DSA: Salon der Schatten - Michael Masberg - E-Book

DSA: Salon der Schatten E-Book

Michael Masberg

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Beschreibung

Niam von Bosparan, Pôlberra, Gorodez Sgirra - diese Namen gehören den berüchtigtsten Magiern ihrer Zunft. Gemeinsam mit anderen Zauberern von ebenso zweifelhafter Reputation bilden sie den Salon der Schatten, einen geheimen Zusammenschluss von ebenso mächtigen wie skrupellosen Schwarzmagiern. Doch nun sehen sie sich einem Feind gegenüber, der selbst sie das Fürchten lehrt - und der gewillt ist, die Metropole Vinsalt in die Verdammnis zu stürzen, um ihren Bund zu vernichten. Wird sich der Salon der Schatten behaupten oder an der Selbstsucht seiner Mitglieder zerbrechen? Salon der Schatten wirft einen Blick in die verborgene Welt der Geheimgesellschaften und Schwarzkünstler und setzt Ereignisse in Gang, die Aventurien verändern werden.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25704Titelbild: Regina KallaschLektorat: Florian Don-Schauen, Eevie DemirtelUmschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout: Michael MingersSatz: Marco Findeisen

Copyright © 2016 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Printed in the EU.

Print-ISBN 978-3-95752-322-8Ebook-ISBN 978-3-95752-330-3

Salon der Schatten

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Michael Masberg

Autor

Michael Masberg, geboren 1982, ist Autor, Regisseur, Veranstalter, Kurator und Bühnenkünstler. Als Sam Greb erzählt er Geschichten aus der Fieberwelt, als Salonlöwe lädt er zum BEAT SALON und darüber hinaus arbeitet er für die Folkwang Universität der Künste, battleROYAL und weitere künstlerische Institutionen.

Für Das Schwarze Auge schreibt er seit 2005 und war seitdem an über drei Dutzend Publikationen als Autor und Redakteur beteiligt. Zudem verfasst er regelmäßig Beiträge für das Magazin Aventurischer Bote.

Michael Masberg lebt in Essen. Nach dem Zweiteiler Der Nabel der Welten und Der Kreis der Sechs ist Salon der Schatten sein dritter Roman in der Welt des Schwarzen Auges.

Weitere Informationen und Identitäten:

www.michael-masberg.de

Foto: Andrea Kiesendahl

»Jeder Stern, der vom Himmel fällt, hinterlässt am Firmament eine Lücke, die sich mit Finsternis füllt.«

—Thalya Torrean von Westfar, kaiserliche Hofastrologin, 1025 BF

Herbst.

Im Jahre 1039 nach dem Fall Bosparans.

Präludium Die Nacht der fallenden Sterne

Gorodez Sgirra

Der Nachthimmel war erfüllt von den Silbertränen fallender Sterne.

Ich stolperte über das Kopfsteinpflaster in eine Seitengasse, um mich herum helle Mauern mit abblätterndem Putz und roten Schieferhäubchen. Ich atmete flach. Meine Lungen brannten.

Über mir zogen weitere Sternschnuppen über den Himmel. Nächte wie diese verhießen nichts Gutes. Ich war in einer solchen Nacht geboren worden. ›Maldonado‹ hatte mich in unserem Dorf die halbblinde Zahorihexe mit ihrer faulenden Maulhöhle genannt. ›Vergiftetes Geschenk‹.

Ich lauschte, doch außer meinem rasselnden Atem konnte ich nichts hören.

Ich hatte noch nie so viele Sterne fallen sehen wie in jener Nacht. Oder den Nächten davor. Einfältige Narren glauben, man darf sich etwas wünschen, wenn man einen Stern fallen sieht. Ein gefährlicher Gedanke. Wünsche sind heimtückisch, sie verraten einen.

Und wer auf Wünsche vertraut, nimmt sein Schicksal nicht selbst in die Hand.

Die Schritte meiner Verfolger rissen mich aus den Gedanken. Sie waren immer noch hinter mir her. Das war gut, denn genau so hatte ich es geplant. Sie durften mich nicht verlieren. Sie durften mich aber auch nicht bekommen. Leider war ich ein schlechter Läufer.

Mein Glück war, dass meine Verfolger auch nicht in der besten körperlichen Verfassung waren. Dazu kam, dass ein dreigehörnter Höllenknecht Besitz von ihnen ergriffen hatte. Ein bösartiger Geist in drei Körpern, dessen einziger Wille es war, mich zu finden und zu töten. Aber er hatte mich unterschätzt.

Als ich loslief, umklammerte ich das bläuliche Amulett an meinem Hals. Es schützte mich vor dem Blick magischer Augen, also musste sich der Dämon auf die drei Augenpaare seiner Opfer verlassen. Und ich hatte einen weiteren Vorteil: Wir befanden uns in Punin. Es gibt keine Stadt auf diesem verdammten Kontinent, die ich so gut kenne wie Punin.

Ich hielt die drei Besessenen auf Distanz und lockte sie gleichzeitig dorthin, wo ich sie haben wollte. Abseits der großen Gassen und Plätze, auf denen sich die Schaulustigen versammelten, um das Himmelsspektakel zu beobachten, eilte ich im Schatten der wuchtigen Kontore und Speicherhäuser durch das Hafenviertel. Schließlich erreichte ich eine kleine, abgelegene Halle und schlüpfte durch eine schmale Pforte ins Innere. Ich verriegelte die Tür hinter mir.

Es war dunkel, aber ich kannte mich aus und verzichtete darauf, meinen Magierstab zu entflammen. Bald hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ich versteckte mich hinter einigen Kisten, in denen Yussuf sein amhallahisches Teufelszeug nach Punin schmuggelte.

Es rüttelte an der Tür. Dann hämmerte es. Schließlich warf sich jemand mit Wucht dagegen. Die Tür hielt, doch das war nur eine Frage der Zeit. Ich lehnte mich gegen die Kisten und bereitete mich innerlich auf das Kommende vor. Erst als ich kurz davor war, mit einem Fingerschnippen eine kleine Flamme herbeizurufen, bemerkte ich, dass ich mir unbewusst einen Zigarillo zwischen die Lippen geschoben hatte.

Ein letzter wuchtiger Hieb riss die Tür aus den Angeln, und drei Schatten glitten ins Innere. Ich hörte ihren zornigen Atem, wie von tollwütigen Hunden.

Gelassen trat ich in die Mitte der Halle, und auf einen Gedanken hin entflammte die Kugel an der Spitze meines Stabes. Das Licht der magischen Fackel warf zuckende Schatten auf die Kisten, die sich zwischen hölzernen Pfosten bis an die Decke stapelten.

Dort stand ich: ein hochgewachsener, viel zu dünner Kerl in einer dunkelgrauen, abgetragenen Magierrobe. Ein ebenso abgetragenes, blasses Gesicht unter braunen Haaren, die nicht nur aussahen, als wären sie mit einem stumpfen Messer geschnitten worden. In einer Hand hielt ich meinen lodernden Magierstab, in der anderen einen Zigarillo. Ich entzündete ihn an der magischen Fackel.

»Da wären wir«, sagte ich.

Die drei Besessenen umkreisten mich am Rand des Fackelscheins wie Wölfe. Ich besah sie mir zum ersten Mal genau. Ein beleibter Schläger mit Halbglatze, dessen Kopf vor Anstrengung rot angelaufen war, eine fahlblonde Magd mit krummen Beinen und zu großen Ohren und ein altes Mütterchen, dessen weiße Haube von den grauen Haaren geglitten war und ihr wie ein loser Strick um den Hals hing. Es war wirklich mein Glück gewesen, dass der Dämon sich diese drei Jammergestalten ausgesucht hatte.

Ihre Gesichter waren von namenlosem Hass verzerrt und ihre Augen blutunterlaufen. Sie schlichen mit eckigen, abgehackten Bewegungen um mich herum wie die Mirhamionetten eines betrunkenen Puppenspielers.

»Wo ist er?«, zischten die drei Besessenen mit einer Stimme.

Ich tippte mir an die Stirn. »Ich weiß es. Aber ich werde es für mich behalten.«

»Du wirst reden. Ich werde dir die Haut vom Körper ziehen und dir jeden Knochen einzeln aus deinem stinkenden Fleisch brechen. Deine Leiden werden Äonen währen, und am Ende wird deine gemarterte Seele reden.«

»So viel Zeit bleibt mir nicht.«

Die drei kamen näher. Ich rührte mich nicht. Als sie nur noch einen Schritt entfernt waren, leuchteten auf dem Boden grüne Linien auf, die sich zu einem Pentagramm verbanden. Es umschloss mich und meine Verfolger und füllte sich mit magischen Glyphen.

Der Schläger taumelte zurück, doch kaum, dass er die Linie berührte, jaulte er auf, als würde er in einen Kessel kochendes Wasser fassen. Sein Schmerzensschrei fand sein Echo in den Kehlen der anderen beiden. Der Bannkreis hielt sie gefangen.

»Hast du wirklich gedacht, dass ich es dir so einfach mache, du stinkender Höllenauswurf? Drei Unschuldige okkupieren und mich durch meine Stadt hetzen – das war es? Ich bin Gorodez Sgirra, kein blutiger Anfänger!«

Die Magd stürzte sich mit einem Fauchen auf mich. Im Fackelschein blitzte die Klinge eines Messers auf. Sie zielte auf meine Brust – und glitt durch sie hindurch.

Ich kam aus meinem Versteck heraus. Während sich mein Abbild im Bannkreis auflöste, entzündete ich endlich den Zigarillo. Ich genoss den ersten, tiefen Zug mit geschlossenen Augen. Als sich der Rauch in meiner Brust ausbreitete, ließen die stechenden Schmerzen nach. Ich konnte wieder atmen.

Die Besessenen hatten sich in der Mitte des Bannkreises zusammengerottet und fixierten mich mit hasserfüllten Blicken. Das einzige Licht in der Halle spendeten die glosenden Linien des Pentagramms.

»In drei Köpfen hast du dich breitgemacht, aber du benutzt keinen einzigen zum Denken. Ich habe nie verstanden, warum sich Menschen euch Chaosknechten unterwerfen. Wer Idioten folgt, kann nur in der Verdammnis enden.«

»Du kannst meine Macht über dieses verrottende Fleisch nicht brechen, Magier. Du bist zu schwach.«

Ich grinste. »Wer hat gesagt, dass ich es alleine versuche?«

Aus den Schatten löste sich eine Gestalt. Sie trug ein dunkles Kleid, das nach meridianischer Mode bis zum Schenkel geschlitzt war. Ihre hellen Haare schimmerten grün im Licht des Pentagramms. Zanna ließ ihren kurzen Magierstab beiläufig zwischen den Fingern kreisen wie ein Gaukler seinen Narrenstab.

Zanna ter Tarna – ich werde wohl nie erfahren, ob dies ihr wirklicher Name war. Bei Zauberern ihrer Zunft kann alles eine Illusion sein. Allabendlich verzauberte sie als Bühnenmagierin das Publikum der Puniner Theater mit ihrem Blendwerk, doch ihre wahre Profession war eine andere.

Sie schmiegte sich an mich, und ich legte einen Arm um ihre Hüfte. Sie war fast so groß wie ich.

»Sehe ich wirklich so furchtbar aus wie das Trugbild?«

»Ich habe mir herausgenommen, dich ein wenig aufzuhübschen«, sagte sie. »Kennst du den Namen des Dämons?«

»Nein, aber wir sollten dennoch mit ihm fertig werden.«

Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und löste sich von mir. In einer theatralischen Geste ergriff sie meine Hand. Ich strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken.

»Du wirst keinen Frieden finden, Magier«, zischte der Dämon aus drei Mündern. »Banne mich, und andere werden dich jagen. Eines Tages wirst du scheitern, und dann werde ich in der Hölle auf dich warten.«

»Da bist du nicht der Einzige. Die Niederhöllen wetten auf mein Ende, aber sie warten vergeblich.« Ich schnippte den Zigarillo in die Dunkelheit. »Das ist deine letzte Gelegenheit, diese Körper freiwillig zu verlassen, Höllenbrut, oder wir werden dir eine Pein bereiten, dass du dich nach deiner Zeit in der Seelenmühle zurücksehnst.«

Ich bekam keine Antwort und hatte auch keine erwartet. In der Höllensprache Zhayad intonierte ich die Bannformel. Zanna zögerte keinen Herzschlag und stieg mit ein. Das ist der Vorteil, wenn man mit Leuten zusammenarbeitet, die wissen, was sie tun.

Über unsere Hände festigte sich das magische Band zwischen uns. Die astralen Kräfte vereinten sich und flossen von uns in die Linien des Pentagramms. Das grüne Leuchten wurde stärker und tauchte alles in ein gespenstisches Licht. Nur für das magische Auge sichtbare Fesseln schlugen nach den drei Körpern im Bannkreis.

Ich konnte die Gegenwart des Dämons körperlich spüren, seinen unbändigen Hass auf die Schöpfung, den rasenden, zerstörerischen Neid, der danach gierte, alles Lebende ins Verderben zu stürzen. Der Dämon wehrte sich gegen unseren Exorzismus.

Ein Bild drängte sich mir auf: ein tollwütiger Kampfhund, der sich mit aller Kraft in die Kette warf, die ihn hielt. Und ich stand ihm mit nicht mehr als einem rostigen Messer gegenüber, um ihn zu töten.

Zanna drückte meine Hand. Ich gewann Zuversicht. Wie unsichtbare Armbrustbolzen schlug unser Zauber in die drei besessenen Leiber ein und warf sie nieder. Sie wanden sich mit verrenkten Gliedern auf dem Boden, ihre Münder spien Obszönitäten und Beleidigungen in die Welt, doch ich ließ mich davon nicht beirren. Ich hatte derlei schon oft gehört.

Die Körper bäumten sich auf. Aus ihren Augen, Ohren, Mündern und Nasen stieg gelblicher Qualm auf, der bald wie eine unheilvolle Gewitterwolke über uns schwebte. Türkisfarbene Blitze zuckten im Inneren der Schwaden, und die Schatten, die sie formten, erinnerten mich an eine dreigesichtige Wolfsfratze. Die Wolke dehnte sich immer weiter aus und griff nach den Rändern des Pentagramms.

In diesem Moment vollendeten wir unseren Zauber. Ein Netz grüner Linien legte sich um die Dämonenwolke und zog sich zusammen. Der Höllenknecht stemmte sich ihm vergeblich entgegen. Er schrumpfte immer weiter zusammen, bis er sich mit einem reichlich unspektakulären ›Plopp‹ auflöste. Das Pentagramm erlosch, und die Dunkelheit kehrte zurück.

Die Kugel an meinem Stab flammte auf. »Bei meinem nächsten Besuch bringe ich keinen Dämon mit, Liebes.«

Zanna strich mir über die Wange. »Das hast du schon beim letzten Mal versprochen, Gorodez. Wo bliebe auch das Vergnügen deiner Besuche, würdest du wirklich nur auf ein Glas Wein vorbeischauen?« Sie lachte.

Während Zanna nach den Opfern des Dämons sah, suchte ich auf dem Boden nach dem fortgeworfenen Zigarillo. Ich fand ihn vor einer Kiste mit novadischen Glyphen und entzündete ihn neu. Die Beschriftung wollte mir weismachen, in den Kisten befänden sich Vasen aus Amhallah. Wer das glaubte, erzählte auch seine Wünsche fallenden Sternen.

In meinem Rücken hörte ich Zanna Zauberworte murmeln. Ich drehte mich um und besah mir die Menschen auf dem Boden. Drei Bürger Punins, die vermutlich nichts verband, die ihre beschaulichen Leben geführt hatten, unschuldig, bis ein Dämon aus der Leere zwischen den Sternen hervorgekrochen war, um sich ihrer Körper zu bemächtigen. Und das alles wegen mir. Ich verzog das Gesicht.

»Sie schlafen«, sagte Zanna. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie etwas länger schlafen werden.« Sie sah mich an. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wen du dieses Mal verärgert hast.«

»Das willst du nicht wissen. Danke für deine Hilfe, Zanna. Es war mir wie stets eine außerordentliche Freude.« Ich wandte mich zum Gehen.

»Gorodez Sgirra, du wirst es nicht wagen, mich einfach so stehen zu lassen und zu verschwinden.«

»Jemand muss sich um diese armen Seelen kümmern, und das kannst du besser als ich. Das hier war nicht der letzte Akt, eher die Ouvertüre. Ich habe etwas Zeit gewonnen, und diese Zeit muss ich nutzen.«

»Ich verstehe. Das wahre Vergnügen möchtest du ganz für dich alleine.«

Ich sah zu ihr hinüber, wo sich im Halbschatten die Umrisse ihres schlanken Körpers mit den beleidigt vor der Brust verschränkten Armen abzeichneten.

»Nein, das ist es nicht«, sagte ich und ging zu ihr zurück. »Ich will dich nicht noch tiefer in diese Angelegenheit hineinziehen. Du bist gut, Liebes, das weiß ich, sonst hätte ich nicht an deine Tür geklopft und um Hilfe gebeten. Aber du bist zu gut. Für das, was kommt, brauche ich die Hilfe der bösen Leute.«

Sie kannte mich zu lange, um nicht besorgt zu sein. »Was hast du vor, Gorodez?« Ihre Stimme klang ungewohnt ernst.

»Ich werde ein Geschwür ausbrennen, das sich in die Welt gefressen hat. Und nebenbei vielleicht noch ein paar Seelen retten.«

»Ist es wegen dem, was am Himmel geschieht?«

Ich hoffte es nicht, aber ich gab ihr keine Antwort. Sie musste etwas in meinen Augen sehen, das ihr nicht gefiel. »Gib auf deine eigene Seele acht, mein Freund.« Sie entnahm meinen Fingern den Zigarillo, führte ihn zu ihren roten Lippen und nahm einen Zug. Dann gab sie ihn mir zurück. »Das nächste Mal bevorzuge ich doch den Wein.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Liebes«, sagte ich mit einem unguten Gefühl – möglicherweise einer Vorahnung, dass es eine Lüge war.

Ich ließ sie mit den Schlafenden in der Lagerhalle zurück und trat nach draußen in die Gassen Punins. Etwas hätte anders sein müssen. Nach dem Exorzismus hätte die nächtliche Stadt lebendiger auf mich wirken müssen, befreiter. Doch die drückende Unruhe war geblieben.

Ich sah hinauf zum Himmel und zu den fallenden Sternen. Es wirkte, als würden die Seelen sämtlicher Paradiese aus der Himmelsfeste Alveran fliehen.

Ich zog mir die Kapuze meiner Robe über den Kopf. Der Zigarillo schmeckte nach Zannas Lippen. Während ich meine Wanderung aufnahm, ging ich die nächsten Schritte meines Plans durch.

Teil 1 Zusammenkunft der Schatten

Laila Chirasir

Lori kletterte behände den Mast des Flussseglers hinauf und stieß einen heiseren Schrei aus, der die Matrosen zusammenzucken ließ. In der Herbstsonne schillerte die Federschleppe des Äffchens wie ein Regenbogen.

Ich schmunzelte über die unausgesprochene Furcht der Matrosen. Dabei glaubten diese bosparanischen Tölpel, der kleine Affe mit dem prachtvollen Gefieder sei ein exotisches Tier von einer fernen Südmeerinsel. Wie sie wohl erst reagiert hätten, hätten sie gewusst, dass Lori eine Chimäre war, die ich aus einem Moosaffen und einem Pfau geschaffen hatte, um mich des Wohlwollens von Meisterin Sefira zu vergewissern?

Während ich versonnen Lori beobachtete, trat der Kapitän an mich heran, ein sonnenbärtiger Sohn der Trunksucht mit rot geäderter Knollennase.

»Comtessa Laila Chirasir.« ›Comtessa‹ – mit diesem bosparanischen Titel sprach er mich an, seit ich mich ihm als Erbin der Fürstin von Nelkra vorgestellt hatte, auch wenn das nur zu Teilen stimmte. Aber Meisterin Sefira war fern, und hier hinterfragte es niemand. Zudem standen mir noch ganz andere Lügen bevor, sollte meine Reise nach Vinsalt nicht zu einem Makel unauslöschlicher Schande werden. »Es wäre mir eine außerordentliche Ehre, Euch zum Abschied auf einen Becher Goldfelser Morgenrot einzuladen, unter den Weinen eine Fürstin, wie Ihr in Eurer Zunft.«

Immerhin gab der alte Narr sich Mühe, auch wenn seine Stimme vor Furcht zitterte. Ich hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich aus Selem kam. Für den Rest Aventuriens bedeutete dies, dass ich ebenso gut aus den Niederhöllen kommen könnte. Dies war der selbstgerechte Blick auf die Besiegten der Geschichte.

Ich überlegte noch, ob ich mich dazu herablassen sollte, sein Angebot anzunehmen, als am anderen Ende des Schiffes Tumult erklang. Einer der Matrosen ging zu Boden, zwei andere wichen zurück, und in der Mitte stand Jehu mit seinem massigen, nackten Oberkörper und dem verschleierten Gesicht, eine Hand am Griff des Doppelkhunchomers auf seinem Rücken. Seine kleinen, dunklen Augen funkelten vor gerechtem Zorn.

»Dieser Sohn einer Hündin hat dich beleidigt, Herrin«, sagte er in der Zunge meines Volkes, ohne den Blick von dem zitternden Matrosen am Boden zu nehmen.

»Was hat er gesagt?«, fragte ich meinen Bewacher, ebenfalls auf Tulamidya.

»Ich hörte, wie seine Zunge schnalzte, dass nun endlich die Hexe von Bord gehe. Er meinte dich, Herrin. Soll ich ihn bestrafen?«

Ich beschwichtigte ihn mit einer Geste und wandte mich an den Kapitän. »Euer unwürdiger Knecht hat es gewagt, seine falsche Zunge gegen mich zu verwenden.«

Mit Genuss sah ich zu, wie jegliche Farbe aus dem aufgedunsenen Säufergesicht wich.

»Er hat es sicherlich nicht so gemeint«, stammelte der Kapitän. »Ein Missverständnis ...«

Ich trat ganz nahe an ihn heran. Er war einen Kopf kleiner als ich, wagte es aber nicht, aufzusehen.

»Wenn in meiner Heimat ein Diener gegen ein ehrbares Mitglied der alten Familien aufbegehrt, schneiden wir ihm das schändliche Körperteil ab. In diesem Fall seine Zunge.« Ich lächelte. »Wenn wir gnädig sind.«

Dem Kapitän knickten die Knie ein und er fiel zu Boden. »Ich bitte Euch, Comtessa, zeigt Gnade.«

»Also bittet Ihr mich, dass mein Leibwächter ihm die Zunge herausschneidet?«

Entsetzt sah der Kapitän auf, als er begriff, was er gesagt hatte. Tränen stiegen ihm in die Augen. Ich kostete seine Verzweiflung aus, dann wandte ich mich an Jehu.

»Verschone diesen Unwürdigen. Als Dank wird der Kapitän uns die Kosten für unsere Reise erlassen und uns mit sieben Flaschen seines Weines bedenken.« Der Kapitän nickte eifrig, und Jehu ließ die Hand vom Griff seines Säbels.

Keine Stunde später legten wir am Flusshafen von Vinsalt an. Unter den strengen Blicken Jehus trugen die Matrosen mein Gepäck von Bord, bereichert um den Wein des Kapitäns, der mein Gastgeschenk sein würde. Lori saß auf meiner Schulter und fauchte die Matrosen an.

Als ich gerade von Bord gehen wollte, lief mir zufällig der vorlaute Sohn der Dreistigkeit vor die Füße, der es gewagt hatte, mich zu beleidigen. Er erstarrte. Lächelnd hob ich die offene rechte Hand wie zum Gruß. Er sah mich verwirrt an, unschlüssig, wie er reagieren sollte. Ich murmelte eine Zauberformel und ballte die Hand zur Faust.

Seine Schmerzensschreie waren noch zu hören, als wir das Hafenviertel schon hinter uns gelassen hatten.

Wir bogen in eine Prachtstraße im Schatten des Tempelbergs ein. Bunte Stoffe in den Farben der Mächtigen hingen schlaff an den Masten, und zu beiden Seiten erhoben sich Villen und Paläste. Obwohl ein steter Menschenstrom über die gepflasterte Straße floss, klang der allgegenwärtige Lärm, der mich auf dem Weg durch Vinsalt begleitet hatte, hier gedämpfter.

Die silbernen Almosen, mit denen ich unseren Führer für seine Dienste großzügig bedacht hatte, hatten ihn dazu verleitet, uns durch die halbe Stadt zu führen und sie in den blumigsten Worten und auf schlechtem Tulamidya zu preisen. Er konnte nicht wissen, wie sehr mich die lärmende Selbstgefälligkeit dieser schrecklichen Stadt anekelte. Doch ich ließ seine Lobpreisungen der Wunderwerke und Errungenschaften Vinsalts über mich ergehen: der himmelstürmende Bau mit einer mechanischen Uhr, das Opernhaus, der Fürstenpalast, die Sakralbauten der bosparanischen Götter ... Gegen meinen Willen begann ich, aufmerksamer zuzuhören. Das letzte Mal war ich vor zwölf Lebensjahren in Vinsalt gewesen, eine erblühende Zauberschülerin von siebzehn Jahren, die staunend am Robensaum ihrer Meisterin gehangen hatte. Die Stadt war seitdem größer, prächtiger und geschäftiger geworden. Eine stolze Stadt, die mit weit ausholenden Schritten in die Zukunft eilte. Ich dachte an mein heimatliches Selem, das zwischen schimmelnden Ruinen dahinsiechte, und empfand Abscheu für das, was mich umgab.

Doch mir entging nicht, dass unter dem Stolz der Stadt und seiner Bewohner etwas anderes lag. Etwas bedrückte die Gemüter, und es war nicht allein die Schwüle, die der trockene Herbstwind mit sich brachte. Es war etwas anderes, das mir überall auf meiner Reise begegnet war: Unruhe. Auch die Vinsalter hatten erlebt, wie vor einigen Wochen nächtelang die Sterne vom Himmel gefallen waren. Niemand wusste, was es zu bedeuten hatte, doch kaum jemand sah darin ein gutes Vorzeichen.

In Selem galten fallende Sterne als Boten des Unglücks. Es war ein niedergeworfener Stern neidischer Götter gewesen, der einst den Aufstieg meines Volkes in einer Flutwelle ertränkt hatte.

»Wir da, Herrin«, riss mich das schlechte Tulamidya meines Führers aus den Gedanken. Wir standen vor einem gelb getünchten Palast, der über und über mit blauen Tüchern, Blumen und Fresken geschmückt war. »Der Palazzo Mhanadi.«

Der Palast gehörte dem Gewürzhändler Chadim ben Charef. Der Novadi galt Tulamiden, die das erste Mal nach Vinsalt kamen, als besondere Empfehlung. Ich hatte einen anderen Grund, aus dem ich ihn aufsuchte. Lange Zeit vor meiner Geburt, als er es noch nicht zu Wohlstand gebracht hatte, hatte er Meisterin Sefira als Söldner gedient. Sein heutiges Ansehen verdankte er auch ihr.

Ich verabschiedete unseren Führer, der sich wortreich bedankte, mir zu Diensten gewesen sein zu dürfen. Er war schon lange verschwunden, da stand ich immer noch zögernd vor dem Palast. Jehu wartete geduldig.

»Vielleicht ist es nicht klug, sich an Chadim zu wenden«, sagte ich. »Sollte Meisterin Sefira nach mir suchen, wird sie zuerst hier vorstellig werden.«

Jehu schwieg, doch ich hatte keine Antwort von ihm erwartet. Er war das Geschenk meiner Meisterin zu meiner bestandenen Adeptenprüfung gewesen. Seither waren nur wenige Tage vergangen, an denen er sich nicht an meiner Seite befunden hatte. Er kannte meine Gedanken, doch er wusste, dass seine nicht gefragt waren, es sei denn, ich verlangte sie zu hören.

Bald wandelst du dreißig Lebensjahre über die Welt, dachte ich. Doch der Gedanke an Meisterin Sefira macht dich immer noch zu einem kleinen Mädchen.

Um hier nach mir zu suchen, musste sie erst einmal wissen, dass ich in Vinsalt war. Und dies wusste außer Jehu niemand. Außerdem war es möglich, dass Sefira noch nicht nach Selem zurückgekehrt war, um mein Verschwinden zu bemerken. Manches Mal blieb sie monatelang fort.

Ich straffte mich, schritt zu dem sandfarbenen Tor und wurde im Palast vorstellig. Als ich meinen Namen und den Namen meiner Meisterin genannt hatte, verbeugte sich die Sklavin, die mich empfangen hatte, tief und eilte davon. Wir standen zwischen Marmorsäulen auf einem Mosaik, dessen polierte Steine eine große, blaue Wüstenblume formten. Lori putzte sich auf meiner Schulter die Federn. Ich musste nicht lange warten.

Meister Chadim empfing mich mit aller gebührenden Ehrerbietung. Er war fast siebzig Lebensjahre alt und ungemein füllig, bewegte sich dabei jedoch erstaunlich elegant. In seinem aufgedunsenen Gesicht wirkten die Augen wie kleine Steine. Er hüllte sich in erlesene Stoffe, die wie sein Palast gelb und blau gefärbt waren.

Der Gepflogenheiten seines Volkes folgend, berührte ich die Wand und sagte: »Ich bin dein Schützling.«

Chadim lachte. »Bei Rastullahs Lockenpracht, welch schöne Tochter des Himmels schenkt meinen alten Augen neuen Glanz? Herrin Laila, wie viel Zeit ist seit dem Geschenk unserer letzten Begegnung vergangen? Unglückliche zwölf Jahre! Doch im gesegneten dreizehnten Jahr führt das Schicksal dich zu mir. Und sieh dich an: schön wie des Alleinen Wonneweib Khabla, mit Locken so schwarz wie der Schweif einer reinrassigen Shadifstute und der Glut brennender Kohlen in den Augen! Du bist zur Frau gereift, und ich zu einem alten Mann. Sei Gast in meinem bescheidenen Heim und siehe mich als deinen demütigsten Diener.«

Sein bescheidenes Heim brauchte sich nicht vor dem Palast der Meisterin zu verstecken. Überall wuselten Sklaven, und wohin mein Blick fiel, sah ich eine Herrlichkeit, die einem tulamidischen Potentaten angemessen war.

»Du ehrst mich mit deinem großzügigen Angebot, Meister Chadim, doch ich will nicht über dich gebieten wie eine Herrin, sondern wünsche, dass du mich wie Meisterin Sefira als Freundin willkommen heißt.«

Der füllige Novadi lachte, dass sein Körper bebte. »Das ist mir eine noch größere Ehre, oh Blüte des Szintotals. Lass meine Diener sich um dein Gepäck kümmern.« Während er mich durch seinen Palast führte, plauderte er weiter. In seinem Tulamidya vermischte sich der Dialekt der Wüstenstämme mit einem horasischen Einschlag. »Man gewöhnt sich daran, ›Diener‹ zu sagen. Dabei sind sie natürlich Sklaven. Da es in dem herrlichen Reich des wiederauferstandenen Horas jedoch keine Sklaven gibt – es sei denn, man selbst ist Comto, doch dann nennt man sie ›Leibeigene‹ –, nun, aus diesem Grund nenne ich meine Sklaven ›Diener‹, und niemand stört sich daran.«

»Dein Palast ist prächtiger, als ich ihn in Erinnerung habe, Meister Chadim.«

Seine Vorliebe für die Farben Gelb und Blau setzte sich in allen Räumen fort. Sandfarbene Teppiche dämpften unsere Schritte, und in kostbaren Vasen aus Unauer Porzellan mit blauer Ornamentik verströmten blauhäuptige Blumen fremde Gerüche.

»Ich bin kein Mann, der mit gespaltener Zunge von sich spricht, wie die elende Schlange, die auf dem Bauch durch den Sand kriecht, ohne sich jemals zu erheben, oh Nachtschöne. Ich wurde zwischen Kameldung geboren und habe in jungen Jahren die Ehre meiner Sippe beschmutzt. Rastullah sei mein Zeuge, hinter mir liegt ein langer Weg! Heute bin ich ein angesehener Mann von Ehre, reicher als mancher Bey. Meine Karawanen und Schiffe tragen die erlesensten Gewürze aus den fernsten Ländern in das Reich des goldenen Adlers.«

Ich hatte schon einige Novadis in meinem Leben getroffen, doch dieser Mann hatte wenig gemein mit den Elendsgestalten, die am Rande Selems in ihren Zelten kauerten. »Und die Wüste deiner Vorväter?«, fragte ich neugierig.

»Die ist Vergangenheit, mein bezauberndes Kind der Höflichkeit.«

Er führte mich auf eine schattige Terrasse, von der aus ich auf einen weitläufigen Garten und den hoch aufragenden Tempelberg blickte. Jehu stellte sich schweigend unter die Arkaden neben dem Eingang, und Lori klettere von meiner Schulter auf einen niedrigen Tisch, um einen Apfel aus einer Schale zu stibitzen. Während sich Chadim schwerfällig auf blauen Kissen niederließ, trugen seine Sklaven das Geschirr für den Tee auf. Ich ging zu der niedrigen Brüstung und blickte hinauf zu dem Tempel des bosparanischen Sonnengottes. Zwei Ringe hoher Mauern umgaben einen weißen Sakralbau, in dessen goldenem Dach sich das Sonnenlicht verfing. Dort oben buhlten sie um die Gunst des falschen Götterfürsten, in dessen Namen die Bosparaner vernichtende Kriege gegen mein Volk geführt hatten.

»Wie hältst du es hier aus, umgeben von den Nachkommen unserer alten Feinde?«

»Mit gutem Essen, weichen Kissen und reichlich Gold.« Chadim lachte. »Oh verbitterte Tochter Selems, du beschwörst mit deinen dunklen Gedanken Geister, die lange im Morast der Zeit versunken sind. Vinsalt ist nicht Bosparan, und Selem ist nicht Elem. Verzeih mir einfältigem Wüstensohn den mangelnden Respekt vor der Vergangenheit, doch ich bin ein Kind der Gegenwart.«

»Ich bin im Schatten der Vergangenheit aufgewachsen«, sagte ich halb zu ihm, halb zu mir. »Mein ganzes Leben wurde von den Ruinen verwitterter Monumente beschirmt. Sie zeugen davon, was hätte sein sollen. Elem und unserem Volk war die Herrschaft über den Kontinent bestimmt – bis die neidischen Götter Bosparans in das Schicksal eingriffen.«

»Auch Bosparan verging«, sagte Chadim unbekümmert. »Sein eigenes Volk brannte es nieder. Das ist die Schmach, mit der der Allmächtige dieses verblendete Menschenreich bedachte: Es verging an sich selbst.«

Ich fand darin keinen Trost. »Es hat sich wieder erhoben. Sieh dir an, wie dieses Vinsalt uns verspottet. Seine Paläste und Tempel, sein Reichtum und seine Größe. Und Selem? Siecht immer noch in den Fieberträumen der Sümpfe dahin, ein kranker Greis, der keine Kraft mehr hat, sich von seiner Siechenstätte zu erheben.«

Mit jedem Wort spie ich mehr Verachtung aus. Ich hatte an der Seite meiner Meisterin viele Städte Meridianas gesehen: Mirham, die königliche Palaststadt im Dschungel, Al’Anfa, die Perle des Südens, das freidenkerische Brabak, auch das schillernde Khunchom – doch keine dieser Städte war mit Vinsalt zu vergleichen, und dies brachte mein tulamidisches Blut in Wallung. Vinsalt zeugte von der Zukunft und ließ die stolzen Städte des Südens zu zwar eindrucksvollen, doch verblassenden Zeugnissen der Vergangenheit werden.

Als hätten wir uns unserem Schicksal ergeben, dachte ich bitter.

»Du grämst dich über etwas, das so viele Generationen zurückliegt, dass ich unmöglich die Namen meiner Vorväter bis zu jener Zeit aufsagen kann.«

»Das liegt daran, dass du deine Vorväter nicht kennst«, sagte ich schärfer, als ich beabsichtigt hatte.

Ich drehte mich vorsichtig zu ihm um. Er schien jedoch belustigt. Ruhig goss er Tee in meine Tasse und reichte sie mir.

»Solange meine Kinder und Kindeskinder meinen Namen kennen, kümmert mich dies nicht. Niemand fragt nach meiner Vergangenheit. Ich bin der, der ich bin, nicht der, der ich war. Und dies verdanke ich nicht zuletzt der zeitlosen Gebieterin über das Leben, deiner ehrbaren Meisterin Sefira.«

Ich nippte am Tee und schwieg. Natürlich musste er das Gespräch auf die Meisterin lenken. Chadim war kein Narr. Er fragte sich, wie es dazu kam, dass ich alleine in eine Stadt gekommen war, die ich so sehr verachtete. Wieder stiegen Zweifel in mir auf, ob es eine gute Idee gewesen war, den alten Novadi aufzusuchen.

»Meisterin Sefira entbietet dir segensreiche Grüße. Sie bekam eine dringende Botschaft aus Vinsalt, doch es ist ihr unmöglich, Selem zu verlassen. Daher entsendet sie mich. Sie meinte, es sei an der Zeit, diese Verantwortung zu übernehmen.« Die Lüge ging mir mit einem Lächeln über die Lippen. »Sefira bittet ihren alten Freund Chadim ben Charef, ihrer Schülerin die gleiche Hilfe angedeihen zu lassen, die sie genießen würde.«

»Diese ehrbare Bescheidenheit schmeichelt einem alten Wüstenräuber, doch darum muss weder sie noch du bitten.«

Auf eine gewisse Art hatte ich ihm die Wahrheit gesagt, nur nicht, dass Meisterin Sefira nichts von meiner Anwesenheit in Vinsalt und dem Grund meiner Reise wusste.

Der Salon der Schatten. Seit ich vor zehn Jahren erkannt hatte, wer sich dahinter verbarg und dass Sefira ein Teil der Kabale war, wartete ich darauf, dass sie mich in diesen machtvollen Zirkel einführte. Sie hatte mir manches verraten, und trotzdem wartete ich vergeblich. Sefira nannte mich ihre Erbin, doch vieles bewahrte sie für sich.

Dann hatte die Einladung ihren Selemer Palast erreicht. Der Salon der Schatten rief sie nach Vinsalt. Sefira war jedoch nicht zugegen gewesen, um das Schreiben entgegenzunehmen. Nun saß ich in Vinsalt und wusste um den Verrat, den ich an meiner Meisterin beging. Ich war mit einem hohen Einsatz in ein Spiel eingestiegen, dessen Regeln ich nicht kannte. Doch ich war es leid, zu warten. Ich wollte nicht länger lethargisch verharren wie das dumpf in Fieberträumen dahinbrütende Selem. Ich wollte mein Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Ich plauderte noch ein wenig mit Chadim, dann zog er sich respektvoll zurück, damit ich mich von den Anstrengungen meiner Reise erholen konnte. Ich blieb auf der Terrasse, alleine bis auf Jehu, der still im Hintergrund wachte.

Der Schatten des Tempelbergs wanderte über die Terrasse und verdunkelte meine Gedanken. Mein Plan, der mich vor vier Wochen zum Aufbruch gedrängt und auf meiner Reise beflügelt hatte, erschien mir immer kindischer. Ich musste mir eingestehen, wie wenig ich wusste. Weder hatte ich Hinweise darauf, zu welchem Anlass sich der Salon der Schatten traf, noch wo er zusammenkam. Ich war in der Fremde, um einer Handvoll berüchtigter Söhne und Töchter der Magie gegenüberzutreten, deren Namen entweder in Ehrfurcht, Angst oder Zorn ausgesprochen wurden, jedoch niemals in Gleichgültigkeit. Und ich stand mit leeren Händen da.

Wenn dies keine außergewöhnliche Zusammenkunft war, wenn es um Selbstverständlichkeiten ging, der keiner erklärenden Worte in einer Einladung bedurften, dann hatte ich mich vielleicht bereits selbst entlarvt. Denn wäre ich wirklich in Sefiras Namen angereist, hätte sie mich nicht in das eingeweiht, was ich wissen müsste?

Die Sonne verschwand hinter dem Tempel. Es sah aus, als würde er brennen. Lori rollte sich in meinem Schoß zusammen und schlief ein. Sklaven in blau-gelben Hemden und Hosen entzündeten Bienenwachskerzen, während meine Gedanken ins Nirgendwo wanderten.

Hinter mir hustete jemand.

»Ich hatte eine ältere Dame erwartet, die bei einer Wasserpfeife ihren Tee genießt«, sagte eine unbekannte Stimme auf Garethi. »Wer bist du?«

Ich fuhr herum. Lori wachte auf und sprang erschrocken von meinen Beinen.

Auf der Terrasse stand mit gelassener Selbstverständlichkeit ein Bettler - zumindest sah der Fremde wie einer aus. Er stand schief, wie bei großen Menschen üblich, und an seinem hageren Körper hing eine dunkle, fleckige Robe. Das braune Haar stand ihm wirr vom Kopf, als wäre er gerade erst aufgestanden. Das Kerzenlicht warf lange Schatten auf sein blasses Gesicht. So müde und ausgezehrt, wie er aussah, konnte ich sein Alter nicht einschätzen, doch er hatte sicherlich fünfunddreißig Lebensjahre hinter sich.

Er lehnte sich auf einen schlichten Stecken, der jedoch zu makellos war, um ein einfacher Wanderstock oder Bettelstab zu sein. Dazu passte auch nicht die kleine, gläserne Kugel, die ihn schmückte. Es war ein Magierstab.

Ich sah zu Jehu. Er stand immer noch regungslos an der Wand, keinen Schritt von dem Fremden entfernt.

»Ich habe deinen Schoßhund paralysiert«, sagte der blasse Magier. »Und mit deiner Chimäre werde ich dasselbe machen, wenn sie mich weiter so anstarrt.«

»Lori mag keinen ungebetenen Besuch, schon gar nicht von so ausgesprochener Grobheit. Dies gilt auch für mich.« Ich erhob mich und streckte meine Hand aus. Mein eigener Magierstab – aus Mangrovenholz und mit Edelsteinen besetzt – glitt zu mir. »Ich bin Laila Chirasir, Schülerin und Erbin der ehrwürdigen Meisterin Sefira Alchadid saba Khorim al-Uruch, Fürstin von Nelkra und zeitlose Gebieterin des Lebens. Und ich verlange eine Erklärung.«

»Da hast du etwas falsch verstanden, Kleine«, sagte der Magier ungerührt. »Du schuldest mir eine Erklärung. Du bist hier, ich weiß, wer du bist, und du bist nicht die Magierin, die ich eingeladen habe.« Er grinste, und ich konnte nur mit Mühe die Fassung bewahren. »Ich bin Gorodez Sgirra, und du bist hier falsch.«

Ich war nicht gut genug vorbereitet. Ich lief wie ein Aalmolch in die Falle, die man mir stellte. Alles konnte in diesem Moment scheitern.

Widerstrebend verneigte ich mich. »Verzeih mir das Missverständnis, Meister Gorodez. Wir sind uns nie zuvor begegnet, und dein Auftreten entsprach nicht der Würde, die einem Meister der Magie deines Rufs gebührt.«

Gorodez lachte. »Ich wäre überrascht, würde man ein anderes Auftreten erwarten.« Er ging kopfschüttelnd an mir vorbei und warf sich in die Kissen. Als Lori ihn anfauchte, warf er meiner Chimäre einen finsteren Blick zu. »Ich warne dich ein letztes Mal, Federvieh!«

Er wollte mich augenscheinlich provozieren, doch ich beschloss, mich nicht auf sein Spiel einzulassen. In aller Ruhe ließ ich mich ihm gegenüber nieder. Irgendwie schaffte er es, dass sich plötzlich ein brennender Zigarillo zwischen seinen Lippen befand.

»Ich bin hier richtig«, sagte ich. »Ich bin dort, wohin mich Meisterin Sefira entsandte. Sie sagte, die Zeit wäre reif.«

Gorodez hob eine Augenbraue. »Pôlberra und ich wetten seit geraumer Zeit miteinander, wann der Tag kommt, an dem Sefira uns ihre Nachfolgerin vorstellt. Es sieht ganz so aus, als würde der alte Leichenschänder mir einen Berg Edelsteine schulden. Ich war mir aber sicher, dass Sefira dabei sein würde, wenn sie dich in unsere Kreise einführt. Muss ich mir Sorgen um das alte Mädchen machen?«

»Deine ehrbare Sorge ist unberechtigt. Die Einladung kam unerwartet und zu einem ungünstigen Zeitpunkt.« Ich spürte, dass ihm dies nicht als Antwort genügen würde. »Sefira verrät mir nicht alles, aber es steht im Zusammenhang mit den Nächten der fallenden Sterne.«

»Die Nächte der fallenden Sterne ...« Gorodez zog an dem Zigarillo. »Ein hübscher Name dafür, dass der Himmel seine verfluchten Schätze auf uns niederwirft. Wie denkst du darüber?«

»Der Himmel ist in Aufruhr«, sagte ich. »Wir befinden uns in einer Weltzeitenwende. Die alte Ordnung bricht zusammen, damit eine neue entstehen kann. So, wie ein Leben vergeht, um Platz für ein neues zu machen.«

»Du siehst aus wie Sefiras Mädchen, und du redest wie deine Meisterin«, sagte Gorodez. »Dennoch ist der alten Dame ein Fehler unterlaufen. Du bist hier falsch, Kleine. Die Sache ist zu groß für dich.«

Er behandelte mich wie ein Kind. »Als der erste Salon der Schatten zusammenkam, waren die meisten seiner Mitglieder jünger als ich«, sagte ich scharf. »Du selbst bist erst später dazugekommen. Schwinge dich nicht zum selbstgerechten Hüter einer Tradition auf, die nicht besteht.«

Seine dunklen Augen funkelten, und ich befürchtete, zu weit gegangen zu sein. Doch dann applaudierte er mir. »Die Zauberschülerin hat artig ihre Lektion gelernt. Mal sehen, was du noch weißt. Wer sind die Heptarchen?«

Der plötzliche Themenwechsel überraschte mich. Ich strich meine Robe glatt und sammelte mich. »So nennt man die Erben des Dämonenmeisters Borbarad, der vor über zwei Jahrzehnten den halben Kontinent in eine anhaltende Finsternis gestürzt hat. Ihre Macht gründet auf den Splittern von Borbarads Dämonenkrone, jeder erfüllt von der Essenz eines anderen Höllenfürsten.«

Ich war zu jung gewesen, um bewusst mitzuerleben, wie Borbarad den Kontinent verheerte, aber ich kannte Sefiras Erzählungen. Viele unserer Zunft waren damals den Versuchungen des Dämonenmeisters erlegen, darunter auch ehemalige Schüler der Meisterin. Sie waren den leichten Weg gegangen, wie sie es nannte, und hatten einen Pakt mit der Erzdämonin Asfaloth geschlossen. Für die hohe Kunst der Chimärologie waren deren chaotische Kräfte unabdingbar, doch wer ihnen erlag, statt sie zu kontrollieren, war verloren.

»Fühlst du dich groß genug, um einen von ihnen zu stürzen?«, fragte Gorodez. »Denn genau das werden wir machen.«

Er sprach wirr wie eine der Jammergestalten Selems, die der Sumpfodem um den Verstand gebracht hatte. In den nahezu zwei Jahrzehnten, die seit der Dritten Dämonenschlacht vergangen waren, waren die Schattenherrscher zum Inbegriff der Verdorbenheit geworden: machtvolle, unantastbare Sultane von der Hölle Gnaden. Dennoch waren einige von ihnen gestürzt, meist durch ihre eigene Hybris: der Dämonenkaiser Galotta, der untote Alptraumdrache Rhazzazor, der Bucklige, die blutrote Moghuli von Elburum, der nachtblaue Admiral Darion Paligan. Ich verstand nicht, warum sich der Salon der Schatten gegen einen Heptarchen wenden sollte, doch wenn ich Gorodez nicht überzeugen konnte, würde ich es nie erfahren.

»Meisterin Sefira hätte mich nicht entsandt, wenn sie nicht überzeugt wäre, dass sie mich für jede Herausforderung gewappnet hat. Ich bin bereit.«

Gorodez musterte mich mit einem Blick, den ich schwer deuten konnte. Es lag etwas Abschätzendes darin, aber auch etwas Gequältes.

»Schön, dass du dich bereit fühlst. Aber ich will nicht die Verantwortung übernehmen und vor Sefira treten müssen, wenn du dich irrst. Tut mir leid, Kleine, aber du hast die weite Reise umsonst gemacht. Genieße den Aufenthalt in Vinsalt und entrichte Sefira meine Grüße.«

Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte nicht die Reise auf mich genommen und das Vertrauen meiner Meisterin aufs Spiel gesetzt, um mich von diesem Auswurf sternenloser Nächte wie eine Bittstellerin abweisen zu lassen.

Bevor ich etwas sagen konnte, sprang Lori auf die Kissen und fauchte Gorodez an. Der Magier schlug murmelnd die rechte Faust in die linke Hand, und Lori erstarrte mitten in der Bewegung.

»Ich habe dein Vieh gewarnt«, sagte er. »Zweimal.«

Damit hatte Gorodez den Bogen überspannt. Ich sprang auf, um ihn mit allen Verwünschungen zu bedenken, die ich auf meinen nächtlichen Rundgängen in Selems Hafen aufgeschnappt hatte, doch er kam mir zuvor.

»Was war letztes Jahr in Belhanka?«, fragte er seelenruhig.

»Was?« Mir wurde schwindelig, in meinem Kopf führten berauschte Derwische einen wilden Tanz auf. Ich hatte Belhanka auf meiner Reise nach Vinsalt passiert, zum ersten Mal in meinem Leben. War Sefira dort letztes Jahr gewesen? Ich war mir sicher, dass dies nicht der Fall war – und gleichzeitig überkamen mich Zweifel.

»Letztes Jahr in Belhanka waren die Huren fröhlich«, sagte Gorodez und stürzte mich in noch größere Verwirrung. »Setz dich hin, Kleine. Du hast Schneid, aber du bist eine miserable Lügnerin. Sefira hat dich nicht geschickt.«

Es erschien mir sinnlos, ihm zu widersprechen. Ich verstand nicht wie, aber er hatte mich überführt. Ausgelöscht ließ ich mich wieder auf den Kissen nieder und ertrug den selbstgefälligen Blick, mit dem er mich betrachtete.

»Zaubertinte«, sagte er schließlich. »Keine Hexerei, sondern bloß etwas Alchimie aus dem Handgelenk. Wir versehen unsere Nachrichten mit kleinen, geheimen Botschaften, damit der Empfänger sicher sein kann, dass der Verfasser der ist, der er vorgibt. Gleichzeitig sind diese Botschaften Teil einer Losung, wenn wir uns treffen. Hätte Sefira dich geschickt, hätte sie dir die Losung mitgeteilt, damit du nicht dastehst wie ein tobrischer Schafshirte vor einem Rudel Wölfe.«

Ich sah ihm fest in die Augen. Keineswegs würde ich mich den Wölfen in den Rachen werfen. »Sefira wird noch Wochen unterwegs sein. Sie wird nicht kommen. Meine Hilfe ist alles, was du bekommst.«

Rauch stieg aus seinem Mund auf und hing wie ein bläulicher Schleier vor seinen Augen. »Du hast keine Vorstellung, worauf du dich einlässt, Kleine.«

»Und du hast keine Vorstellung, was ich gesehen habe und wozu ich fähig bin. Mein Wille gebiert neues Leben. Ich bin durch die Ruinen von Zhamorrah gewandert und durch die alten Tempel von H’Rabaal. Ich habe die Sümpfe Selems herausgefordert, und die Sümpfe haben sich mir ergeben. In deinen Augen mag ich das kleine Mädchen sein, das sich von zu Hause fortgeschlichen hat, um das große Abenteuer zu erleben. Ich bin mehr als das. Ich bin würdig, in die Schatten zu treten. Und ich habe keine Angst.«

Gorodez drückte den Zigarillo in meiner Teetasse aus und stand abrupt auf. Er sah schweigend hinauf zu dem Tempelberg, als würde er auf ein Zeichen von dort hoffen.

»Du wirst Angst haben, kleine Chimärenbändigerin, ansonsten bist du dumm.« Er blickte auf mich herab. »Ich werde es bereuen, aber wir werden dich brauchen können.«

Ich glaubte mich verhört zu haben. »Ich danke dir, Meister Gorodez.«

Er machte ein verächtliches Geräusch. »Die Entscheidung fälle ich nicht alleine. Aber Sefira ist nicht die einzige, die nicht erschienen ist. Wir müssen die Kräfte bündeln, die uns zur Verfügung stehen. Wenn uns ein Fehler unterläuft, werden wir Äonen in der Verdammnis schmoren.«

Mich überkam eine plötzliche Eingebung. Sein Plan, einen Schattenherrscher zu stürzen, schien für den Salon der Schatten keine so ausgemachte Sache zu sein, wie er den Eindruck erwecken wollte.

»Ich bin eine ergebene Dienerin der Sache«, sagte ich. »Meisterin Sefira lehrte mich, das Chaos zu nutzen, doch die Mächte dahinter zu verachten. Ich werde meinen Beitrag leisten.«

»Es gilt eine Regel: Du machst, was ich dir sage. Kannst du das?«

Ich schwor es feierlich.

»Vergiss das nicht. Und ich werde nicht vergessen, dass du mir geholfen hast. Wenn Sefira herausfindet, dass du sie hintergangen hast, wirst du jede Hilfe brauchen können.«

Er ging zu dem immer noch paralysierten Jehu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen.

»Sag deinem Schoßhund, dass es nichts Persönliches war. Ich möchte nicht, dass er mich nächstes Mal mit seinem großen Messer verhaut.«

Dann ging er und ließ mich mit der Nacht und meinen Gedanken alleine.

Gorodez Sgirra

In einer Taverne nahe dem Opernhaus kaufte ich mir eine Flasche Wein. Ich war ausgesprochen guter Laune, und das war ich in den letzten Monaten selten gewesen. Mit der Flasche zog ich mich in den Madamalpark zurück. Die drückende Schwüle des Tages, die schwer auf meinen Lungen gelegen hatte, hatte nachgelassen. Es waren nur wenige Nachtschwärmer im Schatten des Sternenturms und der Rosenhecken unterwegs. Etwas von mir entfernt saßen eine barfüßige Zahori und ein junger Mann, der das Gebaren eines Bühnendarstellers hatte, und redeten über Bücher. Lächelnd entzündete ich mir einen Zigarillo und fing an, mich zu betrinken.

Ich hatte auf Sefira gesetzt. Bei dem, was ich vorhatte, konnte es nicht schaden, eine Chimärenmeisterin an der Seite zu haben, die seit über hundertvierzig Jahren auf der Welt wandelte. Doch ich konnte sie später noch dazu holen, wenn es wirklich ernst wurde. Bis dahin erwies sich ihre Schülerin als Glücksfall. Laila war ehrgeizig und gierte danach, die Last von Sefiras Ruhm abzustreifen. Sie erinnerte mich an mich, als ich bedeutend jünger gewesen war als sie. Doch entscheidender war etwas anderes: Ich hatte ihr Spiel durchschaut, und sie fürchtete aufzufliegen. Damit wäre ihr Traum vom eigenen Ruhm vorbei. Es würde schwer genug werden, die anderen zu überzeugen. Da war es von Vorteil, eine Verbündete in der Hand zu haben.

Trinkend und rauchend dachte ich über die anderen Magier des Salons der Schatten nach. Mein eigenes Spiel war nicht ungefährlich, aber das war das gesamte Vorhaben. Ich brauchte Leute, die wussten, worauf sie sich einließen, und die skrupellos genug waren, auch dunkle Pfade zu beschreiten, wenn sie von dem Ziel überzeugt waren.

Das war die eigentliche Herausforderung, die vor mir lag. Einen Heptarchen zu vernichten und den Niederhöllen lachend ins Gesicht zu spucken, erschien mir dagegen fast wie ein Spaziergang.

Rafim ibn Rizwan kam nicht, aber damit hatte ich gerechnet. Der Bey von Nagillah war auf seine alten Tage bequem und feige geworden. Er begnügte sich mit seinem kleinen Reich im mhanadischen Hinterland. Bei den Zusammenkünften des Salons sah man ihn schon lange nur noch selten, und auch sonst spielte er kaum eine Rolle, die der Größe, die er für sich beanspruchte, angemessen wäre. Außerdem trug er mir immer noch die Geschichte mit dem Dornenknecht von Al’Akrans Garten nach.

Um Pôlberras Unterstützung machte ich mir wenig Sorgen. Der Nekromant spuckte selbst gerne den Erzdämonen in die Suppe. Auf Arestas de Torreano, der wie ich erst später in den Salon aufgenommen worden war, hätte ich hingegen verzichten können, trotzdem hatte ich ihn eingeladen. Er war ein selbstgefälliger Trottel, allerdings ein nützlicher Trottel, sobald er einen Vorteil für sich erkannte.

Blieb Niam von Bosparan, und wie stets bereitete sie mir die größten Sorgen. Bei allen zwielichtigen und schurkischen Gestalten, mit denen ich mein ganzes Leben zu tun gehabt hatte, war mir nie ein gefährlicherer Mensch begegnet als die selbst ernannte Königin der Vinsalter Unterwelt. Leider war ich auf ihren Segen angewiesen, denn um das große Ziel zu erreichen, musste ich in ihrem Revier wildern. Außerdem hatte sie den Salon der Schatten gegründet. Sie außen vor zu lassen hätte bedeutet, sie herauszufordern. Und das letzte, das ich gebrauchen konnte, war der Zorn einer in ihrer Eitelkeit verletzten Niam.

Das Lachen des Zahorimädchens riss mich aus meinen Gedanken. Im Dunkeln konnte ich sie und ihren Gefährten nicht genau erkennen, doch sie pflegten eine Vertrautheit miteinander, die mich fesselte. Sie versprühten diese unverwundbare Sorglosigkeit, die alle Schatten vergessen lässt. Sterne fielen vom Himmel, Tote krochen aus ihren Gräbern, und wahnsinnige Despoten unterwarfen mit Dämonenmacht ganze Landstriche – doch diese beiden kümmerte es nicht. Warum auch? Sie hatten sich, und nichts anderes zählte.

An einem anderen Tag wäre ich vielleicht zu ihnen hinübergegangen, um ihr sorgloses Glück mit einer spöttischen Bemerkung zu stören. Aber schon der Gedanke daran bereitete mir kein Vergnügen.

Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und stellte fest, dass sie bereits fast leer war. Es war einerlei, ob ich bereits so lange dort saß oder bloß schnell getrunken hatte. Der Wein drehte seine Kreise in meinem Kopf.

Ich stürzte den letzten Schluck hinunter und ließ die leere Flasche ins Gras fallen. Als ich mich erhob, musste ich feststellen, dass ich angetrunkener war, als ich gedacht hatte. Es musste Stunden her sein, dass ich etwas gegessen hatte.

Schwankend ging ich an dem Paar vorbei. Sie waren nicht so jung, wie ich gedacht hatte, vielleicht um die dreißig Götterläufe, soweit ich es beurteilen konnte. Die Zahori sah zu mir auf, ihre dunklen Augen funkelten im Mondlicht, und in ihnen lag ein tieferes Wissen um die Welt, als ich ihr zugetraut hatte. Wir erkannten einander wie die Verschwörer einer Geheimgesellschaft. Zwei Menschen, die die Abgründe der Seele kannten. Sie gefiel mir.

Ich gratulierte dem Mann, einem dünnen, bärtigen Kerl mit leuchtenden Kinderaugen. In seinem gestikulierenden Redeschwall hatte er mich bisher nicht wahrgenommen. Er sah mir noch irritiert nach, als ich längst weitergegangen war.

Ohne ein wirkliches Ziel zu haben, torkelte ich Richtung Lakaienviertel. Ich sehnte mich nach einer dunklen Spelunke, in der ich mich ungestört betrinken wollte. Auf keinen Fall wollte ich zurück zu dem Versteck, in dem der nörgelnde Alte wartete, mein Gast, den ich unter Lebensgefahr nach Vinsalt gebracht hatte. Seine Gesellschaft hatte ich in den letzten Monden zur Genüge ausgekostet, und ich hätte mir lieber nüchtern mit einer rostigen Zange die Schneidezähne ausreißen lassen, als weiterhin sein Meckern zu ertragen. Außerdem konnte es nicht schaden, wenn er ein wenig nervös wurde. Vieles hing von dem Auftritt ab, den er am nächsten Tag bieten würde.

Ich befand mich irgendwo jenseits des Markts im baulichen Nirgendwo der Altstadt und strebte der Ruchlosigkeit des Lakaienviertels entgegen. In nur wenigen Fenstern brannte Licht – die braven Bürger Vinsalts hatten sich schon lange zur Nachtruhe begeben. Keine Nachtwächter, keine Nachtschwärmer, nicht einmal eine einsame Hure – ich war mit meinen Gedanken alleine. Und meine Gedanken waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mir lästig zu fallen.

Ich musste pissen. Ich bog in die erstbeste Seitengasse und erschreckte einen kleinen, dicken Mann, den augenscheinlich das gleiche Bedürfnis zwischen die Häuser getrieben hatte. Ich konnte nicht viel von ihm erkennen und er vermutlich auch nicht von mir. Er stand wortwörtlich mit heruntergelassenen Hosen vor mir, unschlüssig in der Bewegung erstarrt.

»Scheint ein beliebter Platz zu sein«, sagte ich. »Stört es dich, wenn ich mich auch an die Wand stelle? Das würde mir eine Peinlichkeit ersparen, denn es drängt.«

Er erwachte aus seiner Starre. »Sicherlich, werter Herr, seid willkommen.« Er lallte leicht. »Wenn es Euch nicht stört, dass ich ebenfalls ...«

»Keineswegs, lass es frei und munter sprudeln.«

So standen wir pissend nebeneinander. Er schien ebenfalls unter großer Not gestanden zu haben. Es nahm bei keinem von uns ein Ende.

»Erweist Ihr mir die Ehre, den Namen meines Gefährten in der Erleichterung zu erfahren?«, fragte er über das Rauschen unserer Wasser hinweg. »Mein Name ist Bram Resselbrink, Hauslehrer und achtbares Mitglied in der Loge des Himmlischen Labyrinths.«

»Gorodez Sgirra, reisender Trinker und Magier.«

Bram lachte. Er war zwei Köpfe kleiner als ich, aber breit wie ein Fass. Er trug einen lustigen Hut und ein viel zu kurzes Jäckchen, bei dem ich nicht einmal einen Verdacht hatte, welcher Mode es folgte. Vermutlich gehörte diese Aufmachung zu seiner Loge. So betrunken wie er war, musste er von einem Logentreffen kommen.

»Ich würde dir die Hand geben, Bruder, aber in unserer Lage wäre es unhöflicher, als es nicht zu tun.«

Wieder lachte er. »Befindet Ihr Euch auf dem Heimweg, Herr Magus?«

»Ich befinde mich auf einer Queste. Ich suche die Wahrheit, und jemand sagte mir, ich fände sie im Wein. Leider wusste er nicht, in welchem Wein, und nun suche ich den richtigen.«

Wir waren fertig und verschnürten unsere Hosen.

»Möge die allweise Hesinde mit Hilfe der rauschenden Rahja Eure Pfade erleuchten«, sagte Bram. »Wenn Ihr mir diesen Hinweis gestattet, empfehle ich Euch Fardenins Weinkeller, ein Hort des Rebensbluts, so sagenhaft wie Alverans Schatzkammern. Dort möget Ihr fündig werden.«

Ich bedankte mich, und wir verabschiedeten uns. Als ich die Gasse verließ, fielen mir drei Gestalten auf, die ganz in der Nähe herumlungerten, ein Knilch mit zwei Kerlen im Gefolge, die so groß und hässlich wie Halboger waren. Ich beachtete sie nicht weiter und zog mir die Kapuze über den Kopf. Sie schienen auf Ärger aus zu sein, und den wollte ich mir ersparen.

Allerdings hatten sie es nicht auf mich abgesehen. Als ich sie passiert hatte, lösten sie sich von der Wand und hielten auf Bram zu.

Es war nicht meine Angelegenheit, sagte ich mir und ging weiter. Trotzdem warf ich einen Blick zurück. Der Kleine hatte sich Bram gepackt und drängte ihn in die Gasse. Seine Ogerfreunde folgten ihm. Einer von ihnen gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich weitergehen sollte.

Ich wandte mich ab. Es war nicht meine Angelegenheit. Es war …

»Orkendreck«, sagte ich und ging zurück.