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Der Umbilicus, heiliges Artefakt und Nabel der hesindianischen Glaubenwelt, ist verschwunden. Zur gleichen Zeit stirbt ein Magister unter geheimnisvollen Umständen. Während der Draconiter Borson Erantes nach dem Verbleib der Reliquie forscht, sucht Avesa Farfara, die junge Schülerin des Toten, nach dem Mörder ihres Meisters. Unterstützung erhält sie dabei von ihrem Geliebten, dem Stadtgardisten Horadan, und ihrem Jugendfreund Dartan, einem Dieb aus Aldtenküslich. In beiden Fällen verdichten sich die Spuren auf einen undurchschaubaren Magier. Welches düstere Geheimnis umgibt ihn? Und welche Rolle spielt der "Kreis der Sechs", ein geheimer Bund mächtiger Magier, der in der Vergangenheit die Geschicke Aventuriens beeinflusste? Der Kreis der Sechs ist der erste Band des Zweiteilers Drachenschatten, der von den Umtrieben uralter Kulte im Lieblichen Feld erzählt, deren Ursprung in einer Zeit lange vor den Menschen liegt, als Echsenwesen und Drachen das Land beherrschten.
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Seitenzahl: 474
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Biografie
Michael Masbergwurde 1982 in der Nähe von Dortmund geboren und lebt heute in Oberhausen.
Seit 1993 bereist er die Lande Aventuriens. Nach der erfolgreichen Teilnahme am AutorenwettbewerbDer Goldene Becher 2005, bei dem er den ersten Platz belegt hat, schreibt er für das RollenspielDas Schwarze Augeund war seitdem an vielen Publikationen als Autor und Redakteur beteiligt. Neben dem AbenteuerGoldene Flügelfinden sich Beiträge aus seiner Feder in zahlreichen Anthologien (unter anderemAuf Elfenpfaden,WetterleuchtenundMärchenwälder, Zauberflüsse) und Regionalspielhilfen (unter anderemSchild des ReichesundReich des Roten Mondes). Er schreibt zudem regelmäßig für das MagazinAventurischer Bote.
Neben seiner Tätigkeit als Autor verwirklicht sich Michael Masberg als Theaterregisseur und betreut diverse künstlerische Projekte. Damit erfüllt er sich den Berufswunsch seiner Kindheit, Geschichtenerzähler zu sein.
Drachenschatten I: Der Kreis der Sechsist sein erster Roman.
Weitere Informationen finden Sie unter www.michael-masberg.de
Titel
Michael Masberg
Der Kreis der Sechs
Drachenschatten – Band 1
Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Impressum
Ulisses Spiele Band 11044PDF
Titelbild: Arndt Drechsler Aventurienkarte: Ralph Hlawatsch Drachenchronik-Logo: Mia Steingräber
Lektorat: Florian Don-Schauen Buchgestaltung: Ralf Berszuck E-Book-Gestaltung: Michael Mingers
Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DEREsind eingetragene Marken. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.
Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.
Danksagungen
Mein innigster Dank gilt einer ganzen Reihe lieber Menschen, die alle auf ihre Art zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben, namentlich (und mit der Ahnung, garantiert jemanden vergessen zu haben):
–Rahel Hug, ohne die manche Seiten in diesem Buch ganz anders erzählt worden wären
–Daniel Simon Richter, der immer ein offenes Ohr für meine Sorgen hatte und stets einen guten Rat wusste
–Simone Gründken,Christian QuitschkeundJan Michael Ullmann, die Aventurien für mich seit Jahren lebendig halten und schlicht meine Lieblingsmenschen sind
–Tobias Radloff, der die richtigen Fragen zu stellen wusste
–Tom Finn, der bei einem Kaltgetränk in Hamburg überhaupt erst alles ins Rollen brachte
–die ›Drachenmeister‹Patrick ›Paddy‹ FritzundStefan Küppers, zu denen sich auch Daniel gesellt und die die geistigen Väter derDrachenchroniksind, in deren erzählerischen Reigen sich meine Geschichte einreihen darf
–Chris Gosse, der neue Schriften über Kuslik verfasste und mir viel Raum für meine Ideen ließ
–der vortreffliche VerseschmiedStefan Unteregger
–Thomas Römerfür Aleya Ambareth
–Franz Janson, ein Erbe des Goldenen Zeitalters
–Christian Fitzkefür seine Schriften zum Heiligen Drachenorden und den Kulthandlungen der Hesinde-Kirche
–Catherine Beck
–Florian Don-Schauenfür wertvollen Rat und Hilfe
–sowie natürlich meine Eltern, ohne deren Verschulden ich kein so reges Interesse an spannenden Geschichten und phantastischen Welten hätte.
»Wenn wir den Flug des Diskus beobachten, können wir viel über den Lauf der Geschichte lernen: Sie bewegt sich voran und dreht sich dabei doch um sich selbst.«
—Keideran Labharion der Schüler, maraskanischer Philosoph und Magier, neuzeitlich
Präludium: Die Trümmer der Geschichte
Silas, 9. Efferd 1032 BF
Rondra und Efferd hielten Hochzeit am Himmel und umwarben einander mit all ihrer göttlichen Macht. Der Donnersturm fuhr grollend über die finsteren Gewitterwolken, die Mond und Sterne verschluckt hatten, und die Gebäude der Stadt verschwanden hinter dem dichten Regenschleier.
Nesro kam das Unwetter sehr gelegen. Mochte ihn auch später der Dumpfschädel plagen, so hoffte er doch, dass sein Verfolger die Spur verloren hatte. Er huschte über die breite Straße und wäre fast auf dem nassen Pflaster ausgerutscht. Auf der anderen Seite schwang er sich durch eine Lücke in der halbverfallenen Mauer und ließ sich die schlammige Böschung in den verwilderten Park hinab. Auch über tausend Jahre nach der Plünderung durch die Garether füllte Silas immer noch nicht die weitreichenden Mauern der antiken Horasstadt aus. Allerorten fanden sich Äcker, Viehweiden, wild wuchernde Gärten oder Ruinenfelder innerhalb der Stadt, die zwischen den Trümmern ihrer Geschichte neu entstanden war.
Im Schatten eines Olivenbaumes hielt Nesro inne und rang nach Luft. Mittlerweile war er durchnässt bis auf die Knochen, aber das störte ihn nicht weiter. Er musste sich entscheiden, wie er weiter vorgehen wollte. Sich verstecken, vielleicht sogar in diesem Park, und das Ende der Nacht abwarten? Oder noch im Schutz von Dunkelheit und Unwetter über die Außenmauern klettern und Silas so bald wie möglich den Rücken kehren? Mit Schaudern dachte er an das zurück, was er hinter den basaltschwarzen Mauern gesehen hatte. Der Magister hatte mehr als recht mit seinen wahnwitzigen Thesen gehabt, und Nesro war gewillt, über seinen Lohn nachzuverhandeln. Diese Wahrheit würde den Magier einiges kosten.Aber wird das meine Alpträume lindern?
Nesro griff in den Beutel an seinem Gürtel und holte das Fundstück hervor. Im Dunkeln strich er mit den Fingern darüber. Ein Blitz fuhr durch die Nacht, gefolgt von einem knallenden Donner. Der goldene Drachenschädel, der in den dunklen Stein eingelassen war, blitzte auf und starrte Nerso an, dass dieser ihn vor Schreck fast hätte fallen lassen.
Beruhige dich!,ermahnte er sich und steckte die Steinscheibe wieder ein. Er wollte nur noch fort von hier, fort aus dieser Stadt, die sein Leben, seinenGlaubenbedrohte, fort aus dem Land, das seine Heimat war, doch das er nicht mehr wiedererkannte. Innerhalb weniger Stunden hatte sich alles, was er als Wahrheit zu kennen glaubte, als Lüge herausgestellt. Sollte der Magister zu den Niederhöllen fahren! Nesros Ehre verpflichtete ihn, seinen Auftrag zu beenden, doch danach würde er alldem den Rücken kehren.
Das Beste wäre gewesen, die Stadt zu verlassen, doch hatte er bei seiner überstürzten Flucht die Orientierung verloren. Andererseits wollte er nicht in diesem Park verharren.
Kurzerhand beschloss er, das Gelände zu durchqueren. Damit hoffte er, die Richtung einzuschlagen, die ihn von dem Turm weggeführt hatte – und irgendwann musste jede Stadt enden, auch dieser Irrgarten aus Palästen, Tempeln und Ruinen.
Die Äste der Bäume hielten nur einen Teil des Regens ab, der unablässig niederfiel, als wolle er die Welt ertränken. Nesro konnte keine drei Schritt weit sehen, nur vereinzelte Blitze erhellten die Umgebung. Immer wieder strauchelte er oder verfing sich an Büschen, einmal stürzte er in die aufgeweichte Erde und zerschnitt sich das Bein an einer Tonscherbe, die der Regen freigelegt hatte. Humpelnd setzte er den Weg fort. Seine innere Unruhe wuchs und er schaute sich immer öfter um, ob sein Verfolger vielleicht doch seine Spur gefunden hatte.
Sei nicht töricht! Ein Einzelner wird dich in dieser Nacht nie finden!
In diesem Augenblick explodierte vor ihm die Nacht in einem blauweißen Licht. Er war kurz geblendet und strauchelte. In Erwartung eines Angriffs zog er seine treuen Kurzschwerter aus den Scheiden.
»Es hat etwas Mitleiderregendes, zu sehen, wie du durch das Dunkel stolperst. Es ist geradezu eine Metapher.«
Wenige Schritt vor Nesro schwebte eine faustgroße, leuchtende Kugel in der Luft, die den Garten in ein silbernes Licht tauchte. Doch aus dieser Richtung kam die Stimme nicht, die zu ihm sprach. Gehetzt sah er sich um.
»Es ist aber auch kein Wunder, so wie du den Blick auf den Boden geheftet hältst, dass du verkennst, was über dir steht.«
Zwischen den Ästen eines Baumes hockte sein Verfolger, eine vermummte Gestalt, deren dünne Arme und Beine nicht zu dem kräftigen Brustkorb passen wollten. Das silberne Licht schien nur dumpf auf die dunklen Stoffe. Das Gesicht hielt der Verfolger unter einem Gugel verborgen.
Wie hat er mich finden können?,fragte sich Nesro, doch im gleichen Augenblick wusste er, dass das keine Rolle mehr spielte. Nun galt es, die Entscheidung herbeizuführen.
»Stelle dich dem Kampf, finsterer Schatten, und lass es uns zu Ende bringen!«
Der Verfolger lachte – ein helles Lachen, sodass Nesro sich fragte, ob es nicht eine Frau war. Im nächsten Augenblick holte der Schatten aus, und wie eine Schlangenzunge schnellte etwas auf Nesro zu. Er riss die Arme hoch und ein stechender Schmerz fuhr in seinen linken Arm. Es war, als würde er gebissen werden.
Abermals erhellte ein Blitz die Nacht. Eine Peitsche hatte sich um seinen Arm gewickelt. Wie kleine Zähne waren Metallsplitter in das Leder geflochten, die in sein Fleisch schnitten.
Nesro ließdas Schwert fallen, wickelte sich die Peitschenschnur ein weiteres Mal um den Arm und packte sie, ohne auf die Wunden zu achten, die die Splitter in seine Hand rissen. Er vertrieb den Schmerz und riss an der Peitsche. Sein Gegner hielt dagegen, doch Nesro war stärker und zog ihn aus dem Baum.
Der Verfolger fiel – und verharrte in der Luft. Über den Boden schwebend wirkte er in dem Zauberlicht der Leuchtkugel wie ein Baumgeist aus zyklopäischen Märchen. Furcht legte sich auf Nesros Brust. Die Gestalt breitete die Arme aus, und aus den Ärmeln des schwarzen Hemdes schnellten wie Dorne zwei blitzende Dolche hervor.
»Du hast recht: Bringen wir es zu Ende.«
Nesro dachte nicht ans Fliehen, so sehr bannte ihn der schreckliche Anblick. Es schien, als stieße sich der Angreifer in der Luft ab. Er stürzte sich wie ein Raubvogel auf Nesro nieder, die Dolche auf ihn gerichtet.
Erst im letzten Augenblick erwachte Nesro aus seiner furchtsamen Starre, riss das verbliebene Kurzschwert hoch und rammte es direkt in den breiten Brustkorb. Es war, als würde er versuchen, eine alte Eiche zu erdolchen: Die Waffe glitt wirkungslos an dem Körper ab.
Wie der Schatten einer Fledermaus glitt der Gegner an ihm vorbei. Nesro war vor Schreck wie gelähmt, und selbst der brennende Schmerz erreichte nur nach und nach sein Bewusstsein. Er sah an sich hinunter. Aus seiner Schulter ragte der schmale Griff eines Dolches.
Taumelnd drehte er sich um. Der Verfolger war gelandet, stand vor ihm als dunkler Schatten, umgeben von einem silbern leuchtenden Kranz. Ein widerwärtiger Geschmack erfüllte Nesros Mund. Er wollte etwas sagen, doch er brachte nur ein unverständliches Gurgeln hervor. Sein linker Arm verkrampfte sich und ein Zittern befiel seinen Körper.
»Es wird dich nicht töten«, sagte der gesichtslose Schatten. »Wo bliebe da auch das Vergnügen?«
***
Ein leises Trommeln war das erste, was Nesro wahrnahm, als er wieder zu sich kam. Es war ein fremder, betörender Rhythmus, der von endlosen Weiten und Sehnsüchten erzählte, von einem entbehrungsreichen Leben und einem unbeugsamen Stolz.
Es ist warm, dachte Nesro.Trocken und warm.
Als nächstes spürte er, dass er sich nicht bewegen konnte. Er versuchte es, doch gleich schnitten Seile in das nackte Fleisch.
Er öffnete die Augen, doch er konnte nichts deutlich erkennen. Es war, als würde die Luft vor ihm flimmern.
»Wo …« Seine Stimme war ein krächzendes Würgen. Er hustete und setzte von Neuem an. »Wo bin ich?«
»Am Ende deiner Reise, mein Freund.«Die Stimme, die ihm geantwortet hatte, war dumpf, doch irgendwie vertraut. Die Trommeln schlugen weiter.
Es war hell dort, wo er war, so viel konnte Nesro mittlerweile erkennen. Plötzlich verdunkelte ein Schatten das Licht. Jemand war vor ihn getreten.
»Viele, die nicht die falsche Autorität der Götter anerkennen und ihnen blind hinterhertrotten wie die blökende Herde«, erklärte die dumpfe Stimme, »sehen in der Gabe der Magie die wahre kosmologische Macht und begründen mit ihr das Vorrecht, andere zu dominieren. Das ist ebenso töricht wie selbstverliebt. Ich habe genug Zaubernde kennengelernt, um das beurteilen zu können.«
Das Trommeln setzte für einen Herzschlag aus, als wäre es beleidigt über diese Worte.
»Die wahre Macht ist der Verstand, mein Freund. Er dominiert nicht nur die Kleingeister, er ist es auch, der der Magie gebietet und uns die Fähigkeit gibt, die Welt nach unserem Willen zu formen – und dies auch völlig ohne Zauberei.«
Die Gestalt vor ihm trug eine dunkelblaue Robe mit silbernen Stickereien sowie Handschuhe aus Leder. Dort, wo das Gesicht sein sollte, nahm Nesro ein goldenes Leuchten wahr.
»Was weiß dein stumpfer Verstand über die Alchimie? Sicherlich nur das, was ihm die zwölfgöttlichen Lehren beibringen wollen: dass es die Schlangenmutter Hesinde war, die sie die Menschen lehrte. Aber wusstest du, dass unsere bosparanische Zunge die Bezeichnung aus dem Tulamidischen übernommen hat?Al’Chaminannte man die Magie des Stofflichen imDiamantenenSultanat, das Ur-Tulamidya heißt sieAl’Kimiva. Doch tatsächlich hat keines Menschen Sprache dieses Wort geprägt. Schon die kaltblütigen Echsen, die vor uns diesen Kontinent beherrschten, zischelten in den dampfenden Urwäldern der Welt das WortH’Czyme. Und es war ein auf Erden wandelnder Gott, der sie die Kunst lehrte, die Welt ihrem Willen zu unterwerfen: der goldene Drache Pyrdacor.«
Jetzt erkannte Nesro das schreckliche Gesicht. Es war ein Drachenschädel, auf dessen goldenen Schuppen sich die Feuer spiegelten. Panisch vor Angst warf er sich in seine Fesseln und schrie, bis seine Stimme versagte. Dann sackte er erschöpft zusammen.
»Hat Er sich beruhigt?«, fragte die Drachenlarve.
Schwer atmend nahm Nesro nun seine Umgebung whar. Er befand sich in einem dunklen Verlies, in großen Bronzeschalen blakten die Feuer, und auf einem Tisch standen allerlei Fläschchen und Tiegel. Erst nachdem er seinen ersten Anflug von Panik überwunden hatte, erkannte er, dass vor ihm ein Mensch stand, der sein Gesicht hinter einer goldenen Drachenmaske verbarg.
Im Hintergrund stand sein Verfolger, immer noch verhüllt, die dünnen Arme vor der unförmigen Brust verschränkt. Neben ihm auf dem Boden hockte ein Novadi, ein alter Mann von fast sechzig Jahren, dessen offen getragenes Bart- und Haupthaar von grauen Strähnen durchzogen war. Sein dürrer Körper steckte in weiten, mehrschichtigen Gewändern, ein mehrfach geschlungener, roter Stoffgürtel hielt sie zusammen. Er trug ein helles Kopftuch mit einem roten Band und vor ihm auf dem Boden stand ein Paar kleiner Trommeln, das er unablässig schlug.
Die Drachenlarve trat wieder vor Nesro und hielt eine kleine Tonflasche in der Hand. »Dies ist ein Respondarum«, erklärte die Stimme. »Ein Wahrheitselixier. Wir haben leider nicht die Zeit, jedes Wort einzeln deinem widerspenstigen Geist zu entreißen, sodass wir zu unserem großen Bedauern zu diesem weniger peinvollen Mittel greifen müssen.«
Die ledernen Hände packten Nesro und flößten ihm den Trank mit Gewalt ein. Er wollte sich dagegen wehren, doch schließlich schluckte er die bittere Flüssigkeit.
Anschließend befragte ihn die Drachenlarve und er antwortete, obwohl er sich vergeblich zu verweigern suchte. Es war, als gehörte sein Mund nicht ihm. Verraten von seiner eigenen Zunge erzählte er von dem Magister, seinem Auftrag und seinen Entdeckungen, bis sein Foltermeister, anscheinend zufrieden mit den Antworten, von ihm abließ.
»Stellt er eine Gefahr für unsere Pläne dar?«, fragte Nesros Verfolger.
»Schwer abzusehen«, sagte die Stimme hinter der Maske. »Doch wir sollten die Unternehmung nicht unnötig gefährden. Es ist sicherlich besser, wenn du dich bei Tagesanbruch umgehend auf den Weg machst, dieses lästige Problem zu lösen.«
»Nein, Wegbereiter.« Die Trommeln verstummten, und der alte Novadi erhob sich. Er sprach ein gutes Horathi mit einem rauen Einschlag. »Deine Aufgabe ist hier in Silas. Deine Kräfte und die deines Zirkels werden hier benötigt.«
»Willst du dich etwa der Sache annehmen, alter Mann?«, fragte der vermummte Verfolger spöttisch.
Der Novadi lächelte freundlich. »Nein, Sahib, diese Aufgabe ist zu wichtig, als dass ein unwürdiger Diener wie ich sie übernehmen könnte. Der Verkünder, gepriesen sei seine weit strahlende Weitsicht und Weisheit, in deren Schatten wir alle zu jämmerlichen Kreaturen verkommen, er, der das neue Goldene Zeitalter heraufdämmern sieht, wird selbst herabsteigen und vollbringen, was er keinem der Seinen zuzumuten trachtet. Und nun entschuldigt mich, es sind Vorbereitungen zu treffen. Sei dir gewiss, Wegbereiter, dass ich deine Großtat dieser Nacht nicht zu schmälern gedenke.«
Nesros müder Geist versuchte den Sinn hinter diesen Worten zu begreifen, doch ihm blieb nichts, als dem Novadi hinterherzusehen.
Auch der Vermummte blickte dem Alten nach. »Ich kann diesen elenden Sandfresser nicht ausstehen.«
»Wie du weißt, teile ich deine Ansicht, doch als Herold des Verkünders ist der Derwisch unantastbar. Zumindest vorerst.«
»Was ist mit unserem Gefangenen, Meister?«
Die Drachenlarve betrachtete Nesro aus leblosen Rubinaugen. »Er hat seinen Zweck erfüllt. Ich denke, du hast dir nach dieser Nacht ein gewisses Vergnügen verdient. Er ist ganz der Deine.«
Zwielichtgestalten
Kuslik, 20. Efferd 1032 BF
Borson schreckte auf, als ihn der Rohrstock in den Nacken traf. Nur der schwache Schein seiner fast abgebrannten Kerze kämpfte gegen die Schatten um ihn herum. Seine schläfrigen Augen brauchten eine Zeit, sich zu orientieren. Da packten auch schon fremde Finger sein rechtes Ohr und drehten es schmerzhaft.
Er wandte den Kopf und erblickte das kahle Haupt und das feiste Gesicht von Verian Fock, der im Kerzenschein wirkte wie ein Rachegeist der Göttin. Der Hochmeister ließ endlich sein Ohr los und räusperte sich mahnend.
»Ich bin doch nun wahrlich kein Novize mehr, Pater«, beschwerte sich Borson und rieb sich das schmerzende Ohr.
Den alten Hochmeister, er zählte über achtzig Winter, schien das nicht zu kümmern. »Gelehrsamkeit ist eine Tugend, Filius. Es ist löblich, dass du nach dem Weg der Erkenntnis strebst, bis du die Grenzen deiner Kräfte erreicht hast. Aber«, und dabei beugte sich die massige Gestalt drohend vor, »ich dulde es nicht, dass dein Speichel die Werke Ihres und unseres Wissens ruiniert.«
Die letzten Worte donnerten durch die dunklen Hallen der Gelehrsamen Stube. Borson duckte sich und strich sich verlegen über die grün-goldene Robe. Ein scheuer Blick zu dem Buch, über dessen Lektüre er eingeschlafen war, zeigte ihm einen feuchten Fleck auf dem kostbaren Pergament. Unwillkürlich rieb er sich die linke Wange, auf der er Tintenflecke wie ein Mal der Schande erwartete.
»Verzeih, Pater.«
Hochmeister Verian winkte seine Worte herrisch ab. »Begib dich in Klausur, auf dass die Göttin dir verzeiht. Und dann bette dein Haupt auf weniger kostbare Kissen.«
Als Borson aufstand, stieß er mit dem Fuß gegen die bauchige Weinflasche, deren Inhalt seinen Geist weitaus mehr erbaut hatte als die Nachforschungen, die er für Pater Ammarantes betrieben hatte. Einen bangen Augenblick lang zitterte das irdene Gefäß, unentschlossen, ob es umfallen oder stehen bleiben wollte. Die Flasche tat ihm den Gefallen, ihn vor dem Hochmeister nicht noch mehr bloßzustellen. Eilig nahm er den kostbaren Schatz an sich und eilte davon, Verians Blick im Nacken. Er scheute sich, die Kerze mitzunehmen, denn er wollte den alten Pater nicht im Dunkeln stehen lassen, obwohl dieser sich wohl weitaus besser in der Gelehrsamen Stube zurechtfand als er selbst. Borson benutzte nur die großen Gänge und widerstand der Versuchung, Abkürzungen zu wählen, um sich nicht im Dunkeln in der größten Bibliothek des Kontinents zu verirren und vielleicht noch einmal auf den Hochmeister zu treffen. Bald jedoch fiel Mondlicht durch die größeren Fenster und seine Augen hatten sich genügend an das Zwielicht gewöhnt, dass er forscher ausschreiten konnte.
Immer wieder rieb er sich abwechselnd das Ohr und die Wange, bis ihm bewusst wurde, was er tat, und es dann beschämt unterließ. Er war schließlich wirklich kein Novize mehr, sondern Lizentiat der Universität von Methumis, Geweihter der Allweisen Herrin Hesinde und Jünger des Heiligen Drachenordens. Aber für Verian Fock, der seit Jahrzehnten der Bibliothek vorstand, blieben wohl alle, die die Gelehrsame Stube aufsuchten, rüpelhafte Novizen, die nicht den nötigen Respekt aufbrachten für das angehäufte Wissen. Grinsend stellte Borson sich vor, wie Verian reagiert hätte, hätte er nicht ihn, sondern die Magisterin der Magister vorgefunden. Wahrscheinlich hätte er die Erhabene des Kultes ebenso zurechtgewiesen wie ihn.
Die Vorstellung beschwingte seinen Schritt. Er ließ den letzten Rest des Rebenblutes in seine Kehle fließen und spielte mit dem Gedanken, die Klausur im Weinkeller abzuhalten, als er bemerkte, dass er sich in der Galerie der Erhabenen befand. Von den Gemälden herab prüften ihn die verstorbenen und entrückten Magister der Magister im Mondschein mit strengem Blick. So schien es Borson jedenfalls, und er schämte sich gleich. »Da habe ich wohl für viel um Verzeihung zu bitten«, murmelte er und schritt mit gesenktem Haupt weiter.
Er mied den großen Schlangensaal, in dem sich auch zur Nacht noch viele Geweihte in Versenkung antreffen ließen. Aber auch der Gedanke an seine enge Stube behagte ihm nicht. So wandte er sich der Halle des Drachen zu, die am Rand des Tempelkomplexes lag und den Mitgliedern seines Ordens vorbehalten war.
Im Schlussstein des Portals war das Wappen des Ordens eingelassen: eine Schlange, die sich dreimal um zwei Schriftrollen wand. Das Portal stand leicht offen, und heller Schein drang aus der stets erleuchteten Halle durch den Spalt nach draußen.
Borson stutzte, als er eintreten wollte. Ein seltsamer Geruch störte seine Nase, viel beißender als das Weihekraut, das üblicherweise verbrannt wurde. Dann jedoch schalt er seine Nase eine Närrin und trat ein.
Die Halle des Drachen war ein beeindruckender Saal, auch wenn er natürlich gegen die Pracht des Schlangensaals verblassen musste. Die Mittelsäulen der spitzgiebligen, gekuppelten Fenster stellten die Allweise Göttin selbst und ihr heiliges Gefolge dar: ihre Tochter Mada, die den Sterblichen die Magie gebracht hatte, den Hohen Drachen Naclador, Hesindes Gemahl und Verfechter der Wahrheit, ihre Söhne Nandus, Patron der Erkenntnis, und Xeledon den Spötter, der den Sterblichen ihre Unvollkommenheit zeigte, sowie die drei Erzheiligen Canyzeth, Argelion und Cereborn. In einem Halbrund der Halle stand ein großer Tisch, dessen Platte sich unter zahlreichen Folianten bog, in einem anderen zwei riesige Regale sowie die Statuen Hesindes und Canyzeths.
In der Mitte des Raumes ruhte auf einem goldenen Dreifuß der Umbilicus, eine glänzende, zehn Finger durchmessende, schwarze Kugel, eines der heiligen Artefakte der Kirche. Und daneben stand ein Mann, der Borson nicht minder überrascht ansah als dieser ihn.
Der Fremde war groß und hager. Als Zeichen seines Standes stütze er sich auf einen mit Glyphen verzierten Magierstab mit eingelassener Kristallkugel und trug ein abgetragenes, graues Reisegewand. Das Alter des Magiers ließ sich schwer einschätzen, er konnte ebenso dreißig wie vierzig Winter gesehen haben. Das Gesicht war eingefallen, die Gesichtsfarbe ungesund und die Blick der braunen Augen trüb, als wäre der Mann von schwerer Krankheit gezeichnet. Zudem wirkte er nachlässig, war unrasiert, die Robe saß schlecht und das braune Haar stand zu allen Seiten ab. In einem Mundwinkel qualmte ein Zigarillo und verbreitete den fremden Geruch, der Borsons Nase so empfindlich gestört hatte.
Für einen Moment starrten sich die beiden Männer an und Borson fragte sich, ob der Wein seinen Sinnen einen Streich spielte. Dann legte der Unbekannte den Zeigefinger an die Lippen und flüsterte: »Silentium.«
Schlagartig war es Borson, als habe man ihm einen seiner Sinne geraubt. Jegliches Geräusch war verschwunden: das leichte Prasseln der Leuchtschalen ebenso wie das Rascheln der Robe. Er hatte theoretische Magie studiert und begriff deshalb schnell, was mit ihm passiert war. Doch durch die unverhoffte nächtliche Begegnung war er wie gelähmt. Taub taumelte er einen Schritt zurück. Die Weinflasche glitt ihm aus der Hand und zerschellte geräuschlos am Boden.
Der Fremde wandte sich dem Umbilicus zu und griff nach der schwarzen Kugel.
Borsons Gedanken rasten.Ein Tempelräuber in der Heiligen Halle des Drachen!Und nun schickte sich der Frevler an, den Umbilicus zu rauben, der als Nabel der Glaubenswelt Verehrung bei allen fand, die der Großen Weberin nahestanden. Nicht einmal das Rauschen seines Blutes hörte Borson, noch sein wild schlagendes Herz. Er horchte in sich hinein, suchte die Stimme Hesindes.Ich bin ein Verteidiger Ihrer Lehren, Verwahrer des Heiligen Wissens! Ein Jünger Nacladors!Doch die Göttin schwieg.
Borson griff nach der Basiliskenzunge, dem gewellten Dolch, den er zu seiner Weihe erhalten hatte, und zog ihn aus der Scheide. Aber er stürmte nicht vor, sondern blieb unentschlossen stehen.
Der Magier musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. Er nahm einen tiefen Zug von dem Zigarillo und schüttelte dann grinsend den Kopf. Wieder einmal fühlte sich Borson wie ein bloßgestellter Novize. Der Blick des Fremden wanderte zu der Statue Hesindes, als wären sie alte Bekannte und es gebe etwas zwischen ihnen zu verhandeln.
Dieser Frevler spielte mit ihm und Borson wollte sich das nicht länger gefallen lassen. Gerade wollte er sich dem Feind entgegenwerfen, als sich dieser wieder zu ihm umdrehte und den Magierstab hob. Borson zögerte. Was plante der Magier? In seinem Kopf drehten sich die Gedanken. Er versuchte sich an die gängige Zauberpraxis der Magier zu erinnern und die Geste einem Zauber zuzuordnen. Tonlos formten die trockenen Lippen des anderen einen Spruch.
Dann riss der Magier den Stab nach links. Borsons Körper spannte sich, doch er hatte sich in seinen Überlegungen verstrickt. In diesem Moment traf ihn etwas am Kopf. Er wurde von den Beinen gerissen und schlug hart auf dem Boden auf. Seine linke Gesichtshälfte brannte wie Feuer, und er konnte kaum atmen. Die Sinne drohten ihm zu schwinden, doch er kämpfte dagegen an.
Der Umbilicus! Hesinde, Herrin, gib mir Kraft!
In Borsons Gesichtsfeld beugte sich der fremde Magier mit seinem hageren Gesicht. Er seufzte. Dann holte er mit dem Stab aus und schlug zu.
***
Kuslik, 21. Efferd 1032 BF
»Die Sonne geht bald auf.«
Der Traum endete. Es war nicht einmal wirklich ein Traum gewesen, mehr eine unbestimmte Ahnung im Halbschlaf. Etwas Beunruhigendes, das sie jedoch nicht zu fassen bekam. Doch die sanfte Stimme ihres Geliebten führte Avesa zurück in die Geborgenheit. Sie schmiegte sich fest an Horadan.
»Schon?«, murmelte sie mit Bedauern. »Damit bin ich nicht einverstanden.«
Horadans leises Lachen tönte angenehm in seiner Brust. »Erkläre das dem Götterfürsten. Ich glaube, er ist da unerbittlich.«
»Er ist ungeduldig. Er hat der Nacht kaum Zeit gelassen.«
»Ich denke eher, wir haben nichts an dieser Nacht vergeudet.« Horadan küsste ihr das Haupt.
Avesa seufzte und ließ sich in die Zärtlichkeiten gleiten. Einander haltend verharrten sie in dem Bett. Für Avesa schien es keine Zeit zu geben. Sie wusste, dass sie sich bald lösen mussten. Horadan musste in die Garnison zurückkehren, und sie wollte nicht Meister Valbertos morgendliche Launen herausfordern. Zwar war sie nicht mehr seine Novizin, sondern hatte die Prüfung zur Adepta der magischen Kunst bestanden, aber das hielt Valberto nicht davon ab, alte Gepflogenheiten fortzuführen.
Doch selbst mit dieser Gewissheit konnte sie den Moment nicht loslassen. Sie weigerte sich, ihn verstreichen zu lassen. Natürlich war es ein trotziges Aufbegehren gegen den Fluss der Zeit, aber in ihr wurden diese letzten, kostbaren Augenblicke zur nicht endenden Ewigkeit.
»Ich muss zur Garnison«, sagte Horadan.
»Ich weiß«, antwortete Avesa, und keiner von beiden rührte sich. Schließlich gab sie ihn frei, schälte sich aus seiner Umarmung und stand auf. »Jetzt steh schon auf, du fauler Hund. Und einer wie du will uns Bürger schützen.« Avesa blickte auf ihn herab und lachte. »Verführt junge Magierinnen, schleppt sie in billige Gasthäuser und verschläft seinen Dienst!«
Horadan lachte ebenfalls, dann schwang er sich auch aus dem Bett. Beide standen sich nackt in der kleinen Kammer gegenüber, die sie für die Nacht gemietet hatten. Ihr Gardist sah einfach unverschämt gut aus, befand Avesa und spürte, wie sich das Verlangen wieder in ihr regte. Horadan bedachte sie mit einem sanften Lächeln und in seinen dunklen Augen blitzte es schelmisch. Dieses Lächeln hatte sie schon beim ersten Mal bezaubert, und sie drohte, wieder schwach zu werden.
Avesa riss sich von dem Anblick los. »Übergieß dich mit kaltem Wasser, sonst kommst du heute nicht mehr zum Dienst.« Dann sortierte sie das Bündel Stoff auf dem Boden nach ihren und seinen Kleidern.
Horadan passte so gar nicht zu den anderen Gardisten, diesen derben Hurenböcken, die zwar auf der anderen Seite des Gesetzes standen, sich aber nicht besser benahmen als die Freunde ihres Vaters. Er strahlte eine sanfte Intelligenz und eine tiefe Ruhe aus, als könne er mit einem einzigen Wort jegliches Problem lösen.
Nachdem sie sich ihre graue Robe angezogen und den Gürtel um die Taille gebunden hatte, setzte sie sich vor den stumpfen Messingspiegel und richtete ihr rebellisches, rotbraunes Haar. Sie betrachtete skeptisch das Ergebnis, dann flocht sie die Haare unzufrieden zu einem Zopf.
Horadan trat hinter sie und fuhr mit den Fingern über das Feuermal, das seit ihrer Geburt ihre rechte Schläfe schmückte.
»Mein Vater hat immer gesagt, das Feuer hat mich geküsst. Das bedeutet, dass man meine Leidenschaft nur mit Gewalt löschen kann, aber nicht zügeln.« Sie lächelte. »Es ist ein alter Aberglaube seiner Heimat.«
Ihr Geliebter beugte sich runter. »Diesen Aberglauben kann ich bestätigen«, flüsterte er. »Wann lerne ich deinen Vater kennen?«
Avesa überraschte Horadan, als sie abrupt aufstand und sich zu ihm umdrehte. Er trug mittlerweile Uniform und Rüstzeug der Stadtgarde. Nur der Messinghelm mit dem roten Busch, dem die ›Roten‹ ihren Beinamen verdankte, fehlte noch.
»Du kennst ihn wahrscheinlich schon, wenn du mal einen albernischen Saufbold mit rotem Bart in Gewahrsam genommen hast.« Sie strich ihm über die Wange und spürte die Bartstoppeln unter ihren Fingern. »Wir haben darüber doch schon oft gesprochen. Er ist Teil meines alten Lebens in Aldtenküslich.«Eines Lebens, das nicht hierhin gehört.
Horadan blickte sie ernst an. »Ich will dich zur Gänze. Und diese Vergangenheit gehört zu dir.«
Sie lächelte.»Natürlich. Aber du gehörst nicht nach Aldtenküslich. Das ist eine andere Welt.« Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. »Abmarsch zum Dienst, Roter! Ich begleite dich zur Garnison, damit dir unterwegs nichts geschieht.«
Avesa schnappte sich ihren Magierstab, Horadan seinen Helm, und gemeinsam verließen sie das Gasthaus. Cusmara, die Wirtin, fegte gerade vor der Tür, als die beiden heraustraten.»Früh auf den Beinen seid ihr wieder einmal, Kinderchen. Man könnte denken, ihr hättet nicht geschlafen.« Dabei zwinkerte sie verschwörerisch.
»Liebe Frau Cusmara, das bleibt unser Geheimnis«, erwiderte Avesa und zwinkerte zurück. Die stämmige Wirtin lachte.
»Habt auch einen schönen Tag!«
Avesa hakte sich bei Horadan ein, und gemeinsam schritten sie die Straße zur Alten Burg, wo sich auch das Wachhaus der Stadtgarde befand. Der Legende nach war der älteste Teil der Kusliker Oberstadt vom Heiligen Horas selbst erbaut worden, doch wenn dem so war, hatten sich spätere Stadtherren deutliche Mühe gegeben, alle Spuren des Erzheiligen zu verwischen.
Noch waren die Gassen weitgehend leer, aber am Fuße der Alten Burg tummelten sich bereits weitere Rote. Unter ihnen befand sich auch Leorindo, ein dicker Gardist mit langem, schmierigem Haar, dessen Harnisch den Bauch nur mühsam zusammenhielt. Avesa konnte ihn nicht ausstehen, zumal er jedem Rock nachstieg.
Es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Unter den Rufen und Pfiffen der anderen Gardisten küsste Avesa ihren Horadan lang und innig.»Das ist meine Magie, die dich beschützen wird«, flüsterte sie.
»Ich spüre, wie sie wirkt«, antwortete er ebenso vertraulich. »Ich bin unverwundbar.«
Horadan ging den Weg hinauf zur Festung, und Avesa blieb stehen, um ihm nachzusehen. Als er verschwunden war, sog sie die frische Luft des Morgens ein. Sie liebte die Stunden des frühen Tages, wenn der Himmel noch nicht seine eigentliche Farbe gewonnen hatte und eine erfrischende Kälte in die Glieder kroch. Mehr noch, wenn sie selbst kaum oder gar nicht geschlafen hatte. Der letzte Tag klang noch nach, während der neue erwachte. Sie befand sich dann in einer Zwischenwelt, nicht gestern, nicht heute. Alles war nah und doch irgendwie fern, und es schien nichts Böses zu geben.
Avesa überlegte kurz, ob sie sich direkt auf den Weg zum Haus von Meister Valberto machen sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen. Die Tore der Oberstadt waren schon geöffnet, und sie wollte einen Umweg hinunter zum Hafen und durch Aldtenküslich nehmen. So trat sie hinaus in die Unterstadt. Sie konnte die unzähligen, dicht gebauten Häuser mit ihren roten Ziegeldächern bis zum Hafen überblicken, in dem Schiffe aus aller Herren Länder vor Anker lagen. Jenseits der wehrhaften Kaimauern lag das Meer der Sieben Winde und dahinter der Horizont.
Weitere Nachtgestalten füllten die Gassen mit Leben, Zeugen der dunklen Stunden. Übrig gebliebene Zecher, Liebesdiener, die die Läden ihrer Fenster schlossen oder sich einen Mantel überwarfen und heimgingen, ein Thorwaler Seebär, der fluchend zum Hafen eilte, aber auch Straßenhändler, die ihre Stände aufbauten. Menschen des Zwielichts, genau wie Avesa.
Eine salzige Brise strich durch die Gassen und zerrte an ihrem Haar.Welcher der sieben Winde wohl hier eine seiner Bräute ausgeschickt hat?,fragte sie sich unwillkürlich und musste lächeln. Als sie klein war, hatte ihr Vater ihr immer von den Windsbräuten erzählt. Sie sollten launischer sein als der Meeresgott Efferd selbst, aber auch ein neckisches Gemüt besitzen, und manchmal stahlen sie sich davon, um ihren Schabernack mit den Menschen zu treiben. Glaubte man den Geschichten ihres Vaters – und als Kind hatte sie dies immer getan –, hatte sich eine der Windsbräute einst in ihn verliebt. Doch ihr Gemahl, der stürmische Beleman, bekam davon Wind (über dieses Wortspiel musste ihr Vater immer donnernd lachen). Er wollte Rache nehmen an dem, der ihm Hörner aufgesetzt hatte. So musste ihr Vater das heimatliche Albernia verlassen und kam nach Kuslik. Natürlich fand die Erzählung ein glückliches Ende, denn hier hatte er schließlich Avesas Mutter kennengelernt.
Avesa war schon lange kein Kind mehr. Sie war ausgebildete Magierin und assistierte einem gelehrten Magister. In ihrem Leben hatte sie wahrscheinlich mehr Bücher gelesen, als ihre gesamte Familie und ihre Jugendfreunde zusammen kannten. Aber sie liebte immer noch die Geschichten ihres Vaters, in denen die Mysterien nicht wissenschaftlich hinterfragt wurden.
Während sie in das Viertel ihrer Kindheit hinunter schritt, kam es ihr wieder einmal vor, als sei sie das Kind dreier Welten. Sie entstammte den Geschichten ihres Vaters, der gelehrten Welt der Oberstadt und ebenso Aldtenküslich, den Gassen ihrer Kindheit. Sie kannte Orte und Personen, die ihr Horadan nie zu Gesicht bekommen würde. Wenn sie der faszinierenden, aber etwas angestaubten Welt der Bücher entfliehen wollte, ging sie oft nach Aldtenküslich und besuchte ihre Familie und alte Freunde. In Brigonis, wo sie im Haus von Meister Valberto wohnte, rümpfte man darüber die Nase, doch Avesa nahm dies gelassen hin. Sie lebte in allen Welten.
Sie hatte fast den Hafen erreicht, und der leicht salzige Geschmack der Luft wurde intensiver. Kaum hatte sie denTanzenden Bärenpassiert, ein Freudenhaus für solche Matrosen, deren Heuer nicht hoch ausfiel, drang eine wohlmodulierte Stimme an ihr Ohr. Avesa erkannte sie sofort – und seufzte.
»Ihr meint, verwerflich sei’s, sich zu verstellen?
Soll gar ein Zeichen niedren Geistes sein?
Doch bietet Phexens List in manchen Fällen
uns wahrlich einen Nutzen, gar nicht klein.
Sie kann vor Tod und Schaden uns bewahren,
mag auch Herr Praios andrer Meinung sein.
Denn wie die Welt ist auch das Leben voll Gefahren,
und wo du Freunde wähntest, stehst du oft allein.«
Auf einer Holzkiste stand ein Mann und rezitierte einen Theatermonolog. Seine Kleidung war einmal sehr ausgewählt gewesen, doch nun war sie heruntergekommen, auch wenn man ihr anmerkte, dass ihr Träger sich die verzweifelte Mühe gab, sie in Form zu halten. Die Ellenbogen der Ärmel waren durchgescheuert, Nähte aufgerissen und Löcher wiederholt gestopft. Ein Schal lag wie die Stola eines Geweihtenüber seinen Schultern. Das ungeschickt geschnittene, dunkelgraue Haar war ungekämmt, im gestutzten Bart hatten sich Speichelfäden und Essensreste verfangen, vielleicht auch Erbrochenes – Avesa war sich aus der Ferne nicht sicher. Der Erscheinung schien ein gräulicher Film anzuhaften, wie es öfters bei einsamen Männern vorkommt.
Es war Melponeo Cuslicum, der beste Freund ihres Vaters.
Da sich kein anderes Publikum für ihn fand, stellte sich Avesa vor die Holzkiste. »Du bist früh auf den Beinen, um die Wahrheit der Dichter zu verkünden«, sprach sie in eine seiner Pausen.
Melponeo, der sich ganz in sein Spiel verloren hatte, funkelte sie erst erbost an, doch dann erkannte er sie und lachte. »Die Zeit des Künstlers ist die Nacht, leider neigen die meisten Menschen in dieser Zeit zum Schlafen.«
»Und da wolltest du den Menschen ihr beginnendes Tagwerk versüßen, wo doch die Nacht für dich noch kein Ende gefunden hat?«
Melponeo wankte auf seiner Kiste und hob erklärend den Zeigefinger.»Kunst ist keine Frage der Verabredung, sondern der Inspiration. Und gerade eben fühlte ich mich inspiriert, die Worte des großen Dichters Valessandro d’Orastio zu verbreiten, nein, ich will sagen, zu erhalten, denn dieser verkannte Meister seiner Zeit darf der Vergessenheit nicht anheimfallen. Aufgabe der Kunst ist nicht nur das Unterhalten, sondern auch das Belehren und Bewahren, wie es uns die Allweise Herrin …«
Weiter kam Melponeo nicht, denn im nächsten Moment brach der Boden der Holzkiste und er stürzte. Avesa ließ ihren Stab fallen und sprang vor, um den Sturz abzufangen. Es gelang ihr auch, ohne sich selbst Blessuren zuzuziehen, doch nun lag ihr Melponeo wie ein nasser Sack in den Armen. Aus der Nähe sah sie, dass tatsächlich Erbrochenes in seinem Bart klebte. Sein strenger Geruch störte sie nicht, doch er zeigte ihr, wie er die letzten Nächte verbracht hatte. Das ließ Schlimmes für ihren Vater befürchten.
»Lieber Oheim, man dankt dir für deine Mühe«, raunte sie ihm zu. »Aber nun fällt der Vorhang und ich bringe dich heim, ehe du auch noch fällst.«
»Du hast die Güte deines Vaters, Kind.«
»Und den Verstand meiner Mutter. Jetzt gib dir Mühe, aufrecht zu stehen!« Hatte er sich während seines Vortrags noch gerade gehalten, wankte Melponeo jetzt wie in schwerem Seegang. Die Leidenschaft des Schauspielens erlosch. Avesa lehnte den Freund ihres Vaters an die Hauswand und fingerte mit der einen Hand nach ihrem Magierstab, während sie mit der anderen Melponeo zusätzlich stützte.
Es wird Zeit, die Technik zu erlernen, dass mein Stab auf Befehl zu mir kommt, dachte sie.Das würde Situationen wie diese erleichtern.
»Halt dich fest, Oheim, es geht los.«
Magierin zu sein hatte deutliche Vorteile. Der Stab war nicht nur Standessymbol, er war auch nützlich, wenn man einen schwer betrunkenen Mann nach Hause geleiten musste. So konnte Avesa einen Teil des Gewichtes abfangen, indem sie sich auf ihren Stab stützte.
Während sie durch die engen Gassen gingen, dort, wo nur wenige Händler Straßenstände aufzustellen wagten, murmelte Melponeo vor sich hin. »Im Residenztheater habe ich oft den Brassiano gespielt, eine wunderbare Rolle. Tragisch und doch witzig. Sehr unterhaltend, ein Spaßmacher, doch dahinter verbirgt sich eine große Traurigkeit. D’Orastio zeichnete diesen Charakter sehr genau. Er schuf ihn aus der Wirklichkeit, ein Menschheitsbild. Sogar bis nach Vinsalt gingen wir damit auf die Bühne!«
Avesa mochte den alten Mann. Er klang nie wirklich betrübt. Sein Leben war eine Katastrophe, doch bei allen Gefühlen vergaß er die Traurigkeit. Er konnte sich ereifern über Mäzene mit dem Kunstverständnis eines tobrischen Schafhirten, über Intrigen anderer Schauspieler, die ihn zu Fall brachten, oder über das Vergessen, das sich über von ihm verehrte Dichter legte. Doch sein Selbstmitleid stellte er nie aus. Er wurde nur irgendwann müde, dann schlief er recht bald ein. Aber tatsächlich war er in eine andere Welt geflüchtet, so eine, wie ihr Vater sie erschuf. Dort galt eine andere Zeit, und Melponeo lebte dort glücklich. Nur die diesseitige Pforte zu dieser fernen Welt sah aus wie ein heruntergekommener, gescheiterter Schauspieler.
Plötzlich erwachte wieder Leben in ihm. Er straffte sich und löste sich überraschend aus Avesas Halt.
»Aldtenküslich! Ich liebe dieses Viertel!«, rief er mit lauter Stimme. Von irgendwoher erklang der Ruf, er möge die Klappe halten.
Melponeo funkelte Avesa schelmisch an.»Weißt du, warum Aldtenküslich heißt, wie es heißt? Vergiss, was deine gelehrten Bücher dir sagen, die sind samt und sonders von Lügnern geschrieben. Hier stand einmal ein Dorf. Ganz Kuslik war einmal viele kleine Dörfer. Und die Leute hier hatten einen Brauch, immer zum Fest der Freuden im Rahja. Da wurde ein fescher, junger Mann des Dorfes per Los zum ›Küssdich‹ bestimmt. Und jedes Weibsbild, das ihn fing, bekam einen Kuss von ihm. ›Halt den Küssdich‹, nannten sie das Spiel, und es machte das Dorf weit über seine Grenzen hinaus berühmt. Aber ach, so wie es mit der Sprache ist, sie verfällt wie ein ungenutzter Tempel. So wurde aus ›Halt den Küssdich‹ schließlich ›Aldtenküslich’, und das Dorf kam zu seinen Namen.«
Avesa rollte die Augen. Das Wortspiel war schon schlecht gewesen, als sie es zum ersten Mal gehört hatte, und das war sicherlich fünfzehn Winter her. Doch sie tat dem alten Mann den Gefallen und lächelte. »Dass du diese Wahrheit noch nicht in der Halle der Weisheit vorgetragen hast.«
Melponeo zuckte mit den Schultern.»Ich war dort, doch sie schmissen mich raus. Ich wittere eine Verschwörung!« Er kicherte und ließ sich dann unvermittelt wieder an Avesas Schulter fallen, die fast mit ihm gestürzt wäre.
***
»Ich bringe Seiner königlichen Majestät den Saufkumpanen als Bettgenossen!«
Schnaufend drückte Avesa die Tür zu der kleinen Stube auf, in der ihre Familie wohnte, Melponeo mit sich schleifend. Aus dem nächsten Raum erklang das rasselnde Schnarchen eines Drachen. Ihr Vater hatte also heimgefunden.
Avesas Schwester Invher erschien in der Wohnkammer. Sie war sechs Jahre jünger als Avesa, hatte vor drei Wochen ihren vierzehnten Tsatag gehabt und war so rebellisch wie die Königin, deren Namen sie trug. In den selbstbewusst getragenen, zerschlissenen Hosen und mit dem ungezähmten Rotschopf war sie das wilde Mädchen, das auch Avesa geworden wäre, hätte man nicht ihre magische Begabung entdeckt.
»Ich will diesen stinkenden Knochensack nicht hier haben«, fauchte sie zur Begrüßung.
»Dieser stinkende Knochensack ist Onkel Melpo, und jetzt hilf mir, ihn abzulegen. Zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk ist er mir eingeschlafen, die letzten Treppen waren wahrlich keine Freude.«
Invher schmollte, half ihr aber schließlich. Gemeinsam legten sie Melponeo auf das Stroh neben den Vater. Durch die löchrigen Vorhänge fiel leichtes Sonnenlicht in das Zimmer. Ihr Vater war ein massiger Berg, und ein Sonnenstrahl brachte den roten Bart lodernd zum Leuchten. Avesa beugte sich hinunter und gab dem schnarchenden Koboldkönig einen Kuss auf die Stirn. Dann standen sich die Schwestern wieder in der Wohnstube gegenüber.
»Wie geht es dir?«, fragte Avesa und klopfte sich die Robe ab.
Invher zeigte ihr die Zähne. »Sei unbesorgt, ich bringe schon Taler heim, die der Alte versaufen kann.« Invher arbeitete als Waschmagd und ernährte seit dem Tod der Mutter sich und ihren Vater. »Ich verschulde mich nicht wie du.«
Wut kam in Avesa auf. Musste das garstige Ungeheuer diesen schönen Morgen ruinieren? Sie waren unzertrennlich gewesen, doch dann wurde Avesas magische Begabung entdeckt. Zwar hatte sie an keiner der Magierakademien Kusliks die Aufnahmeprüfungbestanden, doch Meister Valberto hatte sich ihrer persönlich angenommen. Die Kosten der Ausbildung musste sie freilich zurückzahlen, aber wenn sie bald eine gute Anstellung als Leibmagierin fand, wäre das nur eine Frage der Zeit. Dann könnte sie auch ihrer Familie helfen und sie aus diesem Leben herausholen.
Ihr Vater war unbändig stolz auf sie, so sehr, dass es ihr manchmal peinlich war. In jungen Jahren hatte sich auch an der Beziehung zu Invher nichts geändert, doch irgendwann war es zum Bruch gekommen, den sich Avesa immer noch nicht erklären konnte. Seitdem stritten sie häufig.
Heute jedoch hatte Avesa darauf keine Lust. »Schweig, du Goblin! Du bist doch bloß neidisch.« Ehe Invher etwas erwidern konnte, streckte sie ihr die Zunge heraus und verschwand aus der Wohnung. Während ihre Schwester in ihrem Rücken schimpfte, eilte Avesa hüpfend die Stufen hinunter und tauchte wieder in die Gassen Aldtenküslichs ein. Ihr kleiner Umweg war zu einem großen Umweg geworden, und nun musste sie sich beeilen. Meister Valberto erwartete sie zwar nicht in aller Frühe zurück, aber manchmal konnte der Alte sehr launisch sein. In seinen Augen blieb sie wohl immer ein unbelehrbares, unaufmerksames Kind. Den letzten Abend hatte er ihr freigegeben, was durchaus geschah, wenn er mit sich undseinen Gedanken im Haus allein sein wollte. Avesa war es recht gewesen – so hatte sie sich mit Horadan treffen können.
Ein anwachsender Strom von Menschen begleitete sie mittlerweile auf ihrem Weg durch die Gassen. Kuslik war erwacht. Avesa sah Laufburschen der Kaufherren aus Curonia, Lastenträger und Tagelöhnerinnen, Seesöldner sowie Bürger, die zu ihrem Tagesgeschäft eilten. Der Morgen war weiter fortgeschritten als geplant, und nun musste sie sich beeilen, denn Brigonis lag am anderen Ende in der Oberstadt.
***
Avesas Weg führte sie in das Tempelviertel Brigonis, den südöstlichen Teil der Oberstadt. Sie passierte die in einem eher unauffälligen Gebäude untergebrachte Halle der Metamorphosen, eine traditionsbewusste Zauberschule, die dem Weg der rechten Hand folgte, und ging ehrfürchtig an der Halle der Weisheit vorbei. Der langgezogene Sakralbau erstreckte sich über einhundert Schritt in die Länge und ragte drei Stockwerke auf. Dies war der größte und prächtigste Tempel der weisen Göttin Hesinde, Schutzpatronin der Wissenschaften, der Künste und der Magie. Sie war der Nabel der hesindianischen Welt, hier residierte die erhabene Magisterin der Magister, und über vierzig Generationen von Geweihten hatten mit der Gelehrsamen Stube die größte Bibliothek des Kontinents geschaffen.
Avesa wandte sich nach Norden. Rechterhand erstreckte sich der von wildem Wein und Wildrosen geprägte Garten des Rahja-Tempels, der sich in zartem Rosa zwischen dem Grün und Rot hervorhob. Das Göttinnenhaus der Herrin von Rausch und Liebe weckte Erinnerungen an die letzte Nacht und gemahnte Avesa, der Lustvollen zu danken – geopfert hatte sie ihr schließlich schon reichlich.
Sie lenkte ihre Schritte in einen der unzähligen kleinen Parks, die Brigonis durchzogen. Hier trafen sich im Schatten der Bäume Liebende, Dichter sannen am Rand eines kunstvollen Brunnens über ihr nächstes Werk und Gelehrte wanderten, im Disput vertieft, über die Kieswege. Eine andere Lebendigkeit prägte Brigonis, sie war feingeistiger, und dennoch erschien sie Avesa ebenso flüchtig wie das derbe Leben in Aldtenküslich.
Durch einen Torweg betrat Avesa den von Häusern umstandenen Innenhof. Auch hier gab es Bäume und einen kleinen Brunnen, der jedoch nicht so schmuckvoll war. An der anderen Seite des Hofes befand sich der Eingang zu dem schmalen Haus, das Valberto gehörte und in dem auch Avesa wohnte.
Sie wollte gerade nach ihrem Schlüssel fingern, da erinnerte sie sich an die Tageszeit. Uviala, die gute Seele, würde sicherlich schon aufgesperrt haben. Und tatsächlich fand Avesa die Tür offen vor. In dem schmalen Hausflur stellte sie ihre Stiefel ab und hängte ihren Mantel auf.
Direkt linker Hand befand sich die Küche des Hauses, und beim Blick durch die offen stehende Tür regte sich Avesas leerer Magen.Es ist keine schlechte Idee, wenn ich mich stärke, bevor ich Meister Valberto begegne.
»Uviala?«, fragte Avesa, als sie eintrat. »Muhme?«
Die alte Zahori war nicht zu sehen und saß auch nicht auf ihrem Lieblingsplatz neben der Tür. Es sah nicht aus, als habe sie sich schon um das Frühstück gekümmert, und das machte Avesa stutzig. Es passte so gar nicht zu ihr.
Avesa ging um den Tisch in der Mitte der Küche herum und taumelte zurück. Auf dem Boden ausgestreckt lag Uviala in ihren bunten Röcken. Um sie herum hatte sich ein dunkler Fleck auf dem Steinboden ausgebreitet.
Bei den Heiligen, sie ist gestürzt!,schoss es Avesa durch den Kopf.Sie liegt hier und Valberto hat nichts mitbekommen.
Erschrocken kniete sie sich neben die Dienerin. Uviala lag auf dem Bauch und rührte sich nicht. »Sag etwas, Muhme«, bat Avesa. »Ich bin es, deine Avesana. Kannst du mich hören?«
Vorsichtig hob sie den Oberkörper an und drehte Uviala um. Im nächsten Moment ließ sie von der alten Frau ab. Sie presste sich den Ärmel ihrer Robe an den Mund und unterdrückte das Würgen. An der Stelle der Kehle befand sich an Uvialas Hals nur noch eine dunkel klaffende Wunde.
Avesa war starr vor Schreck und konnte den Blick nicht von der Zahori wenden. Die alte Dienerin blickte mit weit aufgerissenen Totenaugen zurück.
Dann hörte Avesa das Geräusch. Ein Husten von oben.
Der Mörder, blitzte ein Gedanke als absolute Wahrheit auf.Er ist noch im Haus – und bei Meister Valberto!
Als sie die Gefahr erkannte, wurde sie ruhig. Sie war ein Kind Aldtenküslichs und keine verhätschelte Pfeffersacktochter! Ihre erste Leiche hatte sie mit vier oder fünf Jahren gesehen, als eine Matrosin während einer Messerstecherei vor dem Haus ihrer Eltern verblutet war. Das Leben in der Unterstadt war rau und hatte sie früh die Regeln der Gosse gelehrt. Und außerdem war sie eine Magierin.
Sie erhob sich leise, nahm ihren Stab auf und schlich in den Flur. Von oben hörte sie Schritte, die sich der Treppe näherten, und wieder ein Husten. Sie achtete sehr genau darauf.Das klingt nicht wie Meister Valberto.
Vorsichtig huschte sie an der Treppe vorbei und verbarg sich in deren Schatten, während über ihr die Dielen knarrten.Der erste Moment ist der entscheidende, dachte sie und versuchte sich zu erinnern, wann sie diese Lehre verinnerlicht hatte. Vielleicht in Aldtenküslich, an dem Tag, als sie auf den Geiermann getroffen war.
Schritte kamen die Treppen hinunter. Es wurde ernst. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf das, was kommen würde – und auf den Zauber, den sie wob. Den Stab in der Rechten, ballte sie die Linke zur Faust und hob sie wie zum Schlag. Als Kind hatte sie viele Raufereien gewonnen, auch gegen Jungs. Sie war die Tochter des Koboldkönigs.
Sie spürte den astralen Fäden nach, die in ihr pulsierten. Das leise Pochen der Kraft war stets da, wie ein zweiter Herzschlag, doch meistens blendete sie es aus. Nun nahm sie es zur Gänze wahr, konzentrierte sich und änderte den Rhythmus. Der Fluss der Kraft wandelte sich, wanderte in ihre geschlossene Faust.
Normalerweise sprach man diesen Zauber in aller Eile, doch jetzt konnte sie sich vorbereiten und ihn stärken. Das Wichtigste war, dass der erste Schlag sitzen musste.
Neben ihr auf der Treppe tauchten abgetragene Stiefel auf, ihnen folgten die Beine. Der Zauber war gewoben.
Wer immer dort kam, er trug einen Stab.Ein Magier?
Dann hatte er den Fuß der Treppe erreicht. Avesa stand direkt hinter dem Fremden. Er trug wie sie ein graues Gewand, doch es war aus grobem, billigem Stoff, abgetragen und zerknittert. In seinen Stab waren silberne Glyphen eingelassen, die Avesa nicht kannte.
Plötzlich drehte sich der Mann zu ihr um. Sie blickte in ein eingefallenes Gesicht. Ein Fremder. Für mehr Gedanken ließ sich Avesa keine Zeit.
»Fulminictus Donnerkeil!«, schleuderte sie ihm entgegen und streckte die Faust vor in seine Richtung. Die Kraft entströmte ihr nicht, sondern wurde ihr entrissen, und sie stolperte einen Schritt nach vorne.
Dem Eindringling blieb nicht einmal ein Herzschlag, um zu reagieren. Es war, als würde ihn der unsichtbare Hieb eines Riesen mitten in das Gesicht treffen. Der Kopf wurde nach hinten gerissen, der Körper folgte ihm. Mehrere Schritt weiter schlug er auf den Boden auf und blieb regungslos liegen.
Avesa triumphierte. Sie packte den Stab mit beiden Händen, hob ihn an und ging vorsichtig näher. Der Mann machte einen heruntergekommenen Eindruck. Er war unrasiert, das braune Haar leicht verfilzt. Sein eingesunkenes, leicht gelbliches Gesicht wirkte wie eine Totenmaske.
Avesa zögerte und überlegte, was sie als nächstes machen sollte. Vor ihr lag ein Rätsel, und sie konnte sich nicht entscheiden, wie sie es angehen wollte. Da schlug der Fremde die Augen auf, riss den linken Arm hoch und deutete mit zwei Fingern auf sie: »Blitz dich find!« Avesa schnappte nach Luft, doch im selben Moment traf sie ein greller Lichtblitz, und die Welt verschwand in einem weißen Nichts. Panik stieg in ihr auf, und sie taumelte hilflos zurück. Dabei verfing sie sich und schlug der Länge nach hin.
Hinter ihr, über ihr erklang ein schreckliches Husten. »Das zweite Mal an einem Tag, Orkendreck!«
Sie hasste ihre Hilflosigkeit und suchte fieberhaft nach einem Zauber, nach einem Trick, der sie retten würde. Da legte sich etwas Schweres auf ihren Rücken. Sie spürte spitze Knochen, die sich in ihre Schultern bohrten, und einen Druck in ihrem Nacken.
»Du kennst die Zauberei, Kind, also höre mir zu. Ich habe einen Ignifaxius vorbereitet und kann ihn jeden Augenblick von der Leine lassen. Dann frisst sich eine Flammenlanze von meinen Fingern direkt durch deinen Kopf.«
Ihre Panik wurde zu Trotz. »Mörder!«, presste sie hervor.
»Nicht so voreilig, so gut kennst du mich noch nicht. Und nun verhalte dich ruhig, verdammt!«
Avesas Widerstand ließ nach, doch ihre Gedanken tobten weiter.
»Du hast mich überrascht«, sprach der Fremde weiter. »Aber du musst noch lernen, weiter als nur bis zum nächsten Schritt zu denken.« Der Druck auf ihre Schultern ließ nach, und Avesa drehte sich auf den Rücken. Dabei wurde ihr schwindlig, denn noch immer blendete sie das grelle Licht des Zaubers. »Ich weiß nicht, wer du bist, aber es ist besser, wenn du mich nicht gesehen hast. Für heute habe ich genügend Leichen gehabt.«
»Ihr macht mir keine Angst«, fauchte Avesa und blickte in das weiße Nichts. Sie hoffte, in seine Richtung zu schauen.
»Wie gesagt, du kennst mich nicht.« Die Stimme klang entnervt.
In diesem Moment kehrte Avesas Augenlicht zurück. Sie sah den fremden Magier über sich stehen. Er hob seinen Stab und seufzte. »Das wird langsam zur Gewohnheit.«
Er ließden Stab niedersausen, doch Avesa war schneller. Das Ende des Stabes schlug auf dem Boden auf. Avesa trat dem Magier gegen das Schienbein und war auf den Beinen, bevor er reagieren konnte. Wieder kamen ihr die Raufereien aus ihrer Kindheit in den Sinn. Sie warf sich gegen den Fremden, dem der Stab aus der Hand fiel. Kaum hatte sie ihn gegen die Wand gedrängt, bedeckte sie sein Gesicht mit Schlägen. Er mochte große Worte sprechen können, aber er war kein guter Kämpfer.
Erst, als er nur noch hilflos auf dem Boden kauerte und kaum mehr die Arme hob, um sich zu schützen, ließ Avesa von ihm ab. Ihre Knöchel taten weh.
»Bist du auch darauf vorbereitet, Bastard?«
Der Magier kauerte auf dem Boden. Die linke Schläfe war aufgeplatzt, die Lippen aufgesprungen. Doch als er aufschaute, war sein Blick klar und fest. »Natürlich«, antwortete er und öffnete die linke Hand. Er zeigte ihr ein silbern blitzendes Wolfsamulett, das sie sofort erkannte.
»Das gehört Meister Valberto! Was habt Ihr damit vor?«
»Dich ablenken, dummes Kind.Motoricus!«
Ein unsichtbarer Hieb traf Avesa in den Magen. Sie hörte ein Bersten und unmittelbar darauf bohrte sich etwas Spitzes in ihr Fleisch. Avesa schrie auf und taumelte zurück. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand ab, die andere presste sie auf den Bauch. Der Stoff ihrer Robe fühlte sich warm und feucht an. Ihr wurde übel.
Der Magier streckte die rechte Hand aus. Der Stab, den er im Gerangel verloren hatte, erhob sich und schwebte zu ihm. Er griff danach und wandte sich zum Gehen. Er ließ Avesa einfach stehen und drehte ihr den Rücken zu.
Ich weiß jetzt, wie ich dich kriege, Mörder!,dachte sie grimmig.
Der Zauber, den sie nun gegen ihn anwenden wollte, brauchte mehr Vorbereitung als derFulminictus. Zudem beherrschte sie ihn nicht so gut, außerdem kam sie nicht an ihren Stab. Seit einem Missgeschick während jener Neumondnacht, als sie den Stab an sich gebunden hatte, benötigte sie ihn, um konzentriert zaubern zu können. In der Aufregung entglitten ihr die astralen Fäden immer wieder. Es war, als würde sie versuchen, mit tauben Fingern zu stricken. Endlich glaubte sie, die Struktur des Zaubers zu fassen zu bekommen. Sie schlug die Faust in die linke Hand und rief: »Paralysis starr wie Stein!«
Doch schon im gleichen Moment spürte sie, wie die astrale Kraft wirkungslos im Raum zerfaserte. Zudem stürzte sie auf die Knie, kaum dass sie sich nicht mehr an der Wand abstützte. Verzweiflung und Wut über sich selbst schüttelten sie durch. Obwohl sie sich dagegen wehrte, fing sie an zu weinen und schlug die Faust immer wieder in die Hand.
Der Magier hatte sich zu ihr umgedreht. Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie ihn nur undeutlich.
»Valberto war dein Meister, nicht wahr?« Er wartete eine Antwort nicht ab. »Tut mir leid.«
Mit einem Mal wurden ihre Ahnungen bittere Gewissheit. Meister Valberto war tot, der Mann, der sie die letzten Jahre aufgezogen und ausgebildet hatte. Der ihr ein Heim in Brigonis gegeben hatte. Ihre Gefühle überwältigten Avesa und rissen sie in einen strudelnden Abgrund. Sie ließ sich an die Wand fallen.
Plötzlich hockte der Magier vor ihr. »Verzeih mir.« Es klang unbeholfen. »Ich hatte eine unangenehme Nacht und dieser Tag ist auch nicht besser. Aber ich verstehe deine Wut. Hätte wohl auch so gehandelt.«
Avesa hatte keine Kraft mehr. »Tötet mich oder verschwindet einfach.«
Er schnaubte und erhob sich. Aus den Falten seiner abgetragenen Robe fingerte er einen zerknitterten Zigarillo und schnippte mit den Fingern. Über seinem Daumen erschien eine kleine, nervös zuckende Flamme, mit der er den Zigarillo entzündete.
Wie er da stand, rauchte und auf sie hinabblickte, mit gelblichem, zerschlagenem Gesicht, wirkte er so schwach, wie Avesa sich fühlte. Doch hinter dieser gebrechlichen Fassade lauerte etwas Dunkles, das spürte sie.
Avesa war leer. Die Gefühle verebbten. Keine Trauer, keine Angst, keine Wut. Keine Kraft.
»Ich gehe«, sagte der Fremde.
Dann war er fort und Avesa blieb auf dem Boden hocken. Sie wusste nicht, wie lange.
Ymras Seiten: Schatten unter sich
Gareth, 26. Boron 1009 BF
Mit Genuss zerkaute ich das letzte Stück der in exotischen Gewürzen gebratenen Wachtel und ertränkte den Bissen anschließend mit einem Schluck vom Hornenfurter Lebensquell Jahrgang 1000, aus dem man jede pralle, unter der Sonne Almadas gereifte Traube schmeckte. »Das Essen war großartig. Wahrlich, nirgends speist man vorzüglicher als imSeelander. Ich hoffe doch sehr, dass dies nicht meine Henkersmahlzeit gewesen ist, Baron.«