem Transport von Hamburg nach Theresienstadt deportiert. »Ich ging dorthin, wie unter dem Auftrag, dort Gottes Wort verkünden zu sollen«, schreibt er in seiner Geschichte der Gemeinde.41 In Theresienstadt wurde ihm bei der Schleusung von der SS das gesamte Gepäck weggenommen. Er behielt nur eine kleine Tasche, in der sich neben Reiseproviant ein Paar Strümpfe und das Evangelium befanden.

In Theresienstadt angekommen, ging Goldschmidt von Haus zu Haus, von Baracke zu Baracke, in den Kasernen von Raum zu Raum, suchte die evangelischen Christen ausfindig zu machen und lud sie zu einer Andacht am Sonntag auf den Dachboden einer Kaserne ein. Viele der Deportierten wunderten sich, dass er nach Christen fragte. Was hätten denn Christen unter uns Juden verloren? Offenbar der Nürnberger Rassegesetze unkundig, wähnten sie, dass Theresienstadt nur für Juden bestimmt sei. Anfangs waren es etwa zwanzig Personen, die Goldschmidts Einladung zu einem sonntäglichen Gottesdienst folgten. Ohne lange zu überlegen, übte er das Amt eines Notpastors aus. Als ehemaliger Oberlandesgerichtsrat in juristischen Kategorien denkend, suchte er dafür einen Rechtsgrund und berief sich auf das Wort Luthers, »wie denn in der Not auch ein schlichter Laie einen anderen absolvieren und sein Pfarrer werden kann«. Er gibt für dieses Wort den Artikel 67 der Schmalkaldischen Artikel an, doch handelt es sich um ein Zitat Melanchthons aus dem Traktat von der Gewalt und Obrigkeit des Papsttums, der den Schmalkaldischen Artikeln angefügt ist.42 Goldschmidt predigte und teilte das Abendmahl aus. Er besuchte die Kranken, tröstete sie und setzte sich dafür ein, dass die häufig nach kurzer Zeit Sterbenden nicht, wie es die jüdische Selbstverwaltung für solche Fälle vorsah, eine jüdische, sondern eine christliche Beerdigung erhielten, bei der er Worte aus seinem Neuen Testament verlas und christliche Gebete sprach. Taufen und Eheschließung nahm er nicht vor.

Der Gottesdienst bestand anfangs aus einer schlichten Andacht. Man las einen Text des Evangeliums, Goldschmidt knüpfte einige Worte an, dann wurde ein geistliches Lied gesungen. Das sprach sich bald herum. Von Sonntag zu Sonntag wuchs die kleine Gemeinde. Die Andacht nahm bald festere Formen an. Man begann mit einem Lied, dann las der bald verstorbene Dr. Münzer, Professor für alte Geschichte aus Münster, den Text des Evangeliums, es folgte eine predigtartige Auslegung Goldschmidts, und man schloss mit Gebet und Gesang. Die Zahl der Teilnehmer wuchs weiter, so dass binnen Kurzem der Raum nicht ausreichte. Man wanderte in einen Schuppen auf dem Hof, der auch bald zu eng war. Ein leerstehender Laden, in den man auswich, wurde nach kurzer Zeit mit neuen Ankömmlingen belegt. So galt es, auf Dauer einen großen Raum für die sonntäglichen Gottesdienste zu finden. Die alte Kirche, die mitten im Ghetto stand, war geschlossen und keinem Gläubigen zugänglich.

Goldschmidt wandte sich an den Judenältesten von Theresienstadt Jakob Edelstein und stellte einen Antrag auf Zuweisung eines Raumes für den Gottesdienst. Edelstein war erstaunt, dass sich eine evangelische Gemeinde gebildet hatte, war »aber durchaus verständnisvoll. Der liebe Gott sei ja schließlich derselbe und ihm, Edelstein, sei es gleichgültig, in welcher Weise man ihn verehre.«43 Räume, in denen jüdische Gottesdienste abgehalten würden und in denen die Thora aufgestellt sei, könnten allerdings nicht zur Verfügung gestellt werden. Die Anbringung eines Kreuzes würde schon gar nicht erlaubt. Aber er versprach, nach einem größeren Raum zu suchen.

In der Tat fand sich ein geräumiger Speicher auf einem Dachboden, der für die Gottesdienste geeignet war. Auf dem Söller, zu dem man nach zwei Treppen auf einer Hühnerleiter steigen musste, wurde eine elektrische Beleuchtung angebracht. Als Sitzgelegenheit dienten außer den dort befindlichen Balken ein paar wacklige, rohgezimmerte Bänke ohne Lehne. Aus Brettern wurde ein Altar gefertigt. Ein aus Holz geschnitztes Kreuz hängte man hinter den Altar. Ein rostiges Harmonium begleitete den Gesang. Neben dem Altar stand nach einiger Zeit eine Staffelei mit einem Bild Marias mit dem Jesusknaben, das Goldschmidt für die katholische Gemeinde gemalt hatte. Durch Schreiben der Ältesten vom 18. Oktober 1942 wurde der Raum zur Abhaltung evangelischer Gottesdienste zur Verfügung gestellt. Dieses Datum bezeichnet Goldschmidt als »die erste, halbwegs offizielle, Anerkennung der Gemeinde«44.

Kurz danach entstand in Theresienstadt auch eine katholische Gemeinde. Ausschlaggebend dafür war der Einsatz des Ingenieurs Ernst Gerson, eines katholischen, aus der Arbeit des Bonifatiuswerks stammenden Nichtariers, der einen geistlichen Orden verlassen hatte45 und am 11. September 1942, also ein Vierteljahr nach Goldschmidt, von Wien nach Theresienstadt deportiert worden war. Gleichen Anteil an der Bildung der katholischen Gemeinde hatte der Wiener Staatsanwalt Dr. Rudolf Donath, Sohn eines Obersten. Im Unterschied zur evangelischen Gemeinde ist die katholische Gemeinde Theresienstadt zureichend erforscht.46 Ihr erster Gottesdienst fand auf dem schon genannten Dachboden am 29. November 1942 statt.47 Zunächst waren es 15 Teilnehmer, im Jahre 1943 30 bis 90, zu Weihnachten 1942 200, zu Ostern 1943 300 Teilnehmer, Neujahr 1944 wurde mit einer Messe von Schubert gefeiert.48 Ob die katholische Gemeinde Theresienstadts größer war als die evangelische Gemeinde, wie Goldschmidt angibt49 und nach ihm die katholische Forschung50, muss offen bleiben. Die überlieferten Zeugnisse reden mehr von der evangelischen Gemeinde Theresienstadt und ihren Mitgliedern als von der katholischen, was der höheren Zahl evangelischer als katholischer Christen unter den von den NS-Rassegesetzen betroffenen Christen jüdischer Herkunft entspricht. Der Gottesdienst der evangelischen Gemeinde fand sonntags von 9.00 bis 10.00 Uhr, der der katholischen Gemeinde im selben Raum von 11.00 bis 12.00 Uhr statt.51

Arthur Goldschmidt fand unter den zum Gottesdienst kommenden evangelischen Christen Mitarbeiter. Einer war zum Aufbau einer evangelischen Kirchengemeinde vorzüglich geeignet: Ungefähr gleichzeitig mit dem Transport aus Hamburg, der Goldschmidt nach Theresienstadt brachte, nur zwei Tage früher, kam aus Berlin Dr. Otto Stargardt mit seiner Ehefrau nach Theresienstadt. Stargardt war ein Berliner Landesgerichtsrat, der der Provinzialsynode in Berlin als Mitglied angehört und in Berlin-Dahlem sich zu der Gemeinde Martin Niemöllers gehalten hatte.52 Dort hatte er nach dessen Verhaftung die Predigten von Helmut Gollwitzer gehört. Er war Teilnehmer eines in Dahlem gegründeten Kreises gewesen, in dem Christen jüdischer Herkunft theologisch ausgebildet wurden, um in den Lagern deportierte evangelische Christen seelsorgerlich zu betreuen. Otto Stargardt wurde bald Goldschmidts engster Mitarbeiter, so dass ihn dieser zu seinem Diakon bestellte.53 Er assistierte Goldschmidt beim Gottesdienst und teilte mit ihm das Abendmahl aus. In jedem Gottesdienst sprach er für Martin Niemöller ein Fürbittengebet.54 Stargardt trat nicht mit solch unerschrockenem Selbstbewusstsein wie Goldschmidt auf und fragte in den Baracken und Häusern Theresienstadts nicht laut nach anwesenden Christen. Er hatte eine andere Art, unter den Deportierten evangelische Christen ausfindig zu machen. Vom Ältestenrat wurde er für einen Bezirk als Zensor mit der Kontrolle der ausgehenden Post beauftragt. Beim Lesen der Briefe, die Prominente schreiben durften, während den anderen erst später das Schreiben einer Postkarte monatlich erlaubt wurde,55 bemerkte Stargardt, dass sich unter den in Theresienstadt Ankommenden viele Christen befanden. So wurde er auf die blinde Elsa Bernstein aufmerksam, die angeregt durch ihn am Gemeindeleben teilnahm.56 Anschaulich berichtet sie von ihrem ersten Gottesdienstbesuch:

»Sylvester gehe ich das erste Mal zum evangelischen Gottesdienst. […] Der Versammlungsraum ist auf einem Speicher, die letzte der drei Treppen eine Hühnerleiter, halsbrecherisch für einen Blinden. Man sitzt auf Holzbänken. […] Ein heiseres Harmonium hält mühsam den unsicher einsetzenden Chor zusammen. Dann spricht ein Dr. G. aus Hamburg. Sehr gescheit, viel zu gescheit, um feierlich oder gar weihevoll zu sein. Die Einsteinsche Relativitätstheorie heranzuziehen ist hier nicht am Platz. Gut, daß Dr. Stargard [sic] noch ein paar Worte hinzufügt. Einfache, warme Worte. Der eine hat Herz und der andere hatte kein Herz. Mit dem Choral: Das Jahr geht still zu Ende, so sei auch still mein Herz! schließt der Gottesdienst.«57

Auf Stargardts Veranlassung hielt die achtzigjährige Blinde schließlich einen Gemeindevortrag, von dem noch berichtet werden soll.

Goldschmidt kümmerte sich als Seelsorger um die Gemeindeglieder, besuchte die Kranken und beerdigte die große Zahl der Gestorbenen. Stargardt leitete die Gemeindeversammlungen, die für Mittwochabend einberufen wurden. In Goldschmidts Geschichte der Gemeinde wird niemand so häufig genannt wie er. In Berichten ehemaliger Gemeindeglieder wird er neben Goldschmidt der zweite Pfarrer der Gemeinde genannt. In dem auf Befehl der SS von Bewohnern Theresienstadts gedrehten Film ist nicht Goldschmidt, sondern Stargardt als Gestalt der evangelischen Gemeinde Theresienstadt zu erkennen.58 Weil von mir aufgefundene Quellen ein genaueres Bild dieses zweiten Pfarrers der Gemeinde von Theresienstadt zu geben vermögen, schiebe ich hier einen Exkurs über Otto Stargardt ein.

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Otto Stargardt wurde am 25. Juli 1874 in Freienwalde in der Mark Brandenburg geboren. Nach dem Studium der Jurisprudenz in Berlin und Erlangen und dem Erwerb des juristischen Doktorgrades war er Landesgerichtsrat in Berlin, Senatsmitglied des Reichsversorgungsgerichts, Mitglied der Provinzialsynode der evangelischen Kirche und Träger vieler Auszeichnungen, des Ritterkreuzes, des Hausordens der Hohenzollern und anderer deutscher und österreichischer Orden.59 Er entstammte einer angesehenen Familie, die auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof Berlin eine heute noch erhaltene Familiengrabstätte in der Form eines dorischen Tempels gleich hinter dem Lutherdenkmal neben der Trauerhalle besaß. Abraham Joseph Stargardt, geboren am 17. Juni 1822 in Märkisch-Friedland, ist der Stammvater der jüdischen Familie, die im frühen 19. Jahrhundert zum Christentum konvertierte und später ihre heute noch für ihre Autographen bekannte Firma an die Familie Mecklenburg verkaufte. Im Unterschied zu Arthur Goldschmidt war Stargardts Familie mit der evangelischen Kirche und ihren Geistlichen außergewöhnlich eng verbunden. Otto Stargardt erinnert sich, wie die Geistlichen der Berliner Dreifaltigkeitsgemeinde in seinem Elternhaus aus- und eingingen. So der Pastor Schultz, der ihn und seine Geschwister eingesegnet und seine Schwestern getraut, und der Generalsuperintendent Friedrich Lahusen, der seines Vaters Rat als Justitiar der Kirche oft in Anspruch genommen habe. Auch er selbst habe während seiner Zeit als Amtsrichter in Mittenwalde mit den beiden Geistlichen dort – mit dem alten Propst Sandmann und seinem Sohn und späteren Nachfolger – in engster freundschaftlicher Beziehung gestanden. Kein Tag sei vergangen, an dem sie nicht zusammen waren und miteinander »um die Stadt« herum einen Spaziergang machten oder im Diakonat an der Stätte weilten, wo Paul Gerhardts herrliche Lieder entstanden: O Haupt voll Blut und Wunden, Befiehl du deine Wege, Nun ruhen alle Wälder und sein, Stargardts, besonders geliebtes Geh aus mein Herz und suche Freud. Mit dem jüngeren Sandmann und seiner Frau habe er gern bei einem Glas Bowle zusammengesessen, und sie hätten alles besprochen, was uns am Herzen lag. So berichtet Stargardt brieflich am Sonntag Judica 1942, also kurz vor seiner Deportation, aus Dahlem dem im Felde stehenden Helmut Gollwitzer und bedauert, dass in einer großen Gemeinde wie Dahlem ein so enger Zusammenhalt mit den Geistlichen wie in Mittenwalde nicht möglich sei. Stargardt muss in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nach Dahlem gezogen sein und besaß dort in der Schorlemmer Allee 34 ein Haus. Er und seine Frau besuchten den sonntäglichen Gottesdienst, wo sie die Predigten Martin Niemöllers hörten. Auch besuchten sie die Gemeindeversammlungen, die Niemöller einrichtete. Als Niemöller 1937 ins KZ kam, gingen sie zu Helmut Gollwitzer, seinem Nachfolger, in den Gottesdienst. Stargardt gehörte zum Dahlemer Theologischen Studienkreis, in dem Christen jüdischer Herkunft zur geistlichen Betreuung in den Lagern der Deportierten ausgebildet wurden. Dieser Kreis hatte zum Ziel eine Ordination zum geistlichen Amt. Stargardt scheute aber vor der Ordination zurück.

Seine Frau Edith, geb. Wolff, war die Tochter von Hermann und Luise Wolff, die die erste große Konzertagentur Berlin 1880 gegründet und den Berliner Philharmonikern die Bahn zu ihrem Aufstieg bereitet hatten.60 Sie hatte noch mehr als ihr Mann ein besonderes Verhältnis zur Musik, was dazu führte, dass sie nach ihrer Rückkehr aus Theresienstadt ein vielaufgelegtes, auch in andere Sprachen übersetztes musikgeschichtliches Werk veröffentlichte.61 In Theresienstadt konnte sie sich als Krankenpflegerin nützlich machen, was ihr Lebenskraft gab und die Zeit der Deportation durchzustehen half. Im Februar 1945 konnten Stargardt und seine Frau mit einem durch das Internationale Rote Kreuz und dem Reichssicherheitshauptamt ausgehandelten Sondertransport in die Schweiz ausreisen und in Sicherheit gelangen. Nach Kriegsende flog Stargardt mit seiner Frau zu einem Sohn seiner Frau aus erster Ehe in die