Die Evolution des Miteinander - William von Hippel - E-Book

Die Evolution des Miteinander E-Book

William von Hippel

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Beschreibung

Alle grundlegenden Aspekte unseres heutigen Verhaltens wurden durch die Verlagerung des Lebensraums unserer Vorfahren vom sicheren Regenwald in die Savanne geprägt. In ihrem Kampf ums Überleben auf dem offenen Grasland haben sie Teamarbeit und soziales Verhalten erlernt und so eine völlig neue Art von Intelligenz erlangt, die unsere Stellung auf diesem Planeten für immer verändert hat. Der Psychologe William von Hippel zeigt anhand von drei Wendepunkten der Evolution, wie Erlebnisse unserer Vorfahren die menschliche Entwicklung und unser Leben heute geprägt haben. Dieses Buch ist ein frischer und provokanter Blick auf unsere Spezies, der neue Hinweise darüber gibt, wer wir sind, was uns glücklich macht und wie wir dieses Wissen nutzen können, um unser Leben zu verbessern.

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Seitenzahl: 450

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WILLIAM VON HIPPEL

Die EVOLUTION des Miteinander

WILLIAM VON HIPPEL

Die EVOLUTION des Miteinander

Ein Evolutionsforscher erklärt, wie soziale Kooperation den Aufstieg der Menschheit ermöglichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 bei HarperCollins unter dem Titel The Social Leap. © 2018 by HarperCollins. All rights reserved.

Published by arrangement with HarperWave, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Dr. Heide Lutosch/Rita Gravert

Redaktion: Werner Wahls

Umschlaggestaltung: Georg Feigl

Umschlagabbildung: shutterstock.com/Arthimedes

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0862-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0505-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0506-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Vorwort

Woher wissen wir, was unsere frühen Vorfahren dachten und taten?

Veranlagung oder Umwelt?

Teil 1: Wie wir wurden, wer wir sind

1. Die Vertreibung aus dem Paradies

Die Dikdik/Pavian-Strategie

Löwen mit Steinen bewerfen

Die Psychologie kollektiver Aktionen

Kollektive Handlungen befördern eine kognitive Revolution

Der soziale Sprung, der uns zum Menschen machte

2. Jenseits von Afrika

Aufrecht gehen

Vom Homo erectus zum Homo sapiens

Komplexe soziale Beziehungen erfordern große Gehirne

Theory of Mind

Theory of Mind beim Unterrichten und Lernen

Theory of Mind und soziale Manipulation

3. Getreide, Städte, Könige

Wie der Ackerbau unsere Psyche formte

Die Psyche eines Ackerbauern

Privatbesitz

Privatbesitz und die Ungleichheit der Geschlechter

Landwirtschaft schuf Staaten, aber auch Hierarchien, Ausbeutung und Sklaverei

Von Dörfern zu Städten

Wie uns das Internet an den Ausgangspunkt zurückbrachte

4. Sexuelle Selektion und soziales Vergleichen

Sexuelle Selektion

Was bedeutet es, sexy zu sein?

Die Theorie des (sozialen) Relativismus

Teil 2: Die Vergangenheit nutzen, um die Gegenwart zu verstehen

5. Homo Socialis

Soziale Intelligenz

Die Herausbildung von Selbstkontrolle

Jenseits von Selbstkontrolle: die sozialen Vorteile eines großen Gehirns

Die sozialen Vorteile übermäßigen Selbstbewusstseins

Selbsttäuschung ist nicht nur etwas für Leute mit übermäßigem Selbstvertrauen

Selbstbetrug funktioniert

6. Homo Innovatio

Was sind soziale Erfindungen?

Die These der sozialen Erfindungen

7. Elefanten und Paviane

Evolution, Moral und Anführerschaft

Elefanten und Paviane

Elefanten und Paviane als Vorbilder für unterschiedliche Führungsstile

Eine Fallstudie: die Hadza und die Yanomami

Ungleichheit und das Aufkommen des Pavian-Führungsstils

Von kleinen Gemeinschaften zu großen Unternehmen

Was kann man tun, um moralische Anführerschaft zu stärken?

8. Der Ärger mit dem Stammesdenken

Die evolutionäre Psychologie und der Weltfrieden

Kooperation innerhalb, aber nicht zwischen Gemeinschaften

Relativismus zerstört Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gruppen

Die Menschen lernten, sich selbst und andere zu täuschen

Teil 3: Die Vergangenheit nutzen, um die Zukunft zu verbessern

9. Warum die Evolution das Glück »erfand«

Warum können wir nicht immer glücklich sein?

Glück und Gesundheit

10. Unsere evolutionär geprägten Bedürfnisse und das Glück

Ein evolutionärer Leitfaden zum Glück

Glück und Überleben

Kooperation und Konkurrenz

Glück und Lernen

Glück, Persönlichkeit und Entwicklung

Die Fallstricke einer modernen Welt

Zehn Schritte zu einem guten Leben

Nachwort

Danksagung

Quellenangaben

Anmerkungen

Über den Autor

Für meinen Vater, meinen ersten und besten Naturkundelehrer, und für meine Mutter, deren über 50-jährige Laufbahn mir ein inspirierendes Vorbild war.

Vorwort

Als mein Sohn acht Jahre alt war, machten wir uns eines Morgens auf den Weg zum Sandboarden. Unser Ziel waren die Sanddünen der Insel Moreton am anderen Ende der Brisbaner Bucht, an der wir leben. Unsere Fähre kam am frühen Nachmittag an, und wir liefen von der Anlegestelle aus am Strand entlang, bis wir einen Pfad durch den Wald fanden, der uns zu den gewaltigen Dünen im Innern der Insel führte. Ich hatte ein altes Snowboard so umgebaut, dass mein Sohn barfuß darauf fahren konnte, und als er erst einmal gelernt hatte, das Gleichgewicht zu halten, amüsierte er sich prächtig (was zu einem nicht ganz geringen Teil darauf beruhte, dass ich das Board hochschleppte und er damit nach unten sauste). Obwohl das Besteigen der riesigen Sanddünen auf Dauer wirklich anstrengend ist, konnte ich ihn erst zum Schlussmachen bewegen, als die Sonne vollständig untergegangen war.

Als wir im Sternenlicht über die offenen Dünen zurückliefen, war mein Sohn fröhlich und gesprächig, doch sobald wir den Wald betraten, änderte sich seine Stimmung. Wir konnten kaum erkennen, wo wir hintraten, und der Wald, der uns vorhin noch vollkommen ungefährlich vorgekommen war, schien uns nun bedrohlich zu umzingeln. Ich bemerkte, wie seine Stimme anfing zu zittern – kurz darauf verstummte er. Als unter meinem Fuß ein Zweig laut knackte, erschrak er fast zu Tode. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, doch er war sicher, dass wir von wilden Tieren verfolgt wurden. Nichts, was ich sagte, konnte ihm seine Angst nehmen: Er war fest davon überzeugt, dass jeden Moment ein Rudel Dingos aus dem Gebüsch brechen würde, um uns zu fressen. Ich muss gestehen, dass ich selbst ein wenig Angst hatte, obwohl ich natürlich wusste, dass höchstens die Gefahr bestand, dass wir uns auf dem schwach beleuchteten Pfad den Knöchel verstauchten.

Aus welchem Grund war das Glücksgefühl meines Sohnes so schnell in Angst umgeschlagen? Und warum hatte auch ich Angst, obwohl ich doch ganz genau wusste, dass die einzigen Tiere, die uns an diesem Abend fressen würden, die Mücken waren? So überraschend es klingen mag: Die Antwort liegt in den speziellen Wahrnehmungskompetenzen unserer frühen Vorfahren. Menschen haben hervorragende Augen, aber ziemlich mittelmäßige Ohren und Nasen, sodass andere Tiere uns im Dunkeln viel einfacher erkennen können als wir sie. Tagsüber agierten unsere Vorfahren als wilde Raubtiere, doch nachts wurden sie selbst zur Beute, und die Geschöpfe der Nacht haben in den letzten paar Millionen Jahren jeden unserer potenziellen Vorfahren als Mahlzeit verspeist, der naiv genug war, sich nach Sonnenuntergang draußen herumzutreiben. Es war für unsere im Mondlicht die Wälder durchstreifenden Vorfahren weniger wahrscheinlich, dass sie überlebten und sich fortpflanzten, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit sank, dass sie ihren Hang zum nächtlichen Umherwandern weitervererbten. Auf genau diese Art und Weise formt die Evolution unser Denken und Fühlen. Und aus diesem Grund müssen wir auch nicht aufgefordert werden, im Dunkeln Angst zu haben: Es liegt in unserer Natur.

Wenn Sie im Zoo die Menschenaffen besuchen und etwas Zeit bei den Schimpansen verbringen, können Sie der Evolution förmlich zusehen. Schimpansen sehen aus wie entfernte Cousins von uns, und genau das sind sie auch. Die Unterschiede, die sie uns gegenüber aufweisen, sind einfach zu erklären: Dass sich Beine wie ihre nach dem Verlassen der Wälder in Beine wie unsere entwickelten, liegt nahe. Und wie die Evolution langsam ein zweites Paar Hände in Füße umgestaltet hat, als unsere Vorfahren aufhörten, auf Bäume zu klettern und stattdessen anfingen, lange Wanderungen auf zwei Beinen zu unternehmen, kann man sich ebenfalls leicht ausmalen.

Weniger augenfällig ist die Rolle, die die Evolution bei der Ausgestaltung unseres Denkens und Fühlens spielte. Wir neigen dazu, die Evolution in anatomischen Begriffen zu denken, dabei sind mentale Voraussetzungen für das Überleben genauso wichtig wie Körperteile. Vorlieben, die den Fähigkeiten nicht entsprechen, sind ebenso kräftezehrend wie Gliedmaßen, die nicht zum Lebensstil passen. Im Verlauf der letzten sechs bis sieben Millionen Jahre hat sich unser Körper ein wenig, unsere Psyche dagegen massiv verändert. In der Tat ist unsere Entwicklung weg von den Schimpansen überwiegend durch Anpassungen unseres Intellekts und unseres Gehirns gekennzeichnet.

Die wichtigsten Veränderungen in unserer Psyche betreffen das soziale Funktionieren, speziell unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Ein schönes Beispiel dazu ist die Art, wie Schimpansen kleinere Affen jagen. Die Affenjagd ist für Schimpansen eine der wenigen Aktivitäten, die sie als Gruppe unternehmen, denn die kleineren Affen können sehr viel schwerer entkommen, wenn sie aus allen Richtungen von Schimpansen angegriffen werden. Doch selbst wenn die Schimpansen gelegentlich als Gruppe jagen, beteiligen sich längst nicht alle daran. Ein paar von ihnen bleiben mitten im Chaos untätig sitzen und begnügen sich mit der Rolle des Zuschauers. Wenn die Jagd zu Ende ist, werden sich ein paar glückliche Schimpansen ihre Beute gesichert haben, doch der Rest von ihnen geht leer aus. Weil Fleisch allerdings sehr nahrhaft ist, drangsalieren die Schimpansen, die nichts abbekommen haben, ihre erfolgreicheren Artgenossen normalerweise so lange, bis sie ihnen etwas abgeben. So weit, so wenig überraschend. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Schimpansen, die bloß zugesehen haben, mit genauso großer Wahrscheinlichkeit einen Affen-Snack ergattern können, wie die Schimpansen, die sich aktiv an der Jagd beteiligt haben. Ihre Mit-Schimpansen unterscheiden nicht oder nur geringfügig zwischen Drückebergern und Mithelfern.

In scharfem Kontrast dazu achten Kinder schon im Alter von vier Jahren sehr genau darauf, wer mithilft und wer nicht. Wenn Kinder Süßigkeiten oder Sticker für eine Aufgabe bekommen, die sie im Team erledigen sollen, geben sie Kindern, die nicht mitgeholfen haben, nichts von ihrer Belohnung ab, teilen sie aber mit denen, die sich beteiligt haben. Das mag nicht besonders freundlich erscheinen – und vielleicht kommt es einem sogar wie ein Verhalten vor, das man ihnen abgewöhnen sollte, denn schließlich sollte man brüderlich und schwesterlich teilen –, aber vom evolutionären Standpunkt aus ist es gewissermaßen systemrelevant. Tiere, die nicht zwischen Helfern und Zuschauern unterscheiden, sind nicht in der Lage, leistungsfähige Teams zu bilden und aufrechtzuerhalten.

Wir neigen dazu, uns Tiere, die in Gruppen leben, als Teamplayer vorzustellen, aber in Wirklichkeit leben viele Tiere in Gruppen, ohne viel miteinander zu tun zu haben. So schließen sich Gnus und Zebras zwar aus Sicherheitsgründen zu großen Gruppen zusammen, zeigen aber keine echten Anzeichen von Teamarbeit. Es ist einfach so, dass in großen Gruppen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass jemand anders rechtzeitig die sich anschleichenden Löwen bemerkt. Jedes Individuum kann es sich dadurch leisten, ein wenig unaufmerksamer zu sein. Obwohl Schimpansen deutlich stärker aufeinander angewiesen sind, als Gnus oder Zebras, verlangt auch ihnen ihre Lebensweise selten echte Teamarbeit ab. Folglich sind ihre Kooperationsfähigkeiten begrenzt, und sie ziehen es vor, allein zu handeln. Völlig anders war das bei den frühen Menschen: Nachdem wir die Bäume verlassen hatten, basierte unser pures Überleben auf unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Diese Notwendigkeit hat, wie wir sehen werden, unsere Psyche mehr geprägt als alles andere.

Als unsere Vorfahren aus der Sicherheit des Regenwaldes vertrieben wurden, hatten sie schwer damit zu kämpfen, in der unbekannten und gefährlichen Welt der Savanne zu überleben. Sie waren kleiner, langsamer und schwächer als die anderen Raubtiere und wären verloren gewesen, wenn sie nicht zufällig auf eine soziale Lösung ihres Problems gestoßen wären. Ihre Lösung war so gut, dass sie auf eine völlig neue evolutionäre Bahn katapultiert wurden. Unsere Vorfahren sind genau deshalb immer klüger geworden, weil es ihnen gelang, sich die neuen kooperativen Fähigkeiten für ihre Sicherheit und ihren Lebensunterhalt umfassend zunutze zu machen. Mit der Zeit wurde Homo sapiens so klug, dass er – vor allem durch die Erfindung des Ackerbaus – anfing, seine Umgebung so zu verändern, dass sie zu seinen Plänen passte. Die Landwirtschaft machte uns hartherziger (und ruinierte unsere Zähne), aber sie ließ auch die Literatur, den Handel und die Wissenschaft erblühen.

Klüger heißt nicht unbedingt weiser, denn ob nun zu unserem Vorteil oder Nachteil: Die meisten unserer uralten Instinkte haben wir bislang nicht abschütteln können. Vor allem die Angst, bei der Partnerwahl leer auszugehen, ist in unserem Innern noch immer äußerst dominant, was dazu führt, dass wir stets im Blick haben, wie gut oder schlecht wir im Vergleich zu anderen Mitgliedern unserer Gruppe dastehen. Dieses ständige soziale Vergleichen ist für das menschliche Glück hinderlicher als alles andere. Und es erklärt unsere entsetzliche Neugier in Bezug auf die Probleme unserer Mitmenschen.

Wir werden also noch immer von den Geistern unserer evolutionären Vergangenheit heimgesucht, aber mit ihrer Hilfe können wir auch einige der grundlegendsten Fragen in Bezug auf die Natur des Menschen beantworten. Zum Beispiel die Frage, in welchem Zusammenhang unsere sozialen Kompetenzen, die sich in der Savanne herausgebildet haben, mit unserer Fähigkeit und Neigung zur Innovation stehen. Oder die Frage, welchen Einfluss unsere soziale Veranlagung auf die Art und Weise hat, wie wir Menschen als Anführer agieren und welchen Anführern wir folgen. Wie erklärt darüber hinaus diese Veranlagung unsere bedauerliche Tendenz zum Stammesdenken und zu Vorurteilen? Die Urgeschichte des Menschen, in der sich der Anpassungsprozess an das Leben in der Savanne abgespielt hat, kann uns also einen neuen Blick auf moderne Menschheitsprobleme eröffnen.

Zwar haben wir unter den schlechten Angewohnheiten unserer Vorfahren noch heute zu leiden, doch unter den frühen Menschen hat sich gleichzeitig auch ein Motivationssystem herausgebildet, das uns immer dann belohnt, wenn wir unsere Sache gut machen. Dieses Motivationssystem heißt Glück. Unsere Angst vor Dunkelheit zeigt, dass sich unsere Antriebskräfte so entwickelt haben, dass sie dem Zweck unseres Überlebens und Wohlergehens dienen. Der Zweck, dem schlechte Gefühle (genau wie gute Gefühle) dienen, ist also überaus wichtig, und das ist der Grund dafür, dass sich noch heute in unserem Inneren vieles um Glück und um das Streben nach Glück dreht: Wenn wir ein gutes Leben führen, kommen wir damit also hauptsächlich den Ansprüchen unserer evolutionären Vergangenheit nach. Und weil diese Ansprüche oft im Widerspruch zueinander stehen, besteht »Glück« auch darin, nach und nach herauszufinden, wie man ihnen dennoch gerecht werden kann. In diesem Prozess kann es hilfreich sein zu verstehen, welchen Druck unsere Vergangenheit noch immer auf uns ausübt. Und dadurch wird auch klarer werden, warum auf unserem Weg zum Glück so viele Fallstricke lauern.

Woher wissen wir, was unsere frühen Vorfahren dachten und taten?

Die Tiefen unserer Vergangenheit werden nicht umsonst »Urgeschichte« genannt: Es gibt aus dieser Zeit keine schriftlichen Zeugnisse. Wissenschaftler haben zwar eine überaus große Zahl von Fossilien und anderen Hinweisen aus unserer fernen Vergangenheit gefunden, aber oft eröffnen diese Funde sehr unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Und weil Methoden und Verhaltensweisen nicht zu Fossilien werden können, ist es schwierig herauszufinden, wie genau unsere Vorfahren die zahlreichen Probleme, mit denen sie auf ihrem Weg zur Menschwerdung konfrontiert waren, gelöst haben. Trotz dieser Schwierigkeiten ist es Evolutionsforschern bemerkenswerterweise immer wieder gelungen, aus kleinen Hinweisen wichtige Informationen zu filtern, und erst durch ihre brillanten Einfälle und ihre harte Arbeit kann ich heute eine einigermaßen vollständige Geschichte erzählen.

Also: Woher wissen wir, was wir wissen? Dazu drei Beispiele: 1. Wie die DNA von Läusen darauf hindeutet, wann wir Kleidung erfunden haben. 2. Wie Kirchenbücher die Wichtigkeit von Großmüttern offenbaren. 3. Wie uralte Zähne nahelegen, was unsere Vorfahren taten, um Inzucht zu vermeiden.

Woher wissen wir, wann Kleidung erfunden wurde?

Menschen haben das einzigartige Vergnügen, Wirtstier von drei verschiedenen Läusearten zu sein: von Kopfläusen (Pediculus humanus capitis), Filzläusen (Phthirus pubis) und Menschenläusen (Pediculidae). Die verwickelte Geschichte, wie es dazu kam, dass wir diesen abstoßenden kleinen Parasiten ein Zuhause bieten, das ihnen gleichzeitig als Mahlzeit dient, beginnt mit jenen Kopfläusen, die meine Kinder aus dem Kindergarten mit nach Hause brachten. Die Vorfahren der menschlichen Kopfläuse haben vor ungefähr 25 Millionen Jahren angefangen, Primaten zu befallen, also ungefähr zu der Zeit, als sich die Altweltaffen (also alle Affen Eurasiens und Afrikas) in »Geschwänzte Altweltaffen« und »Menschenartige« aufsplitteten.

Als sich unsere direkteren Vorfahren vor sechs oder sieben Millionen Jahren wiederum von den Vorfahren der Schimpansen abspalteten, konnten die uns begleitenden Läuse noch frei herumstreunen, denn unsere Vorfahren waren ziemlich behaarte Leute. Diese urzeitliche Laus war die einzige Art, die uns in dieser Phase plagte, aber ein paar Millionen Jahre später zogen wir uns eine neue Läuseart zu, wahrscheinlich von den Gorillas. So ganz klar ist mir ehrlich gesagt nicht, wie unsere Vorfahren das geschafft haben, aber ich gehe mal davon aus, dass sie einfach in unmittelbarer Nähe von Gorillas gelebt und vielleicht ab und an mit ihnen das Bett geteilt haben, um sich warmzuhalten. Aber was auch immer der Grund war, vor etwa drei Millionen Jahren wurden wir zu Wirten von zwei unterschiedlichen Läusearten.

Als wir auf unserem evolutionären Weg weitergingen, verloren wir dann nach und nach unsere dichte Körperbehaarung (und unsere Angewohnheit, mit Gorillas zu verkehren). Unsere neuerworbene Haarlosigkeit stellte für »unsere« beiden Läusearten ein Problem dar, denn sie waren auf einen Urwald aus Haaren angewiesen, um ihre Eier abzulegen. Beide Läusearten waren also gezwungen, sich zu spezialisieren. Die Laus, die uns schon am längsten begleitet hatte, zog sich auf den nördlichsten Teil unseres Körpers zurück und wurde Kopfexpertin. Die Laus, die wir uns von den Gorillas eingefangen hatten, zog in unsere Äquatorregion und wurde Unterleibsspezialistin.

Die Entspannungspolitik zwischen den beiden Läusearten währte etwa eine Million Jahre, bis vor nur 70 000 Jahren eine dritte Läuseart, nämlich die Menschenlaus, als Ableger unserer Kopflaus die Bühne betrat. Diese neue Laus hatte sich herausgebildet, um auf unserem Körper zu leben, aber genau wie die Laus, von der sie abstammte, konnte sie ihre Eier nicht auf unserer (nun unbehaarten) Haut ablegen, weil sie sofort zu Boden gefallen und abgestorben wären. Als Ersatz nutzte diese neue Laus Kleidung. Aus diesem Grund liefert das Auftauchen der Menschenlaus einen ziemlich brauchbaren Hinweis darauf, wann wir angefangen haben müssen, Kleidung zu tragen, nämlich vor rund 70 000 Jahren.

Klar, die schwierigere Frage lautet natürlich: Warum kümmerten wir uns plötzlich um Klamotten? Was war geschehen? Zu dieser Zeit waren unsere Vorfahren immerhin schon über eine Million Jahre lang unbehaart durch die Gegend gelaufen, und die meisten von ihnen lebten noch im warmen afrikanischen Klima – aber eben nicht alle! Wie wir sehen werden, hatte Homo sapiens kurz vor der Ankunft der Menschenlaus begonnen, aus Afrika auszuwandern. Vielleicht führte die Migration in kältere Klimazonen zur Erfindung von Kleidung. Oder Kleidung war schon viel früher erfunden worden, um uns nicht nur vor der Kälte, sondern auch vor der Sonne zu schützen. Es könnte aber auch sein, dass unsere Vorfahren sich vielleicht nur schmücken oder von anderen unterscheiden wollten. Was auch immer der Grund war, von diesem Punkt an müssen zumindest einige unserer Vorfahren die meiste Zeit Kleidung getragen haben, weil die Menschenlaus sonst ausgestorben wäre.

Die Entwicklungsgeschichte der Menschenlaus bietet hervorragende Hinweise auf die Erfindung der Kleidung, doch woher kennen wir eigentlich die zeitlichen Einzelheiten dieses Prozesses? Und woher wissen wir, dass wir unsere Filzläuse vor drei Millionen Jahren von den Ahnen der Gorillas bekommen haben? Um solche Fragen zu beantworten, stützen sich Wissenschaftler auf die »molekulare Uhr«, ein Verfahren, das auf der Basis von DNA-Mutationsraten Prozesse zeitlich einordnen hilft. Wenn sich zwei Arten aufspalten, werden die zufälligen Mutationen in ihrer DNA nicht mehr von beiden Arten geteilt, sie gehören exklusiv jeweils einer der beiden Arten. Weil wir die durchschnittliche Mutationsgeschwindigkeit der unterschiedlichen DNA-Stränge kennen, können wir die spezifischen, von beiden Arten geteilten Mutationen auf den Strängen der DNA zählen, um herauszufinden, ab wann die zwei Arten getrennte Wege einschlugen.

Wenn zum Beispiel ein bestimmter DNA-Strang einer bestimmten Art mit einer Durchschnittsrate von einmal alle 20 Generationen mutiert und wir im Schnitt 50 spezifische Mutationen auf der DNA der zuvor verwandten Arten finden, dann wissen wir, dass sie seit etwa 1000 Generationen getrennt sind. Wenn wir auf diese Weise rückwärts zählen, kommen wir früher oder später zu jenem gemeinsamen Vorfahren, der den beiden nachkommenden Arten genetisch am nächsten ist.

Indem man die Anzahl der Mutationen in der DNA von Menschenläusen und Kopfläusen (die sehr nah miteinander, aber nicht mit der Filzlaus verwandt sind) untersucht, erhält man ziemlich gute Belege dafür, dass unsere Vorfahren vor mindestens 70 000 Jahren aufgehört haben müssen, nackt herumzulaufen. Mit der gleichen Methode haben wir außerdem ziemlich gute Belege dafür, dass unsere Filzlaus sich vor ungefähr drei Millionen Jahren von dem Ahnen der Gorilla-Laus abgespalten haben muss.

Woher kennen wir die Wichtigkeit von Großmüttern?

In Finnland hat die evangelisch-lutherische Kirche seit dem 18. Jahrhundert akribische Aufzeichnungen über alle Geburten, Hochzeiten und Todesfälle angefertigt. Auf Grundlage dieser hervorragenden Datenquelle konnten Mirkka Lahdenperä und ihre Kolleginnen und Kollegen von der Universität Turku die Lebensverläufe von über 500 Frauen nachzeichnen sowie die ihrer Kinder und Enkelkinder, und zwar aus fünf finnischen Bauern- und Fischergemeinden zwischen 1702 und 1823. Dabei stießen sie unter anderem auf mehrere wichtige Erkenntnisse über Großeltern. Am bemerkenswertesten war vielleicht ihre Entdeckung, dass Großmütter ab ihrem 50. Lebensjahr pro Jahrzehnt zwei zusätzliche lebende Enkelkinder bekamen. Dieser Effekt zeigte sich am deutlichsten in Familien, in denen die Großeltern mit ihren Enkelkindern im selben Dorf lebten. Das schien auf drei Faktoren zurückzuführen zu sein:

Eine noch lebende Großmutter im selben Dorf zu haben, erlaubte es den Töchtern, früher eigene Kinder zu bekommen (mit einem Durchschnittsalter von 25,5 Jahren gegenüber 28 Jahren).

Eine noch lebende Großmutter verkürzte außerdem das Intervall zwischen den Geburten, denn Töchter von lebenden Großmüttern bekamen alle 29,5 Monate ein Kind, Töchter von verstorbenen Großmüttern nur alle 32 Monate.

Eine noch lebende Großmutter, die noch keine 60 Jahre alt war (und daher mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre tatkräftige Hilfe anbieten konnte), erhöhte die Überlebensraten ihrer Enkelkinder um 12 Prozent. Diese größeren Überlebensraten manifestierten sich jedoch erst nach der Entwöhnung: Kinder, die noch gestillt wurden, wiesen unabhängig davon, ob ihre Großmütter noch lebten oder nicht, ähnliche Überlebensraten auf.

Zu dieser Zeit starb in Finnland (wie überall sonst) fast die Hälfte der Kinder an Krankheiten und Verletzungen, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten, weshalb dem positiven Einfluss von Großmüttern auf das Überleben und die Fortpflanzung große Bedeutung zugemessen wurde.

Woher wissen wir, was unsere Vorfahren taten, um Inzucht zu vermeiden?

Tiere, die in kleinen Gruppen leben, profitieren in vielfacher Hinsicht von dieser Lebensweise, sind jedoch mit dem Problem der Inzucht konfrontiert. Das Risiko, sich mit engen Verwandten zu paaren, ist schlicht sehr hoch.

Wenn man sich mit engen Verwandten fortpflanzt, sind verschiedene negative Folgen vorprogrammiert – die Wichtigste ist jedoch, dass bedenkliche Gene mit größerer Wahrscheinlichkeit aufeinandertreffen können. Ich zum Beispiel trage ein Gen für das Tay-Sachs-Syndrom in mir, das zum Glück rezessiv vererbt wird (was bedeutet, dass man, wenn man das Gen nicht von beiden Eltern bekommt, keine Konsequenzen zu fürchten hat). Wenn beide Eltern das Tay-Sachs-Gen in sich tragen, liegt die Chance, dass eines der Kinder zwei Tay-Sachs-Gene erbt und die Krankheit bekommt, bei 25 Prozent. Die meisten Patienten zeigen ab dem Alter von sechs Monaten Symptome der Krankheit: Erst verlieren sie ihr Seh- und Hörvermögen, dann nach und nach die Fähigkeit zu schlucken und sich zu bewegen. Bald darauf sterben sie.

Das Gen für das Tay-Sachs-Syndrom ist selten (eines von 250 Mitgliedern der Allgemeinbevölkerung trägt es in sich), es gibt also so gut wie kein Risiko, dass Leute wie ich ein Kind bekommen, das Tay-Sachs hat, weil die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich in jemanden verliebe, der ebenfalls das Tay-Sachs-Gen in sich trägt, äußerst gering ist. Wenn man aber mit Mitgliedern seiner eigenen Familie Kinder bekäme, zum Beispiel mit Geschwistern oder Cousins, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Partner ebenfalls das Tay-Sachs-Gen in sich trägt, sehr viel höher, und es gäbe ein viel größeres Risiko, dass unsere Kinder diese furchtbare Krankheit bekommen.

Der übliche Weg, auf dem Tiere, die in kleinen Gruppen leben, das potenzielle Inzucht-Problem lösen, ist, dass entweder die Männchen oder die Weibchen bei Geschlechtsreife die Gruppe verlassen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit, sich mit einem nahen Verwandten zu paaren, dramatisch gesenkt. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Tiere nicht bewusst aus diesem Grund ihre Gruppe verlassen. Vielmehr ist es so, dass Artgenossen, die eine Reiselust entwickelt haben und zu einer anderen Gruppe abgewandert sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit Inzuchtprobleme vermeiden konnten. Und weil Tiere, die den Hang geerbt haben, zur Zeit der Geschlechtsreife abzuwandern, die größeren Reproduktionserfolge verzeichnen konnten, wurde in der Konsequenz der Hang zum Gruppenwechsel innerhalb der Art immer größer.

Schimpansen lösen das Inzuchtproblem, indem sich die Weibchen neue Gruppen suchen, sobald sie geschlechtsreif sind. Im Vergleich dazu sind die Lösungen der menschlichen Jäger und Sammler flexibler und vielfältiger (mehr dazu in Kapitel 3), und die Forscher haben sich gefragt, ob unsere entfernten Vorfahren in dieser Hinsicht mehr den Schimpansen oder mehr uns heutigen Menschen ähneln. Doch wie erschließt man sich solche Informationen, wenn man nur ein paar zufällige Fossilienreste zur Verfügung hat und sich ansonsten nichts erhalten hat, das einem Auskunft darüber geben könnte, wie unsere Vorfahren gelebt haben?

Wissenschaftler konnten dieses spezielle Problem lösen, indem sie den Strontium-Gehalt in den Zähnen unserer Vorfahren maßen. Strontium ist ein Metall, das in ähnlicher Weise vom Körper aufgenommen wird wie Kalzium, weshalb es sich hauptsächlich in unseren Knochen und Zähnen findet. Es gibt vier verschiedene Formen von Strontium, und ihr jeweiliger Anteil variiert mit der örtlichen Bodenbeschaffenheit. Je nachdem kommt das Strontium in der einen Form sehr häufig vor, in der anderen Form relativ häufig und in den verbleibenden beiden Formen selten.

Weil sich Strontium während des individuellen Wachstums in den Zähnen einlagert, ist es möglich, durch eine Analyse von urzeitlichen Zähnen den Anteil der jeweiligen Strontium-Formen zu ermitteln. Wenn das Strontium-Verhältnis, das in den Zähnen gefunden wurde, dem Verhältnis im örtlichen Grundgestein entspricht, ist der Mensch, dem die Zähne gehörten, mit großer Sicherheit in derselben Region aufgewachsen, in der seine Zähne gefunden wurden. Wenn sich allerdings das Verhältnis der verschiedenen Strontium-Formen von dem des örtlichen Grundgesteins unterscheidet, ist er mit ziemlicher Sicherheit erst nach seiner Kindheit in diese Region gezogen.

Als Sandi Copeland und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie das Strontium-Verhältnis in den Zähnen diverser Australopithecus africanus untersuchten (unserer Vorfahren von vor ein paar Millionen Jahren, mehr zu ihnen in Kapitel 1 und 2), fanden sie heraus, dass die größeren Zähne zu der Umgebung passten, die kleineren aber nicht. Weil Männer typischerweise größer sind als Frauen und deshalb auch größere Zähne haben, legen diese Ergebnisse nahe, dass weibliche Australopithecina wahrscheinlich ihre Gruppen verließen und auf diese Weise – genau wie die Schimpansen – Inzucht vermieden.

Wie man an diesen drei Forschungsmethoden sehen kann, nutzen Wissenschaftler eine Vielzahl von Ansätzen, um unserer Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Manchmal erlauben die Untersuchungsergebnisse sehr sichere Schlussfolgerungen, zum Beispiel, wenn wir sehen, dass am gleichen Ort wohnende Großmütter mit einer verminderten Kindersterblichkeit zusammenkommen. In anderen Fällen ermöglichen die Ergebnisse begründete Vermutungen, beispielsweise wenn wir annehmen, dass kleinere Zähne weiblich sind und es darum wahrscheinlich die Frauen waren, die ihre Herkunftsgruppen verließen, wenn sie geschlechtsreif wurden. In wieder anderen Fällen sorgen die wissenschaftlichen Daten nur für gewisse zeitliche Grenzen, innerhalb derer wir unsere Theorien aufstellen können, so, wie wir durch das Auftauchen von Menschenläusen den Zeitpunkt festschreiben können, an dem wir spätestens Kleidung erfunden haben müssen. Welches aber der früheste Zeitpunkt gewesen sein könnte, lässt sich daraus nicht mit Sicherheit erschließen – vielleicht nahmen sich die Läuse ja alle Zeit der Welt, um sich an die neugewonnenen Möglichkeiten anzupassen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass jede einzelne Studie nur ein kleines Puzzleteil ist: Erst die Verbindung Tausender von Studien ermöglicht ein Gesamtbild. Weisen die verschiedenen Untersuchungen alle in dieselbe Richtung, können wir einigermaßen sicher sein, wenn sie einander widersprechen oder verschiedene Interpretationen zulassen, liegt noch Arbeit vor uns. Dass die Beweise umso dünner und mehrdeutiger werden, je weiter wir zeitlich zurückblicken, ist wohl kaum überraschend: Wir sind dann zunehmend auf Spekulationen angewiesen. Trotzdem habe ich versucht, unsere menschliche Geschichte ohne die endlosen Einschränkungen zu erzählen, die akademische Texte so nervtötend und anstrengend zu lesen machen. Behalten Sie also bitte im Kopf, dass ich mich in diesem Buch auf die unvollständige, komplizierte und manchmal widersprüchliche Literatur stütze, die uns zur Verfügung steht, um so gut wie möglich darzustellen, wer wir sind und woher wir kommen. Für Leserinnen und Leser, die mehr wissen wollen, gibt es am Ende des Buches ein nach Kapiteln unterteiltes Literaturverzeichnis.

Veranlagung oder Umwelt?

Bevor wir in den eigentlichen Text einsteigen, möchte ich noch die Rollen ansprechen, die die natürlichen Anlagen einerseits und die Umwelt andererseits für unsere psychologische Konstitution spielen. Manche Leute stören sich an evolutionären Ansätzen zur Erklärung menschlichen Verhaltens und kritisieren die Evolutionäre Psychologie für ihre vermeintlichen Folgen. Wenn die Gene unseren Geist beeinflussen, so sagen diese Leute, dann heiße das ja, dass all jene Aspekte unseres Innenlebens, die genetischen Einflüssen unterliegen, gegenüber der Umwelt und sozialen Einflüssen unempfänglich seien und damit außerhalb unserer persönlichen Kontrolle stünden. Ich möchte hier ganz klar sagen, dass kaum etwas weniger richtig sein könnte. Lassen Sie uns als Beispiel einen Teil des Körpers betrachten, der viel einfacher gebaut ist als unser Gehirn: unsere Muskeln.

Unterschiede in unseren Genen beeinflussen, wie groß die Muskeln sind, die wir ausbilden können. Einige Menschen erben eine Anlage zu großen Muskeln (es kommt einem die Startaufstellung eines bedeutenden Football-Teams in den Sinn), andere die Tendenz, eine eher bescheidene Muskulatur auszubilden (wenn Sie mich kennen würden, würde vielleicht ich Ihnen in den Sinn kommen).

Es ist allerdings unser Lebensstil, der bestimmt, ob wir unsere Muskeln mehr oder weniger großen Belastungen aussetzen oder sie mit mehr oder weniger Nährstoffen versorgen und sie dadurch veranlassen zu wachsen oder eben nicht. Unterschiedlich große Muskeln sind also eine Folge sowohl unserer Gene als auch unserer Umwelt als auch der Interaktion zwischen Genen und Umwelt. In diesem Sinne kann unsere Muskulatur sehr wohl eine Sache persönlicher Entscheidung sein. Wie dieses Beispiel zeigt, betrachtet die Evolutionstheorie unseren Körper und unseren Intellekt also keineswegs als Folge einer Art Konkurrenz zwischen Anlage und Umwelt, und auch nicht als Resultat eines festgelegten biologischen Programms oder als Bereich, der der menschlichen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit entzogen wäre.

Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt treten selbst dann auf, wenn die genetischen Einflüsse sehr stark sind. Zum Beispiel ist Myopie (Kurzsichtigkeit) im hohen Maße erblich, und kurzsichtige Eltern werden sehr wahrscheinlich kurzsichtige Kinder bekommen. Dennoch zeigen Studien mit Menschen aus Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, dass es so gut wie keine kurzsichtigen Jäger und Sammler gibt. Zahlreiche Aspekte des modernen Lebens könnten Myopie verursachen – sei es die Tatsache, dass wir viele Aufgaben aus großer Nähe verrichten, sei es das Lesen, sei es das Arbeiten bei wenig Licht. Was auch immer der Grund ist: Die Gene, die zu Myopie führen, machen also die Menschen für die Umweltfaktoren, die Myopie verursachen, empfänglich. Menschen, die Myopie-Gene in sich tragen und in modernen Umgebungen leben, entwickeln normalerweise eine Kurzsichtigkeit; Menschen, die Myopie-Gene in sich tragen, aber als Jäger und Sammler leben, tun dies fast nie. Sogar Phänomene, die im hohen Maße genetisch sind, können also gleichzeitig im hohen Maße umweltbedingt sein.

Dieses Prinzip gilt auch für unseren Intellekt. Die Inhalte unseres Kopfes sind ein Produkt von Genen, Umwelteinflüssen und persönlichen Entscheidungen. Unsere Gene stupsen uns in eine bestimmte Richtung – in einigen Fällen müsste man diesen Stupser wohl eher als Schubser bezeichnen –, aber die Entscheidungen, die den Verlauf unseres Lebens bestimmen, treffen wir selbst.

Es gibt unzählige Fälle, in denen die menschliche Freiheit genetische Tendenzen überwunden hat, doch das einleuchtendste Beispiel ist wohl das Zölibat. Das Verlangen nach Sex ist mit das größte Verlangen, das uns unsere Gene mitgegeben haben, denn die Abwesenheit von Sex ist die Garantie dafür, dass unser persönlicher Tod auch der Tod unserer Gene ist. Trotzdem haben sich im Verlauf der Geschichte nicht wenige Menschen dazu entschieden, auf jegliche sexuelle Aktivität zu verzichten. Manche haben es versucht und sind bei der Umsetzung gescheitert, und ohne Frage mussten die, die es geschafft haben, schwere Kämpfe mit sich selbst ausfechten, aber das ist ja gerade der Punkt. Dass unsere Gene uns einen massiven Schubs in die von ihnen präferierte Richtung geben, heißt noch lange nicht, dass wir diesen Weg tatsächlich gehen müssen.

Man kann sich unschwer eine Welt ausmalen, in der die Gene unser Bewusstsein kontrollieren, und bei den meisten Tieren ist es ja tatsächlich so. Doch nachdem wir einmal den evolutionären Pfad in Richtung höherer Intelligenz und eines Lebensstils eingeschlagen haben, der auf Lernen, statt auf angeborenem Wissen basiert, hatten unsere Gene keine andere Wahl, als einen Großteil ihrer Kontrolle abzugeben.

In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, wie Erdmännchen ihren Jungen das Jagen beibringen. Erdmännchen ernähren sich hauptsächlich von Insekten, aber auch von Spinnen, Eidechsen und Skorpionen, wobei Letztere aufgrund ihrer tödlichen Stacheln ja nun ein eher kompliziertes Abendessen darstellen. Weil Erdmännchen nicht von Natur aus wissen, wie man einen Skorpion erlegt, wird es ihnen von Eltern oder älteren Geschwister beigebracht.

Zu dem Unterrichtsverfahren gehört, dass sie den Zustand des Skorpions, den sie als Mahlzeit mit nach Hause bringen, entsprechend des Alters ihres Nachwuchses variieren. Wenn die Kleinen gerade erst entwöhnt wurden, tötet das erwachsene Erdmännchen den Skorpion, bevor es ihn den Jungen gibt. Wenn der Nachwuchs schon etwas größer ist, bricht das erwachsene Erdmännchen den Stachel des Skorpions ab, bevor er ihn aushändigt, lässt ihn aber am Leben, damit die Kleinen üben können, ihn selbst zu töten. Sind die Jungen schließlich groß genug, um sich allein hinauszuwagen, übergibt ihnen das erwachsene Erdmännchen einen lebendigen und unversehrten Skorpion, den sie nun selbst angreifen und töten müssen.

Das Ganze erweckt den Eindruck eines gut durchdachten Ablaufs, doch die Erdmännchen verlassen sich nur auf ein einziges Signal, um zu entscheiden, wie sie den Skorpion behandeln, bevor sie ihn übergeben: Ton. Wenn Forscher die Töne von sehr jungen Erdmännchen abspielen, töten die Erwachsenen den Skorpion, bevor sie ihn abgeben. Spielen Forscher die Töne von älteren Jungen ab, übergeben die Erdmännchen einen lebendigen, potenziell tödlichen Skorpion. Erstaunlicherweise lösen die Töne, die von jungen Erdmännchen in verschiedenen Entwicklungsstadien ausgestoßen werden, diese Verhaltensweisen bei ihren erwachsenen Betreuern immer aus, unabhängig davon, wie alt sie wirklich sind. Obwohl sie in täglichem, direktem Kontakt mit ihren sehr jungen und fast vollständig hilflosen Nachkommen stehen, bieten sie ihnen einen unversehrten Skorpion an, wenn sie die Töne hören, die von älteren und kompetenteren Jungen ausgestoßen werden.

Ergebnisse wie diese zeigen, dass die Entscheidungen der Erdmännchen auf einer Kombination ihrer Gene mit einer einzigen Umweltinformation beruhen. Zweifellos hat sich dieses System deshalb herausgebildet, weil es rein rechnerisch äußerst effizient ist (das heißt, nicht sehr viel Hirnschmalz erfordert) und in der wirklichen Welt bestens funktioniert – Baby-Erdmännchen stoßen nämlich niemals die Töne aus, die jugendliche Erdmännchen von sich geben.

Menschen unterscheiden sich wesentlich von Erdmännchen und andern ihnen ähnlichen Tieren. Auch bei uns Menschen beeinflussen Gene unsere Entscheidungen, doch nur in Kombination mit einer Riesenauswahl an anderen Einflüssen, unter anderem solchen, die aus dem Inneren unseres Schädels kommen und darauf beruhen, wie wir uns selbst sehen und wer wir sein wollen. Die menschliche Handlungsfähigkeit ist also ein wichtiger Bestimmungsfaktor des Verhaltens, weil sich Menschen entscheiden können, ob sie unbekümmert oder energisch sein möchten, ob sie anderen entgegenkommen oder mit ihnen konkurrieren wollen, ob sie ihrem Ehrgeiz oder ihrer Faulheit mehr Gewicht geben. Unsere Gene sind ein Faktor in diesen Entscheidungsprozessen, aber sie sind eben nur ein Faktor von vielen. Wie wir am Beispiel der Myopie gesehen haben, arbeiten Gene mit der Umwelt zusammen, um ihren Einfluss auszuüben. Die Macht der Gene anzuerkennen, heißt also keineswegs, die Wichtigkeit von Erziehung, Klasse, Kultur und dergleichen infrage zu stellen.

Unter dem Strich erzählt die Evolutionäre Psychologie, wie die Evolution unsere Gene ausformte, die ihrerseits unseren Geist formten, doch diese Geschichte ist beileibe nicht deterministisch. Auch die Umwelt formt unseren Geist, und unsere Kultur, unsere Werte und Vorlieben spielen eine entscheidende Rolle bei der Frage, wer wir sind – und wohin wir gehen.

Teil 1

Wie wir wurden, wer wir sind

1

Die Vertreibung aus dem Paradies

Sie und ich sind die Nachkommen von schimpansenartigen Kreaturen1, die vor sechs oder sieben Millionen Jahren den Regenwald verließen und in die Savanne zogen. Auf den ersten Blick erscheint die Entscheidung unserer Vorfahren, die Bäume zu verlassen, recht seltsam, denn solange sie sich unter den Baumkronen aufhielten, gab es so gut wie keine Raubtiere, die in der Lage gewesen wären, erfolgreich Jagd auf sie zu machen. Nicht einmal erstklassige Baumkletterer wie Leoparden greifen Schimpansen in Bäumen an: In ihrem eigenen Lebensraum sind Schimpansen einfach zu schnell und zu gefährlich. Am Boden hingegen werden sie zur einfachen Beute. Auf zwei Beinen sind sie unbeholfen und auch auf alle Vieren vergleichsweise langsam, außerdem eher klein: Für Großkatzen wie Löwen, Leoparden und Säbelzahntiger, die einst das östliche Afrika durchstreiften, waren sie eine leicht zu erlegende Zwischenmahlzeit.

Also wozu die Bäume verlassen? Was brachte unsere Vorfahren dazu, die Sicherheit und schiere Fülle des Lebens unter dem Baumkronendach gegen eine schwerfällige und unbeholfene Existenz auf dem Boden einzutauschen? Darüber gibt es unter den Wissenschaftlern eine lebhafte Debatte, weithin befürwortet wird inzwischen jedoch die aktualisierte Version der »Savannen-Hypothese«. Sie wurde im Jahr 1925 von Raymond Dart im Zuge der Vorstellung seiner Entdeckung des Australopithecus africanus vorgeschlagen, den er auch den »Menschen-Affen aus Südafrika« nannte. Im tropischen Regenwald, stellte Dart fest, würden sich Menschen kaum entwickelt haben, weil das Leben für sie dort zu einfach gewesen sei. Weiter schrieb er: »Für die Entstehung des Menschen war eine Lehrumgebung nötig, die die Sinne schärfte und die die höheren intellektuellen Fähigkeiten stimulierte – eine offenere Steppenlandschaft, in der der Wettkampf zwischen Schnelligkeit und Schläue härter war und wo Geschicklichkeit im Denken und in der Fortbewegung für die Erhaltung der Art eine entscheidende Rolle spielte.«2

Damit, dass die Entwicklung des Menschen in der Savanne begann, hatte Dart recht, doch im Jahr 1925 war ihm noch nicht klar, welche Kräfte uns dorthin gebracht hatten. Heute glauben wir, dass es tektonische Aktivitäten entlang des Ostafrikanischen Grabenbruchs waren, die uns von unseren schimpansenähnlichen Vorfahren getrennt haben. Die gesamte Erdoberfläche, einschließlich der Landmassen, die die Kontinente ausmachen und den Grund der Ozeane bilden, sitzt auf tektonischen Platten. Diese Platten wandern auf einem darunterliegenden Mantel umher, der, wenn er aus einem Vulkan austritt, die Form eines dickflüssigen Suds hat. Unter der Erdkruste ist dieser Sud aber einem so starken Druck ausgesetzt, dass er eher die Konsistenz von biegsamem Straßenteer bekommt. Die Hitze, die der Erdkern ausstrahlt, verursacht in diesem Mantel unglaublich langsame, aber starke Strömungen, und diese Strömungen führen die Platten mit sich. Manchmal krachen sie in Superzeitlupe aufeinander. Als zum Beispiel Asien von Indien gerammt wurde, entstand nebenbei der Himalaya (der sich jedes Jahr ein paar Zentimeter erhöht). Manchmal reißen diese Platten auch auseinander und bewegen sich voneinander weg, wie in Afrika, wo sich die Ostseite langsam vom Rest des Kontinents ablöst: Es beginnt im Norden mit dem roten Meer und endet im Süden an der Küste von Mosambik.

Die tektonischen Aktivitäten entlang dieses geografischen Reißverschlusses schufen den »Ostafrikanischen Grabenbruch«, und hier und da erhoben sich langsam große Teile von Äthiopien, Kenia und Tansania zu einem hohen Plateau. Die topografischen Veränderungen führten zu einem lokalen Klimawandel: Nach und nach trockneten die Regenwälder auf der Ostseite des Bruchs aus und wurden zur Savanne. Wie sich also herausstellt, verließen nicht wir die Bäume, sondern die Bäume verließen uns.

Weil unsere schimpansenartigen Vorfahren in den Bäumen so unschlagbar waren und auf dem Boden kaum Eindruck machten, bedeutete die allmähliche Ersetzung des Regenwaldes durch die Savanne, dass sie sich einen neuen Lebensunterhalt suchen mussten. Die Früchte, Beeren und Blattknospen, an die sie sich als Nahrung gewöhnt hatten, verschwanden mit den Bäumen, und weil unsere Vorfahren am Boden so langsam waren, reduzierten sich auch ihre Gelegenheiten, eine Fleischmahlzeit zu erbeuten, erheblich. Obendrein trieben sich riesige Raubtiere im Grasland herum. Wie reagierten also unsere Vorfahren auf diesen doppelten Fluch von schwindender Nahrung und gefährlichen neuen Fressfeinden? Ohne Zweifel sind viele von ihnen in dieser Situation umgekommen, aber einige überlebten und blühten langsam auf, und ihre Geschichte ist die unsere.

Die Dikdik/Pavian-Strategie

Da unsere schimpansenähnlichen Vorfahren nicht die einzigen Baumbewohner sind, die sich jemals dem Leben auf dem Boden stellen mussten, untersuchen Wissenschaftler das Verhalten anderer Arten, um herauszufinden, wie sie sich an das Leben in der Grassavanne angepasst haben könnten. Eine Entsprechung findet sich zum Beispiel bei Pavianen. Obwohl Paviane nicht zu den Menschenaffen gehören (und deshalb nicht so klug sind wie Schimpansen), ähneln sie den Schimpansen in vielerlei Hinsicht, und diverse Pavianarten nutzen die afrikanische Savanne als Lebensraum. Savannen-Paviane leben in großen Gruppen, was den Vorteil hat, dass viele Augen nach Raubtieren Ausschau halten können und für die Selbstverteidigung viele Zähne zur Verfügung stehen. Die »Pavian-Lösung« für das Leben in der Savanne ist nicht die schlechteste, was man schon daran sehen kann, dass es immer noch reichlich Paviane gibt, aber das Ganze ist ziemlich stressig und äußerst gefährlich. Nicht selten endet das Leben eines Pavians abrupt im Rachen eines hungrigen Löwen oder Leoparden.

Wenn sie mit Raubtieren konfrontiert sind, verlassen sich Paviane stark auf ihre gewaltigen Schneidezähne, die größer sind als die von Schimpansen, obwohl Paviane insgesamt kleiner sind. Wenn unsere schimpansenähnlichen Vorfahren sich »entschieden« hätten, dass Beißen die Antwort auf ihr Savannen-Dilemma war, würden unsere Gesichter heute vermutlich hundeähnlicher aussehen, mit einem vorstehenden Kiefer und erheblich größeren Zähnen. Unsere winzigen Kiefer und lächerlichen Eckzähne weisen darauf hin, dass die Pavian-Lösung unseren Vorfahren wohl eher nicht zusprach. Sie wählten einen anderen Ansatz, um mit dem Leben in der Ebene fertigzuwerden, und das wird tatsächlich schon zu der Zeit deutlich, in der wir uns zu Raymond Darts Australopithecus entwickelt hatten, dessen Kiefer und Zähne von der Größe her zwischen denen der Schimpansen und unseren lagen.

Weil Schimpansen intelligenter sind als Paviane, brauchen sie länger, um das Erwachsenenalter zu erreichen, und ihr langsamerer Reifungsprozess bedeutet, dass sie mehr mütterliche Fürsorge benötigen. Die Folge ist, dass Schimpansen älter sind, wenn sie zum ersten Mal Junge bekommen, und eine niedrigere Reproduktionsrate aufweisen als Paviane. Mit dieser langsameren Reproduktion wäre für unsere Vorfahren das Risiko des Aussterbens größer gewesen, wären sie mit der gleichen Häufigkeit erwischt worden wie Paviane. Unsere schimpansenartigen Vorfahren, die diesen evolutionären Druckkessel überlebten, taten also, anstatt den konfrontativeren Ansatz der Paviane zu wählen, alles dafür, der Aufmerksamkeit von Löwen, Säbelzahntigern und anderen Raubtieren zu entgehen.

Tatsächlich ist für viele Pflanzenfresser das Verstecken die wichtigste Überlebensstrategie. Nehmen wir das Dikdik, eine Antilope von ungefähr der Größe einer Hauskatze, die ebenfalls in der Ostafrikanischen Savanne lebt. Wegen seiner geringen Größe kann es sich gegen kein Raubtier wehren, das größer ist als ein Pudel, und aus diesem Grund verbringt es die meiste Zeit seines Lebens mit Verstecken. Wenn Dikdiks gejagt werden, sind sie bestechend schnell und wendig, aber eben nicht schnell genug, um eine Hetzjagd im offenen Grasland zu überleben. Und so verschmelzen sie unauffällig mit ihrer Umgebung, sind permanent vor Raubtieren auf der Hut und bewegen sich niemals weit von dichtem Buschwerk fort.

Unsere schimpansenartigen Vorfahren waren nicht so schnell wie Dikdiks, aber sie konnten auf Bäume klettern. Es ist wahrscheinlich, dass sie sich tagsüber versteckten, nach Raubtieren Ausschau hielten und, wenn nötig, auf nahe Bäume kletterten, um sich in Sicherheit zu bringen. Heutige Schimpansen zeigen in der Savanne diese kombinierte Dikdik/Pavian-Strategie, bleiben enger zusammen, als im Regenwald und vermeiden mit Bedacht offene Ebenen, wo es an Bäumen zur Zuflucht fehlt. Interessanterweise zeigen Savannen-Schimpansen noch zwei weitere einzigartige Verhaltensweisen: Zum einen basteln sie sich aus Ästen primitive Speere, mit denen sie in Baumlöchern herumstochern, um kleinere Affen, die sich darin verstecken, aufzuspießen und auf diese Weise zu fangen. Zum anderen sind sie eher geneigt, ihre Beute miteinander zu teilen, als die Regenwald-Schimpansen. Beide Verhaltensweisen ähneln Veränderungen, die unsere Vorfahren durchlebten, nachdem sie die Wälder verlassen hatten. (Mehr dazu später.)

Die Untersuchungsergebnisse über Savannen-Schimpansen und Paviane legen nahe, dass größere Wachsamkeit es unseren Vorfahren ermöglicht haben könnte, sich in der Savanne durchzuschlagen, und dass diese Wachsamkeit während der ersten paar Millionen Jahre nach dem Verschwinden des Waldes wahrscheinlich eine wichtige Rolle für ihr Überleben gespielt hat. Anders als Paviane und Dikdiks aber waren unsere Vorfahren mit diesem Minimum an Erfolg nicht zufrieden. Die Savanne bot einem klugen Menschenaffen, der seine Hände nicht mehr zur Fortbewegung brauchte, neue Chancen. Der Wandel kam nicht über Nacht, doch die körperlichen und kognitiven Anpassungen im Laufe der folgenden drei Millionen Jahre legen nahe, dass wir vollkommen neue Methoden fanden, um uns im Grasland zu schützen.

Löwen mit Steinen bewerfen

Was würden Sie tun, wenn Sie von einem Tier angegriffen würden, das zu stark, zu grausam und zu schnell für Sie wäre, als dass Sie fliehen oder es mit bloßen Händen abwehren könnten? Ich selbst brauche nicht viel Fantasie, um mir diese Frage zu beantworten. Ich wuchs in einer Gegend auf, in der man eher nachlässig mit der Leinenpflicht umging, und meine Freunde und ich wurden oft von einem Deutschen Schäferhund und einem Dobermann gejagt, die in unserer Straße lebten. Obwohl ich ein dürres Kerlchen war und diese Hunde mir noch heute Angst einjagen würden, konnte ich mich im Alter von sieben oder acht Jahren schon ziemlich gut durch das Werfen von Steinen verteidigen. Besonders, wenn meine Brüder oder Freunde dabei waren, mussten wir uns nur hinunterbeugen, um Steine aufzusammeln, und die Hunde, die uns nachliefen, machten auf der Stelle kehrt. Wenn ich alleine war, floh ich zum nächsten Zaun oder Baum, weil ich die Steine nicht schnell genug werfen konnte, um sie in die Flucht zu schlagen, doch sobald auch nur ein anderer dabei war, konnten wir unsere Stellung halten.

Diese Erfahrungen geben uns einen Hinweis darauf, wie unsere Vorfahren in der Savanne auf die Bedrohung durch Raubtiere reagiert haben könnten: mit dem Werfen von Steinen, vor allem dann, wenn sie sich zusammentun und dadurch viele Steine werfen konnten. Es ist uns nicht möglich, die Zeit zurückzudrehen, um festzustellen, ob sie wirklich so vorgingen; was wir aber tun können, ist, die Unterschiede zwischen ihren und unseren Körpern zu untersuchen, um herauszufinden, ob diese Strategie plausibel ist. Was also zeigen die entsprechenden Funde?

Tatsächlich stützen eine Reihe von Veränderungen bei den fossilen Funden die Steinwurf-Hypothese. Die meisten dieser Veränderungen können zumindest teilweise bei unserem Vorfahren Australopithecus afarensis beobachtet werden (auch bekannt als Lucy, die vor dreieinhalb Millionen Jahren Ostafrika durchstreifte und eine Vorläuferin von Raymond Darts Australopithecus africanus war). Lucy war, wenn man nach der Größe ihres Gehirns geht, nicht viel aufgeweckter als ein Schimpanse, aber es scheint, als habe sie neue Methoden eingesetzt, um sich gegen Raubtiere zu wehren – Methoden, die über das Verstecken und die Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, hinausgingen. Verglichen mit einem Schimpansen waren ihre Hände, Handgelenke und Oberarme beweglicher, und sie hatte eine horizontaler ausgerichtete Schulter sowie mehr Platz zwischen ihrer Hüfte und dem unteren Bereich des Brustkorbs. Diese veränderten Eigenschaften rührten wahrscheinlich daher, dass sie zweibeinig war (also aufrecht ging), eine Angewohnheit, die ihre Vorfahren in der Savanne ausgebildet hatten. Diese neuen Eigenschaften waren darüber hinaus überaus nützlich, um Steine zu werfen.

Wenn man am Strand Leute beim Ballspielen beobachtet, könnte man den Eindruck bekommen, dass Werfen vor allem eine Sache der Arm- und Schultermuskulatur ist. Wer aber mit Kraft und Präzision werfen möchte, sollte eher Baseball-Spielern, Quarterbacks beim American Football oder Jägern und Sammlern zusehen. Bei erfahrenen Werfern setzen Arme und Schultern nur einen kleinen Teil der Bewegung um. Ein kraftvoller Wurf beginnt, indem man mit dem gegenüberliegenden Bein (also bei Rechtshändern mit links) einen Schritt vorwärts macht; es folgt eine Drehbewegung in der Hüfte, an die sich eine Rotation des Rumpfes und der Schultern anschließt, und schließlich führen der Ellenbogen und das Handgelenk die Bewegung zu Ende.

Mit diesen nacheinander ablaufenden Bewegungen macht man sich die Tatsache zunutze, dass die kombinierte Vorwärts- und Drehbewegung des Körpers die Bänder, Sehnen und Muskeln von Arm und Schulter dehnen, die dann am äußersten Ende des Wurfes den Arm wie ein zurückschnappendes Gummiband nach vorn beschleunigen. Schimpansen sind stärker als wir, aber sie können beim Werfen nicht diese Art von elastischer Energie erzeugen, weil ihre Gelenke nicht beweglich genug und ihre Muskeln nicht in der richtigen Reihenfolge angeordnet sind. Es sind diese Veränderungen an Hüfte, Schultern, Armen, Handgelenken und Händen, die Lucy und ihre Mit-Australopithecina zu sehr viel besseren Steinwerfern machten. Dieselben Veränderungen ermöglichten außerdem effektives Zuschlagen, das wahrscheinlich immer dann nützlich war, wenn man mit dem Steinewerfen sein Ziel nicht erreichte.

Einen Dobermann mit Steinen zu verjagen, ist die eine Sache, Löwen und Säbelzahntiger zurückzuschlagen, stellt aber natürlich eine völlig andere Herausforderung dar, vor allem, wenn man, wie der Australopithecus, nur zwischen 25 und 45 Kilogramm wiegt und bis zu ein Meter fünfzig groß ist, was nur ein wenig größer, aber ein bisschen leichter ist als ein moderner Schimpanse. Trotzdem kann Werfen sehr effektiv sein, wenn man fleißig übt. Mir wurde das zum ersten Mal unter die Nase gerieben, als ich Ende 20 war und mit meiner Freundin den Jahrmarkt von Ohio besuchte. An einem der Stände gab es ein Baseball-Übungsnetz und ein Laserhandmessgerät, und ich beschloss, meine Freundin mit meinen athletischen Fähigkeiten zu beeindrucken. Mit meinen 80-Stundenkilometer-Würfen war ich dann auch ziemlich zufrieden, und sie schien angemessen beeindruckt – bis plötzlich ein hoch aufgeschossener Zwölfjähriger neben mir Stellung bezog. Ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten, schleuderte dieser präpubertäre 40-Kilo-Schlacks einen Ball nach dem anderen mit einer Geschwindigkeit von 95 Stundenkilometern und mehr heraus. Weil ich den Männlichkeitswettbewerb auf keinen Fall gegen eine Bohnenstange in Menschengestalt verlieren wollte, warf ich meinen letzten Ball so hart, wie ich nur konnte, und wurde mit einem schrecklich inakkuraten 88-Stundenkilometer-Wurf und fürchterlichen Schmerzen in Ellenbogen und Schulter belohnt. Meine Freundin tröstete mich, indem sie darauf hinwies, dass Werfen eher eine Übungsdenn eine Kraftsache sei – ich glaube übrigens, das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich sie heiraten wollte –, und natürlich hatte sie recht.

Übung macht den Meister, und dadurch wird die Steinwurf-Hypothese noch plausibler, vor allem, wenn eine ganze Gruppe beteiligt ist. Im Einklang mit dieser These stehen historische Berichte, die ebenfalls zeigen, dass das Werfen von Steinen außergewöhnlich effektiv sein kann. Es gibt zahlreiche Beschreibungen von Begegnungen zwischen europäischen Forschungsreisenden und Angehörigen indigener Volksgruppen, die konfliktreich verliefen und bei denen die Indigenen ausschließlich mit Steinen bewaffnet waren. Obwohl die Europäer im Normalfall bewaffnet waren, verloren sie diese Scharmützel häufig, manchmal sogar vernichtend. Als Beispiel folgende drei historische Berichte, die die Anthropologin Barbara Isaac für ihren wundervollen Artikel »Werfen und die Evolution des Menschen« ausgegraben hat:

Es dauerte nicht lange, bis sie uns so vernichtend geschlagen hatten, dass wir uns mit von Steinwürfen blutenden Köpfen und gebrochenen Armen und Beinen in unseren Unterschlupf zurückbegeben mussten: Denn sie kennen keine anderen Waffen, und glaubt mir, dass sie einen Stein beträchtlich geschickter werfen und schleudern als jeder Christ. Wenn sie werfen, kommt einem der Stein vor, wie der Bolzen einer Armbrust.

Jean de Béthencourt, 1482

Die riesigen Steine, die von den Wilden geschleudert wurden, verletzten jeden Augenblick einen unserer Leute … ein Hagelschauer aus Steinen, so viele, dass es immer schwieriger wurde, ihnen zu entgehen, denn sie wurden mit ungewöhnlicher Kraft und Treffgenauigkeit geworfen, sie zeigten fast den gleichen Effekt wie unsere Kugeln und hatten den Vorteil, dass sie einander mit größerer Schnelligkeit folgten.

Jean-François de Galaup de La Pérouse, 1799

So manches Mal ist, bevor das Wesen der Eingeborenen bekannt wurde, ein bewaffneter Soldat von einem komplett unbewaffneten Australier getötet worden. Der Mann hat auf den Eingeborenen geschossen, der durch ständiges Ausweichen seinen Feind daran gehindert hat, ihn korrekt ins Visier zu nehmen und ist dann einfach von einem Hagelschauer an Steinen in Stücke gerissen worden, die mit einer Präzision und Kraft … geschleudert wurden, die man gesehen haben muss, um sie zu glauben … der Australier schleudert einen nach dem anderen mit solcher Geschwindigkeit, dass es wirkt, als kämen sie aus einer Maschine; und während er sie wirft, hüpft er hin und her, als wollte er die Geschosse aus unterschiedlichen Richtungen auf dem unglücklichen Objekt seines Angriffs niederprasseln lassen.

John Wood, 1870

Diese Berichte zeigen, wie tödlich das kollektive Steinewerfen sein kann, aber sie erhellen noch einen entscheidenden weiteren Punkt: Damit diese Strategie gegenüber großen Tieren wie Löwen und Leoparden zum Erfolg führt, ist Kooperation unabdingbar.

Die Psychologie kollektiver Aktionen

Schimpansen konkurrieren eher miteinander, als dass sie kooperieren, und darum wäre es für unsere schimpansenartigen frühen Vorfahren wohl schwierig gewesen, kollektiv zu handeln, um große Raubtiere abzuwehren. Ein einzelner Australopithecus afarensis, der mit Steinen warf (während die anderen Mitglieder seiner Gruppe vielleicht wegliefen), wäre im Bauch eines nur leicht lädierten Raubtiers gelandet, aber viele Australopithecina waren wahrscheinlich in der Lage, Hyänen, Säbelzahntiger und sogar Löwen mit Steinen zurückzuschlagen. Es war diese Notwendigkeit zum kollektiven Handeln, die jene wichtigste psychologische Veränderung hervorbrachte, die es uns ermöglichte, in der Savanne zu gedeihen, anstatt nur zu überleben: die Möglichkeit und der Wunsch zusammenzuarbeiten.

Moderne Schimpansen kooperieren lose miteinander, wenn sie als Gruppe jagen oder andere Schimpansen als Gruppe angreifen, doch ihre grundlegende Haltung gegenüber Gruppenmitgliedern, die keine Verwandten oder engen Freunde sind, ist von Konkurrenz geprägt. Wahrscheinlich zerstreuten sich unsere schimpansenähnlichen Verwandten also die ersten hundert, tausend oder sogar Millionen Male, die sie durch das Grasland huschten, beim ersten Zeichen eines Angriffs auf die nahen Bäume. Doch irgendwann taten sie sich zusammen, um sich gemeinsam zu verteidigen, und hatten von da an alle miteinander bessere Überlebenschancen.

Individuen aus Gruppen, die lernten, auf diese Weise zu kooperieren, hatten einen enormen Vorteil gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen, die sich »Jeder Schimpanse für sich« auf die Fahnen geschrieben hatten. Aber das Entscheidende war, dass jede nachfolgende psychologische Veränderung, die die Zusammenarbeit in der Gruppe beförderte, von der Evolution bevorzugt wurde. Unsere Vorfahren, die gern kooperierten und auf deren Kooperation sich andere verlassen konnten, bekamen im Gegenzug einen stattlichen Lohn.

Als die Australopithecina erst einmal gelernt hatten, Raubtiere durch Steinwürfe zu vertreiben, werden sie bald entdeckt haben, dass sie durch das kollektive Steinewerfen auch jagen konnten. Um gemeinsam Steine zu werfen, braucht man wenig Planung und Koordination im Voraus, und es war darum auch für unsere Vorfahren mit ihren begrenzten kognitiven Fähigkeiten machbar. Wann auch immer eine Gruppe von Australopithecina zufällig auf eine mögliche Beute stieß, wird sie sie wahrscheinlich mit Steinen bombardiert haben. Das Werfen hat es den Australopithecina wohl auch ermöglicht, anderen Tieren ihre gerade erjagte Beute abzunehmen, denn jeden erfolgreichen Jäger, der allein unterwegs war, konnte schnell das gleiche Schicksal ereilen, wie seine Beute, wenn er versuchte, sein Abendessen im Angesicht umherfliegender Steine zu verteidigen.

Das Werfen von Steinen bewies nicht nur die großen Vorteile der Kooperation, es stellte auch selbst ein neues Mittel dar, diese Kooperation durchzusetzen. Das größte Problem für die Kooperation ist die Faulheit beziehungsweise die Tendenz, sich vor der harten Arbeit zu drücken und ihre Früchte trotzdem genießen zu wollen. Viele Australopithecina