Ninurta - Die Unendlichen - Lori Lee - E-Book

Ninurta - Die Unendlichen E-Book

Lori Lee

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Um ihre Familie zu schützen muss sie ihre Ideale verraten

Bisher hat Kai immer geglaubt, die größte Gefahr für Ninurta käme aus dem Inneren der Stadt. Nun aber steht eine Rebellenarmee vor den Mauern, und Ninurta gleicht mehr denn je einem beklemmenden Gefängnis. Außerdem scheint ausgerechnet Reev, Kais Bruder, mit den Rebellen zu sympathisieren. Kai setzt alles daran, um der Stadt den Frieden zurückzubringen. Allerdings hat sie ihre Fähigkeit, die Fäden der Zeit zu sehen und zu manipulieren, verloren. Und viel zu spät erkennt sie, dass der Krieg nur der Beginn einer noch größeren Bedrohung ist …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 452

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Bisher hat Kai immer geglaubt, die größte Gefahr für Ninurta käme aus dem Inneren der Stadt. Nun aber steht eine Rebellenarmee vor den Mauern, und Ninurta gleicht mehr denn je einem beklemmenden Gefängnis. Außerdem scheint ausgerechnet Reev, Kais Bruder, mit den Rebellen zu sympathisieren. Kai setzt alles daran, um der Stadt den Frieden zurückzubringen. Allerdings hat sie ihre Fähigkeit, die Fäden der Zeit zu sehen und zu manipulieren, verloren. Und viel zu spät erkennt sie, dass der Krieg nur der Beginn einer noch größeren Bedrohung ist …

Autorin

Lori M. Lee wurde in den Bergen von Laos geboren und verbrachte einige Jahre in einem Flüchtlingscamp in Thailand, bevor sie mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte. Derzeit lebt sie mit ihrem Ehemann in Wisconsin und arbeitet als Internetexpertin für eine große Zeitschrift. Außerdem schreibt sie einen Blog und twittert, wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Roman arbeitet.

Von Lori M. Lee bereits erschienen:

Die Fäden der Zeit

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvale und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Lori M. Lee

Ninurta – Die Unendlichen

Roman

Deutsch von Vanessa Lamatsch

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Tite »The Infinite« bei Skyscape, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Lori M. Lee

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraf unter Verwendung einer Illustration von Melanie Korte, Inkcraft

JvN · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18657-9V001

www.blanvalet.de

Für Cha

KAPITEL 1

Ich lebte im Haus des Mannes, den ich umgebracht hatte. Dieser Gedanke kam mir erst zwei Monate nach seinem Tod, als die Albträume begannen. Vielleicht, weil der Palast eine weitläufige und schwelgerische Ablenkung geboten hatte, mit dem schönen Schein seiner weißen Hallen und der scharlachfarbenen Banner.

Vielleicht aber auch, weil ein Teil von mir – ein Teil, den ich nicht wahrhaben wollte – genauso gefühlskalt war wie die Unendlichen.

Diese Vorstellung machte mir manchmal Sorgen, doch meinen Albträumen gelang es immer schnell, den Gedanken zu vertreiben. Außerdem, wenn es wahr gewesen wäre, hätte es weniger geschmerzt, Avan jeden Tag zu sehen.

Der Schmerz hielt mich allerdings nicht von ihm fern.

»Wo wollt ihr heute hin?«

Der Spiegel an der Wand zeigte meinen Bruder, Reev, der mit verschränkten Armen hinter mir stand und sich vergeblich bemühte, nicht grimmig dreinzuschauen. Für jede andere Person hätte er wahrscheinlich angemessen imposant gewirkt, aber ich lächelte nur. Wir lebten nicht mehr im Labyrinth, und es amüsierte mich zu sehen, wie schwer es Reev fiel zu akzeptieren, dass ich mich nicht länger an seine Anweisungen halten musste.

Statt ihm zu antworten, griff ich nach dem Kamm auf der Kommode. Ich zog die feinen Metallzinken durch meine Haare und nahm mir Zeit, die Knoten in den langen, schwarzen Strähnen zu lösen. Der Kamm war ein Geschenk von Avan gewesen. Die Biegung seines Rückens lag angenehm in meiner Handfläche und leuchtete in glänzendem Blau. Immer, wenn ich ihn benutzte, dachte ich darüber nach, wie wenig dem alten Avan ein hübscher Kamm bedeutet hätte.

Das war alles so falsch. In den letzten Monaten hatte ich mich daran gewöhnt, im Palast zu wohnen. Aber die Annehmlichkeiten beunruhigten mich auch.

Der Raum, der mir zugeteilt worden war – ich sa ihn inzwischen als mein Zimmer –, war doppelt so groß wie der Container, den ich mir im Labyrinth mit Reev geteilt hatte; und da war der Waschraum daneben noch nicht mitgerechnet. Farbenfrohe, kunstvoll gewebte Teppiche hingen an den weißen Steinwänden. Im Herd flackerte ein Feuer. Am Leben gehalten wurde es von einem Diener, der nur auftauchte, wenn ich nicht da war, weil ich mich weigerte, mich von den Palastdienern umsorgen zu lassen. Dicke Teppiche wärmten den Boden. Auf einer erhabenen Plattform an einem Ende des Raums thronte ein riesiges Himmelbett, dessen Baldachin von dünnen weißen unter dickeren roten Vorhängen gebildet wurde.

In der ersten Woche hatte ich im Sessel geschlafen, weil mir das Bett so übertrieben erschienen war. Die Schmerzen in meinem Rücken hatten mich letztendlich zum Umzug gezwungen.

Eigentlich hatten wir nur vorübergehend hier bleiben wollen, doch unsere Wohnung im Labyrinth war von neuen Bewohnern bezogen worden. Außerdem wäre ich sowieso ungern ins Labyrinth zurückgekehrt, und das Nordviertel wühlte zu viele Erinnerungen auf.

Ich fragte mich, ob Reev wohl ähnlich empfand – oder ob es für ihn noch schlimmer war, sich im Weißen Hof aufzuhalten, nachdem er doch ein Sentinel gewesen war.

»Kai«, drängte Reev ungeduldig.

Ich legte den Kamm beiseite und drehte mich auf meinem Hocker, um ihn anzusehen. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«

Er ließ die Arme sinken und lockerte seine Schultern, die unter der Tunika angespannt wirkten. »Hat er sich … an etwas erinnert?«

Meine Erheiterung über Reevs Kontrollversuche verpuffte. Ich stand auf und wandte mich ab, um nach dem Kleid zu greifen, das über der Lehne des Sessels lag. Meine Hand berührte den dunkelgrünen Stoff.

»Nein«, antwortete ich.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus, und mein Blick glitt über den mit dunkelgrünem Damast bezogenen Stuhl. Ich hob das Kleid hoch, legte es mir über den Arm und drehte mich wieder zu Reev um.

Er lehnte im Türrahmen und musterte mich mit schräggelegtem Kopf. Ich hatte keine Ahnung, was er gerade dachte.

»Glaubst du, das wird je geschehen?«

Ich packte das Kleid fester. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde nicht aufgeben.«

Reevs Lippen wurden schmal, und er blickte unglücklich drein. Er sah aus, als wollte er mit mir diskutieren, hielt jedoch den Mund. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte.

Wie konnte er einen derartigen Rummel um mein Kommen und Gehen veranstalten und sich andererseits weigern, die Dinge auszusprechen, die wirklich wichtig waren? Warum ging er so vorsichtig mit mir um? An diesem Tag in Kallas Turm, als ich Kahl Ninu getötet und damit dessen Kontrolle über Reev und die anderen Sentinel aufgehoben hatte, hatte sich eine Kluft zwischen Reev und mir aufgetan. Und trotz all meiner Bemühungen fand ich einfach keinen Weg, unsere Beziehung wieder in Ordnung zu bringen.

Reev hatte mir erlaubt, ihm Fragen über den Tag zu stellen, an dem er mich vor all diesen Jahren am Flussufer gefunden hatte. Aber er weigerte sich immer noch, über seine Vergangenheit zu reden – die Zeit, bevor mein Vater Kronos ihn das erste Mal befreit hatte. Es war nicht so, als müsste er mir diese Dinge anvertrauen. Ich verstand sein Bedürfnis, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber er wirkte schuldbewusst, weil er seine Geheimnisse für sich behielt. Und wegen dem, was mit Avan geschehen war.

Die wachsende Kluft zwischen uns war nicht nur Reev anzulasten. Ich hatte meinem Bruder erklärt, dass ich ihm seine Handlungen nicht übelnahm. Das entsprach allerdings nicht ganz der Wahrheit, und ich hatte das Gefühl, dass er das wusste. Mein Groll war ein ständiges Ärgernis, wie ein Stein im Schuh, den ich einfach nicht loswerden konnte.

Das war dumm von mir. Reev war Kahl Ninus Macht genauso hilflos ausgeliefert gewesen wie Avan. Aber meinen Gefühlen waren Logik und Wahrheit relativ egal.

Ich hielt das Kleid hoch. »Ich sollte mich umziehen.«

Reev nickte. Bevor er sich abwandte, sagte er: »Sei vorsichtig da draußen. Es gab Probleme mit einigen der Sentinel.«

Ich hatte nichts von irgendwelchem Ärger mitbekommen, aber das bedeutete nicht viel, wenn man bedachte, dass niemand mir etwas erzählte. Obwohl ich Kahl Ninu getötet hatte, war ich offensichtlich nicht wichtig genug, um über alles informiert zu werden.

Trotzdem fiel es mir schwer, mich tatsächlich darüber zu ärgern. Im Grunde wollte ich einfach nur allein gelassen werden.

Sobald sich die Tür hinter Reev geschlossen hatte, packte ich den Saum meiner Tunika und zog sie mir über den Kopf. Dann schlüpfte ich zuerst in ein locker fallendes, cremefarbenes Unterhemd. Das grüne Kleid selbst bestand aus steifem Brokat mit einem wirbelnden, handgestickten Muster aus fahlgoldenen Fäden. Ich schob meine Hände durch die Ärmel und machte mich daran, das Kleid vorne zu schnüren. Wahrscheinlich wäre es mit Hilfe einfacher gewesen, aber der Gedanke, dass jemand mir beim Anziehen helfen musste, erschien mir irgendwie lächerlich.

Sobald das Kleid geschnürt war, lag es eng an meinem Oberkörper an, um dann ab der Hüfte weit zu fallen. Der vordere Teil des Rockes fiel in eleganten Falten bis auf die Mitte meiner Oberschenkel, aber der hintere Teil reichte bis zu meinen Knöcheln. Dazu gehörte eine Hose, die meine Beine wie eine zweite Haut umschloss. Der Palastvogt, Meister Hathney, hatte eine der begehrtesten Schneiderinnen des Weißen Hofes angewiesen, ein paar Kleider für mich anzufertigen.

Die Kleidung war noch so etwas, woran ich mich nicht gewöhnen wollte. Aber Meister Hathney war entsetzt gewesen, mich in der alten Tunika herumlaufen zu sehen, die Reev für mich genäht hatte. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, genoss ich es irgendwie, diese Kleider zu tragen. In ihnen fühlte ich mich auf eine Art und Weise mädchenhaft, wie ich es zuvor nicht gekannt hatte – es war mir allerdings auch nicht wichtig gewesen. Und ich sah auch nicht, wie es mir schaden könnte, wenn ich sie trug.

Nachdem ich in meine knöchelhohen Stiefel geschlüpft war, drehte ich mich zum Spiegel um. Ich erkannte das Mädchen kaum, das ich dort sah. Das Kleid war wie ein Kostüm, das mich in jemand anderen verwandelte. Ich kniff die Augen zusammen, um unter der Kleidung das Mädchen zu finden, das ich kannte. Mein Haar fiel mir inzwischen bis auf den Rücken und musste dringend einmal geschnitten werden. Ich war immer noch zu bleich, aber meine Wangen hatten ein wenig an Farbe gewonnen. Und ich sah insgesamt nicht mehr aus, als wäre ich vom Hungertod bedroht.

Ich strich mit den Handflächen das Kleid glatt. Meine Finger drückten gegen meinen Bauch, als könnte ich so meine Nervosität vertreiben. Obwohl ich mich fast täglich mit Avan traf, klopfte mein Herz jedes Mal wie verrückt. Ich konnte einfach nicht anders, als zu hoffen, dass er sich vielleicht heute an etwas erinnern würde.

Als ich mein Zimmer verließ, versenkte ich die Hände in den Taschen, die auf meinen Wunsch hin in den Rock eingenäht worden waren. Das Kleid sollte wenigstens in irgendeiner Weise praktisch sein. Reevs Tür lag nicht weit von meinem Zimmer entfernt. Sie war geschlossen. Trotzdem beschleunigte ich meine Schritte, nur für den Fall, dass er mich nochmal ausfragen wollte.

Ich kam an einem Dienstmädchen vorbei, das ein Gemälde abstaubte. Es gab sehr viele Diener in diesem Palast, der eigentlich nur sehr wenige Bewohner hatte. Die meisten Minister des Kahls wohnten in weitläufigen Gemächern irgendwo im Weißen Hof, wahrscheinlich mit ihrer eigenen Armee von Dienern. Ich hatte herausgefunden, dass die Sentinel in den Barracken hinter dem Palast lebten. Sie hatten ihre eigene Küche und Dienerschaft, außerdem eine Waffenkammer und einen Trainingshof. Die Barracken waren aus demselben weißen Stein erbaut wie der Palast und wiesen dieselbe Fülle an architektonischen Details auf.

Ich hatte keine Ahnung, wieso Kahl Ninu sich die Mühe gemacht hatte, so luxuriöse Unterkünfte zu bauen, wo seine ferngesteuerten Soldaten sie doch kaum zu schätzen gewusst haben dürften. Vielleicht hatte er einfach architektonische Einheit angestrebt.

Meine Schritte hallten von der hohen Decke wider, als ich in eine lange, helle Galerie abbog. Dies war einer meiner Lieblingsorte im Palast.

Kunstvoll gemeißelte Säulen standen in der Halle der Erinnerungen aneinandergereiht. Jede Säule zeigte ein anderes Motiv: in Pelzmäntel gekleidete Jäger auf Pferden; Herden von Engelshirschen, deren massives Geweih sich über ihre Köpfe erhob wie ein Heiligenschein; Haine voller Obstbäume; Rudel von großen, zotteligen Wesen mit zwei Schwänzen; selbst die karge Landschaft der Einöde, komplett mit Gargoyles.

Und so ging es weiter und weiter, eine Galerie der Geschichte, eingemeißelt in das Fundament des Palastes. Ich hatte ganze Tage damit verbracht, die fein gearbeiteten Bilder zu betrachten, meine Finger über die steinernen Kanten gleiten zu lassen. Ich fragte mich, ob Ninu sie in seiner Zeit als Kahl in Auftrag gegeben hatte oder ob die Bilder der lange verschwundenen Landschaften und Wesen schon vor der Wiedergeburt existiert hatten, was Kahl Ninu dazu gebracht hatte, die Tradition weiterzuführen.

Jenseits der Halle der Erinnerungen lag eine Wendeltreppe, dann folgte eine Reihe von Fluren mit Wänden, die bis auf vereinzelte Gemälde oder Wandteppiche kahl waren. Ich durchquerte den Thronsaal in Richtung der großen Tür, die nach draußen führte. Das Haus des Kahls war erstaunlich schlecht gesichert. Es gab keine Wachen auf dem Palastgelände. Die Wachen unterstanden dem Justizminister, und dessen Autorität endete vor den Toren des Palastes. Dies war die Domäne der Sentinel, und Kahl Ninu allein hatte sie beaufsichtigt.

Sentinel, die sich zum Bleiben entschlossen hatten, diesmal gegen Bezahlung, standen draußen und vor den Toren. Ohne Kahl Ninus Kontrolle hatten die Sicherheitsvorkehrungen allerdings ein wenig gelitten.

Ich musste die schwere, metallbeschlagene Tür mit beiden Händen aufdrücken. Licht fiel durch den Türspalt, und ich wandte den Kopf ab, als kühle Luft in den Raum drang.

»Du bist spät dran.«

Mein Magen machte einen vertrauten Sprung. Avan stand vor mir auf dem Pflaster des Hofes, und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Sein dunkles Haar war ordentlich nach hinten gekämmt, das Piercing in seiner Augenbraue hatte er schon lange entfernt, und er trug die prunkvolle Kleidung, die seiner neuen Stellung angemessen war. Seine Augen, die einst braun gewesen waren, leuchteten jetzt wie die Sonne hinter fahlen Wolken. Dies war nicht mehr der Junge aus der Allee. Und anders als mein Kleid war seine Erscheinung kein Kostüm.

Und doch, wenn ich sah, wie er dort stand – hoch aufgerichtet, selbstbewusst und verheerend schön –, fühlte ich ein Aufwallen von Wärme in meinem Bauch und von Schmerz in meiner Brust. Wenn ich mit ihm zusammen war, waren Schmerz und Sehnsucht meine ständigen Begleiter.

Avan streckte den Arm nach mir aus. Ich ergriff seine Hand, und meine Fingerspitzen glitten über die Schwielen auf seinen Handflächen. Sah er je in den Spiegel – betrachtete er die Tätowierung und die Narben und die Schwielen, diese Hinweise auf seine Vergangenheit – und fragte sich: Wer bist du?

»Sollte es nicht gerade dir leichtfallen, die Zeit im Blick zu behalten?«, fragte er, als er meine Hand auf seinen Unterarm zog. Zusammen wanderten wir den Weg entlang auf das kunstvolle schmiedeeiserne Tor zu, das auf die belebten Straßen des Weißen Hofes führte.

»Sollte man meinen«, murmelte ich und senkte den Kopf, bis meine Haare mein Gesicht verbargen.

Bevor all dies passiert war, hatte ich es genossen zu sehen, wie die Fäden der Zeit alles verbanden. Es hatte mir Spaß gemacht, meine Hände über die ständig fließenden Verbindungen gleiten zu lassen, sie leicht zu packen und zu beobachten, wie die Welt um mich herum stockte und langsamer wurde. Doch die Begegnung mit den Unendlichen hatte alles verändert, und ich hätte lieber meine Macht aufgegeben, als mich ihnen anzuschließen.

Und vielleicht war mir mein Wunsch erfüllt worden. Ich hatte die Fäden seit Kahl Ninus Tod nicht mehr berührt. In den Monaten danach hatte ich die schimmernden Fasern um mich herum ignoriert und ihre Existenz geleugnet – bis sie eines Tages langsam angefangen hatten zu verblassen.

Ich konnte die Fäden der Zeit nicht länger sehen, und noch weniger konnte ich sie beeinflussen.

KAPITEL 2

Niemand wusste davon. Und für den Moment wollte ich, dass es auch so blieb.

Jetzt, wo ich die von Kronos geerbte Fähigkeit verloren hatte, schien es plötzlich nicht mehr so wichtig zu sein, wie viel Zeit mir noch blieb, bevor Kronos zurückkehrte und Forderungen an mich stellte. Ich hatte versucht, mir die Fäden vorzustellen, hatte mir ausgemalt, wie ich meine Finger in den Strömungen der Zeit versenkte, aber nichts war geschehen.

Vielleicht bedeutete das, dass ich in meiner menschlichen Form feststeckte. Ich wusste nur, dass ich mich nicht länger fühlte, als liefe ich mit einer tickenden Uhr über dem Kopf herum. Was sollte Kronos mit einer Erbin anfangen, die keine Macht besaß?

Avan ließ seinen Daumen über meinen Handrücken gleiten, und seine Finger ruhten auf meinen Knöcheln. Diese körperliche Berührung, die Mühelosigkeit, mit der er sie eingefordert hatte, war etwas Neues. Als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er sich immer zurückgehalten – selbst als unser Umgang vertrauter wurde –, als wäre er sich nicht sicher, ob seine Berührungen auch willkommen waren. Dieser neue Avan kannte solche Bedenken nicht. Die turbulenten Jahre seiner Vergangenheit, die dunklen Episoden mit seinem Vater, der Junge, der sich hinter so vielen verschiedenen Masken versteckt hatte, dass man nie sagen konnte, welches sein wahres Gesicht war – all das war mit ihm gestorben.

Aber Spuren waren zurückgeblieben. Manchmal sagte er etwas oder sah mich auf eine bestimmte Art an, oder sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Und dann konnte ich ihn sehen – meinen Avan – direkt unter der Oberfläche, darum bemüht, nach oben zu dringen. Jedes Mal traf mich das, als hätte mich jemand in die Brust geschlagen; als würde ich ertrinken.

Aber letztendlich bildete ich mir das nur ein. Mein Avan erstickte nicht langsam hinter diesen leuchtenden Augen. Er war verschwunden.

Als einer der Unendlichen – fast gottgleichen, unsterblichen Wesen – war Avan nun die physische Inkarnation der Eroberung; erwählt, um Ninu zu ersetzen. Für mich … Ich wusste noch nicht, was er für mich darstellte. Aber ich versuchte, es herauszufinden.

Ein Grautier in Form eines Pferdes wartete auf der Straße vor dem Tor. Die unzähligen Metallplatten, aus denen sein Körper bestand, glänzten sogar im fahlen Licht, das durch die gelben Wolken drang. Der Graue war vor Kurzem gewaschen und poliert worden. Hinter dem Gitter in seiner Brust leuchtete der Energiestein in kräftigem Rot. Eine dicke Wulst zog sich um den Hals des Grautieres, wo das Metall wieder zusammengeschweißt worden war. Ich war unerwartet gerührt gewesen, als Mason mit Avans Grauem aus Etu Gahl angekommen war. Dieser Graue hatte Avan und mich weit getragen.

»Du siehst sehr schön aus«, sagte Avan mit einem anerkennenden Nicken in Richtung meines Kleides.

Ich bemühte mich, nicht verlegen an meiner Kleidung herumzuspielen. »Danke. Es ist « – ich befühlte die Schnürung über meinen Rippen – »ungewohnt.«

»Ungewohnt kann gut sein«, sagte Avan.

Ich legte den Kopf in den Nacken, um zu ihm aufzusehen. Mein Blick folgte den gezackten Linien seiner Tätowierung, die unter seinem hohen Kragen hervorspähte.

Ich wusste, dass sich die Tätowierung über seine Schulter und den Oberarm nach unten zog in Form eines knorrigen Baumes mit sich windenden Wurzeln. Die Äste erstreckten sich über Avans Brust, kahl bis auf drei hellgrüne Blätter. Diese Blätter hatten ihm einst etwas bedeutet. Interessierte es ihn zu erfahren, warum?

Ungewohnt konnte gut sein, aber ich wusste nicht, ob es besser war.

»Ist Reev dafür verantwortlich, dass du zu spät kommst?«, fragte Avan locker.

»Er wollte wissen, wo wir hingehen.«

Avan gab meine Hand frei, um den Sattel des Grauen zu packen und sich nach oben zu ziehen. Sobald ich hinter ihm saß, glitten meine Hände an seine Hüften, als hätten sie diesen Ort nie verlassen. Es schien falsch, in Bezug auf ihn so zu empfinden. Aber ich konnte nichts dagegen tun, dass mein Gesicht warm wurde und sich mein Pulsschlag beschleunigte. Wir hatten Stunden in dieser Position verbracht, auf genau diesem Grauen. Ich kannte jede Kurve, jede Stelle an Avans Rücken.

Genervt verdrängte ich diese Gedanken. Es war sinnlos, in Erinnerungen zu schwelgen, die es für ihn nicht mehr gab.

»Und wo wollen wir hin?«, fragte er, als er über die Schulter zu mir zurücksah.

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, meinte ich. »Lass uns einfach … reiten.«

Er wandte sich wieder nach vorne und beschäftigte sich mit den Kontrollen am Hals des Grauen. »Geht klar.«

Ich hätte gerne meine Wange an seinen Rücken gedrückt, tat es aber nicht. Bis jetzt gab es nichts zwischen uns außer Avans Wunsch, Zeit mit mir zu verbringen. Und ich besaß weder die Willensstärke noch das Herz, ihm diesen Wunsch abzuschlagen.

Unser Grauer trug uns über das Pflaster und reihte sich mühelos in den Verkehr ein, der so früh am Morgen noch nicht dicht war. Ich musterte die Gebäude, die an uns vorbeiglitten: hohe Bauten aus Stein und Glas, aufgelockert von kleineren, gedrungenen Geschäften aus rotem Ziegel, geziert von glänzenden Schildern. Leute waren unterwegs und schlenderten über die Gehwege, in ordentlichen grauen Tuniken mit bestickten Ärmeln oder farbenfrohen Kleidern mit engen Bustiers, spitzenbesetzten Krägen, asymmetrischen Ausschnitten und dramatischen Turnüren. Es war ein vollkommen anderer Anblick als der, den ich aus dem Nordviertel gewohnt war.

Bis jetzt hatte ich keine großen Erkundungstouren in die Stadt unternommen, aber ich war der Mauer gefolgt, die sich um den westlichsten Teil des Weißen Hofes zog. Der Boden unter meinen Füßen war locker und körnig gewesen, wie Sand. Ich hatte sogar die Überreste von hölzernen Pfosten und Planken entdeckt, Hinweise auf ein Dock, das vor langer Zeit begraben worden war. Es war seltsam, darüber nachzudenken, dass diese Stadtmauern einst nicht existiert hatten; stattdessen hatte sich vor der Stadt ein weites Meer aufgetan, auf dem Fischerboote tanzten.

Kurz darauf hatten mich die Wachen entdeckt und mir befohlen, mich von der Mauer zu entfernen. Der Weiße Hof war nicht so weitläufig wie das Nordviertel, aber trotzdem gab es noch eine Menge zu sehen; und zumindest einen Teil davon wollte ich mit Reev erkunden.

Obwohl ich damit zufrieden gewesen war, im Labyrinth zurechtzukommen, war ich doch froh, dass Reev sich nicht mehr darum sorgen musste, unseren Lebensunterhalt zu sichern. Jetzt konnte er mit seinen Tagen anfangen, was auch immer er wollte, statt lange Stunden im Tobenden Stier zu arbeiten.

Ich atmete tief durch. Selbst die Luft roch im Weißen Hof besser. Es fehlte die saure Note des Mülls in den Rinnsteinen und auch die bittere Muffigkeit des Flusses.

Aber ich vermisste den Fluss. Nicht den Gestank oder die baufällige Brücke, die jedes Jahr ein paar Planken mehr verlor; und definitiv nicht die Bordelle wie den Tobenden Stier entlang der Docks. Ich vermisste die Spaziergänge, die Reev und ich am Ufer gemacht hatten, und wie er mir beigebracht hatte, Steine übers Wasser hüpfen zu lassen – oder wo ich hintreten musste, damit meine Füße nicht im zähen Schlamm versanken.

Ein Späher – ein schnittiges Grautier für nur einen Reiter in Form einer großen Katze – sauste vorbei. Sein Sentinel-Reiter lenkte ihn um den Verkehr herum. Der Späher bog auf die Hauptstraße ab und sprang durch die Tore der sechs Meter hohen Mauer, die den Weißen Hof vom Nordviertel trennte.

»Was glaubst du, wo sie hinwollen?«, fragte ich und sah dem Späher hinterher, bis er aus dem Sichtfeld verschwand.

Avan schüttelte kurz den Kopf. »Ich habe nie daran gedacht, Kalla danach zu fragen.«

»Was hat sie in letzter Zeit so getrieben?«, fragte ich. Kalla war unter denen, die im Nordviertel gelebt hatten, als »Der Tod« bekannt gewesen, weil sie Kahl Ninus Scharfrichter gewesen war. Nachdem ich von der Existenz der Unendlichen erfahren hatte, hatte ich herausgefunden, dass sie tatsächlich der Tod war. Mit ihrer Sense, getarnt als normales Messer, war es mir gelungen, Kahl Ninu zu töten.

Ich hatte Kalla seit Wochen nicht gesehen. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte, aber es machte mich immer misstrauisch, wenn sich die Unendlichen so ruhig verhielten.

»Sie arbeitet die neue Kahl ein. Anscheinend ist das ein ziemlich komplizierter Job«, meinte Avan trocken. »Sie versucht, die Minister auf Kahl Mirayas Seite zu ziehen. Es ist einfacher, mit den momentanen Beamten zu arbeiten, als ganz neue einsetzen zu müssen. Ich glaube, sie kooperieren.«

»Endlich«, murmelte ich, und Avan gab ein zustimmendes Brummen von sich.

Als Kalla Kahl Ninus Nachfolgerin verkündet hatte, hatten die Minister heftigen Einspruch erhoben. Nachdem sich die Sentinel nach dem Tod von Kahl Ninu in alle Winde zerstreut hatten, hatten die Minister darauf beharrt, dass eine Kahl, die nicht einmal die Loyalität ihrer persönlichen Wachen besaß, nicht das Recht hatte, irgendwen zu regieren. Sie hatten nicht gewusst, dass die »Loyalität« der Sentinel Kahl Ninu gegenüber nur den Halsbändern zu verdanken gewesen war und dass sein Tod ihnen die Freiheit geschenkt hatte.

Seitdem waren viele Sentinel aus freiem Willen zurückgekehrt. Nach einem kurzen Versuch, die Sentinel für sich selbst anzuheuern – eine Bestrebung, die Kalla schnell unterbunden hatte –, schien den meisten Ministern inzwischen aufgefallen zu sein, dass ihr eigenes Leben – und ihre politische Stellung – auf dem Spiel stand.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass Avan – obwohl sich alles verändert hatte – immer noch meine beste Informationsquelle war.

Während Avan anfing, über einen Straßenschmied zu sprechen, den er kennengelernt hatte, glitt mein Blick immer wieder zu dem offenen Tor zum Nordviertel. Avan lenkte den Grauen nach rechts, auf Pennys Bäckerei zu, meinen Lieblingsladen im Weißen Hof.

Ich packte seinen Arm. »Lass uns ins Nordviertel reiten.«

Avan zögerte, und seine Muskeln verspannten sich unter meiner Berührung. Aber einen Moment später wendete er den Grauen, und wir bogen auf die Hauptstraße ein.

»Ich dachte, dort gefällt es dir nicht«, meinte er.

»Das habe ich nie gesagt.« Ich mochte es nur nicht, dass mich das Viertel ständig an Avans Tod erinnerte. Was ziemlich unlogisch war, weil mich ja auch jeder Moment, den ich mit ihm verbrachte, daran erinnerte.

Das wäre mein zweiter Ausflug ins Nordviertel, seit wir nach Ninurta zurückgekehrt waren. Das erste Mal war gewesen, als ich herausgefunden hatte, dass die Sprecher des Labyrinths den Frachtcontainer, in dem ich mit Reev gelebt hatte, geräumt und ihn neuen Bewohnern zugeteilt hatten. Bis jetzt hatte mir der Mut gefehlt, Avans Eltern zu besuchen. Als er mit mir aufgebrochen war, um Reev zu finden, hatte er sich nicht von ihnen verabschiedet. Sie wussten nicht, wohin er gegangen oder warum er nicht zurückgekehrt war – warum er vielleicht nie zurückkehren würde. Ich schuldete ihnen eine Erklärung. Aber im Moment konnte ich mich ihnen einfach noch nicht stellen.

Unser Grauer allein würde keine große Aufmerksamkeit erregen, aber unsere Kleidung schon. Ich wünschte mir, ich hätte schlichtere Kleidung gewählt. Leute aus dem Weißen Hof schlenderten gewöhnlich nicht durch die Allee, und wenn sie es doch einmal taten, dann gewöhnlich erfüllt von neugieriger Geringschätzung. Ich spürte einen Stich Selbstekel, weil die Leute aus der Oberen Allee mich in diesem Licht betrachten würden. Vielleicht sollten wir umdrehen und uns umziehen.

Aber Avan zügelte bereits unser Reittier, weil wir uns dem diensthabenden Wachmann näherten. Dann erklärte er ihm bestimmt, dass wir einen Ausflug ins Nordviertel planten. Der Wachmann – derselbe, der mich früher immer durchgewunken hatte, als ich noch für das Postzentrum des Viertels gearbeitet hatte – nickte freundlich. Er wirkte wie ein anständiger Kerl. Aber dass er so nett zu Avan war, war nur der Farbe und dem Stil von Avans Kleidung geschuldet.

Die Tunika war dunkelrot und maßgeschneidert, um Avans breite Schultern zu betonen. Sie fiel bis über seine Hüften, wobei ein breites, geflochtenes Lederband als Gürtel diente. Die Säume waren mit einem goldenen Muster bestickt, das an das Wappen von Ninurta erinnerte – das Schwert und die Sense. Nur ein paar Leuten war erlaubt, dieses Muster zu tragen. Zusammen mit der schwarzen Hose und den Lederstiefeln verriet die gesamte Uniform deutlich, dass Avan ein Mitglied des privaten Rates der Kahl war.

Der Wachmann verbeugte sich erst vor Avan und dann vor mir, wobei er mir ein höfliches, aber unpersönliches Lächeln schenkte. Er erkannte mich nicht. Nicht, dass ich damit gerechnet hätte. Wann immer er mich gesehen hatte, war ich einfach eine weitere Briefträgerin aus der Allee gewesen, erschöpft und unterernährt.

Avan trieb unseren Grauen an, und wir drangen ins Nordviertel vor. Während Avan unser Reittier lenkte, musterte ich die vertrauten, heruntergekommenen Straßen. Die Läden, mit ihren zerrissenen Markisen und der abblätternden Farbe, hatten sich nicht verändert. Genauso wenig wie die einfachen braunen Gebäude, in denen hin und wieder ein zerbrochenes Fenster klaffte. Trotz der Tatsache, dass die Leute auf den Gehwegen uns mit misstrauischen und manchmal sogar hasserfüllten Blicken musterten, überschwemmte mich eine Welle der Nostalgie.

»Kai.« Avan drehte den Kopf nach hinten, sodass ich sein Profil sah. »Wohin?«

»Lass uns da lang reiten«, sagte ich und deutete auf eine Ecke vor uns, von der eine viel kleinere Straße abging.

Die Muskeln in Avans Rücken hatten sich in dem Moment verspannt, in dem wir ins Nordviertel eingedrungen waren, und bis jetzt hatten sie sich noch nicht wieder gelockert. Avans Unruhe hätte mich beinahe zum Lachen gebracht; aber nicht, weil die Situation witzig war. Okay, ein wenig witzig war es schon, aber das war nicht der Grund. Mein alter Avan hatte immer perfekt vortäuschen können, alles wäre in Ordnung, selbst wenn die angemessene Reaktion in bestimmten Situationen eigentlich eher Panik gewesen wäre. Manchmal fand ich es einfach erfrischend, wie offen dieser neue Avan seine Gefühle zeigte.

»Erinnerst du dich an etwas davon?«, fragte ich.

Soweit ich wusste, war dies sein erster Ausflug ins Nordviertel, seit Kalla ihn von den Toten zurückgeholt hatte. Ich konnte die Antwort an der Art erkennen, wie er seine Umgebung musterte; es dauerte ein wenig zu lange. Sein Blick glitt über ein großes Schlagloch in der Straße, dann weiter zu einem Netz aus Rissen im Gehweg. Die zerstörten Steine hatten die Wiedergeburt überlebt, als die Raserei eines magischen und technologischen Krieges die Welt erschüttert, Berge zerstört, Meere verbrannt und die Erde aufgerissen hatte.

Er runzelte die Stirn, als er den Kopf in den Nacken legte, um die Wäscheleinen über unseren Köpfen anzusehen. Es war seltsam zu beobachten, wie zögernd er seine Umgebung begutachtete. Einst hatte er diese schiefen Gebäude und dunklen Ecken genauso gut gekannt wie ich. Vielleicht sogar besser.

»Nein«, sagte er, doch eine leise Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit, die in mir einen Funken Hoffnung entzündete.

»Woran erinnerst du dich?« Bisher hatte ich gezögert, diese Frage zu stellen, weil ich gar nicht so genau wissen wollte, wie einsam er sich fühlte. Ich wusste schließlich, wie es war, nichts über sich selbst zu wissen bis auf das, was man genau in diesem Moment berührte und sah und fühlte.

Jetzt allerdings hatten mich die Neugier und dieser Hoffnungsfunke überwältigt, und ich wartete auf seine Antwort.

Er ließ sich Zeit. »Ich erinnere mich an zu viel und zu wenig. Es gibt Erinnerungen von der Person, die vor mir Eroberung war, und an die Person davor – Bilder von Dingen, die ich in Geschichtsbüchern nachschlagen musste, um zu verstehen, was ich sehe; aber da sind auch Momente mit starken, emotionalen Verbindungen. Es ist ein einziger Wirrwarr«, murmelte er, »als hätte jemand die Teile verschiedener Puzzles vermischt, sodass niemals ein komplettes Bild entstehen kann.«

Ich strich mit dem Daumen über seinen Arm, um ihm damit wortlos meine Unterstützung zu signalisieren. Angesichts der Umstände war es ein Wunder, dass er überhaupt so gefasst war.

»Was ist mit deinem vorherigen Leben? Nicht als Eroberung, sondern als … Avan?«

Diesmal dauerte es noch länger, bis er antwortete. »Es ist schwer zu beschreiben«, meinte er schließlich. »Es ist wie … Gewitterwolken anzusehen und zu wissen, was kommen wird – der kalte Schock der ersten Regentropfen auf der Haut, das Grollen des Donners und die Art, wie der Donner den Boden unter deinen Füßen zum Zittern bringen kann, wenn das Gewitter direkt über dir ist. Aber gleichzeitig kann ich mich nicht daran erinnern, woher dieses Wissen stammt.« Er sah zu mir zurück. »Oder wieso ich, schon bevor Kalla uns vorgestellt hat, die genaue Farbe deiner Augen hätte beschreiben können.«

Mein Daumen beschrieb weiterhin Kreise auf seinem Arm, während ich über seine Worte nachgrübelte. Tatsächlich schien er eine bessere Basis gefunden zu haben als ich, als ich acht Jahre alt gewesen war. Ich wies ihn mit einer Handbewegung an, nach links abzubiegen, dann deutete ich auf die Kreuzung vor uns.

»Halt dort an«, sagte ich.

Avan lenkte unser Grautier an den Straßenrand und stoppte es direkt an der Ecke. Auf dem Gehweg stand ein Laternenmast, auf dem ein Poster klebte, zu verblasst, um noch lesbar zu sein. Avan sah zu mir zurück, eine Augenbraue fragend hochgezogen.

Genau auf der anderen Seite der Kreuzung, an der Ecke, lag ein Laden. Grüne Farbe blätterte vom Gebäude ab, und über dem Schaufenster stand der Name Drivas. Der Laden sah genauso aus wie damals, als Avan ihn verlassen hatte – nur dass das Fenster inzwischen zerbrochen und notdürftig mit Holzplanken vernagelt worden war. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir vorstellen, wie Avan in einer grauen Tunika auf dem Gehweg saß, eine Tasse Wasser in der Hand.

Ein paar Jungs verlangsamten ihre Schritte, als sie an uns vorbeikamen, und ich bedachte sie mit einem harten Blick. Wir waren zu auffällig, standen hier herum wie ein Leuchtfeuer, das Straßengangs und Diebe anzog. Avan und ich wäre keine einfachen Opfer, selbst ohne meine Kräfte, aber wir wirkten so.

Avans Blick ruhte jetzt auf dem Ladenschild auf der anderen Straßenseite. Ich konnte nur sein Profil sehen, aber er hatte die Stirn gerunzelt, als versuche er sich zu erinnern.

»Drivas«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Mein Nachname.«

Bitte. Bitte erinnere dich.

»Avan?«, sagte eine Stimme.

Kaltes Entsetzen jagte mir einen Schauder über den Rücken. Für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, den Mann, dem die Stimme gehörte, einfach zu ignorieren und Avan zu sagen, er solle weiterreiten.

Aber ich konnte es nicht, also drehte ich mich um. Ich wusste genau, wen ich sehen würde.

KAPITEL 3

»Was soll das?« Herr Drivas machte eine Geste, die Avans feine Kleidung und seine Frisur einschloss. Mir dagegen gönnte er nicht mehr als einen herablassenden Blick. »Wo bist du gewesen?«

Der halb gegessene Apfel in seiner Hand entglitt seinen schlaffen Fingern und rollte in den Rinnstein. Er bemerkte es nicht einmal. Er hatte dieselbe olivfarbene Haut wie Avan, doch sein Gesicht verdunkelte sich bereits vor Wut.

Drak. Ich war davon ausgegangen, dass Avans Vater entweder im Laden arbeitete, oder in seinem Bett im ersten Stock lag, betrunken wie gewöhnlich. Das Letzte, was ich gewollt hatte, war eine Konfrontation, für die keiner von beiden bereit war.

»Du bist ohne ein Wort verschwunden«, sagte Herr Drivas mit lauter Stimme. Die Leute auf der Straße gafften jetzt richtig, selbst die, die uns vorher noch nicht angestarrt hatten. »Deine Mutter dachte, du wärst tot!«

»Meine Mutter?«, murmelte Avan und sah wieder zum Laden.

Mir wurde klar, dass ich meine Finger in seiner Hüfte vergrub, und zwang mich, meine Hände zu lockern. Avan war angespannt, aber er schien nur wachsam, ohne Angst. Dieser Avan hatte keinen Grund, seinen Vater zu fürchten.

»Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?« Herr Drivas verzog angewidert den Mund. Er wäre vielleicht ein gutaussehender Mann gewesen, hätte ihn das jahrelange Trinken nicht zugrunde gerichtet. Jetzt wanderte sein Blick zu mir, und bei dem Ausdruck auf seinem Gesicht wäre ich am liebsten von dem Grauen geklettert, um meinen Fuß noch einmal in seiner Leistengegend zu versenken. »Ich sehe schon, wie die Dinge liegen«, sagte er zu Avan. »Du hast dich endlich nach oben gehurt und jemanden mit Geld gefunden.«

Avan antwortete nicht, aber ich keuchte auf. Ich fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde vor Wut. Schon einen Augenblick später stand ich auf dem Gehweg und schrie Herrn Drivas ins Gesicht: »Sie sind abscheulich. Wie können Sie so schreckliche Dinge zu Ihrem eigenen Sohn sagen?«

Herr Drivas musterte mich von oben bis unten, bevor er einen drohenden Schritt nach vorne machte. Ich ließ es zu, wobei ich ihm unverwandt in die Augen sah. Er machte mir keine Angst. Ein schnelles Heben meines Knies, und er läge zusammengerollt auf dem Boden. Das wäre nicht das erste Mal.

»Machen Sie nur, beschützen Sie Ihr Spielzeug«, spie er mir mit einem angewiderten Blick zu Avan entgegen. »Wer zum Drak sind Sie über…« Er brach ab und kniff die Augen zusammen. »Du.«

Die Art, wie er es betonte – so viel Bösartigkeit in einem Wort. Ich zuckte zusammen.

Hinter mir konnte ich hören, wie Avan aus dem Sattel stieg. »Kai, was …«

»Ich hätte wissen müssen, dass du das bist«, sagte Herr Drivas. Er pikte mich mit dem Finger in die Brust, direkt unter dem Schlüsselbein. Dabei stand er so nahe vor mir, dass ich seinen sauren Atem im Gesicht spüren konnte. »Du bist ständig vorbeigekommen; hast Avan von seinen Pflichten abgelenkt und dich benommen, als wärst du etwas Besseres.« Sein Blick schoss wieder zu Avan, und seine Miene wurde noch grimmiger, als machte es ihn wütend, dass Avan keine Angst vor ihm zeigte. »Ich hätte dich schon vor langer Zeit in deine Schranken weisen …«

Plötzlich wurde er von mir weggerissen. Ich blinzelte und trat einen Schritt zurück. Avan hatte seinen Vater am Kragen gepackt.

»Falls du sie noch einmal bedrohst, werde ich dir die Zunge herausreißen und dich zwingen, sie an einer Kette um den Hals zu tragen«, sagte Avan. Jedes Wort, das er sprach, schien in der Luft hängen zu bleiben, erfüllt von dieser brennenden Macht, die er besaß, aber bis jetzt immer zurückgehalten hatte. Das Gold seiner Augen brannte, als würde tief in ihm ein Hochofen glühen.

»Avan«, sagte ich, als Herr Drivas in Avans Griff zusammensank. Angst erfüllte seine Miene. Ich drückte eine Hand auf Avans Schultern. »Hör auf.«

Er gab seinen Vater frei, der mit bleichem Gesicht rückwärtsstolperte.

»Wer bist du?«, fragte Herr Drivas. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass ich fast fürchtete, sie würden ihm aus dem Kopf fallen.

Ich packte Avans Arm und zerrte ihn zurück zu unserem Grauen. »Wir sollten verschwinden.«

Glücklicherweise widersprach Avan nicht. Innerhalb von Minuten befanden wir uns wieder auf der Hauptstraße.

»Es tut mir leid«, sagte ich und rieb mir die Schläfe. Mein Kopf tat weh. »Ich bin ein Idiot. Ich hätte dich nicht dort hinbringen dürfen. Aber ich dachte, es würde deinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen.«

Avan zuckte mit den Schultern, aber die Bewegung wirkte gezwungen. »Ich nehme an, das war mein Vater.«

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er auf der Straße ist.«

Avan antwortete nicht. Ich überließ ihn seinen Gedanken, während wir uns wieder dem Tor zum Weißen Hof näherten. Auf beiden Seiten der Straße hatten Leute auf den Gehwegen angehalten. Jetzt, wo ich auf sie achtete, drang ihr lautes Murmeln an mein Ohr. Wohin schauten sie alle?

Ich spähte über Avans Schulter. Vor uns quoll schwarzer Rauch aus dem Turm des Todes.

KAPITEL 4

Bis wir den Weißen Hof wieder erreichten, war es fast unmöglich, die Menge zu durchdringen, die sich vor dem hohen Eisenzaun drängte, der den Palast umgab. Avan lenkte unseren Grauen vor dem Eingang in die Menge. Wachmänner sahen uns kommen und drückten das Tor gerade weit genug auf, um uns durchzulassen.

Avan steuerte den Grauen vom Pfad herunter, quer über den Rasen. Die anderen Regierungsgebäude verdeckten den Blick auf das Fundament von Kallas Turm, aber noch immer waberte dunkler Rauch gen Himmel.

»Wo sind die Sentinel?«, fragte ich, als ich zu den Wachmännern zurücksah, die das Tor gegen den Andrang der Gaffer verschlossen und verriegelt hatten. Es waren die Sentinel, die das Palastgelände bewachen sollten, nicht die Wachen.

»Beschäftigt«, sagte Avan.

Ich wandte mich wieder nach vorne, um zu verstehen, was er meinte. Inzwischen war Kallas Turm in Sicht gekommen. Die Glastüren standen weit offen. Rauch drang daraus hervor, und im Innenraum tanzte ein rotes Glühen. Hüllen und Sentinel stießen im Chaos zusammen. Die Hüllen waren ehemalige Sentinel, die inzwischen Ninus Bruder Irra Loyalität geschworen hatten. Ich zuckte zusammen, als ich sah, wie eine Hülle ihre Faust auf die Nase eines Sentinel schmetterte. Was war hier los?

Inmitten von Kampf und Rauch entdeckte ich einen sandblonden Haarschopf.

»Mason.« Mason war eine Hülle, die ich vor ein paar Monaten auf meiner Suche nach Reev kennengelernt hatte. Seitdem war er zu einem meiner besten Freunde geworden.

Er setzte sich gegen einen viel größeren Sentinel zur Wehr. Ich drehte mich im Sattel, bereit, mein Bein über den Rücken des Grauen zu schwingen, aber Avan legte mir die Hand auf den Schenkel und hielt mich zurück. Ich schob sie zur Seite, irritiert, weil mein Körper sofort auf seine Berührung reagierte.

»Er kommt schon klar«, sagte Avan. Unser Grauer schoss vorwärts, drängte sich zwischen den Kämpfenden hindurch und tauchte in die Hitze ein, die aus den Türen drang.

Ich drückte mein Gesicht gegen Avans Rücken und hustete, als mir der Rauch in die Nase stieg und meine Kehle reizte. Der Eingangsbereich stand in Flammen. Ich bedeckte Nase und Mund mit dem Ärmel meines Kleides und glitt aus dem Sattel, um mich auf den Boden zu kauern. Avan trieb den Grauen weiter, während ich in den Rauch starrte, um herauszufinden, was vor sich ging.

Vor uns führte ein Torbogen zu einer Treppe, die sich bis ins oberste Stockwerk des Turms schraubte. Eine Gruppe Sentinel hatte sich vor dem Bogen versammelt. Avan stoppte den Grauen vor ihnen, und die Hufe seines Reittiers rutschten über die glänzenden Fliesen. Irra stand ein paar Schritte über ihm auf einem Treppenabsatz. Ich konnte die beeindruckende Präsenz des Unendlichen fühlen wie ein kühles Vakuum, das die Hitze aufsaugte, die den Eingangsbereich erfüllte.

Hinter ihm war ein beachtlicher Teil der Treppe eingestürzt. Nur schwarzer Staub und pockennarbige Steine blieben zurück. Irras Werk. Als Personifikation der Hungersnot besaß er einen vernichtenden Einfluss.

Irra war niemand, der seine Macht grundlos zur Schau stellte. Für einen Moment erfüllte Angst meine Brust.

Die Sentinel traten nervös von einem Fuß auf den anderen, wahrscheinlich weil sie versuchten, ausreichend Mut zu fassen, um ihn anzugreifen. Ich war froh, dass Kalla schon vor Monaten allen Sentinel die Fackelklingen abgenommen hatte. Daher konnten sie nur ihre Fäuste gegen Irras beängstigende Macht einsetzen. Es wäre kein fairer Kampf trotz ihrer verstärkten körperlichen Kräfte. Das mussten sie wissen.

Avans Stimme erklang: »Stopp.«

Der Befehl hallte durch den Raum und glitt mit den Rauchschwaden nach draußen. Avans Magie senkte sich auf mich herab und schlug ihre Kraft wie Haken in meine Haut. Ich biss die Zähne zusammen und wehrte mich gegen die bedrückende Macht. Seine Stimme umhüllte mich wie ein hypnotisches Flüstern, doch ich schüttelte sie ab.

Die Sentinel waren erstarrt. Einen Moment später schienen ihre eingefrorenen Körper zu schmelzen. Sie drehten die Köpfe nach rechts und links, ihre leeren Augen auf etwas gerichtet, das ich nicht sehen konnte. Sie wirkten verwirrt.

Ich richtete mich wieder auf und schrie durch meinen schützenden Ärmel: »Was machst du mit ihnen?«

Avan hörte mir nicht zu.

»Sammelt die Rebellen ein«, befahl Irra. Er besaß nicht Avans invasive Macht, aber ich fühlte trotzdem, wie seine Stimme in mir widerhallte. Sie erzeugte eine so überwältigende Leere in meiner Brust, dass ich mich zitternd auf dem Boden zusammenrollen wollte.

Rings um uns entstand hektische Bewegung, als Irras Hüllen losstürmten, um die Sentinel zusammenzutreiben. Die Verwirrung der Sentinel hatte sich in willenlose Akzeptanz verwandelt. Sie schienen sich nicht bewusst zu sein, was wirklich geschah. Und ihre ausdruckslosen Gesichter erinnerten mich erschreckend an die Zeit, als ihre Halsbänder noch aktiv gewesen waren.

Für Sentinel und Hüllen gleichermaßen waren die Halsbänder eine ständige Erinnerung an Ninus Berührung. Unser ehemaliger Kahl hatte die Magie, die es ihm erlaubte, sie zu kontrollieren, in ihre Nacken eingebrannt. Sie hatten die Brandmarkung mit dem Halsband nur überlebt, weil sie Mahjo waren, menschliche Nachkommen der Unendlichen. Vor dem Mahjo-Krieg – bevor die Unendlichen ihnen ihre Magie weggenommen hatten – waren Mahjo vom Volk wegen ihrer Fähigkeiten angebetet worden.

Ich hustete harsch. Meine Lunge brannte, aber ich drängte vorwärts. »Avan, hör auf damit«, keuchte ich und packte ihn am Arm. »Hör auf!«

Sein Blick fiel auf mich, und seine Augen brannten, erfüllt von einem unnatürlichen Licht. »Sie müssen kontrolliert werden«, sagte er, seine Stimme sanft, aber gleichzeitig durchdringend.

»Niemand sollte auf diese Weise kontrolliert werden.«

Weitere Hüllen waren erschienen. Sie trugen Wassereimer und Schläuche, um das Feuer zu löschen, das sich scheinbar nur in diesem Raum ausgebreitet hatte. Der zusätzliche Dampf machte das Atmen fast unmöglich. Rasselndes Husten entrang sich meiner Brust. Ich ließ Avan zurück und bahnte mir meinen Weg an die frische Luft.

Sobald ich draußen war, beugte ich mich vor und stemmte meine Hände auf den Knien ab, als ein weiterer Hustenanfall meinen Körper erschütterte. Meine Lunge brannte.

»Au«, murmelte ich.

Ein schneller Rundumblick zeigte mir, dass die Hüllen die rebellierenden Sentinel zusammengetrieben und ihnen die Hände gefesselt hatten. Ich war überrascht, nur ungefähr ein Dutzend Sentinel zu entdecken. Im Chaos aus Feuer und Kampf war es mir erschienen, als wären es unzählige.

Wo war Reev? Er musste den Rauch gesehen haben. Mason saß ein Stück den Weg hinab auf einem Stein und musterte die Vorgänge mit finsterem Blick. Er wirkte unverletzt.

Das Klappern metallener Hufe erklang aus dem Gebäude. Ich richtete mich auf, als Avan seinen Grauen vor mich lenkte.

»Irra bittet um deine Anwesenheit«, sagte er.

Ich wandte mich ab, ohne etwas zu erwidern, und ging zurück zum Eingang des Turms. Aber ich hatte nicht vor, noch einmal hineinzugehen. Wenn Irra reden wollte, konnten wir das hier draußen tun. Avan glitt von seinem Grauen.

Seine Finger strichen über meinen Handrücken, doch ich drehte mich zur Seite. »Die Hüllen hätten sich um sie kümmern können«, blaffte ich. »Du hättest das nicht tun müssen.«

»Du hättest lieber Leben riskiert, obwohl ich mühelos alle retten konnte?«

»Schau sie dir an!« Ich wedelte wild mit den Händen in Richtung der ausdruckslos vor sich hinstarrenden Sentinel, die keine drei Meter entfernt standen. »Wie kannst du das rechtfertigen? Inwiefern unterscheidet sich das von dem, was Ninu ihnen angetan hat? Reev angetan hat?«

Avan schwieg, aber ich sah an seiner Miene, dass er nicht nachgeben würde. Mit einem angewiderten Laut stiefelte ich davon.

Irra war aus dem Gebäude getreten. Groß, hager und in eine zerrissene schwarze Robe gekleidet, wirkte er, als bestünde er selbst zur Hälfte aus Rauch und Schatten; als hätte er sich aus den dunklen Schwaden materialisiert. Vielleicht hatte er das ja getan. Seine Magie konnte ganz Etu Gahl in Nebel hüllen, um die Burg vor einer Entdeckung zu bewahren. Ich traute ihm alles zu. Der Unendliche fing meinen Blick auf und nickte mir zu, bevor er um das Gebäude herumging. Ich rannte los, um ihn einzuholen.

»Wo gehen wir hin?«, fragte ich.

»Zu Kalla.«

»Aber die Treppe …«

»Du dachtest doch nicht, das wäre der einzige Weg nach oben, oder?«

Wahrscheinlich schon. Wir betraten den Turm wieder durch eine verriegelte Pforte auf der gegenüberliegenden Seite. Vor uns öffnete sich ein einfacher Raum mit einer Tür an der gegenüberliegenden Wand. Irra schob die Tür auf und gab den Blick frei auf ein winziges Zimmer, leer bis auf einen Metallhebel, der aus dem Boden ragte. Er trat hinein und bedeutete mir, ihm zu folgen.

»Was ist das?« Zögernd schloss ich mich ihm an. Diese Kammer war kaum einen Meter fünfzig im Quadrat groß.

»Ein System von Flaschenzügen«, sagte Irra, als er die Tür hinter uns schloss. Dann packte er den Hebel und legte ihn um.

Die Kammer erzitterte. Mein Magen machte einen Satz, und ich stemmte eine Hand an die Wand, um mich auf den Beinen zu halten. Irgendwo weit über uns erklang das Klappern und Klirren von Zahnrädern, Kabeln und was weiß ich noch. Ich spürte ihre Bewegung unter meiner Handfläche und durch meine Füße.

»Bewegen … wir uns?« Meine Finger kratzten über die Wand, in dem Versuch, einen Halt zu finden.

»Die Technologie ist nach der Wiedergeburt verloren gegangen, aber Kallas Vorliebe für hohe Gebäude hat mich gezwungen, sie wiederzubeleben.«

Ich schluckte nervös, verzog jedoch gleich das Gesicht, als ich merkte, wie trocken meine Kehle war. Vorsichtig schluckte ich noch einmal. »Du solltest so etwas in Etu Gahl installieren.«

»Die Gargoyles mögen die Treppe lieber.«

Ich war mir nicht sicher, ob er scherzte. Wieder erzitterte der Raum, und ich drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand, wobei ich Irra mit einem bösen Blick bedachte, weil er so locker wirkte.

»Es ist recht sicher«, erklärte Irra milde. Abstehende Strähnen seiner wilden, schwarzgrauen Haare berührten die Decke, aber er hatte immer noch nicht das Gleichgewicht verloren, während die Kammer weiter nach oben ruckelte.

Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Aber ich löste mich nicht von der Wand. »Warum haben die Sentinel den Turm angegriffen?«

»Was glaubst du?«

Ich verdrehte die Augen. Warum wichen die Unendlichen direkten Antworten immer aus? »Um Kalla zu erledigen.«

»Ja.« Er führte die Erklärung nicht weiter aus.

»Und wieder: Warum?« Und was wollten Kalla und Irra jetzt von mir?

»Weil sie uns nicht mögen.«

Ich starrte auf den ausgefransten Ärmel seiner Robe. Irra passte ungefähr genauso gut in die schwelgerische Schönheit des Weißen Hofes wie ich. Obwohl er sich inzwischen genauso lange hier aufhielt wie ich, hatte ich nie gesehen, dass er etwas anderes angehabt hätte als seine abgetragene schwarze Kleidung, die viel zu locker von seinen fast schon beunruhigend schmalen Schultern hing. Das Feuer hatte an der Robe nicht mehr Schaden angerichtet, als sowieso schon bestanden hatte.

Bevor ich Irra kennengelernt hatte, hatte ich ihn nur unter dem Namen »Der Schwarze Reiter« gekannt – ein alter Name, der einer Zeit entsprang, als die Menschen die Unendlichen noch als Götter verehrt hatten. Damals hatten die Statuen, die ihm zu Ehren errichtet worden waren, einen Reiter im schwarzen Umhang gezeigt. Heutzutage wirkte seine Erscheinung um einiges weniger furchteinflößend. Zumindest, bis man ihm in die Augen sah. Dann war Irras Macht nicht mehr zu übersehen.

Ich musterte meine eigene Kleidung. Das Brokatkleid war ruiniert. Der Rauch hatte den grünen Stoff dunkel gefärbt, und an einem Ärmel und im vorderen Rock klafften Löcher, wo Hitze und fliegende Glut mich getroffen hatten.

»Dann werden sie ziemlich sauer sein, wenn sie aus dem Zustand erwachen, in den Avan sie versetzt hat.«

»Das nehme ich an«, antwortete Irra. Er grub in den tiefen Taschen seiner Robe herum und zog schließlich ein paar cremefarbene Brotstückchen heraus, um sie sich in den Mund zu stecken.

Ich war froh zu sehen, dass Irra sich nicht verändert hatte. Meine Wut auf ihn, weil er mich in Etu Gahl getäuscht hatte, hatte ein wenig nachgelassen. Aber ich wusste jetzt, dass ich nicht allem trauen durfte, was er sagte.

»Was hat Avan getan?«, fragte ich.

Irra kaute in Ruhe seine Brotstücke, bevor er mir antwortete. »Der Unendliche mit dem Namen Eroberung wird immer gewisse, einzigartige Fähigkeiten besitzen. Doch wenn die Position an einen Nachfolger übergeht, können sich diese Fähigkeiten leicht verändern. Avans besondere Macht habe ich bei keiner Eroberung zuvor schon einmal gesehen.«

»Okay«, meinte ich langsam. Avans Macht hatte sich anders angefühlt als die von Kahl Ninu. Viel stärker. »Also kann er die Leute leichter kontrollieren?«

»In gewisser Weise. Ninu konnte Gefühle und Gedanken manipulieren, aber Avan scheint fähig zu sein, seinen Willen in sensorische Bilder zu übertragen.«

»Er kann Illusionen erzeugen.« Das würde die leeren Blicke und die Verwirrung erklären.

Ich ließ dieses Wissen auf mich wirken. Und langsam schien es zu wachsen und verwandelte sich in etwas, das einfach zu überwältigend und schrecklich war, um auch nur darüber nachzudenken.

Dann schloss ich die Augen und vergrub die Angst tief in mir.

KAPITEL 5

Kalla trug ein vertrautes Gesicht. Dank ihrer Fähigkeit, ihre körperliche Erscheinungsform verändern zu können – abgesehen von der Farbe ihrer Haut, Augen und Haare –, sah ich sie nur selten mit denselben Zügen wieder. Aber heute sah sie aus wie am ersten Tag, als wir uns getroffen hatten. Damals hatte ich sie für eine Jugendliche aus der Allee gehalten.

Statt der fleckigen, zerrissenen Tunika, die sie damals getragen hatte, fiel heute eine Satinrobe über ihre porzellanfarbenen Schultern und umhüllte das Miederkleid darunter. Ihre Lippen zeigten immer noch dieses Blutrot, und ihre Augen glänzten in der Farbe polierten Metalls. Ihr weißes Haar mit der einzelnen schwarzen Strähne war zu demselben Irokesenschnitt gestylt, den sie an diesem Tag in der dreckigen Gasse getragen hatte. Der Iro bildete eine ungewöhnliche Kombination mit ihrem eleganten Kleid, aber die strenge Frisur schaffte es trotzdem nicht, von ihrer unnatürlichen Schönheit abzulenken.

Kalla stand vor den Fenstern, die sich vom Boden bis zur Decke zogen. Von unten aufsteigender Rauch verbarg einen Teil der Stadt, aber das reichte nicht, um die Aussicht zu ruinieren. Wir befanden uns am höchsten Punkt von ganz Ninurta, und ich konnte alles bis zu den rostigen Containern des Labyrinths und darüber hinaus sehen.

Auch wenn ich nur wenig Zeit hier verbracht hatte, enthielt der Turm doch eine Menge unangenehmer Erinnerungen. Die alle in mir aufstiegen, kaum dass mein Fuß das Bodenmosaik berührte.

Ein kleines Sofa und zwei Sessel standen um einen niedrigen Tisch herum in der Mitte des weitläufigen Raums. In einem der Sessel saß Miraya, der weibliche Sentinel, den Kalla zur nächsten Kahl der Stadt erkoren hatte. Miraya saß vornübergebeugt, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, während sie nervös mit den Fingern spielte. Bei unserer Ankunft riss sie den Kopf hoch.

»Das Problem ist gelöst«, sagte Irra, ließ sich auf das Sofa sinken und zog seine Robe über seinen langen Beinen und scharfen Knien zurecht. Er bewegte sich mit geschmeidigen Bewegungen, frei von der Unbeholfenheit, die man bei einem so dünnen Mann erwartet hätte.

Miraya rieb die Hände über die Oberschenkel. »Ich hätte dort unten sein müssen.«

»Eine Kahl beschäftigt sich nicht mit belanglosen Auseinandersetzungen«, meinte Kalla beiläufig.

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Eine belanglose Auseinandersetzung? Diese Sentinel haben versucht, ein Regierungsgebäude niederzubrennen.«

»Nein«, sagte Kalla, »sie haben auf recht ungeschickte Weise versucht, mich aus diesem Turm zu jagen.« In der Spiegelung der Scheibe erkannte ich, wie sich ihre roten Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie es ausgegangen wäre. Ein Kampf gegen den Tod konnte nur ein mögliches Ende nehmen.

»Weil sie dich nicht mögen«, sagte ich mit einem verbitterten Seufzen und wiederholte damit Irras Worte. »Könntest du dich etwas genauer ausdrücken?«

»Die Rebellen wollen uns aus der Stadt werfen und selbst die Kontrolle übernehmen«, erklärte sie.

Mein Blick glitt von Kalla über Irra, bevor er an Miraya hängen blieb.

»Nun«, meinte ich zögernd, »wir haben Miraya. Sie braucht nur noch eine ordentliche Krönungszeremonie, dann ist sie hochoffiziell Kahl. Wenn wir die Sentinel davon überzeugen können, sich unter ihrer Herrschaft zu sammeln, dann würden alle bekommen, was sie wollen.« Als meine Aussage nur mit Schweigen quittiert wurde, fügte ich hinzu: »Richtig?«

»Sie haben zwei meiner Hüllen getötet«, sagte Irra.