Die Fäden der Zeit - Lori Lee - E-Book

Die Fäden der Zeit E-Book

Lori Lee

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Beschreibung

Nur wenn sie ihr Geheimnis aufs Spiel setzt, kann sie ihren Bruder retten!

Das Labyrinth, wie die Bewohner die Slums von Ninurta bezeichnen, ist düster und steckt voller Geheimnisse. Eines davon hütet die 17-jährige Kai – sie kann die Fäden der Zeit sehen und manipulieren. Gemeinsam mit ihrem Bruder Reev lebt sie daher unauffällig, mit dem Ziel, eines Tages das Elend des Labyrinths hinter sich zu lassen.

Doch dann verschwindet Reev. Zusammen mit Avan, ihrem einzigen Freund, setzt Kai alles daran, ihren Bruder zu finden. Selbst wenn sie dafür ihr Geheimnis aufs Spiel setzen und die schützenden Mauern der Stadt hinter sich lassen muss …

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Seitenzahl: 458

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Buch

Kai ist siebzehn und aufgewachsen im Labyrinth, den düsteren Slums von Ninurta. Und sie hat ein Geheimnis – Kai kann die Fäden der Zeit sehen und manipulieren. Überleben war niemals einfach, aber sie und ihr älterer Bruder Reev schaffen es trotzdem – sehr zurückgezogen, in einfachsten Verhältnissen und mit schlecht bezahlten Jobs.

Doch dann verschwindet Reev.

Zusammen mit ihrem einzigen Freund Avan, einem Händler mit wilder Vergangenheit und einem wunderschönen Gesicht, setzt Kai alles daran, ihren Bruder zu finden – selbst wenn sie dafür ihr Geheimnis aufs Spiel setzen muss. Und es heißt, die Mauern der Stadt hinter sich zu lassen, um das wüste Land dahinter zu betreten, in dem sich der gefürchtete Schwarze Reiter aufhalten soll. Und selbst wenn sie in den Mittelpunkt eines tobenden Krieges gerät …

Autorin

Lori M. Lee wurde in den Bergen von Laos geboren und verbrachte einige Jahre in einem Flüchtlingscamp in Thailand, bevor sie mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte. Derzeit lebt sie mit ihrem Ehemann in Wisconsin und arbeitet als Internetexpertin für eine große Zeitschrift. Außerdem schreibt sie einen Blog und twittert, wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Roman arbeitet.

Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»Gates of Thread and Stone« bei Skyscape, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung AugKapitel 6ust 2015 bei Blanvalet,einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,München

Copyright © 2014 by Lori M. Lee

Published by Arrangement with Mai Lee.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Blanvalet Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft,unter Verwendung einer Fotografie von Nico Fung

Redaktion: Lisa Bitzer

ue · Herstellung: am

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15831-6

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www.blanvalet.de

Für Kay und May, die besten Freundinnen und Schwestern,die ein Mädchen haben kann

KAPITEL 1

Der Tod lebte in einem Glasturm in der Mitte des Weißen Hofes. Man konnte den Turm von jedem Punkt der Stadt aus sehen. Der Tod – er hatte wahrscheinlich auch einen richtigen Namen – war Kahl Ninus rechte Hand und sein Henker. Es kursierte das Gerücht, dass er eine Frau war. Mir persönlich war eigentlich egal, was man sich über ihn erzählte, solange nicht mein Kopf auf seinem Henkersblock landete.

Die Tatsache, dass der Scharfrichter des Kahls im eindrucksvollsten Gebäude der Stadt lebte, war nicht der einzige Grund, warum ich den Weißen Hof mied. Ich drang nie tiefer in das Viertel vor als bis zu den Baracken, die sich an der inneren Mauer entlangzogen. Doch selbst dort konnte ich sehen, wie die aufwändig gearbeiteten Grautiere des Weißen Hofes über die gepflasterten Straßen sausten, manche in der Form von Monstern, ihre hoch aufragenden Körper groß genug, um drei Reiter zu tragen.

Der Riemen meiner Botentasche schnitt in meine Schulter. Ich rückte ihn gerade, als ich nach rechts abbog, Richtung Tor. Sechs Meter hohe Mauern trennten den Weißen Hof vom Rest der Stadt. Nur Personen mit Zulassungspapieren durften passieren.

»Bis morgen, Kai.« Der Wachmann winkte mich durch.

Als Briefträgerin wurde mir während meiner Arbeitszeit Zutritt zum Weißen Hof gewährt.

Ich entspannte mich, sobald ich das Tor hinter mir gelassen hatte. Das Nordviertel – von manchen liebevoll Allee genannt, von anderen nicht so liebevoll Fegefeuer – unterschied sich vollkommen von der Stadt hinter den Mauern. Die Gebäude waren aus einfachen Steinen und Ziegeln erbaut, hässlich und braun, beinahe schon beruhigend in ihrer Eintönigkeit.

Ich trat über den Randstein in die Abflussrinne, um einer Stelle auf dem Bürgersteig auszuweichen, auf der Scherben glitzerten. Direkt über der Pfütze aus Glas gähnte in der bröckelnden Wand des Gebäudes ein zerbrochenes Fenster, aus dessen Rahmen noch vereinzelte spitze Kanten ragten. Ich bog um die Ecke und warf einen Blick auf das Poster, das an einem verbeulten Laternenmast hing. Es war eines von gerade mal einem halben Dutzend Plakaten in dieser Gegend – es ergab einfach keinen Sinn, bei Leuten zu werben, die keine Punkte auf ihrem Konto hatten.

Das Poster zeigte ein halbnacktes Paar, das die Leute dazu verführen sollte, das Vergnügungsviertel unten an den Docks zu besuchen. Letzte Woche war es noch irgendein Mist über die wundersame Stadt Ninurta gewesen, in der wir lebten. Wer auch immer hier plakatierte, war nicht gerade die hellste Leuchte. Wen wollte er damit eigentlich ansprechen?

Eine Schulter rammte mich, als ich auf den Gehweg zurücktrat. Ich machte mir nicht die Mühe, im Weitergehen meine Taschen zu kontrollieren. Sie waren bereits leer. Manchmal steckte ich auf dem Nachhauseweg kleine Zettel hinein, die einen Taschendieb vielleicht amüsieren könnten: »Versuch es morgen nochmal, heute hatte ich meine Diamanten vergessen!« oder »Bei dem Kerl da drüben könntest du mehr Glück haben!« neben einem Pfeil, der in eine beliebige Richtung zeigte.

Naja, mich amüsierten diese Nachrichten auf jeden Fall.

Der Gehsteig wurde noch schmaler. Ein paar Jungs, die ich aus der Schule kannte, lungerten an der Ecke herum, ihre lauten Stimmen hallten über das aufgebrochene Pflaster. Einer von ihnen nahm einen letzten Bissen von seinem Apfel und warf den Rest dann auf ein vorbeiwanderndes Grautier, das die stolze Form eines Hirsches mit gebogenem Geweih aufwies. Der Graue, wie sie auch genannt wurden, war auf dem Weg zum Weißen Hof. Er war, wie seine Artgenossen, leicht von den Allee-Grautieren zu unterscheiden, denn die waren dreckig und verrostet.

Der Hirsch riss den Kopf hoch, als der Apfel ihn traf, und der Reiter schrie etwas, doch das Gelächter der Jungen übertönte seine Worte.

Ich vermied jeden Augenkontakt und drückte die Botentasche enger an meinen Körper. Rechts von mir war eine Ladenzeile. Gestreifte Markisen hingen über hölzernen Stützpfeilern, die Fenster waren verklebt mit Werbeplakaten für die neuesten Untergrundclubs – die Art von Läden, von denen mein Bruder gar nichts hielt.

Ich stieg über eine schlammige braune Pfütze hinweg und bog in eine enge Gasse ab, um den Weg zur Nordviertel-Postzentrale abzukürzen. Wäsche hing an den Ziegelwänden links und rechts, während sich verrostete Rohre an den Mauern wie Adern nach oben schlängelten. Ich hielt mich in der Mitte der Gasse; die Wände waren mit einem feuchten grünen Schleim überzogen, der sich wahrscheinlich jederzeit in Bewegung setzen konnte.

Vor mir lehnte eine junge Frau mit einem schwarz-weiß gestreiften Irokesenschnitt an den Sprossen einer kaputten Feuerleiter. Die alten Scharniere knirschten unter ihrem Gewicht. Sie starrte auf ihre grauen Stiefel hinunter, die Hände in den Taschen ihres Sweatshirts vergraben.

Ich bewegte mich mit eiligen Schritten voran. Als ich auf ihrer Höhe war, nickte ich dem Mädchen zu – nur um höflich zu sein. Reev erklärte immer, man solle höflich sein, auch wenn sich niemand die Mühe machte, diese Geste zu erwidern.

Das Mädchen sprang urplötzlich vor und rammte mich gegen die Wand auf der anderen Seite der engen Gasse. Ich keuchte, als wir gegen die Steine knallten, auch wenn meine Tasche den Aufprall abfing, und riss den Arm hoch, um sie abzuwehren, doch sie schlug ihn einfach zur Seite.

Dreckige, aber starke Finger schlossen sich um meine Kehle. Eine feuchte Hand landete auf meinem Schlüsselbein, und etwas Scharfes bohrte sich mir auf Höhe der Rippen in die Haut.

Sollte meine Tunika reißen, würde ich sie vermöbeln. Mein Hemd war dunkelgrau, mit fast durchgescheuerten Ellbogen und sich lösenden Fäden am Saum – nichts Besonderes, bis auf die Tatsache, dass Reev es für mich gemacht hatte.

»Ein bisschen weit weg vom Weißen Hof, oder?«, höhnte das Mädchen. Ihre Lippen waren leuchtend rot. »Was glaubst du, wie viel würde jemand zahlen, um dich zurückzubekommen?«

Ich hörte auf mich zu wehren. Was? Ein Lachen stieg aus meiner Kehle auf. Okay, das war mal was Neues.

Der Griff an meinem Hals lockerte sich, und das Mädchen zuckte leicht zusammen. »Was ist daran so witzig?«

»Ich lebe im Labyrinth«, erklärte ich ausdruckslos.

Wenn das Nordviertel das Fegefeuer war, dann war das Labyrinth die Hölle. Labyrinth war der Name, den wir dem Ostquartier gegeben hatten, wegen des Irrgartens aus aufgestapelten Frachtcontainern, die in Wohnungen verwandelt worden waren. Sie standen so dicht neben- und aneinander, dass sie quasi eine Stadt innerhalb der Stadt bildeten. Im Labyrinth gab es ganz eigene Gesetze, und wer dort wohnte, befand sich am unteren Ende der sozialen Nahrungskette – was in Ninurta wirklich etwas heißen wollte.

»Niemand wird auch nur einen Punkt für mich zahlen«, sagte ich.

Das war eine Lüge. Reev würde alles hergeben, was wir gespart hatten, um den tropfenden Metallwänden und der bedrückenden Enge des Labyrinths zu entkommen, und für mich hätte er sogar noch mehr aufgegeben. Doch das durfte ich auf keinen Fall zulassen.

»Ich habe gesehen, dass du aus dem Weißen Hof gekommen bist«, sagte das Mädchen.

Ihre verschwitzte Hand bewegte sich unruhig auf meiner Haut. Die Nervosität, die von ihr ausging, war besorgniserregend – dadurch wurde sie nur noch unberechenbarer.

»Schau genauer hin«, sagte ich und warf einen Blick zu dem Riemen der Botentasche auf meiner Schulter.

Ich schob meine langen dunklen Haare zur Seite, und das Mädchen konzentrierte sich auf den gelben Vogel, der in den alten Stoff des Tragegurts gestickt war. Der fliegende Vogel war das Logo der Postzentrale – ein Symbol der Freiheit, was wirklich kurios war. Ich versuchte die meiste Zeit, nicht über die Ironie der Bedeutung nachzudenken, weil ich sonst die Augen so sehr verdreht hätte, dass ich selbst von hier aus die Einöde gesehen hätte.

In dem Moment, in dem das Mädchen begriff, was es da sah, wurde ihr Körper starr und ihr bereits fahles Gesicht noch bleicher.

»Nun«, setzte sie an, »du … ich …« Sie stieß einen Fluch aus und drückte ihre Waffe fester gegen meine Rippen. Dann fluchte sie noch einmal.

»Sind wir bald fertig?«

Irgendwie tat sie mir leid. Sie konnte kaum älter sein als ich, vielleicht achtzehn oder neunzehn. Allerdings hatten die meisten Geschöpfe dieser Gegend schon mit fünf ihren ersten Ladeneinbruch hinter sich. Ich hatte keine Ahnung, ob das auch für mich galt – ich konnte mich an nichts erinnern, was vor meinem achten Lebensjahr geschehen war.

Ich musste weiter, oder ich würde meine Tasche zu spät in der NPZ abgeben. Meine Tour unterlag einem strengen Zeitplan, und ich konnte es mir nicht leisten, Punkte zu verlieren.

Das Mädchen umfasste meinen Hals wieder fester. »Du bist hübsch«, sagte sie, während ihr Blick mein Gesicht absuchte. »Diese Augen sind etwas ganz Besonderes.«

Ich stöhnte. Jetzt ging es los.

»Ich wette, du würdest an den Docks gutes Geld einbringen.«

Ich hatte genug gehört.

Ich streckte meinen Geist und tastete nach den Fäden der Zeit, die um uns herumflossen. Sie waren überall – wenn man sie denn sehen konnte. Sie verbanden die Leute, die verwitterten Gebäude, die Steine unter meinen Füßen. Die Fäden drängten alles in gleichmäßiger Geschwindigkeit voran. Immer weiter. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie meine Finger an den Fasern zogen, bis sich der Fluss der Zeit verlangsamte.

Die Zeit stoppte niemals ganz. Den Fluss der Zeit vollständig anzuhalten war, soweit ich es sagen konnte, schlichtweg unmöglich. Aber ich konnte den Strom für ein paar Sekunden verlangsamen, gerade genug, um mir einen Vorteil zu verschaffen.

Die angemalten Lippen des Mädchens bewegten sich weiter, jetzt unglaublich langsam, und ihre Stimme war nur noch ein unverständliches Brummen. Ich stemmte mich gegen die Fäden, die auch mich festhielten, entwand mich dem Griff des Mädchens und schob das Messer zur Seite. Es war eine grobe Waffe, kaum mehr als ein Stück zerbrochenen Metalls, das dort, wo man eigentlich den Griff erwartete, mit einem Lappen umwickelt war.

Ich konnte die Fäden nicht sehr lange halten. Die Zeit verlangsamte nur in meiner direkten Umgebung. Doch ihr stetiger Drang, sich weiterzubewegen und zum Rest des Flusses aufzuholen, erhöhte den Druck und entriss die Fäden schließlich meinem Griff. Die davoneilende Zeit machte einen hastigen Sprung nach vorn. Ich ließ mich von ihr tragen, wand mich aus den Fingern meiner Angreiferin und fiel auf den Boden. Schmerz durchfuhr meinen Arm.

Hinter mir keuchte das Mädchen.

Entsetzen erfasste mich. Sie hatte es gesehen. Oder?

Ich sprang auf die Beine und klopfte mir die Handflächen ab, als ich mich zu ihr herumdrehte. Sie konnte nichts bemerkt haben. Niemand außer Reev wusste von meinen Zeitmanipulationen. Für alle anderen blieb der Fluss der Zeit unüberwindbar. Das hielt den Glauben aufrecht, nur der Kahl besäße Magie.

Das Mädchen sah mich nicht an. Um genau zu sein, stand sie nicht einmal mehr auf den Beinen. Sie kniete neben der Mauer, und aus ihrem Bauch ragte ihr eigenes Messer. Sie war auf die Klinge gefallen.

Ich beobachtete, wie meine Angreiferin in sich zusammensackte und zur Seite umkippte. Ihr Kopf knallte hörbar auf den Boden. Ich zuckte zusammen und ließ meinen Blick durch die Gasse gleiten. Sollte jemand gesehen haben, was geschehen war, war der Beobachter bereits weitergegangen. Auch ich konnte nichts mehr tun.

Als ich mich abwandte, stöhnte das Mädchen. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, hörte sie jedoch etwas murmeln. Ich sah zum Ausgang der Gasse, die in eine Straße mündete. Eigentlich hätte ich das Mädchen einfach zurücklassen sollen. Ihre Nervosität und ihr ungeschickter Angriff verrieten, dass sie keine erfahrene Kriminelle war. Dennoch hatte sie mich an den Docks verkaufen wollen – sie hatte verdient, was sie bekommen hatte. Die Stadt war ohne ein weiteres hungriges Maul, das gestopft werden wollte, auch besser dran. Und was bedeutete schon ein Toter mehr, wenn jedes Jahr Leute verschwanden? Außerdem lag diese Gasse hier nicht allzu versteckt. Irgendwer würde sie vermutlich rechtzeitig finden.

Aber was, wenn jemand auf sie wartete? Ein Bruder. Eine Schwester. Ein Baby, das vor Hunger schrie. Was würde mit ihrer Familie geschehen, wenn sie nicht wieder nach Hause kam?

Dämliches Gewissen.

Der nächste Meldegänger stand direkt hinter der Ecke. Meldegänger zu informieren war der einzige Weg, die Wache zu alarmieren – außer man wollte in das örtliche Revier stiefeln, was ich zum Drak nochmal nicht vorhatte. Doch die Meldegänger verlangten eine lächerlich hohe Gebühr für ihre Dienste – Punkte, die Reev und ich nicht erübrigen konnten. Eigentlich.

Ich warf einen schlechtgelaunten Blick auf das Mädchen, das im Dreck der Gasse blutete. Verdammter Drak.

KAPITEL 2

Als ich zehn war, verbrachte Reev einen seiner freien Sonntage mit mir am Fluss. Wir hatten das schlammige Ufer nach Käfern abgesucht und uns gefragt, welche Mutantenfähigkeiten wir wohl entwickeln würden, wenn wir in das schmutzige Wasser fielen. Er drohte damit mich hineinzuwerfen, und ich fürchtete mich so sehr davor, dass ich mir in meiner Panik den Knöchel verknackste.

Reev fühlte sich schrecklich. Er versprach mir, nicht mehr so grob zu mir zu sein, und ich erklärte ihm daraufhin, dass er sein Versprechen in den Fluss werfen könne, weil niemand meinem Bruder Vorschriften zu machen habe, nicht mal mein Bruder selbst. In meinem Kopf ergab diese Aussage damals Sinn.

Er hatte mich den ganzen Weg bis zu unserer Box im Labyrinth zurückgetragen. Ich erinnerte mich daran, wie mich seine Haare im Gesicht gekitzelt hatten, dachte an die Hitze seiner Schulter an meiner Wange und den Geruch des Flusses – unangenehm süßlich, wie vergammelte Früchte – an seiner Kleidung. Seine Stimme, die mir unnötige Entschuldigungen ins Ohr geflüstert hatte, war das einzig Weiche an ihm gewesen. Alles andere war hart gewesen – unnachgiebig und stark.

Das war es auch heute noch. Reev bedeutete für mich Sicherheit.

Ich hatte damals nicht gewollt, dass der Tag endete. Und ich hatte mich nach einem weiteren Tag dieser Art verzehrt. Ich hatte so dringend noch einmal einen solchen Sonntag mit Reev verbringen wollen, dass ich am nächsten Morgen, als ich aufwachte und feststellte, dass er immer noch bei mir war, anstatt arbeiten zu gehen, einfach davon ausging, dass mein Wunsch wahr geworden war. Es war tatsächlich noch einmal Sonntag.

Dennoch ging Reev zur Arbeit – nur um festzustellen, dass niemand da war, weil wohl alle dachten, es wäre Sonntag. Keinem war klar, dass in Wahrheit Montag war.

Nachdem Reev wieder nach Hause gekommen war und seine Verwirrung nachgelassen hatte, breitete sich kalte Wut auf seinem Gesicht aus. Seine Lippen wurden schmal und seine grauen Augen hart wie Stein. Er hatte mich vorher noch nie so angesehen.

»Versprich mir«, knurrte er, »dass du das nie wieder tun wirst. Niemals.«

Ich konnte vor Angst nicht sprechen. Wir hatten in der Vergangenheit mitbekommen, wie die Wachen Leute mitnahmen – sie auf ihren Grautieren davonschleppten, durch die Tore in den Weißen Hof, wo sie auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Im Labyrinth gab es eine Redewendung: Sei still, sei stumm, sei sicher. Doch glücklicherweise hatte nur Reev meine Zeitmanipulation bemerkt. Es tauchten keine Wachen auf, um an unsere Tür zu hämmern.

Die Fäden bewegten sich stetig um mich herum, wurden immer verlockender, je deutlicher ich sie sah. Die Wiedergeburt hatte fast alle Mahjo, Magiewirkende, ausgerottet. Nur die Familie des Kahls war übrig, und er setzte seine Magie ein, um die Stadt zu sichern. Wenn ich nun also eine besondere Fähigkeit besaß, die niemandem wehtat, warum sollte ich sie nicht auch einsetzen?

»Kai«, sagte Reev, »versprich es mir.«

Wir starrten einander an, doch ein Aufflackern von Angst in seinen Augen sorgte schließlich dafür, dass ich nickte.

Ich hatte dieses Versprechen seitdem unzählige Male gebrochen. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen, wenn es um meine Fähigkeit ging. An diesem Tag damals begriff ich, dass ich anders war. Und die Fäden der Zeit faszinierten mich ab dem Moment, in dem ich verstanden hatte, was sie waren – und dass ich vielleicht die einzige Person war, die sie sehen konnte.

Am nächsten Tag hatte sich der Lauf der Zeit wieder normalisiert, nach den zwei Sonntagen hintereinander folgte ein gewöhnlicher Dienstag. Überall um mich herum murmelten die Leute verwundert, wie schnell der Montag vergangen sei, und dass sie sich kaum daran erinnern könnten, was sie gestern gemacht hätten. Es schien, als hätte selbst Kahl Ninu nichts bemerkt. Ich hatte es nie wieder geschafft, dieses Level der Manipulation zu wiederholen, und wusste bis heute nicht, wie es mir damals gelungen war.

Jede Energiequelle in Ninurta entsprang der Magie des Kahls, doch niemand hatte ihn je beim Ausüben seiner Kräfte beobachtet. Jeden Monat konnte man neue Energiesteine kaufen, und die Grautiere – konstruiert aus Metall und Magie – liefen wie glänzende Wunder durch die Straßen. Wer waren wir, das alles zu hinterfragen? Meine Fähigkeit war bei Weitem nicht so nützlich wie die des Kahls. Ich konnte ja nicht einmal sagen, ob meine Gabe tatsächlich Magie oder nur eine Laune der Natur war.

Ich bezeichnete mich selbst nie als Mahjo, als Magische, nicht einmal in Gedanken. Dieser Status blieb dem Kahl vorbehalten, und ich bildete mir nicht ein, auf einer Stufe mit ihm zu stehen. Insbesondere nun, da eine heftige Gebühr für den Meldegänger auf mich wartete, nahm ich mir vor, mich etwas häufiger um mehr Kontrolle zu bemühen.

Nach dem kurzen Stopp bei den Meldegängern – die sich so langsam bewegten, dass man sie eher Meldekriecher nennen sollte –, eilte ich zur NPZ, um gerade noch rechtzeitig vor Dienstschluss meine Tasche abzugeben. Eigentlich hätte ich mir mehr Sorgen um die verletzte Frau machen sollen als um den Zustand unseres Kontos. Doch so war es nicht.

Beim Verlassen der NPZ starrte ich unverwandt geradeaus und ging schnell an dem Wachmann vorbei, der die zweiflügelige Glastür bewachte. Er folgte mir mit seinem Blick.

Vor ein paar Tagen hatte mich genau dieser Wachmann in das Hinterzimmer verfolgt, in dem ich meine Tasche aufbewahrte, und mir einen zweifachen Wochenlohn für »persönliche Dienste aller Art« geboten. Glücklicherweise war eine Sekunde später meine Chefin im Raum erschienen, um nachzusehen, was mich aufhielt, und ich war entkommen.

Draußen vor der Tür verstopften unzählige Leute die Gehwege. Man konnte sich nur zu Fuß durch die Stadt bewegen, wenn man kein Grautier besaß, und zu dieser Tageszeit waren die Straßen ziemlich voll. Ich drängte mich durch die Menge, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, dann hielt ich mich nah an den Schaufenstern, die überwiegend dunkel oder mit Brettern vernagelt waren. Ich stieß mit der Schulter gegen eine herunterhängende Markise, und ein paar Tauben flatterten auf. Ich sah hoch, doch sie flogen gerade weit genug, um sich auf der anderen Straßenseite wieder niederzulassen.

An 358 Tagen im Jahr flogen die Vögel nicht höher als zur oberen Kante der Gebäude. Als hätten sie vergessen, wie das ging – höher fliegen. Doch in fünf Tagen würden sich die Wolken teilen und Sonnenschein in die Stadt strömen lassen. Eine Woche im Jahr tanzte Licht auf dem Fluss. Die Bäume wagten es, Blüten auszutreiben. Und die Vögel schraubten sich immer höher in den Himmel, bis sie nur noch als braune Punkte vor einem grauen Firmament erschienen.

Die Woche der Sonne war meine absolute Lieblingszeit des Jahres. Ich konnte es kaum erwarten.

Vor mir tauchte ein Laden an der Ecke zweier Straßen auf, die einst die Hochstraße und die sechste Straße gewesen waren. Heute waren die Straßenschilder so verwittert, dass man sie nicht mehr entziffern konnte. Das Gebäude selbst sah nicht schlimmer aus als andere. Irgendwann in den letzten zwanzig Jahren war es einmal grün angestrichen worden, doch inzwischen wirkte die Farbe eher wie abblätternder Schimmel. Über der schief in den Angeln hängenden Tür stand in schmutzigen gelben Buchstaben der Name des Geschäfts: Drivas.

Kahl Ninu versprach seit Jahren Reparaturen im Nordviertel, doch es geschah nichts. Die gesamten Ressourcen von Ninurta wurden von einem abgeschlossenen Bereich innerhalb des Weißen Hofes aus verteilt, also konnten die Bewohner der Stadt wenig anderes tun, als abzuwarten und das Beste zu hoffen. Und absurd hohe Summen dafür zu bezahlen, die Dienste der Meldegänger in Anspruch zu nehmen.

Ich seufzte. In den nächsten Wochen würde ich mein Geld zusammenhalten müssen, um die Gebühr bezahlen zu können. Und ich musste die Post im Blick behalten. Bald würde mich ein Brief erreichen, in dem mir drei Tage Zeit gegeben wurden, die Punkte selbst zu überweisen; falls das nicht geschah, würden sie automatisch abgebucht werden. Ich musste diesen Brief unbedingt in die Finger bekommen, bevor Reev von der Sache Wind bekam. Nur gut, dass gerade Sommer war, denn das bedeutete längere Tage und mehr Zeit, Geld zu verdienen. Während des Schuljahres ließ mich Reev nur an Wochenenden arbeiten.

Kinder und Jugendliche waren in Ninurta grundsätzlich schulpflichtig, doch niemand achtete auf die Einhaltung dieser Regel. Ich hatte einmal versucht, Reev dazu zu überreden, mich Vollzeit arbeiten zu lassen, damit wir mehr Punkte sammeln konnten. Er hatte meinen Vorschlag nicht einmal mit einer Antwort gewürdigt. Nachdem die meisten meiner Freunde die Schule bereits geschmissen hatten, war der Unterricht für mich nichts weiter als eine lästige Pflicht. Eine unbezahlte, monotone neun Monate dauernde Pflicht.

Mein einziger verbleibender Freund war Avan Drivas. Seiner Familie gehörte der Laden. Doch seitdem auch er letztes Jahr seinen Abschluss gemacht hatte, konnte ich mich auf überhaupt nichts mehr freuen, wenn die Schule in ein paar Wochen wieder anfing.

Ich betrat den Laden. Am besten gefiel mir, dass es hier sauber war. Auch wenn die Waren nicht gerade die frischesten waren, wurde im Drivas wenigstens alles aussortiert, was bereits vergammelt war. Die Tresen waren gewischt, die Böden wurden jeden Abend gefegt und sogar die Fenster einmal die Woche geputzt. Das wusste ich, weil Avan – auch wenn er behauptete, seinem Vater nur zu helfen – eigentlich den Laden führte und immer dafür sorgte, dass man hier vom Boden essen konnte.

»Hey, Kai«, rief er mir vom Tresen aus zu, hinter dem er stand. Kleine Grübchen bildeten sich in seinen Wangen, als er lächelte.

Ich winkte kurz, dann hastete ich in einen Gang. Ich führte mich so bescheuert auf! Avan war ein Jahr älter als ich, groß, mit olivfarbener Haut und dunklen Haaren. Wir waren inzwischen lang genug befreundet, dass mich sein Anblick nicht mehr so hätte treffen dürfen. Aber das interessierte meinen Magen herzlich wenig. Wie um mich zu verhöhnen, verkrampfte sich besagtes Körperteil immer ein wenig, wenn Avan und ich uns begegneten.

Ich wanderte durch die Gänge, nahm mir eine Dose mit getrockneten Pfirsichschnitzen und ein Gurkensandwich. Fleisch war Mangelware, aber das wäre für mich ohnehin unerschwinglich gewesen. Ich wies meinen Magen an, sich zu beruhigen, und trug meine Sachen an den Tresen.

»Wie war es heute im glanzvollen Weißen Hof?«, fragte Avan, als er meine Einkäufe in die Kasse eintippte.

Er hatte schöne Hände, schlank, aber stark, mit langen Fingern. Die Muskeln an seinem Unterarm tanzten bei jeder Bewegung unter seiner Haut. Ich beobachtete sie einen Moment zu lang, dann wandte ich eilig den Blick ab.

»Sauber«, antwortete ich. »Ich werde mich draußen über den Boden rollen müssen, um dieses reinliche Gefühl loszuwerden.«

Avan lächelte wieder. Seine dunklen Augen verweilten kurz auf meinem Gesicht, bevor er sich dranmachte, meine Einkäufe in eine Papiertüte zu stecken. Unter seinem Kinn begann eine gezackte schwarze Tätowierung, kroch seitlich an seinem Hals hinunter und verschwand im Kragen seines Hemdes. Er hatte sich die Tätowierung vor ein paar Jahren stechen lassen. Ich versuchte mir manchmal vorzustellen, wie der Rest des Tattoos wohl aussah – der Teil, den man nicht sehen konnte.

Avan griff hinter sich und tat noch ein paar andere Dinge in die Tüte: einen in Papier gewickelten Brotlaib und ein Stück harten Käse.

»Kam heute Morgen rein«, sagte er. »Ich habe es noch nicht in die Auslage gelegt.« Seine Stimme war tief, und wenn er so leise sprach wie jetzt, meinte ich fast, das sanfte Grollen in meiner Brust zu spüren.

Ich nickte dankend. Avan steckte mir immer wieder frische Dinge zu. So hatte es angefangen – unsere Freundschaft. Natürlich hatte ich ihn schon vorher bemerkt – alles andere wäre schlichtweg unmöglich gewesen. Doch erst als ich zwölf war, hatte er mir mit einem undeutbaren Lächeln ein paar Äpfel in die Einkaufstüte gelegt. Das war das erste Mal gewesen, dass er mich zur Kenntnis genommen hatte.

Zu Beginn hatte ich noch protestiert. Ich war keine Freundlichkeiten von anderen gewohnt, und ich hatte wissen wollen, was er im Gegenzug von mir erwartete. Doch er hatte nie um irgendetwas gebeten und nie damit aufgehört, mir seine Hilfe anzubieten. Irgendwann hatte ich den Protest eingestellt. Kostenloses Essen abzulehnen war in dieser Stadt ziemlich bescheuert.

»Wie geht es deinem Bruder?«, fragte er, als er die Tüte zwischen uns auf den Tresen stellte.

Ich war dankbar für die Barriere zwischen uns, so klein sie auch war.

»Gut. Wie …« Ich wandte den Blick ab, ohne verhindern zu können, dass ich kurz zu der Tür in der Ecke sah, die zur Wohnung seiner Eltern hinaufführte. »Wie läuft es … so?«

Avan hatte meinen Blick bemerkt und senkte den Kopf. Er sprach so gut wie nie über seine Ma, und ich konnte ihn auch nicht nach seinem Pa fragen. Nicht mehr, seitdem ich Avans Vater mit dreizehn zwischen die Beine getreten hatte. Ich war es leid gewesen, in den Laden zu kommen und Avan mit purpurnen Blutergüssen und verbundenen Händen hinter dem Tresen zu entdecken. Als ich das nächste Mal Herrn Drivas gesehen hatte, der, bis zum Anschlag mit Alkohol vollgepumpt, seinen Sohn anschrie, hatte ich mich von hinten angeschlichen und das Knie hochgerissen.

Avan hatte versucht, mich zu beschützen, als sein Vater vor Wut rot angelaufen war. Herr Drivas hatte mich allerdings nicht geschlagen. Selbst in betrunkenem Zustand war ihm klar gewesen, dass Reev ihn dafür ins Krankenhaus befördert hätte.

»Meiner Mom geht es gut«, sagte Avan und interpretierte mein Gestammel damit richtig. Wenn er nicht lächelte, wirkte er irgendwie viel zu ernsthaft. Sogar ein wenig traurig. Ich fragte mich, ob ihm das bewusst war.

»Hast du die Neuigkeiten schon gehört?«, wollte er wissen.

»Du weißt doch, dass du meine beste Quelle bist.«

Eher meine einzige Quelle. Ich kümmerte mich nicht groß darum, was in der Stadt geschah, solange es nicht mich oder Reev betraf, doch Avan hatte Verbindungen und war gewöhnlich gut informiert. Außerdem war es eine gute Ausrede, um noch ein bisschen zu bleiben und mich mit ihm zu unterhalten.

»Es gibt einen weiteren Fall«, sagte er. »Obere Allee.«

Meine Finger spielten unruhig mit der Tüte. Niemand sprach über das Verschwinden der Leute. Es passierte höchstens ein paar Mal im Jahr – nicht oft genug, um Panik auszulösen, aber sicherlich zu häufig, um nicht aufzufallen. Die Leute reagierten auf diese Vorkommnisse entweder mit Angst und Paranoia – oder sie sahen einfach in die andere Richtung. Wir mussten uns alle um unser eigenes Überleben kümmern und hatten nicht besonders viel Mitgefühl für andere übrig.

»Hat der Schwarze Reiter schon wieder zugeschlagen?«, fragte ich mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus in der Stimme.

Keiner von uns glaubte Kahl Ninus Behauptung, ein Rebell namens der Schwarze Reiter würde Ninurtaner entführen und wolle ihn stürzen. Welcher Kriminelle, der etwas auf sich hielt, würde sich selbst der Schwarze Reiter nennen? Außerdem hatte ihn niemand je gesehen oder gar bei seinen Taten beobachtet. Ehrlich gesagt, in meinen Ohren klang das nach einer halbgaren Lügengeschichte. Wahrscheinlich wurde sie erzählt, weil der Kahl denjenigen, der die Leute wirklich entführte, immer noch nicht erwischt hatte. Allerdings hätte ich erwartet, dass ihm Letzteres mühelos gelingen würde, da ihm doch Magie zur Verfügung stand.

»Jemand, den du kanntest?«, fragte ich.

»Eigentlich nicht. Ich bin ihr ein paar Mal begegnet, aber …« Er zuckte mit den Achseln. Mehr konnte man eigentlich auch nicht tun. »Pass auf dich auf.«

Das sagte er jeden Tag zu mir, und ich gab ihm immer dieselbe Antwort: »Tue ich doch immer.«

Ich dankte ihm nochmal für Brot und Käse, dann verließ ich das Drivas und wandte mich Richtung Docks, den Hügel hinab. Der Fluss trennte das Nordviertel vom Ostquartier, und auch wenn sich viele Brücken über das Wasser spannten, waren nur wenige davon sicher. Die Zuhälter regierten das Flussufer, dort musste man zu jeder Tageszeit vorsichtig sein.

Neben der unbefestigten Straße, die zu den Docks führte, stand ein dicker Holzpfosten. Ich ließ meine Fingerspitzen darübergleiten und lächelte, als ich eine neue Kerbe in Form eines Ks in dem morschen Holz ertastete. Wann immer Reev oder ich an diesem Pfosten vorbeikamen, hinterließen wir unser Zeichen, um den anderen wissen zu lassen, dass wir hier gewesen waren und dass es uns gut ging. Ich grub meinen Fingernagel unter dem K in das Holz und kratzte sorgfältig ein R heraus.

Pärchen standen auf der Brücke verteilt. Das wäre vielleicht ein süßer Anblick gewesen, hätte ich nicht gewusst, dass es sich größtenteils um Prostituierte mit ihren Freiern handelte. Manche versuchten nicht einmal zu verstecken, was sie gerade taten. Ich fragte mich, ob auf diese Art schon mal jemand in den Fluss gefallen war. Man hätte meinen können, der Gestank, der vom Wasser ausging, würde jede Stimmung töten, doch was wusste ich schon? Ich hatte noch nicht mal einen Jungen geküsst, und dabei war ich schon siebzehn.

Der Tobende Stier war das fünfte Haus in der langen Reihe von Etablissements am Flussufer. Alle Fensterscheiben waren rot angemalt, sodass man nicht hinein- und nicht hinaussehen konnte. Ein großes Schild verkündete: »Während der Woche der Sonne alles zum halben Preis!«

Ich ignorierte die betrunkenen Rufe der Männer auf dem Gehweg und öffnete die Tür. Reev stand an seinem üblichen Platz in der Nähe der Tür. Er hatte die Arme verschränkt und seine beste »Leg dich nicht mit mir an«-Miene aufgesetzt. Bei ihm sah das völlig natürlich aus. Mit über einem Meter achtzig Größe und einem Körperbau wie ein Felsbrocken konnte mein Bruder ziemlich einschüchternd wirken, wenn er es darauf anlegte. So hatte er auch seinen Job als Türsteher ergattert. Die Stelle wäre nicht unbedingt meine erste Wahl gewesen, aber es gab in Ninurta keine großen Auswahlmöglichkeiten.

Als er mich sah, runzelte er die Stirn.

Ich winkte und hob die Tüte vom Drivas.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht hierherkommen sollst? Es ist nicht sicher«, sagte er, während er mich zur Seite nahm. Seine Hand lag warm an meinem Ellbogen.

Ich ließ meinen Blick durch die Lobby gleiten. Hinter dem Empfangstresen unterhielten sich zwei Frauen. Außer uns waren sie die einzigen Personen im Raum.

Ich drückte ihm die Tüte gegen die Brust. »Du isst nichts, wenn ich dir nicht etwas bringe, also hör auf, dich zu beschweren.«

Eine der Frauen winkte mir zu, und ich erwiderte die Geste halbherzig. Angee stellte sich gern als Reevs Freundin vor. Er hatte das bis jetzt weder abgestritten noch bestätigt. Angee war durchaus nett, aber ich wünschte mir trotzdem, sie würde damit aufhören, sich mit mir anfreunden zu wollen.

Die Frau neben ihr hatte braungelockte Haare, war stark geschminkt und trug auf ihrer glatten dunklen Haut nichts außer einer durchsichtigen Unterhose. Sie nickte, als Angee etwas sagte, doch ihr Blick blieb unverwandt auf Reev gerichtet.

Mir gefiel nicht, wie sie – und die anderen Prostituierten, ob nun Männlein oder Weiblein – meinen Bruder ansahen. Wie ihre Blicke an ihm hängenblieben, ihre halbnackten Körper sich in seine Richtung drehten, wann immer er den Raum betrat. Am liebsten hätte ich mich zwischen sie und Reev geworfen, um diesen Leuten zu sagen, dass er nicht wie die Freier war, die für ihre Dienste zahlten. Aber ich vermutete, dass sie das schon wussten. Und dass sie ihn genau deswegen begehrten.

»Ist das deine Schwester?«, fragte die dunkelhaarige Frau. Sie musterte uns, dann kräuselte sie die Lippen zu einem hübschen Schmollmund. »Sie sieht dir überhaupt nicht ähnlich.«

Ich zog eine schlechtgelaunte Grimasse. Reev hatte dunkelbraunes lockiges Haar und graue Augen. Seine Nase hatte einen kleinen Höcker, sein Kinn war kantig und seine Lippen dünn. Ich dagegen hatte schnurgerade schwarze Haare und mandelförmige Augen, die nicht richtig blau waren – eher ausgewaschen-hellblau. Reev hatte einmal gesagt, sie sähen aus wie die Eiszapfen, die sich im Winter an Ästen bildeten. Meine Lippen waren voller als seine. Ich hatte früher immer die Finger gegen mein spitzes Kinn gedrückt, um auf diese Art dort eine Kuhle zu erzeugen, wie Reev sie hatte. Der Rest meines Körpers war so mager, dass ich fast schon unterernährt wirkte. Und ich reichte Reev gerade mal bis zur Schulter.

Wir ähnelten uns so wenig, weil Reev in Wirklichkeit gar nicht mein Bruder war. Er hatte mich mit acht gefunden. Er war jünger gewesen als ich jetzt – sechzehn, und kaum fähig, sich selbst zu ernähren. Doch er hatte mich trotzdem vom Flussufer gerettet und als seine Schwester aufgezogen.

»Wie viel hat es gekostet?«, fragte Reev, als er mir die Einkaufstüte abnahm. »Soll ich dir ein paar Punkte überweisen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Avan hat uns frisches Brot geschenkt. So frisch, wie es eben sein kann, meine ich natürlich. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es besser ist als gewöhnlich.«

Wieder runzelte Reev die Stirn. Er war wegen Avans Ruf nicht gerade ein Fan von ihm, doch das kostenlose Essen zwang ihn zu einer widerwilligen Akzeptanz unserer Freundschaft.

»Du solltest jetzt nach Hause gehen. Am Ende der Straße ist eine Energiesammlung. Sie wird auch noch die nächsten paar Tage dort sein.«

Ich verstand, was er meinte. In der Stadt gab es mehrere Kliniken, in denen man Blut spenden konnte und dafür ganz ordentlich bezahlt wurde, doch die Sammlungen, die in der Nähe des Flusses stattfanden, richteten sich explizit an die Bewohner des Labyrinths – und an diejenigen, die Angst davor hatten, sich zu weit aus der Sicherheit ihres beengten Wohnquartiers zu entfernen. Energiesammlungen bedeuteten Punkte für jeden, der nichts gegen Nadeln hatte. Damit zogen sie die wahrhaft Verzweifelten an. Reev wollte nicht, dass ich diesen Leuten begegnete.

»Woher weißt du das?« Ich hatte auf meiner Postroute heute Vormittag keinen Hinweis darauf entdeckt.

»Eines der Mädchen hat es mir erzählt. Sie war gerade da.«

Ich ignorierte, wie mein Magen sich zusammenzog, wie immer, wenn er über die Mädchen redete, die mit ihm hier arbeiteten.

»Solltest du auch nur darüber nachdenken, dich freiwillig zu melden, werde ich dich treten«, sagte ich. »Im Schlaf.«

Seine Schultern entspannten sich. »Natürlich nicht. Dasselbe gilt für dich. Ohne das Treten.«

Blut für Energiesteine zu spenden hatte mich schon immer in Versuchung geführt. Je nachdem, wie viel ich spendete, könnte ich die Kosten für die Meldegängergebühr aufbringen, ohne dass Reev etwas davon erfahren würde. Das Problem war nur, dass es in den Energiekliniken in Ninurta selten sauber war und jedes Jahr einige Leute an Infektionen starben. Die Energiesammlungen dagegen wurden von den Medizinern des Weißen Hofes unterstützt, also waren sie wahrscheinlich sicher. Doch es war immer besser, kein Risiko einzugehen. Ich war nicht scharf darauf zu sterben, und meine Fähigkeit, die Zeit zu manipulieren, schloss nicht ein, sie zurückzudrehen – mal abgesehen von diesem einen Mal, was sich allerdings als Mogelpackung herausgestellt hatte.

Ich würde einfach ein wenig mehr arbeiten müssen und ein paar Tage lang nur essen, was Avan mir gab, um die Punkte wieder reinzubekommen.

»Bist du wegen eines Jobs hier?«, fragte eine unglaublich raue Stimme.

Ich drehte mich um und trat zurück, bis ich gegen Reev stieß. Seine Hand landete auf meiner Schulter. Sie fühlte sich an wie ein Schutzschild.

Der Besitzer des Tobenden Stiers, Reevs Boss, war ein Mann in den mittleren Jahren. Er hieß Joss, war dünn und mit orangefarbenen Haaren, die dafür sorgten, dass seine fahle Haut teigig wirkte. Er roch nach Nelken und irgendetwas Feuchtem, Erdigem. Ich hoffte immer noch, dass er eines Tages in den Fluss fallen und absaufen würde.

Joss schnippte mit gelblich verfärbten Fingern in Richtung einer fast nackten Frau, die sofort den Flur entlang davonrannte. Doch sein Blick blieb auf mich gerichtet. Als ich mich weigerte wegzusehen, zuckten seine Mundwinkel, und er ließ meinem Körper eine langsame Musterung angedeihen.

Ich lehnte mich gegen Reev, um mich mit der Wärme seines Körpers gegen die Kälte in Joss’ Augen zu wappnen.

»Sie hat mir nur mein Abendessen gebracht«, knurrte Reev. »Geh jetzt, Kai. Geh nach Hause.« Er schob mich Richtung Tür.

»Lass mich wissen, falls du deine Meinung änderst«, sagte Joss und zwinkerte mir zu. Er hatte fleischige Lippen, deren Enden immer nach unten hingen und beim Reden schlabberten. »Ich könnte für dein erstes Mal Reevs doppelten Monatslohn rausschlagen.« Er legte den Kopf schief und musterte mich wieder. »Oh, ja. Definitiv eine Jungfrau.«

»Joss«, sagte Reev warnend.

Ich war wahrscheinlich die einzige Person, die die Wut in seiner Stimme hören konnte.

»Komm schon, Reev, jeder giert nach Punkten! Nutze das, was du hast. Oder vielmehr, was sie hat.«

Um ehrlich zu sein, ich hatte schon darüber nachgedacht. Es gab nicht viele Orte, an denen ich so viele Punkte auf einmal verdienen konnte wie das Bordell. Es wären genug, um uns aus dem Labyrinth zu holen, wie Reev es sich wünschte.

Doch gleichzeitig würde es ihn verletzen, und seine Anerkennung bedeutete mir mehr als alles andere. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Joss mir unheimlich war.

Ich behielt das halbe Brot als Abendessen und knabberte daran, als ich die Docks verließ. Vor der Brücke zerrte eine Frau ihr heulendes Kind über die unbefestigte Straße. Aus reiner Gewohnheit studierte ich ihr Gesicht, obwohl ich schon wusste, dass ich keine vertrauten Züge darin entdecken würde. Neun Jahre in Ninurta, und ich hatte immer noch niemanden entdeckt, der mir ähnlich genug sah, um länger darüber nachzudenken.

»Hör auf damit«, sagte die Frau und zog ruckartig am Arm ihres Sohnes. »Komm jetzt nach Hause, oder ich lasse dich von den Gargoyles fressen!«

Ich schnaubte. Reev hatte mich nie mit der Gargoyle-Geschichte erschreckt, doch ich hatte gehört, wie die Kinder in der Schule leise davon erzählten. Die Eltern hatten ihren Kindern versichert, dass die Gargoyles, die in der Einöde lebten, über die Mauern von Ninurta kletterten und auf der Suche nach einfacher Beute in ihre Zimmer kämen, wenn sie nicht brav wären. Abergläubische Leute glaubten, dass die Gargoyles Dämonen waren, den Tiefen der Erde entsprungen, durch Risse, die sich während der Wiedergeburt aufgetan hatten. Das klang in meinen Ohren ziemlich albern. Aber wenn man bedachte, wozu ich fähig war, konnte ich die Idee dahinter nicht vollkommen abtun.

Nicht dass ich mich selbst mit den Gargoyles vergleichen wollte. Reev hatte mir versichert, dass die Geschichten nur Unsinn wären und die Gargoyles niemals die Außenmauer der Stadt überwinden könnten. Nur um sicherzugehen, hatte ich ihm das Versprechen abgenommen, dass es wirklich so war. Anders als ich hielt Reev nämlich seine Versprechen.

KAPITEL 3

Am nächsten Morgen wartete auf der Arbeitsfläche der Küche ein Sandwich auf mich. Reev hatte es für mich vor dem Schlafengehen gemacht und »Iss nur mit einem Lächeln!« auf das Einwickelpapier geschrieben.

Ich packte es aus, dann goss ich mir den letzten Schluck Wasser aus der Kanne ein. Ich würde später an der Pumpe mehr holen. Reev traute dem Pumpenwasser nicht, doch es schmeckte nicht schlecht. Vielleicht ein wenig metallisch, doch was sollte das schon schaden?

Ich setzte mich auf den wackeligen Hocker und aß direkt an der Arbeitsfläche. Auf seiner Pritsche in der Ecke drehte sich Reev im Schlaf um. Er kam normalerweise gegen Sonnenaufgang von der Arbeit, und er machte mir immer Frühstück, bevor er ins Bett ging.

Er lag auf der Seite, einen Arm so über den Kopf gelegt, dass ich lediglich den verwuschelten Haarschopf oberhalb seines Oberarms sehen konnte. Nur im Schlaf wirkte Reev jemals entspannt.

An seinem Haaransatz im Nacken, verborgen unter den wilden Locken, befand sich ein aufwändiges Tattoo in Form eines Rechtecks, das an den Enden ein wenig schmaler wurde. Im Moment war es nicht sichtbar, doch ich wusste genau, wie es aussah. Die Linien waren leicht erhaben, wie bei einer Narbe. An den Rändern glänzte die gespannte Haut ein wenig heller als der Rest. Ich hatte ihn mehr als einmal nach der Tätowierung gefragt, doch Reev weigerte sich, darüber zu reden. Das Einzige, was ich wusste, war, dass er es unter Hemden mit hohem Kragen und seinen Haaren versteckte.

Reevs großer Körper passte kaum auf die Liegefläche. Ab den Unterschenkeln hingen seine Beine in der Luft, und seine breiten Schultern ragten links und rechts über die Pritsche hinaus. Ich hatte keine Ahnung, wie er so schlafen konnte. So amüsant der Anblick auch war, gleichzeitig faszinierte mich, wie er dalag – mit leicht geöffnetem Mund, entspannten Muskeln und unordentlich herumliegenden langen Gliedmaßen. Manchmal lag ich morgens einfach auf meiner Pritsche an der anderen Seite unserer Box und beobachtete, wie sich Reevs Brust hob und senkte.

Unsere gesamte Wohnung bestand aus einem einzigen Raum – einem Frachtcontainer, um genau zu sein. Züge waren, wie die meiste industrielle Technologie, seit der Wiedergeburt nicht mehr in Betrieb. Aber auf dem Schrottplatz, aus dem sich das Ostquartier gebildet hatte, gab es noch Reste eines Umschlagbahnhofs. Unzählige Reihen hoch aufragender Frachtcontainer formten einen gigantischen Würfel aus Metall und Verfall. Das Labyrinth war um und in diesem Wust aus Containern entstanden. Wände und Dächer waren eingezogen, Flure und Treppen in die Lücken gebaut worden, um alles miteinander zu verbinden. Die einzigen Menschen, die wussten, wie man sich im Labyrinth zurechtfand, waren die Anwohner, und wir hüteten unsere Geheimnisse sorgfältig. Das sorgte dafür, dass das Ostquartier der perfekte Ort war, wenn man untertauchen wollte.

Das Gurken-Salat-Sandwich schmeckte fad, trotzdem wanderten meine Mundwinkel wegen Reevs alberner Nachricht nach oben. Als ich noch jünger war, hatte er mir ständig solche Zettel hinterlassen. Inzwischen tat er es seltener, auch wenn ich mir im Stillen wünschte, er hätte die Gewohnheit beibehalten.

ENDE DER LESEPROBE