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In der Zitadellenstadt Nuum galt die Ermittlerin Soldana Vitez einst als die Beste ihres Fachs. Doch dann beging sie einen folgenschweren Fehler und wurde zur Strafe in einen magischen Totenschlaf versetzt. Als Jahrzehnte später eine mysteriöse Mordserie den herrschenden Magierorden erschüttert, erweckt man sie aus dem Zauberschlaf. Ihre einzige Hoffnung auf Gnade ist, die Drahtzieher der Morde zu finden. Und so taucht sie immer tiefer in die verwinkelten Gassen einer Stadt ein, die ihr gleichzeitig vertraut wie fremd ist. Als sie sich an die Fährte einer grausam entstellten Attentäterin heftet, beginnt für Soldana eine alptraumhafte Reise in ihre eigene Vergangenheit. Auf Soldana wartet eine Entscheidung, an der nicht nur ihr eigenes Schicksal hängt, sondern das der ganzen Stadt und ihrer Bewohner. Der siebte Roman aus der Welt Lorakis - kein Vorwissen nötig!
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Seitenzahl: 375
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Autor: Michael Masberg
Lektorat: Thomas Römer
Korrektorat: Nicole Heinrichs
Satz: Thomas Römer
Umschlagillustration: André Balzuweit
Covergestaltung: Oliver Graute
© Feder & Schwert 2019
E-Book-Ausgabe 2019
ISBN 978-3-86762-392-6
ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-86762-391-9
Die ewig Lächelnde ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.
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Nuum im Winter.
Im Jahre 990 nach dem Mondfall.
Sie erwachte in völliger Dunkelheit. Es war so finster, dass sie sich fragte, ob sie die Augen wirklich geöffnet hatte. Doch sie konnte fühlen, wie sich ihre Augäpfel bewegten und wie sich ihre Lider schlossen und öffneten.
Es war das Einzige, das sie bewegen konnte. Ihr gesamter restlicher Körper war wie gelähmt, ganz so, als hätte man ihre Seele in zwei Augen gedrückt, die nichts anderes konnten, als hilflos in eine undurchdringliche Schwärze zu starren.
Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war. Bei ihr war noch jemand – oder etwas –, so nahe, dass dieses Fremde sie mühelos berühren konnte. Doch stattdessen wartete und lauerte es in der Finsternis.
Sie wollte ihre Augen wieder schließen, um in das sorglose Vergessen ihres Schlafes zu entfliehen, doch je fester sie die Augen schloss, umso heftiger riss sie sie wieder auf. Das Fremde rückte oder kroch näher an sie heran, wenn sie die Augen schloss, das wusste sie mit absoluter Gewissheit, auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieses Wissen kam. Gleichzeitig wusste sie, dass sie verloren wäre, wenn sie sich bewegte, aber alles in ihr schrie, sie müsse fliehen.
Verzweifelt stemmte sie sich gegen die Lähmung ihres Körpers, die sie wie die Hand eines Riesen an Ort und Stelle hielt. Eine gewaltige Last, die sie in die Ohnmacht zurückdrücken wollte.
Dann atmete sie ein. Feuchte, kalte Luft füllte ihre Lungen, und es kam ihr wie der erste Atemzug ihres Lebens vor. Als sie ausatmete, entwich die Panik.
An ihre Stelle trat Verwirrung. Ihr Zustand ergab keinen Sinn, und kurz darauf dachte sie: Ich ergebe keinen Sinn. Wenn sie an sich selbst dachte, war dort die gleiche Schwärze wie um sie herum, als wäre nur ein Teil von ihr erwacht. Sie wusste nichts über sich, nicht wer sie war, wo sie sich befand oder was sie hierhergebracht hatte. Sie war in der Finsternis und atmete.
Ihre linke Hand zuckte, und das löste ein überwältigendes Glücksgefühl in ihr aus. Ihre Finger strichen über kalten, rauen Stein, und aus ihrem linken Auge lief eine einzelne Träne über ihre Schläfe hinunter zum Ohr. Plötzlich fühlte ihr ganzer Körper den Stein unter ihr und die Kälte, die von ihm ausging.
Sie dachte nicht mehr an die Präsenz, die sie nach dem Erwachen so deutlich wahrgenommen hatte. Das Glück darüber, ihren Körper wiederzuhaben, verdrängte alles andere. Es war, als würde sich ihre Seele ausbreiten wie das Licht der Morgensonne, die sich langsam über die Gipfel hebt. Sie kehrte in sich zurück.
Eine große Unruhe ergriff sie. Sie wollte diesen Körper nutzen, sie wollte sich bewegen und diesen Ort erkunden, an dem sie sich befand. Immer noch gab es nicht einen Funken Licht, und ihre Augen wollten sich einfach nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Vorsichtig tasteten sich ihre Finger vor und fanden bald zu beiden Seiten den Rand ihrer Liegestatt. Sie ließ ihr linkes Bein ebenfalls zur Seite gleiten und den Fuß baumeln. Dann atmete sie tief ein, drehte sich auf die Seite und nutzte den Schwung, um aufzustehen.
Ihre nackten Füße berührten den kalten Steinboden. Für einen Moment genoss sie das klamme Gefühl unter ihren Sohlen. Dann stand sie zur Gänze auf – und die Beine versagten ihr den Dienst. Sie stürzte. Im letzten Moment konnte sie sich mit den Händen abfangen, um ihr Gesicht zu schützen, doch ihre Knie schlugen ungehindert auf.
Eine so starke Welle des Schmerzes durchfuhr sie, dass sie sich fast erbrochen hätte. Es folgte eine große Einsamkeit. Jegliche Euphorie war verschwunden, und sie fühlte sich wieder wie eine Fremde im eigenen Körper.
»Soldana Vitez«, wisperte plötzlich eine heisere, körperlose Stimme, und sie begriff, dass sie tatsächlich nicht alleine war. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, damit die aufkommende Angst keine Macht über sie gewinnen konnte.
»Soldana Vitez«, wiederholte die Stimme. Etwas war seltsam vertraut an diesen Worten. Lautlos formten ihre Lippen die Silben.
Das bin ich, erkannte sie plötzlich. Das ist mein Name!
»Du wurdest gerufen. Dein Schlaf ist unterbrochen.«
Bevor sie den Sinn hinter den Worten erfassen konnte, entzündeten sich Fackeln an den Wänden, und das plötzliche Licht brannte sich durch ihre Augen in den Schädel. Gleichzeitig überrollten sie Erinnerungen wie eine Flammenwalze. Sie wusste wieder, wer sie war, wo sie war und warum sie geschlafen hatte.
Ich bin Soldana Vitez, eine Vestigari von Nuum. Ich habe 38 Winter gesehen und besitze eine Kammer in der Dalmarischen Gasse. Ich – Da war etwas Wichtiges, das ihr nicht einfiel. Ein Name und ein großer Verlust. Etwas, das sie bereute? Es war wichtiger als alles andere, aber es fiel ihr einfach nicht ein.
Dann wurde sie von einem anderen Gedanken fortgerissen. Der Totenschlaf, die Strafe für mein Verbrechen. Ein Jahrhundert der Sühne, das sie traumlos hatte verbringen müssen, alterslos eingefroren in der Zeit.
Mit kalter Logik, als würde sie nicht sich, sondern eine kranke Ratte in der Gosse betrachten, verstand Soldana, warum ihre Muskeln ihr nicht gehorchen wollten: Sie waren einhundert Jahre lang nicht bewegt worden. Mit zitternder Hand schirmte sie ihre Augen ab und blinzelte gegen die Helligkeit an.
Langsam konnte sie den Raum erkennen und begriff schließlich, dass sie sich in derselben Kammer befand, in der der Totenschlaf über sie gesprochen worden war. In der Mitte erhob sich wie der schmucklose Altar vergessener Götter ein Basaltblock, auf dem sie gelegen hatte. An seinem Kopfende kniete eine Albin. Sie trug eine schwarze Robe, ihre Haare schimmerten wie Kupfer und ihre Augen waren hinter einer weißen Binde verborgen, die sich kaum von der blassen Haut abhob.
Soldana hielt sich an dem Steintisch fest. Sie musste ein jämmerliches Bild abgeben, und ihr Verstand versuchte immer noch, das zersprungene Mosaik ihres Lebens zusammenzusetzen, aber mit dem, was sie bereits wusste, konnte sie sich wenigstens einen Teil des Augenblicks aneignen.
»Du bist Renis, nicht wahr?« Soldanas Hals war trocken und ihre Stimme klang kratzig, aber immerhin schien ihr ihre Zunge zu gehorchen. »Renis Zikulin, die Vollstreckerin des Schlafes vom Zirkel der Nacht. Du hast den Totenschlaf über mich gesprochen, genau da, wo du jetzt sitzt. Ich hoffe, du hast nicht hundert Jahre dort auf mich gewartet.«
»Das Jahrhundert ist noch nicht verstrichen.«
»Bei Lyxas Silberflüstern – was?« Die beiläufige Enthüllung durch die Albin stürzte Soldana in eine noch größere Verwirrung.
»Du wurdest gerufen. Dein Schlaf ist unterbrochen«, wiederholte Renis mit ihrer ausdruckslosen Wisperstimme, als ergäben die Sätze alleine dadurch umso mehr Sinn, je häufiger sie ausgesprochen wurden.
»Ist die Welt aus ihren Angeln gehoben worden, und der Orden von Nuum hat die Gnade für sich entdeckt?«
»Verwechsle ein großzügiges Angebot nicht mit Gnade, Soldana Vitez.«
»Dann erlaube mir, aufzustehen. Wenn ich keine Gnade empfange, sehe ich keinen Sinn darin zu knien.«
Soldana redete, um Zeit zu gewinnen. Tatsächlich senkte die Albin den Kopf als Zeichen der Zustimmung. Mit langsamen Bewegungen stützte sich Soldana ab und hievte sich hoch, bis sie Renis gegenüber saß. Der Schmerz jagte von den Knien aus erneut durch ihren Körper, doch sie biss die Zähne zusammen und brachte ihre Gedanken in Ordnung.
Wenn das Jahrhundert noch nicht vorbei ist, ist die dringendste Frage, wie lange ich geschlafen habe. Jahrzehnte? Oder nur wenige Jahre?
Mit einem Mal füllte sich die größte Leere in ihrer Erinnerung mit gewaltiger Wucht: Dima! Der Name ihres Sohnes. Wie hatte sie ihn bloß vergessen können? Er war der eigentliche Preis, den sie hatte zahlen müssen. Mit seinem Namen kam die Erinnerung an die Gewissheit zurück, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Dima ist ... er war drei Jahre alt. Ich habe ihn Nikal anvertraut. Wo ist er jetzt? Wie alt ist er jetzt? Wenn die hundert Jahre nicht vollständig verstrichen waren, konnte dies bedeuten, dass er noch am Leben war. Mit einem Mal war sie hellwach, und eine unbändige Kraft durchströmte sie.
»Ich höre.«
»Zu der Zeit, als dein Schlaf begann, hattest du einen gewissen Ruf als die Beste deines Fachs, als Erste unter den Vestigari von Nuum. Oder wie das einfache Volk euch nennt: die Geisterkrähen, die Augen, Ohren und Schnäbel des Ewigen Ordens. Nun erfragt der Orden erneut deine Dienste, Soldana Vitez.«
»Mein Ruf hat also die Zeit überdauert. Das schmeichelt mir. Was wird von mir erwartet?«
Die blinde Albin vermied eine direkte Antwort. »Wenn du erfolgreich bist, werden dir als Lohn die verbleibenden sechsunddreißig Jahre deiner Buße erlassen.«
Ich habe vierundsechzig Jahre geschlafen. Soldana begriff, dass sich das Jahrhundert ihrer Strafe bis jetzt ihrer Vorstellung entzogen hatte.
Hundert Jahre waren eine unwirkliche Zeitspanne, eine Zahl aus einem Märchen. Aber die vierundsechzig Jahre machten ihr Schicksal für Soldana plötzlich greifbar. Sie hatte sechseinhalb Jahrzehnte in den lichtlosen Eingeweiden der Zitadelle verbracht. Die Zeit war unerbittlich vorübergezogen, und gleichzeitig war über ein halbes Jahrhundert zu einem einzigen Augenblick zusammengeschrumpft. Habe ich mich nicht gerade erst hingelegt und bin unter Renis’ geflüstertem Singsang weggedämmert? Wie können vierundsechzig Jahre einfach so verschwinden?
»Nimmst du den Auftrag an?«
Soldana atmete tief durch und rang die tobenden Gedanken und Empfindungen nieder. Sie musste die Oberhand über die Situation gewinnen.
»Ich habe einen Moment nicht zugehört, wie du vielleicht gesehen hast. Oh, verzeih mir – natürlich hast du das nicht. Wiederhole bitte den Auftrag.«
Die Spitze zeigte keine erkennbare Wirkung im Gesicht der Albin. »Ich habe dir den Auftrag nicht genannt. Ich bin nicht befugt, ihn dir mitzuteilen.«
»Wie soll ich mich entscheiden, ob ich ihn annehmen möchte, wenn ich nicht weiß, um was es geht?«
»Wenn du den Auftrag annimmst und erfolgreich bist, werden dir die verbleibenden Jahre erlassen. Wenn du scheiterst, wirst du die volle Zeit deiner Buße vollziehen. Das gilt ebenfalls, wenn du es vorzieht, den Auftrag abzulehnen. Es ist deine Entscheidung, ob du diese Kammer jetzt oder in sechsunddreißig Jahren verlässt. Mir ist es gleichgültig.«
Verdammte Magier! Warum hätte sich auch etwas ändern sollen? Nuum bleibt Nuum. Mitgefühl und Gnade sind hier so untot wie die erhobenen Leichen seiner unermüdlichen Knechte. Eine alte Bitterkeit stieg in ihr auf, als sich Soldana vergegenwärtigte, dass für die Magier alle Sterblichen, die nicht ihre Ausbildung und Privilegien besaßen, bestenfalls Material waren, das für ihre Forschungen und Intrigen nützlich war.
»Lebt mein Sohn Dima noch?«
»Das ist mir nicht bekannt. Mich kümmern die Wachen nicht. Meine Sorge gilt einzig den Schlafenden. Frage dich selbst, ob sein Fleisch noch atmen wird, wenn du ablehnst.«
»Das alles hier bereitet dir wahrscheinlich Freude, nicht wahr?«
»Stille bereitet mir Freude. Und je eher du dich entscheidest, desto früher wird die Stille zurückkehren.«
Die Magierin hatte natürlich recht. Wenn Dima noch lebte, war er nun fast siebzig Jahre alt. Soldana wusste, dass sie ihn in weiteren sechsunddreißig Jahren kaum wiedersehen würde. Die wenigsten Menschen wurden über hundert bei bester geistiger Verfassung.
Auch die wenigen Alben wie Nikal oder die paar Zwerge in meinem überschaubaren Kreis an Freunden würden mit jedem Jahr weniger werden. Von meinen Kontakten ist wahrscheinlich bereits jetzt kaum jemand übrig. Wer wird sich in weiteren vier Jahrzehnten überhaupt noch an mich erinnern?
»Ich nehme den Auftrag an«, sagte Soldana.
»Gut.«
Renis erhob sich. Selbst wenn Soldana gestanden hätte, wäre die Albin sicherlich zwei Köpfe größer gewesen.
»Die Besitztümer, mit denen du das Refugium der Stille betreten hast, liegen in der Kammer des Morgens bereit. Du wirst dich erfrischen können. Wenn du bereit bist, bringt dich ein Diener zu der Gesandten. Sie wird dir deine Fragen beantworten.«
»Wer ist die Gesandte?«
Doch Renis hatte alle Worte aufgebracht, die sie bereit war zu sprechen, und ließ Soldana alleine in der Kammer zurück. Ihr fröstelte.
***
Vor der Tür wartete ein auffallend kleiner Mann, dessen Gesicht Soldana erst nicht sehen konnte und den sie fast für einen unmündigen Lehrling gehalten hätte. Er trug eine ebenso schmucklose schwarze Robe wie Renis. Der Mann verzichtete darauf, sich vorzustellen, und Soldana fragte nicht nach seinem Namen. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber sie erinnerte sich an den Gang, durch den sie ihm folgte.
Soldana verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, das ihr nun Streiche spielte. Der Gang hatte sich kein bisschen verändert, und das verstärkte den trügerischen Eindruck, dass es nicht einmal eine Stunde her war, als sie ihn in die andere Richtung durchquert hatte.
Über den Türen zu beiden Seiten beugten sich die Wände nach innen und trafen sich zwei Schritt über ihrem Kopf, sodass der Gang den Querschnitt eines Fünfecks hatte. Magische Lichter flammten alle paar Meter vor ihnen auf und erloschen wieder, kaum dass sie sie passiert hatten. Zu beiden Seiten befanden sich Türen wie jene zu der Kammer, in der Soldana gelegen hatte.
In ihnen können nicht bloß Totenschläfer ruhen, wiederholte Soldana einen Gedanken, den sie schon beim ersten Mal gehabt hatte. Es wären Dutzende über Dutzende, von denen man nie etwas gehört hat. Bevor man sie verurteilt hatte, hatte sie nicht einmal gewusst, dass die Strafe des Totenschlafs existierte – und sie war stets gut informiert gewesen.
Ihr schweigsamer Führer blieb scheinbar wahllos vor einer Tür stehen. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie das stilisierte Abbild einer aufsteigenden Sonne, das den Türsturz schmückte. Der kleine Mann zog aus seiner Robe einen Schlüsselbund hervor, der trotz seiner vielen Schlüssel kein Geräusch machte. Mit einer sparsamen Bewegung öffnete er die Tür und wartete, dass Solana eintrat.
»Hab Dank«, sagte Soldana. Der Kleinwüchsige zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen und verzog angewidert das Gesicht. Als sie an ihm vorbei eingetreten war, schloss er hinter ihr die Tür.
Die Kammer des Morgens unterschied sich nur ein wenig von der Kammer des Abends, in der sich Soldana auf den langen Schlaf vorbereitet hatte. Sie besaß die gleichen grauen Wände, deren einziger Schmuck abbröckelnder Putz war. Der deutlichste Unterschied war der ovale Spiegel, der von kleinen Gargylen aus Messing gehalten wurde. Soldana vermied es, hineinzublicken. Vor dem Spiegel stand auf einem dunklen Holztisch eine Schüssel mit Wasser, daneben lagen Seife und ein grober, grauer Lappen.
Auf einem anderen Tisch stand ein geflochtener Korb mit dem Besitz, der ihr geblieben war. Obenauf lag der Hut mit der breiten Krempe, darunter der blaue Mantel. Soldana strich über den Stoff und erschrak über den Staub, der sich darauf angesammelt hatte.
Vorsichtig hob sie Hut und Mantel aus dem Korb, als wären sie aus dünnem Blauglas. Dann legte sie ihre weitere Garderobe aus: die schwarzen Hosen, das graue Hemd, die Unterkleider. Sie ordnete die Beutelchen und Taschen, prüfte das Leder des Gürtels und fand schließlich unter dem Tisch die Stulpenstiefel. Außerdem entdeckte sie ein Tiegelchen mit Fett, das der Orden bereitgestellt hatte, um das Leder zu pflegen.
Soldana ließ sich Zeit. Es verschaffte ihr eine tiefe Ruhe, wie sie ihren Besitz Stück für Stück auslegte und begutachtete. Es half ihr, sich ihres Lebens zu vergewissern. Noch immer gab es Lücken in ihrer Erinnerung, als würden Teile ihrer Vergangenheit noch unter der Wirkung des Zaubers schlafen.
Den Ring mit dem gesprungenen Edelstein hatte sie von ihrer Mutter bekommen. Der Schaden war entstanden, als Soldana sich vor dem Hieb eines betrunkenen Eisenbranners hatte schützen müssen, den sie des Schmuggels mit Vyralin-Erz überführt hatte. Das war im Pentakel, im Jahre ... Soldana unterbrach den Gedanken und streifte sich den Ring über.
Der Anhänger der Göttin Lyxa in Gestalt einer silbernen Schreibfeder hatte ihrem Mentor Colbenik gehört. Er hatte ihn ihr geschenkt, als er sich endlich entschieden hatte, das Geschäft eines Vestigari an den Nagel zu hängen. Danach war ihm nicht mehr viel Zeit unter den Lebenden vergönnt gewesen, aber diese hatte er ohne Reue genossen.
Das Lederbeutelchen mit den kleinen Tierknochen hatte ebenfalls Staub angesetzt. Soldana schloss die Augen und strich mit zwei Fingern über die Nasenwurzel. Dabei sprach sie die Formel, die Colbenik ihr vor so langer Zeit als einen der ersten Zauber beigebracht hatte. Als sie die Augen wieder öffnete, veränderte sich für einige Herzschläge ihre Wahrnehmung und sie blickte durch die Schleier auf die magische Welt. Deutlich erkannte sie durch das Leder die Magie, die den Tierknochen immer noch innewohnte. Die fragilen Artefakte hatten ihre Zauber nicht verloren und waren ohne Zweifel jeden Lunar wert, den sie dafür hatte zahlen müssen. Soldana fragte sich, ob es Muhme Marketas Magische Mittelchen noch gab.
Soldanas Zauber verflog, und sie hängte sich das Beutelchen an einer Lederschnur um den Hals. Dann zählte sie ihre Münzen durch, als ihr plötzlich eine Münze auffiel, die anders war. Zuerst hatte sie sie für einen gewöhnlichen Telar gehalten, doch die Kupferscheibe besaß nur auf einer Seite eine Prägung, während die andere vollkommen glatt war. Wieder hatte Soldana die Ahnung, dass dies etwas bedeuten musste, an das sie sich noch nicht erinnern konnte. Misstrauisch betrachtete sie den Telar im Kerzenlicht. Die Prägung zeigte nicht das Wappen von Nuum oder einer anderen Stadt des Mertalischen Bundes, sondern eine stilisierte Blume.
Eine Narzisse, dachte Soldana, und eine Erinnerung an dunkle Locken und ein verschmitztes Lächeln blitzte auf. Ledalo Toska – ein weiterer Name, der eine Lücke in ihrem Gedächtnis ausfüllte. Mit dieser Münze hat es begonnen, deswegen habe ich sie behalten. Sie brachte mich auf Ledalos Spur. Und dann – Soldana unterbrach den Gedanken und seufzte. Letztlich brachte sie mich hierhin.
Sie verstaute die Münze, ging weiter ihren Besitz durch und fand schließlich das Rasiermesser. Es war ein kostbares Stück, dessen Griff mit Einlegearbeiten aus Silber und Vyralin versehen war. Durch die ihm innewohnende Magie blieb die Klinge so scharf wie am ersten Tag. Es war ebenfalls ein Geschenk. Nikal hatte darauf bestanden, dass sie es zusätzlich zu ihrem Lohn annahm. Fortan symbolisierte es den Beginn ihrer Freundschaft.
Der Alb hatte Soldana damals angeheuert, weil er erpresst worden war. Schließlich hatte sie herausgefunden, dass ein gekränkter Liebhaber dahintersteckte, der sich mit den Silberlichtern eingelassen hatte. Es war ihr dann gelungen, Nikals Ruf wieder herzustellen.
Die Gedanken an den stets in edlen Stoffen gekleideten Alben riefen auch die Erinnerung an Dima wach. Ein abgründiges Gefühl von Verlust und Angst nahm Soldana die Luft.
Soldana schloss die Augen und atmete tief durch. Nikal wird für Dima gesorgt haben. Er hat ihm das beste Leben ermöglicht. Es geht meinem Kind gut! Ich habe all das in Kauf genommen, als ich mich entschieden habe, die Strafe anzutreten. Es hätte einen anderen Weg gegeben, doch nicht für mich. Ein weiteres Mal atmete sie tief durch die Nase ein. Und meine Lage ist besser, als sie hätte sein sollen. Ich bin vor der Zeit erwacht.
Sie stieß die Luft aus, riss sich vom Tisch los und sah entschlossen auf das Rasiermesser. Es ist an der Zeit, an die Arbeit zu gehen.
Bereits in ihrem letzten Jahr als Colbeniks Schülerin hatte Soldana ein Ritual für sich gefunden, das sie seitdem kein einziges Mal ausgelassen hatte. Immer, wenn sie einen Auftrag annahm, rasierte sie sich den Kopf. Danach würde sie die Klinge erst wieder an ihre Haut lassen, wenn sie den Auftrag erledigt hätte. Nur einmal war ihr Haar länger als einen Fingerbreit gewachsen.
Soldana drehte sich um, trat vor den Spiegel und hob langsam den Blick. Sie sah eine ganz und gar durchschnittliche Frau mit der blassen Haut einer Nuumierin, die ihr Leben im Schatten der Zitadelle verbracht hatte. Blaugraue Augen sahen sich selbst in einem Gesicht, das man nach einer flüchtigen Begegnung sofort wieder vergaß.
Und dann sah sie den Helm aus dunklen Stoppeln über ihrer Stirn. Ihre Hand hob sich langsam und strich zögerlich über das nachwachsende Haar.
Es ist noch genauso lang. Vierundsechzig Jahre, und mein Haar ist nicht gewachsen.
Ein namenloses Grauen ergriff Besitz von ihr, und alles, was sie seit ihrem Aufwachen mühsam unterdrückt hatte, brach sich Bahn.
Soldana stand zitternd vor ihrem Spiegelbild und weinte hemmungslos.
Eine Dienerin geleitete Soldana zu einem verschwenderisch großen Raum, folgte ihr aber nicht hinein. Auch hier gab es keine Fenster, nur Fackeln, die Bilder aus Ruß an die grauen Wände gemalt hatten. Das Deckengemälde zeigte in verblassten Farben den Mondfall und ringförmig darum die Länder von Lorakis, aus denen sich deutlich die Ventellen und aus ihnen die Zitadelle von Nuum hervorhoben. Unter dem Kunstwerk standen in drei Reihen jeweils fünf Tische hintereinander wie in einem vergessenen Refektorium. Auf den Bänken hätten hundert Personen Platz gehabt, doch nur eine einzelne Gestalt wartete hier.
Soldana sammelte sich, um die verwirrenden Eingebungen und Empfindungen, die sie seit ihrem Erwachen ohne Vorwarnung heimsuchten, aus ihren Gedanken zu verbannen.
An der hintersten, linken Tafel, nahe der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, saß eine Zwergin. Neben ihr auf dem Tisch lagen ein Tellerhelm und ein Streitkolben. Sichtlich gelangweilt schob sie einen Trinkkelch hin und her. Sie war darin so vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie Soldana näher kam.
Soldana räusperte sich.
Die Zwergin erschrak und stieß gegen den Kelch. Sie konnte ihn gerade noch davon abhalten, umzukippen. Dann sprang sie von der Bank auf und nahm neben dem Tisch Haltung an. Es wirkte unbeholfen.
Soldana sagte nichts und besah sich die andere Frau genauer. Sie trug ein schwarzes wattiertes Wams, auf dem mit silbernen Fäden der Widderkopf von Nuum gestickt war. Griffel, dachte Soldana verächtlich. Sie hatte mehr erwartet als eine Angehörige der Stadtgarde.
Die Zwergin trug ihre blonden Haare zu dicken Zöpfen gebunden. Sie war recht groß, doch die stramme Haltung, mit der sie dastand, schien ihr unangenehm zu sein, woraus Soldana schloss, dass sie sich für gewöhnlich kleiner machte. Aus den Augenwinkeln fiel ihr auf, dass die Gardistin auf den Lippen kaute und die Augenbrauen zusammenzog, wenn sie sich nicht beobachtet fühlte – deutliche Zeichen der Verunsicherung.
Soldana setzte sich auf die Bank gegenüber und lehnte sich mit dem Rücken an die Tischkante. Dann nahm sie ihren Hut ab und strich sich über die frisch rasierte Kopfhaut.
»Du kannst dich setzen«, sagte sie.
Sichtlich erleichtert sackte die Zwergin in sich zusammen und wirkte gleich einen halben Kopf kleiner. Sie nahm wieder Platz, blickte rasch zu Soldana und fing dann an, in einer Tasche zu wühlen, die neben ihr auf der Bank stand. Soldana beobachtete sie in aller Ruhe. Die andere Frau konnte mühelos älter sein als sie, aber mit Gewissheit war das nicht zu sagen. Ab einem gewissen Alter waren Zwerge wie Steine, die unendlich langsam und kaum merklich verwitterten.
Die Zwergin holte eine Schriftrolle hervor, gefolgt von einem kleinen Kästchen und einem Notizbuch. Alles breitete sie ordentlich vor sich auf dem Tisch aus. Dann hielt sie kurz inne, wühlte abermals in der Tasche und bot Soldana schließlich ein kleines Beutelchen an.
»Möchtet Ihr vielleicht – oder doch nicht?«
»Kommt ganz darauf an, was du da hast.«
»Lopten.«
Das Wort hing für einige Herzschläge zwischen den beiden Frauen in der Luft.
»Meine erste Mahlzeit nach einem so langen Schlaf sollte mehr als Karamell sein.«
»Oh. Ja. Natürlich.« Die Zwergin starrte verlegen auf die Süßigkeiten, leckte sich kurz über die Lippe und verstaute sie dann wieder in der Tasche.
»Hör zu, ich habe das dringende Bedürfnis, mir die Beine zu vertreten. Lass uns die Angelegenheit hinter uns bringen und dann können wir unserer Wege gehen. Wie ist dein Name?«
»Rungi Ultham, Frau Vitez.«
»Ich kenne einen Brado Ultham. Ist er mit dir verwandt?«
Soldana achtete genau auf Rungis Gesicht, als sie den Namen des alten Schmugglers nannte, der mit so vielen Magiern heimliche Geschäfte machte, dass sie dadurch fast legal waren.
»Mein Onkel«, presste sie mit deutlicher Abscheu hervor.
»Wie geht es dem alten Brado?«
»Er ist vor vier Jahren gestorben. Und Onkel Brado war von durch und durch schlechtem Charakter. Der Ewige Schatten weiß, dass mir nichts ferner liegt, als schlecht über die Verblichenen zu sprechen, doch ... Was habt Ihr? Geht es Euch nicht gut?«
»Es ist bloß, dass ich noch vor zwei Monden ... Für mich ist es noch nicht so lange her, dass er lebte.«
»Oh.« Rungi sah nach unten. »Ich verstehe.«
»Das glaube ich kaum«, sagte Soldana scharf, auch wenn sie ihre Worte gleich darauf bereute. Sie kann nichts dafür. Das ist der Preis, den ich zu zahlen habe. Jeder Schritt, den ich fortan mache, wird mich an einem anderen Grab vorüberführen.
»Erzähl mir, worum es hier geht. Bisher wollte mich niemand einweihen.«
Rungi griff nach dem Notizbuch, schlug es auf und strich die mit einer sehr säuberlichen Handschrift vollgeschriebenen Seiten glatt. Ganz und gar ein Griffel, dachte Soldana. Nuums Ordnungswahrer waren berüchtigt für ihre peniblen Berichte, die selten eine Konsequenz hatten. Mit Sicherheit stellten sie die unfähigste Stadtgarde der ganzen Mertalischen Halbinsel. Wären die Griffel jedoch nicht so nutzlos wie ihr Ruf, bräuchte es die Vestigari nicht, die die eigentliche Arbeit machten.
»Der Flüsternde Meister der Brunnen, Badalo Ptimir, wurde am Morgen vor zwei Tagen im Arbeitszimmer seines Wohnturmes im Stadtfünftel Tintenburg tot aufgefunden. Der unbekannte Angreifer verschaffte sich Zugang durch ein Fenster, überraschte den Flüsternden Meister und ermordete ihn, um dann unerkannt zu fliehen.«
Ein toter Magier, dachte Soldana. Das ist ein großer Brocken. Und gerade das machte sie misstrauisch.
»Mhm. Der Flüsternde Meister der Brunnen ist ein Titel der Stadtregierung. Wenn sich nicht etwas grundlegend geändert hat, ist er formal für die Kanalisation und die Wasserversorgung der Zitadelle verantwortlich. Der Tote ist damit mindestens ein Ordenshochmagier. Welchen Rang hatte er?«
Rungi hatte staunend genickt und blätterte nun eine Seite zurück.
»Meister Badalo Ptimir war ein Initiat des vierten Grades im dritten Rang.«
»Gut. Und welchen Rang hast du?«
»Ich? Ich bin bloß eine einfache Gardistin.«
»Warum bespreche ich die Angelegenheit dann mit dir?«
Der Zwergin war völlig überrumpelt. Bevor sie sich zu einer Antwort durchringen konnte, fuhr Soldana bereits fort.
»Ein toter Hochmagier ist keine Angelegenheit, die man den Ordnungswahrern überlässt.«
Rungi kaute wieder auf ihrer Unterlippe und griff hilflos nach der Schriftrolle, als stände in ihr ein Zauberspruch, der sie aus dieser unangenehmen Situation herausholen könnte. »Darum sollt Ihr die Hintergründe aufklären und den Mörder finden.«
»Das verstehe ich. Trotzdem sitze ich hier vor einer einfachen Gardistin und keinem Mitglied des Ordens. Wenn sich schon kein Magier bequemt, mit mir zu reden, so würde ich bei einer solchen Affäre zumindest einen Honorus erwarten. Das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder ist der Tote trotz seiner Stellung nicht sonderlich angesehen, vielleicht ist man sogar froh über sein Dahinscheiden und lässt die Ordnungswahrer anstandshalber ein bisschen ermitteln. Aber dann säße nicht ich hier. Oder, und das ist wahrscheinlicher, der Vorfall soll diskret behandelt werden – denn wo die Griffel fegen, wird nicht viel Schmutz aufgewirbelt. Aber genug, um von mir abzulenken. Erster Schluss: Jemand hat genügend Einfluss und Ressourcen, um sowohl über die Ordnungswahrer zu verfügen als auch mich zu wecken. Zweiter Schluss: Entweder kennt diese Person mich – und ist damit sehr alt –, sie hofft, dass ich bestimmte Informationen besitze, die niemand sonst hat, oder sie braucht jemand Entbehrliches.« Soldana rieb sich die Schläfen. »Wie mache ich mich?«
»Ihr konntet wohl nicht warten, bis ich es Euch erzähle.«
»Es ist eine alte Angewohnheit von mir. Außerdem hilft es mir, meinen Geist wieder in Schwung zu bringen.«
»Der Tote war ein persönlicher Freund des Obersten Wahrers der Ordnung Borna Galan – meines Vorgesetzten. Hochmeister Borna hat die Verantwortung für die Aufklärung übernommen. Es ist ihm sehr wichtig, dass die Ermittlungen vertraulich verlaufen und er über alle Fortschritte unterrichtet wird. Die genauen Instruktionen findet Ihr in diesem Dokument.« Rungi griff wieder nach der Schriftrolle.
»Ich lese sie mir später durch.«
»Ich verstehe, verzeiht mir. Ihr möchtet natürlich wissen, warum man Eure Hilfe benötigt. Man hat am Tatort eine Zeichnung gefunden, die augenscheinlich der Täter an die Wand gemalt hat. Zuerst konnte sich niemand einen Reim darauf machen. Erst mit der Hilfe des Archivs fand man eine Spur.« Sie schlug eine andere Seite in ihrem Notizbuch auf, drehte es um und schob es Soldana herüber. »Kennt Ihr es?«
Soldana beugte sich vor und besah sich die Zeichnung, die Rungi mit liebevoller Geduld angefertigt hatte – und schlagartig erfasste sie ein innerer Schwindel. Sie musste sich mit beiden Händen auf der Bank abstützen, um nicht vornüber zu kippen. Ihr Blick verschwamm an den Rändern, und es fiel ihr schwer, ihn auf das zu fokussieren, was sie vor sich sah.
Die Zeichnung zeigte die vereinfachte Darstellung einer Blume. Ein trompetenförmiger Blütenkelch reckte sich trotzig nach oben. Darunter schlossen sich weitere Blütenblätter um den Stängel wie eine patalische Halskrause. Ein einzelnes, riemenförmiges Laubblatt kreuzte den schmalen Standschaft.
Die gelbe Narzisse. Ihre rechte Hand tastete nach ihrem Geldbeutel, in dem sich der Telar mit eben diesem Symbol befand.
»Frau Vitez«, riss Rungis Stimme sie aus der Betrachtung. Sie klang aufrichtig besorgt. »Braucht Ihr etwas? Ich kann Euch sicherlich einen Kräutertee bringen lassen. Oder einen Rezina. Hat man Euch überhaupt schon etwas zur Stärkung gebracht?«
Soldana winkte mit schwacher Geste ab. Sie dachte an das, was Rungi vorher erwähnt hatte.
»Du sagst, niemand hat dieses Zeichen erkannt?«
»Niemand. Erst ein Archivar des Ordens, Meister Lacian Glosvesta, soll den entscheidenden Hinweis gegeben haben, und dieser führte schließlich zu Euch. Ich verstehe wenig davon, aber es scheint ein sehr altes Symbol zu sein.«
Soldana spürte einen melancholischen Triumph in sich aufsteigen. »Ach, Ledalo«, flüsterte sie. »Die Welt hat dich schon vergessen.«
Rungi sah sie mit wachsender Verwirrung an, und Soldana hatte plötzlich den starken Drang, sich ihr zu öffnen. Sie fühlte sich einsam in dieser Zeit, in der es nur Tote und Geister zu geben schien, und die Zwergin strahlte hinter aller Unsicherheit eine vertrauliche Wärme aus.
»Du weißt gar nicht, wer ich bin, oder?«
»Ihr seid Soldana Vitez, eine angesehene Vestigari von hoher Reputation, und Ihr habt, nun, lange ... geschlafen?«
Soldana schmunzelte bitter. Dann tippte sie auf die Zeichnung. »Das hier ist das Symbol der Gelben Narzisse. Zu meiner Zeit kannte jeder in Nuum dieses Zeichen. Für die einen bedeutete es Hoffnung, für andere Ärger, und nicht wenige fürchteten es.«
Darunter der Orden von Nuum, fügte sie in Gedanken hinzu. Ledalo hatte geschafft, was kaum jemandem gelungen war: Er brachte den unantastbaren Ewigen Orden zum Wanken. Es ist kein Wunder, dass sich niemand an die Gelbe Narzisse erinnert. Der Orden wird sehr gründlich vorgegangen sein, um diese Revolte aus der Geschichte zu tilgen und seinen eigenen Mythos zu bewahren. Soldana beäugte misstrauisch die unruhigen Schatten, die die Fackeln im Raum erzeugten. Wir befinden uns immer noch in der Zitadelle. Ich sollte nicht zu offen reden.
»War es ein Geheimbund?«
»Man kann es so nennen. Innerhalb kurzer Zeit ist die Gelbe Narzisse sehr mächtig geworden. Und sehr gefährlich.«
Je entschlossener Ledalo aus dem Schatten heraus den Orden bekämpft hatte, desto mehr war er geworden, was er verabscheute.
»Dann habt Ihr diese Verschwörer bekämpft?«
Soldana zögerte. Verräterin, schrie etwas in ihr.
»Es war mein Verdienst, dass die Gelbe Narzisse mitsamt ihrer Wurzeln herausgerissen werden konnte. Aber das ist eine andere Geschichte, und ich glaube nicht, dass wir den Hochmeister so lange warten lassen sollten.«
»Ihr sagtet, zu Eurer Zeit – niemand hat mir ... Wann ist das gewesen?«
»926.«
»Mondentanz und Sternenglanz!«, entfuhr es der Zwergin.
Soldana wurde das Gespräch plötzlich unangenehm, und sie wollte weitere Fragen zur Vergangenheit vermeiden. Daher wandte sie sich wieder der Blumenzeichnung zu, die ihr wie ein unheilvolles Menetekel erschien. Gedanken an die Opfer, die sie erbracht hatte, suchten sie heim. Und nun war die Gelbe Narzisse wieder da. Der Triumph über Ledalo, von dem sie gerade noch gekostet hatte, schmeckte plötzlich schal.
Irgendetwas stimmt nicht, sagte ihr Instinkt. Ich bin noch zu verwirrt, um alles zu erfassen. Vielleicht fehlen mir bloß zu viele Einzelheiten. Trotzdem war da dieses hartnäckige Gefühl, dass sie bereits jetzt etwas übersah. Doch noch stärker wurde der Drang, diesen Ort zu verlassen. Sie brauchte Bewegung!
»Ich danke dir, Rungi, alles Weitere werde ich mir vor Ort ansehen. Beschreibe mir bitte den Weg zu Meister Badalos Turm und gehab dich wohl.«
»Ich werde Euch begleiten.«
»So sehr wird die Stadt sich nicht verändert haben, dass ich mich in ihr nicht mehr zurecht finde.« Soldana stand bereits und setzte sich den Hut auf.
»Ihr missversteht mich, meine Dame. Hochmeister Borna hat mir den strikten Befehl gegeben, Euch zu begleiten.« Rungi schluckte und zog die Augenbrauen hoch. Dann fügte sie kaum hörbar hinzu: »Bis die ganze Sache erledigt ist.«
»Das darf der hohe Meister gerne den Schatten erzählen, aber so arbeitet eine Soldana Vitez nicht. Ich kann kein Hündchen gebrauchen, das hinter mehr her trottet.«
Die Zwergin fiel noch mehr in sich zusammen. Soldana schüttelte den Kopf. Ich sollte meinen Ärger nicht an ihr auslassen. Sie versucht nur, ihren Auftrag zu erfüllen. Sie ließ sich wieder auf die Bank gleiten und versuchte, Rungis Blick einzufangen.
»Ich wollte dich nicht kränken, bitte verzeih mir. Es ist nichts Persönliches. Ich werde es mit dem hohen Meister besprechen.«
Sie zeigte auf das Kästchen, das die ganze Zeit unbeachtet auf dem Tisch gestanden hatte. »Ist das der Ring des Schattens? Es ist lange her, dass man ihn mir zuletzt gegeben hat. Und damit meine ich, dass es auch für mich lange her ist.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sie das Kästchen, und tatsächlich lag in ihm ein großer, schlichter Ring aus einer blauschwarzen Vyralinlegierung. Wer ihn trug, zeichnete sich seit jeher als hohe Gesandte des Ordens aus, und seine Träger standen im Rang über den meisten gewöhnlichen Magiern. Der Ring des Schattens wurde daher nur selten an Personen außerhalb des Ordens gegeben. Soldana hatte diese Gunst erst einmal erhalten, und sie erinnerte sich mit einem leichten Schaudern daran, als sie dem Kästchen den Ring entnahm.
Es ist eine zweischneidige Ehre, und das letzte Mal hat sie fast meinen Lebensfaden durchschnitten.
Der Ring war viel zu groß. Vielleicht hatten nur die grässlichen Oger der Schauermärchen so große Finger. Doch kaum, dass sie den Ringfinger ihrer linken Hand hindurchgesteckt hatte, sorgte die dem Ring innewohnende Magie dafür, dass er sich zusammenzog. Soldana unterdrückte einen Schmerzenslaut, als der Ring für einen Herzschlag zu eng wurde und ihren Finger quetschte, bevor er sich wieder etwas weitete. Nun passte er ihr wie angegossen.
»Wie der Dramatiker Tamino Darnero einst so passend schrieb: ›Wo wir ihn auch tragen, in den Türmen oder den Kerkern: Ein Ring ist allweil jeder Freiheit Tod.‹ Lass uns nun endlich von hier verschwinden!«
Erneut sprang Soldana auf, doch wieder merkte sie, dass Rungi zögerte.
»Was ist es dieses Mal?«
»Ist dies all die Kleidung, die Ihr besitzt?«
Soldana sah an sich hinunter. »Was ist daran verkehrt?«
Rungi wühlte in ihrer Tasche und holte ein dickes Bündel Wollstoff hervor.
»Nehmt bitte meinen Schal. Es ist Winter.«
***
Die Brücke spannte sich zwischen dem Basaltturm der mächtigen Zitadelle und dem Turm der Garde über die Stadt. Es wehte kein Wind, doch aus dem ewig verhangenen, gelblich-grauen Himmel fiel bunter Schnee herab: Rote, grüne und blaue Flocken, die sich weit unter ihnen zu grauem, nach Schwefel riechendem Matsch vermengen würden.
Soldana blieb auf der Mitte der Brücke stehen, stützte sich auf dem dünnen Handlauf ab und atmete tief ein. Nichts gleicht dem Odem von Nuum im Sommer, schrieb Alipos Lakic in seinem satirischen Werk Der Mertalische Spottbund, und selbst im Winter konnte Soldana das unverwechselbare Aroma aus Urin, Asche und versengtem Papier schmecken, für das die zahllosen Golemschmieden, Glasschmelzen, Artefaktwerkstätten und Alchemistenküchen der Stadt sorgten. Der leichte Schneefall schränkte die Sicht ein, und Soldana konnte kaum die Wände des engen Talkessels erahnen, an dessen Westseite sich die Zitadelle erhob. Dennoch genoss Soldana den Blick über ihr Nuum. Weit hinter dem Turm der Garde erhob sich die Markthalle, und im Osten konnte sie den Schatten der Hochstraße sehen, die vom Stadttor hoch zur Zitadelle der Magier führte. Dort lag Klein-Mertalia, das Fünftel, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte.
Sie riss sich von dem Anblick los und wandte sich Rungi zu, die geduldig wartete. »Du kennst sicherlich das Sprichwort: Nuum ändert sich nicht. Bis jetzt habe ich nie darüber nachgedacht, aber ich beginne es zu verstehen.«
Die Zwergin nickte pflichtbewusst. Erst jetzt fiel Soldana auf, dass Rungi den Blick fest auf sie gerichtet hielt und genau in der Mitte der Brücke stand, so weit wie möglich von beiden Seiten entfernt.
»Genug der Sentimentalitäten, lass uns reingehen«, sagte Soldana. Rungi drehte sich erleichtert um und schritt eilig voraus. Soldana folgte ihr durch den irisierenden Schlamm, der sich auf dem dunklen Basalt gebildet hatte.
Im Turm der Garde herrschte ein konzentriertes Treiben. Graue Gestalten schritten durch die Korridore, trugen mit wichtiger Miene Dokumente treppauf und treppab oder saßen an schier endlosen Reihen von Schreibtischen und diktierten schwebenden Zauberfedern die Geheimnisse der nuumischen Bürokratie. Auch hier hatte sich nichts verändert. Die Griffel hatten über Generationen ein undurchschaubares System an Vorgängen, Routinen und Vorschriften entwickelt, die mit absoluter Beharrlichkeit vollzogen wurden.
Rungi bat Soldana zu warten, während sie sich nach Hochmeister Borna erkundigte. Umgeben von einer Kakophonie aus raschelndem Papier, flüsternden Stimmen und verrückenden Stühlen lehnte sich Soldana an eine Wand und musterte halb interessiert die Griffel, die ihr verstohlene Blicke zuwarfen. Manche sahen sie beunruhigt an, andere feindselig, ein paar neugierig oder neidisch, aber allen war gemein, dass sie eiligst wegschauten, sobald Soldana den Blick erwiderte.
Gurban Sarastro, erinnerte sie sich an den letzten Obersten Wahrer der Ordnung, den sie gekannt hatte. Ein wenig ehrgeiziger Konstruvi, den eine Ordensintrige als gebrochenen Mann zurückgelassen hatte und der auf einen Posten weggelobt worden war, auf dem er niemandem mehr schaden konnte. Auf seine Art war er für einen Magier ein umgänglicher Kerl gewesen. Fast glaubte Soldana, die schlurfenden Schritte und den rasselnden Atem zu hören, mit denen sich der alte Gurban anzukündigen pflegte.
Geister und Gräber, dachte sie.
»Der hohe Meister ist nicht anwesend«, sagte Rungi plötzlich. Soldana zuckte innerlich zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie schon wieder zurück war – und das beunruhigte sie. Sie kannte es nicht von sich, unaufmerksam zu sein.
»Wenn du mir damit sagen willst, dass wir auf ihn warten sollen, dann wirst du mich entschuldigen müssen. Ich kann die Zeit gut nutzen.«
»Wir können zu Hochmeister Badalos Turm gehen«, bekräftigte Rungi.
»Das meinte ich zwar nicht, aber du hast natürlich recht. Ich sollte mir den Tatort ansehen. Der Hochmeister kann zu uns aufschließen, wenn es ihm bequemt. Alles ist besser als noch länger in diesen stickigen Amtsstuben zu hocken. Ich bekomme Kopfschmerzen.«
»Ihr solltet etwas essen, meine Dame. Ganz fahl seht Ihr aus, wie der bleiche Knochenmann. Dass man Euch nichts zu essen gegeben hat, das ist wirklich eine Unmöglichkeit. Ich kenne eine hervorragende Garküche nicht weit von hier. Genau genommen liegt sie auf dem Weg. Na gut, ganz genau genommen ist es ein kleiner Umweg, aber er wird sich lohnen, Ihr werdet sehen. Es gibt dort vorzügliche Pleskaviki und würziges Gulakka. Und wie Tante Narella zu sagen pflegt: Ein leerer Magen ist wie ein leerer Kopf.«
Während Rungi sprach, hatte sie bereits Soldanas Arm gegriffen und lenkte sie zwischen die Tischreihen hindurch. Soldana ließ es mit sich geschehen, seltsam gerührt von der aufrichtigen Fürsorge der Zwergin.
»Soldana«, sagte sie. »Schenk dir die ›Dame‹. Ich bin einfach Soldana.«
***
Die Garküche wurde von einem Alben namens Frado betrieben und war vollgestopft mit den Devotionalien eines Krieges, von dem Soldana noch nie gehört hatte. Der Alb, der sein fettiges Essen offensichtlich selbst sehr schätzte, hatte wohl in diesem Krieg gekämpft, doch das war nur ein Teil seiner Biographie. Nach einem anderen Teil seiner Geschichte, die er ungefragt preisgab, war er einst ein Lehrling der Auriferi gewesen, bis er sich entschied, sein alchemistisches Talent den Gaumenfreuden zu widmen. Soldana erkannte jede seiner Lügen binnen eines Herzschlags, doch Frado war ein charmanter Lügner und sein Essen so gut, wie Rungi es angepriesen hatte. Tatsächlich halfen die Pleskaviki ihr, sich zu sammeln. Mit neuer Kraft folgte sie Rungi durch die verwinkelten Gassen zu dem Turm des ermordeten Magiers.
Der Schneefall hatte nachgelassen, und was von ihm geblieben war, schmückte als schimmernde Haufen die engen Wege. Es war Sommer, als ich in die Zitadelle ging ... Das könnte der Anfang eines Gedichtes sein, das ich schreiben und zu Lyxas Ehren verbrennen sollte. Nuums Winter waren selten bitterkalt, trotzdem war Soldana dankbar für Rungis Schal.
Es kam ihr vor, als würde sie durch einen Traum wandeln, und ein Teil von ihr fragte sich, ob sie vielleicht nicht doch noch schlief. Alles war vertraut und doch seltsam fremd. Sie erkannte Torbögen, Häuserecken und Brunnen wieder, doch ebenso fielen ihr die Unterschiede auf. Läden, die es nicht mehr gab, eine Werkstatt, die plötzlich dort war, wo eigentlich eine Teestube sein sollte – und dann die Mode. Die Kleider der Nuumier hatten sich nicht auffällig verändert, immer noch bestimmten seitlich geschnürte Beinlinge, bestickte Westen und verzierte Schnürmieder das Bild in den Gassen, doch die Muster und Farben waren anders. Zusammen mit dem Winter, in dem sie sich unvermittelt befand, verstärkten all diese Einzelheiten das Gefühl der Fremdartigkeit. Soldana spürte erneut Kopfschmerzen aufziehen und vertraute sich ganz Rungis Führung an.
Auch wenn Tintenburg geordneter war als andere Stadtfünftel, bedeutete dies nicht, dass es kein Labyrinth war. Nuum lag in einem engen Talkessel, eingerahmt von einer steilen Felswand im Westen und titanischen Befestigungsanlagen in allen anderen Richtungen. Ein großer Teil des eingefassten Raumes wurde zudem von der Ordenszitadelle eingenommen, deren wuchtige Mauern und himmelstürmende Türme sie immer wieder sah, wenn die Gebäude um sie herum den Blick freigaben. Doch selbst in Nuum brauchten die Lebenden ihren Platz, und sie fanden ihn. Im Rattenwinkel und zu den Mauern hin waren die Zeugnisse wohnlichen Einfallsreichtums zwar noch deutlicher, doch auch hier schuf die Notwendigkeit überraschende Ergebnisse: Treppen, die auf den Balkonen oder Dächern von Wohnhäusern endeten, sich auf mehreren Ebenen kreuzende Pfade, versteckte Innenhöfe und Häuser, die wie ineinander verwachsene Bäume aussahen. Niemand, der zum ersten Mal nach Nuum kam, war zu beneiden. Abseits der Hochstraße oder vereinzelten Prachtstraßen wie der Königin-Rasima-Allee in Schimmerteich war die Stadt ein Irrgarten, und es gab eine lange Tradition von Witzen über Fremde, die sich in der Stadt verliefen.
Kommt ein Aylantheser nach Nuum und sucht den Maddadtempel ...
Umso deutlicher zeigte sich auch Unkundigen die Macht einzelner Bürger. Verschwendung von Platz bedeutete Einfluss: Je einflussreicher der Bewohner eines Bauwerks war, desto größer war dessen Verdrängung. Der Brunnenturm des Toten machte keine Ausnahme. Seinen Namen verdankte er nicht nur dem Umstand, dass in ihm der Flüsternde Meister der Brunnen residierte, sondern vielmehr, weil er wie ein übergroßer Brunnenschacht aussah, den eine Titanenhand vier Stockwerke hoch aus dem Boden gezogen hatte. Doch den meisten Eindruck schindete die freie Fläche um ihn herum. Es war nicht nur eine breitere Gasse, die um ihn herumführte, der Brunnenturm erhob sich auf einem richtigen Platz.
»In welchem Stockwerk befindet sich das Arbeitszimmer?«
»Im dritten. Das Fenster, durch das der Mörder eingedrungen ist, liegt auf der linken Seite.«
Es sind gut fünfzehn Schritt bis zum nächsten Gebäude, und es ist niedriger als der Turm. Das erfordert einiges Können im mörderischen und magischen Handwerk, um dort oben ebenso mühelos wie ungesehen einzudringen. Sie sah hinauf in den grauen Himmel. Oder Flügel.
»Wer ist das?«, fragte sie Rungi, als sie den Blick über den Platz schweifen ließ und eine Golemkutsche entdeckte. Das eigentümliche Gefährt sah aus wie eine Kugel auf metallenen Krabbenbeinen und stand im Schatten der angrenzenden Gebäude. Neben der Kutsche stand kerzengerade ein bleicher Alb mit weißen Haaren und einer prachtvollen Robe.
»Den Herrn kenne ich nicht, aber die Kutsche gehört Hochmeisterin Domagovna Kuam, der Erhabenen Gebieterin der Unermüdlichen.« Rungis Stimme war anzuhören, dass die schiere Anwesenheit der mächtigen Nekromantin ihr Unbehagen bereitete.
»Weißt du etwas über die Beziehung der Obitura zu dem Toten?«
»Ich habe mal gehört, dass sie seine Gattin sein soll. Jedoch nur auf dem Papier, da sie seit Jahren getrennt leben.«
»Das kann sich noch als nützlich erweisen, Rungi. Ich glaube, ich werde der Dame später einen Besuch abstatten.«
Rungi nickte, obwohl sie von dieser Aussicht offensichtlich ganz und gar nicht begeistert war.
Soldana hämmerte gegen die Tür des Turms, und nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sie ein Lakai von vollendet kultivierter Herablassung. Er vollbrachte das Kunststück, Rungi im gleichen Augenblick zu sehen und sie umgehend aus seiner Wahrnehmung zu verbannen.
»Sie wünscht?«, fragte er mit näselnder Stimme.
Soldana zeigte ihm den Schattenring. »Dass er sich benimmt, als wäre der Innerste Zirkel zu Gast. Lässt du uns noch länger warten, sieht sich meine Mitarbeiterin gezwungen, einen Vermerk über deine unzureichende Bereitschaft zur Zusammenarbeit einzutragen.«