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Ihre Blumenbilder machten sie weltberühmt – dabei schuf sie Schönheit aus großem Schmerz Die erwachsene Georgia O'Keeffe blickt zurück auf ihr Leben: Auf die schillernden Jahre in New York, wo sie umgeben von Künstlern und Fotografen wilde Jahre verbringt; ihr politisches Engagement bei der National Woman's Party, nicht zuletzt auf ihre große Liebe zu Alfred Stieglitz, dessen Aktfotografien von Georgia ihr Gesicht weit über die Grenzen der USA bekannt macht. Als sie – bereits in ihren Fünfzigern – in der Ruhe ihrer Ranch in New Mexico endlich die Erdung findet, die sie ihr ganzes Leben gesucht hat, wird klar, dass sie ihrem Ehemann und Förderer Stieglitz längst entwachsen ist: Unbeirrt geht sie ihren steinigen Weg zu einer Kunst, die dem Leben in all seiner morbiden Vollkommenheit huldigt, und wird damit unsterblich. Die Farben der Wüste ist ein zutiefst sinnlicher Roman über eine ungezähmte Frau, der die Fans von Frida Kahlo und Hilma af Klimt begeistern wird.
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Die Farben der Wüste
AMELIA MARTIN ist das Pseudonym einer Bestsellerautorin. Die promovierte Kunsthistorikerin brennt für außergewöhnliche Frauen, deren Leben völlig neue Wege ebneten und deren Geschichten allzu oft unerzählt bleiben. Wenn Amelia Martin sich einem Stoff widmet, recherchiert sie aufwendig und unternimmt ausgedehnte Reisen an die Orte des Geschehens. Sie lebt und schreibt an der deutschen Nordseeküste.
Es hatte Jahre gedauert, bis Georgia ihren Platz gefunden hatte. Der Weg bis hierhin war steinig und schmerzhaft gewesen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie in einer Dunkelheit versunken war, in der sie sich beinahe verloren hätte. Doch tief in ihrem Innersten hatte sie die Flamme gespürt, die nicht gelöscht werden konnte, weder vom Schmerz und den Lügen noch von der Enttäuschung. Sie blieb stehen und drehte sich um.Groß, schwarz, unnahbar und tröstlich zugleich thronte ihr Berg aus tausendjährigen Gesteinsschichten über den Hügeln und sah sie an. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas mitteilen wollte, und dann griff sie nach ihrem Skizzenblock und zeichnete. Georgia drückte sich durch ihre Bilder aus. Wenn sie etwas zu sagen hatte, malte sie. Worte gehorchten ihr nicht so, wie es ihr Pinsel tat.
Amelia Martin
Georgia O'Keeffe malte, um die Welt neu zu begreifen
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-3151-5
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Das Buch
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Impressum
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Epilog
Personen
Nachwort
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorwort
»Die Männer tun mich gern abals beste Künstlerin unter den Frauen,ich glaube aber, ich bin einer der besten Künstler überhaupt.«Georgia O’Keeffe
Dieser Roman versteht sich als eine Annäherung an den Menschen Georgia O’Keeffe, an ihre vielschichtige Persönlichkeit und ihr faszinierendes Werk. Meine erste Quelle sind ihre Briefe. Auch wenn sie selbst von sich behauptete, dass Worte ihr nicht gehorchten und man sie am besten durch ihre Werke verstünde, gibt uns ihre umfassende Korrespondenz mit Freunden, Familie und ihrem Mann, Alfred Stieglitz, einen intimen Einblick in Georgias Leben. Ich habe die Begriffe verwendet, die damals aktuell waren, und so werden z. B. Indigene auch als Indianer bezeichnet.
Als Mensch war Georgia sperrig, ehrlich, direkt und unbequem. Gleichzeitig wurde sie gerade deswegen geschätzt und später als Ikone der Frauenbewegung verehrt. Ihr wacher, intellektueller Geist widerstand Trends und Strömungen. Sie malte, was sie empfand, schuf einen unverwechselbaren Stil und lebt in ihren berührenden Werken weiter.
Ghost Ranch, New Mexico, Herbst 1956
Weit erstreckte sich die karge Landschaft vor ihren Augen. In der Ferne erhob sich die dunkle Masse eines Berges gegen den glutrot leuchtenden Abendhimmel. Der Cerro Pedernal, mein Pedernal, dachte die Frau, kniff die Augen zusammen und lächelte. Sie blieb stehen, damit der zottelige schwarze Hund zu ihr aufschließen konnte. Als er neben ihr stand, strich sie durch das dichte Fell und nickte.
»Gehen wir nach Hause.«
Sorgsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Man wusste nie, ob nicht eine Klapperschlange auf einem der warmen Steine ein Schläfchen machte. Die Schlangen gehörten zum Land wie der Wind und die Sonne. Sie liebte dieses weite Land mit seinen rollenden Hügeln und den trockenen Flusstälern, die sich bei Regen in reißende Ströme verwandeln konnten. Im Sommer strahlte die Sonne von einem azurblauen Himmel und verbrannte die Erde zu Staub.
Hier draußen wuchs kaum etwas. Georgia O’Keeffe spazierte weiter den Hügel hinunter in Richtung des ockerfarbenen Lehmziegelbaus. Ihr Haus, ihre Zuflucht. Mitten in der Wüste New Mexicos. Sie hatte immer gewusst, dass dieses weite Land einmal ihr Zuhause sein würde. Seit ihre Mutter ihnen vor vielen Jahren Geschichten über den Wilden Westen vorgelesen hatte, gab es diese Sehnsucht nach einem Land in ihr, das sie damals noch nicht kannte.
Im Haus brannte Licht. Claudia war da. Ihre Schwester hatte ihre Schule in Kalifornien geschlossen und war nun für einige Wochen zu Besuch. Die meiste Zeit kümmerte sich Claudia um das Haus in Abiquiú, während Georgia auf der Ranch war, um zu malen. Doch der Sommer war in den Herbst übergegangen, und bald würden sie sich für den Umzug bereit machen. Das Studio in ihrer Ranch hatte ein großes Fenster, durch das sie die Hügel sah. Ihre Hügel, an denen sie sich nicht sattsehen konnte, die sich ihr in immer neuen Farben zeigten.
Georgia schlug den Pfad zur Rückseite der Ranch ein. Bo, der Chow-Chow, lief voraus. Er roch das Essen, das Claudia zubereitete. Das Gemüse für ihre Mahlzeiten baute Georgia in ihrem Haus in Abiquiú an. Hier draußen auf der Ghost Ranch gab es nichts außer der Sonne, dem Wind und der trockenen Erde. Aber genau das brauchte sie, um zu malen, um zu leben.
Es hatte Jahre gedauert, bis sie ihren Platz gefunden hatte. Der Weg bis hierher war steinig und schmerzhaft gewesen. Es hatte Zeiten gegeben, da war sie in einer Dunkelheit versunken, in der sie sich beinahe verloren hätte. Doch tief in ihrem Innersten hatte sie eine Flamme gespürt, die nicht gelöscht werden konnte, weder vom Schmerz und den Lügen, noch von der Enttäuschung. Sie blieb stehen und drehte sich um.
Groß, schwarz, unnahbar und tröstlich zugleich thronte ihr Berg aus tausendjährigen Gesteinsschichten über den Hügeln und sah sie an. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas mitteilen wollte, und dann griff sie nach ihrem Skizzenblock und zeichnete. Georgia drückte sich durch ihre Bilder aus. Wenn sie etwas zu sagen hatte, malte sie. Worte gehorchten ihr nicht so, wie es ihr Pinsel tat.
Er war immer ein Mann der Worte gewesen. Stieglitz. Ihr Mann. Der Fotograf und Galerist, der sie ermutigt hatte, sich ganz der Kunst zu widmen, der mehr in ihren Bildern gesehen hatte. Dafür würde sie ihm immer dankbar sein. Aber er war auch ihr Mann, ihr Geliebter und ihre große Liebe gewesen. Wer liebt, ist verletzlich. Sie hatte lernen müssen, sich von dieser alles verschlingenden Liebe, von ihm, nicht verschlingen zu lassen.
Georgia beobachtete, wie eine dunkelviolette Wolke am Gipfel des Pedernal vorbeizog. Sie hatte die Dunkelheit hinter sich gelassen, sich behauptet, sich selbst geschützt. Hier hatte sie Kraft getankt und ihre Seele geheilt von den tiefen Schnitten, die sie beinahe zerstört hätten. Es war eine Frage der Selbsterhaltung gewesen.
Bo bellte leise, und sie drehte sich zu dem Chow-Chow um. »Na komm, Claudia und Chia warten auf uns.«
Chia war ihre Chow-Chow-Hündin, die gern in der Küche lag, wenn das Essen zubereitet wurde.
Sie näherte sich dem Lehmziegelhaus im Pueblostil und hörte Claudia in der Küche hantieren. Familie war ihr wichtig. Seine Familie war eine Zumutung gewesen. Sie dachte an die ersten Sommer am Lake George, an die lauten, streitsüchtigen Mitglieder des Stieglitz-Clans. Zeit zum Malen hatte sie sich erkämpfen müssen. Doch daneben hatte es die Momente der Leidenschaft gegeben, die brennende Sonne auf nackter Haut, die Zärtlichkeit ihrer Zweisamkeit.
The Hill, das Haus am Lake George, war seine Zuflucht gewesen, sein Ort. Ihr Stieglitz hatte den See geliebt, aber sie war dort nie so glücklich gewesen wie er.
»Georgia?«, rief Claudia durch das offene Küchenfenster.
»Ich komme!«
In den entscheidenden Momenten ihres Lebens waren es immer ihre Familie oder ihre Freunde gewesen, die ihr geholfen oder sie unterstützt hatten. Damals, als Anita einfach ihre Kohlezeichnungen mit nach New York genommen hatte, um sie Stieglitz zu zeigen, hatte alles begonnen. New York, dachte sie, das schien so lange her zu sein.
New York, 1916
Die Galerie war gut besucht und die Warteschlange vor dem Eingang entsprechend lang. Arthur zahlte die fünfundzwanzig Cent Eintritt und lächelte sie ermunternd an.
»Dann wollen wir mal sehen, was Montross uns zu bieten hat.«
Seit Georgia im März nach New York gekommen war, hatte sie Ausstellungen moderner Künstler besucht, wann immer es ihre Arbeit am Teachers College der Columbia University erlaubte. Heute war die Montross-Galerie mit Werken von Vertretern des Dadaismus und Kubismus an der Reihe.
Sie hakte sich bei Arthur ein und betrat neugierig die hohen Räume. »Was hältst du von diesem Werk?«, fragte sie und neigte den Kopf, um die geometrischen Formen, die Jean Metzinger in seiner Komposition vereint hatte, genau zu studieren.
Ihr Begleiter runzelte kurz die Stirn. Arthur MacMahon war ein stattlicher Mann, groß, dunkelhaarig, mit einem klassischen Profil. Er wirkte genauso distinguiert, wie es seinem gesellschaftlichen Status als Politikwissenschaftler und Dozent entsprach. Georgia bemerkte die bewundernden Blicke anderer Frauen sehr wohl, wenn sie mit Arthur ausging, denn er war ein attraktiver Mann und brachte ihr ernsthafte Gefühle entgegen. Aber genau das war das Problem. Die Liebe ist unerhört kompliziert, dachte Georgia und wandte sich wieder der Kunst zu.
»Es gefällt mir zumindest besser als der Duchamp dort. Die Farben sind gefälliger und …« Er unterbrach sich und trat dichter an das Ölgemälde heran, um die Beschriftung zu lesen. »Und jetzt, wo ich es weiß, sehe ich auch den Krug und das Obst.«
Er schenkte ihr ein warmes, verzeihendes Lächeln. In diesem Moment öffnete sich ihr Herz, und sie hätte ihn vor allen Leuten küssen können. Doch das würde er nie tun. Etikette und Anstand waren ihm wichtiger als Spontaneität und überschäumende Leidenschaft. Dabei mochte er genau diese Eigenschaften an ihr.
Sie drückte seinen Arm und sagte: »Es ist nicht wichtig, ob wir die Gegenstände erkennen, Arthur. Der Künstler sieht das Innerste der Dinge und malt ihr Wesen. Mir gefällt die Linienführung, und das Türkis dort ist durchscheinend wie Glas.«
Fasziniert betrachtete sie das Sammelsurium an Ausschnitten und scheinbar wahllos zusammengewürfelten Formen, die eine Harmonie erzeugten und mit den Farben das Auge lenkten. Und dennoch, dachte sie, ich möchte weiter gehen. In der völligen Abstraktion liegt der Kern des Ausdrucks. Das war ihre Überzeugung.
»Georgia? Hörst du mir zu?«
Sie tauchte aus ihren Gedanken auf und sah ihn an. »Die Farben, Arthur, es sind die Farben, die Gefühle ausdrücken.«
»Ja, sehr schön. Hast du schon über meine Einladung nachgedacht? Meine Mutter möchte dich kennenlernen. Das ist ein großer Schritt. Verstehst du?« Seine dunklen Augen hefteten sich bedeutungsvoll auf sie.
Plötzlich war die Leichtigkeit, die Schönheit des Augenblicks verflogen. Eine ungewisse Angst nagte an ihr, verursachte einen stechenden Schmerz in ihrem Magen. »Hm, ja, tut mir leid, es ist so aufregend, was gerade in der Malerei passiert. Findest du nicht?«
Gestern erst hatte sie neue Werke von Marsden Hartley in 291, der Galerie von Alfred Stieglitz, gesehen. Der Mann war ein Phänomen, eine Naturgewalt, wenn es um die Kunst ging. Wenn er sprach oder vielmehr dozierte, hingen alle an seinen Lippen. Stieglitz hatte ihr eins von Hartleys Bildern mitgegeben, damit sie es in aller Ruhe studieren konnte. Das bedeutete ihr viel. Als sie das Unverständnis und eine leichte Verärgerung in Arthurs Miene erkannte, schenkte sie ihm ein warmes Lächeln.
Ihr Begleiter entspannte sich und ging mit ihr zum nächsten Gemälde. »Meine Liebe, ich versuche ja, deine Begeisterung für die Malerei zu teilen. Hab ein wenig Geduld mit mir. Oh, sieh nur, da ist Professor Beard.« Arthur machte eine Handbewegung und beugte sich zu Georgia, um ihr leise zuzuflüstern: »Er ist der jüngste Professor für Geschichte und hat sich bereit erklärt, meine Doktorarbeit zu betreuen. Du musst ihn kennenlernen.«
»Ach weißt du, Arthur, geh du nur zu deinem Professor, ich möchte mir noch die Werke von Jean Crotti und Duchamp ansehen.« Sie tätschelte ermunternd seinen Arm und ging davon.
Sie mochte Arthur. Sehr sogar. Manchmal quoll sie über vor Liebe für ihn. Er teilte ihre Leidenschaft für lange Spaziergänge durch die Natur. Gemeinsam hatten sie Wanderungen durch die Wildnis von Virginia unternommen. Georgia hatte in den vergangenen Sommermonaten als Assistentin für ihren Mentor Alon Bement an der Universität von Virginia gearbeitet und Zeichenkurse gegeben. Bement hatte sie mit den Gestaltungsprinzipien von Arthur Wesley Dow bekannt gemacht und ihr Kandinskys Schrift über das Geistige in der Kunst empfohlen. Und während sie sich mit den neuen Kunsttheorien auseinandersetzte, um für sich den richtigen Weg zu finden, hatte sie Arthur kennengelernt.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er sich mit seinem Professor unterhielt. Arthur sprach oft mit ihr über seine liberalen Ideen, seine Untersuchungen von staatlichen Behörden und deren Effektivität. Er war ein reizender Mann, bis zu einem gewissen Grad auch verständnisvoll, und er konnte sehr zärtlich sein. Seufzend wandte sie sich den Gemälden zu und dachte an das dunkle Bild von Marsden Hartley, das jetzt in ihrem Zuhause stand. Ihre Freundin, Anita Pollitzer, hatte ihr ein Zimmer im Haus ihres Onkels, Dr. Sigmund Pollitzer, vermittelt. Dafür war sie Anita dankbar. Überhaupt war Anita die beste Freundin, die man sich wünschen konnte.
Georgia hörte, wie eine Frau neben ihr sagte: »Crotti, so ein Unfug. Das ist keine Kunst, das ist Müll. Lass uns gehen, William.«
Der Begleiter, wohl der Ehemann, strich sich über den Schnauzer, warf einen Blick auf die bunte Gouache mit dem Titel »Chaos« und nickte.
Was würden diese Leute zu ihren Werken sagen? Georgia hatte im vergangenen Winter eine Serie von Kohlezeichnungen an Anita in New York geschickt. Eigenmächtig, ohne ihre Erlaubnis einzuholen, hatte Anita die Zeichnungen Stieglitz in seiner Galerie gezeigt. Oh, sie war wütend gewesen, dass Anita ihr Vertrauen missbraucht hatte. Doch die Reaktion von Alfred Stieglitz hatte sie versöhnt. Er, der große Kunstkenner, der Fürsprecher der Moderne, hatte sich wohlwollend über ihre Kohlezeichnungen geäußert!
Deshalb war sie nach New York gekommen. Auch weil sie den Kurs bei Dow brauchte, um die Lehrtätigkeit in Canyon, Texas, im Herbst antreten zu können. Und wegen Arthur. Natürlich.
Am nächsten Tag stand sie im Zimmer von Dr. Pollitzers Apartment in der 60th Street und starrte auf das brauntonige Bild von Hartley. Heute kam es ihr noch düsterer vor. Entschlossen packte sie es in Papier und klemmte es sich unter den Arm.
Auf dem Flur traf sie auf Aline Pollitzer, die Tochter von Anitas Onkel. Das junge Mädchen trug die Haare halblang und einen modischen Rock. Sie war sehr lebendig und zeigte ihre Weiblichkeit.
»Hallo, Georgia. Ich habe gleich einen Kurs bei MacMahon. Gehst du auch zur Universität?« Aline studierte Geschichte und Politik, ein Zugeständnis ihres Vaters.
»Nein, ich habe erst später einen Kurs. Ich will das Bild zurückbringen. Es macht mich nervös.«
Mit ihren hellen Augen sah Aline sie neugierig an. »Warum? Zeig mal!«
Georgia öffnete das Papier, und Aline sah sich Hartleys abstrakte brauntonige Komposition an.
»War der Maler traurig?«
»Gut möglich.« Georgia packte das Bild wieder ein. »Es war sowieso nur geliehen.«
Aline sah sie prüfend an. »Triffst du dich heute mit Arthur?«
Georgia schüttelte den Kopf. »Übermorgen bin ich bei ihm zum Lunch eingeladen. Seine Mutter will mich kennenlernen.«
»Uhuuu!«, machte Aline vielsagend und fügte hinzu: »Dann zieh doch mal was anderes an als diese furchtbaren schwarzen Kleider. Mag er die denn?«
Georgia verzog das Gesicht. »Sonst hätte er mich wohl kaum zum Essen mit seiner Mutter eingeladen.«
Seit einigen Jahren nähte sie ihre Kleidung selbst. Sie verabscheute die engen, unbequemen Kleider mit all dem Firlefanz. Darin konnte man sich nicht ordentlich bewegen, und sie ging jeden Tag stundenlang! Hier in der Stadt war es schwieriger, denn die Weite, die frische Luft und der endlose Himmel fehlten. Aber morgens marschierte sie früh durch die Straßen und den Central Park, um Eindrücke zu sammeln. Ihre gerade geschnittenen Kleider waren praktisch. Dazu trug sie weiße Blusen und flache Schuhe, und es scherte sie nicht, was andere über sie dachten.
Mit Anita sprach sie oft über die untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft. Anita war Suffragette und Fotografin und hatte Georgia dazu bewogen, der National Woman’s Party beizutreten. Durch ihre Freundin war Georgia auf Werke von Charlotte Gilman, Olive Schreiner und das radikale Magazin The Masses aufmerksam geworden. In diesen Publikationen ging es um die »Neue Frau«, befreit von viktorianischen Einschränkungen und einer fadenscheinigen Moral, eine Frau, die ihre Karriere verfolgen durfte und nach Bildung und Selbstverwirklichung strebte.
Georgia stellte das Bild ab und nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken. Noch war es recht frisch, auch wenn der Frühling in New York mit Wärme und hoher Luftfeuchtigkeit überraschen konnte.
»Wollen wir ein Stück zusammen gehen, Aline?«
Aline lachte. »Du bist eine eigensinnige Person, Georgia, aber gerade deshalb mag ich dich.«
Kurz darauf liefen sie gemeinsam durch die belebten Straßen der Metropole. Noch hatte der Krieg, der in Europa tobte, Amerika nicht erreicht, doch warf er seine dunklen Schatten bereits voraus. Die Stimmung war vielerorts aufgeheizt. Vertreter von Abstinenzvereinen wetterten gegen Alkoholkonsum, während sie von lebenshungrigen feierwütigen jungen Leuten verlacht wurden.
»Kommst du heute Abend mit zum Tanz in den neuen Club in Greenwich Village?«, fragte Aline.
Georgia überlegte kurz. »Nein. Ich will noch ein Bild beginnen. Ich muss das Beste aus meiner Zeit hier machen, Aline. Ich liege euch sowieso schon auf der Tasche.«
»Mach dir darüber mal keine Gedanken. Wir haben dich schrecklich gern zu Gast.« Sie winkte einer Gruppe von Studentinnen zu, die mit ihren Mappen vor einem Buchladen standen.
»Das sind meine Kommilitoninnen. Bis später, Georgia. Und wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo du uns findest.«
Georgia nickte und war mit den Gedanken schon in 291.
Vor zwei Jahren war Georgia zusammen mit Anita am Teachers College gewesen. Die Freundinnen waren oft zusammen den langen Weg von den Morningside Heights an der 120th Street bis in die 31st Street gegangen. Dorthin ging Georgia auch jetzt. Wie fast immer waren auch heute zahlreiche Besucher in der kleinen Galerie 291.
Ein wenig ehrfürchtig betrat sie die heiligen Räume, in denen sie damals zum ersten Mal einen Picasso und einen Cézanne gesehen hatte. Sie war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, arbeitete als Lehrerin und hatte ein, wenn auch spärliches, Auskommen. Was sie sparen konnte, setzte sie in Farben, Leinwände, Pinsel und Kunstunterricht bei Kapazitäten wie Dow um. Zusätzliche Kurse bei renommierten Dozenten erhöhten die Chance auf gute Anstellungen. Aufgewachsen war Georgia auf einer Farm in Sun Prairie mit dem irischstämmigen Vater Francis Calixtus O’Keeffe und der Mutter Ida Ten Eyck, deren Vorfahren zum ungarischen Adel gehörten. Ida sorgte dafür, dass ihren Töchtern Bildung zuteilwurde, wie sie einer feinen Dame angemessen war. Malunterricht erhielten die O’Keeffe-Mädchen bei der Hobbymalerin Sarah Mann. Georgias Talent war bald offensichtlich, und sie konnte es nicht leiden, wenn jemand ihre Bilder nachbesserte.
Und hier stand sie nun, das Mädchen aus Sun Prairie, für das Licht und Farben die größte Herausforderung waren.
»Guten Tag, Miss O’Keeffe!«, rief Alfred Stieglitz, der inmitten einer Gruppe von Frauen und Männern vor einer Reihe von Gemälden stand. Arbeiten von Marsden Hartley, die der Künstler zum Großteil in Berlin gemalt hatte.
Sie straffte sich, nahm das Kinn etwas höher und ging mit ihrem Bild auf die Leute zu. Der berühmte Fotograf und Galerist war kaum größer als sie, hatte eine Mähne zerzausten dunklen Haares und einen ebenso üppigen Schnauzer. Hinter einer Brille leuchteten wache, etwas tiefliegende Augen.
»Guten Tag, Mr Stieglitz!«, antwortete Georgia, doch der Galerist redete bereits weiter und erklärte seinen Zuhörern, warum die amerikanische Gesellschaft amerikanische Künstler brauchte.
Georgia hörte nur mit halbem Ohr zu, was Stieglitz mit voller tiefer Stimme über die europäischen Strömungen und deren Einfluss auf die amerikanische Kunst sagte, und konzentrierte sich auf die Werke von Hartley und weiteren Künstlern, wobei sie Hartleys Bild noch immer unter dem Arm trug.
Was sie hier sah, waren lauter Bilder mit grellen Farben und harten Formen. George Grosz’ Werke wirkten militärisch, preußisch und waren im Stil der Kubisten gemalt. Georgia fand diese Bilder abstoßend, sie entsprachen nicht ihren eigenen ästhetischen Ansprüchen. Ähnlich ging es ihr mit Hartleys Kunst. Aber der verkaufte seine Kunst, sie noch nicht. Noch nicht.
»Ah, es gefällt Ihnen nicht?« Stieglitz war neben sie getreten.
Sie drückte ihm das Bild in die Hand. »Nein. Ich denke, dass es mit großem Enthusiasmus begonnen wurde. Aber der Künstler konnte seinem Anspruch nicht gerecht werden.«
Stieglitz sah sie eindringlich an. »Ich dachte, gerade dieses frühe Werk hätte Ihnen zusagen können. Er hat diese Landschaft in Maine gemalt.«
Eine attraktive brünette Frau kam zu ihnen. »Mein Lieber, wir sollten jetzt hinübergehen. Heute Nachmittag kommt das Sammlerpaar aus Boston.«
Wohlwollend schaute Stieglitz die junge Schönheit an. »Ach ja, richtig. Hast du schon einen Tisch in Holland House bestellt, Katherine?«
Georgia beobachtete die junge Frau und erinnerte sich an das Gesicht auf Fotografien von Stieglitz, die er ausgestellt hatte. Er war ein herausragender Fotograf. 1907 hatte er »The Steerage«, das Unterdeck, aufgenommen. Die legendäre Fotografie zeigte die reichen Menschen auf dem Ober- und die weniger Betuchten auf dem Unterdeck eines Dampfers. Er hatte ein Auge für den richtigen Ausschnitt und ein Gespür für den perfekten Augenblick. Verheiratet war er mit einer reichen Brauereierbin. Es wurde getratscht, dass er mit vielen seiner schönen Modelle Affären hatte.
So, wie er diese Katherine ansieht, wohl auch mit ihr, dachte Georgia und wappnete sich innerlich vor dem charismatischen Galeristen.
»Wollen Sie uns zum Lunch begleiten, Miss O’Keeffe?«, wandte sich Stieglitz an sie.
»Danke. Aber ich habe andere Verpflichtungen«, erwiderte sie. »Eine Frage noch«, sagte sie, und Stieglitz, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, hielt inne.
»Ja?«
»In der vorherigen Ausstellung war eine blaue Kreidezeichnung von John Marin dabei. Klein, abstrakt.«
»Ich weiß genau, welche Sie meinen«, antwortete er.
»Ist so etwas verkäuflich?«
»Ja, das ist es.«
»Danke.«
Stieglitz nickte, ihre Blicke trafen sich, und er schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann ging er mit dem Bild davon.
Georgia hielt sich das kleine, intime Werk vor Augen, das ihren Arbeiten so ähnlich war. Wenn Marin seinen Lebensunterhalt mit solchen Werken bestreiten konnte, dann war es vielleicht auch ihr möglich, nur von der Kunst zu leben.
Die Bestätigung von Stieglitz ermutigte Georgia, sich noch intensiver ihren Werken zu widmen. An diesem Vormittag arbeitete sie wie besessen, besuchte anschließend den Kurs bei Dow und hätte beinahe das Essen mit Arthur und seiner Mutter vergessen.
Abbie MacMahon war eine stattliche Frau mit einer starken Ausstrahlung. Ihre Offenheit und freundliche Art nahmen Georgia sofort für sie ein, auch wenn dieses Essen durchaus einer Prüfung gleichkam.
»Darf es noch ein Mokka sein? Milly!« Mrs MacMahon winkte dem Dienstmädchen, den Wagen mit den Desserts herbeizuschieben.
Sie saßen im Salon des großzügigen Apartments mit Blick auf den Hudson River. Die Einrichtung war gediegen und sprach von finanziellem Wohlstand. Auf dem Kaminsims standen silberne Rahmen mit Fotografien der Familie, und die Gemälde waren eine Mischung aus traditionellen amerikanischen Künstlern und europäischer Moderne. Georgia hatte einen Kandinsky entdeckt, der ihr sehr gefiel.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke. Es war alles ganz hervorragend.«
»Kein Dessert?«, fragte Arthurs Mutter.
»Ich esse selten Kuchen«, antwortete Georgia, die von dem reichhaltigen Mahl gesättigt war.
»Dass Sie mit Anita Pollitzer befreundet sind, ist ein schöner Zufall«, sagte Abbie MacMahon und ließ sich ein Stück Limonentarte geben. »Wir werden gemeinsam noch viel für die Frauen tun können.«
Arthurs Mutter war eine aktive Suffragette, sein Vater ein Ire und christlicher Sozialist. In diesem Haus wurde offen über liberale und freigeistige Ideen diskutiert.
Arthur nippte an seinem Mokka und lächelte Georgia ermunternd zu. Diese strich über ihren schwarzen Rock und sagte: »Ich habe schon einige Veranstaltungen der Frauenpartei besucht. Dass ich eine Aktivistin bin, bezweifle ich. Die Malerei ist meine Priorität. Und ich bin davon überzeugt, dass meine Ideen auch durch meine Bilder transportiert werden.«
»In der Tat, das ist möglich. Wann sehen wir denn eine Ausstellung mit Ihren Werken, Miss O’Keeffe?«, wollte Mrs MacMahon wissen.
»Mutter, Georgia ist doch noch mitten in ihren Studien. So etwas braucht Zeit«, kam Arthur ihr zu Hilfe.
»Nun, ich glaube, dass Miss O’Keeffe eine sehr zielstrebige junge Frau ist. Sie wird dir sicher eine Stütze bei deiner Arbeit als Politiker sein.« Aufmerksam sah Abbie sie an.
Als wäre das das Stichwort gewesen, erhob sich Arthurs Mutter und sagte: »Bitte entschuldigen Sie mich kurz. Ich habe noch etwas Korrespondenz zu erledigen.«
Nachdem sie den Salon mit dem Dienstmädchen verlassen hatte, räusperte sich Arthur.
»Georgia, du hast sicher gemerkt, dass meine Mutter dich schätzt. Ihr seid euch in gewisser Weise ähnlich.« Er sah sie mit seinen dunklen Augen an und griff nach ihrer Hand.
Ihr erster Impuls war es, ihm ihre Hand zu entziehen, doch sie verharrte in ihrem Stuhl wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Sie hatte es geahnt und sich gleichzeitig vor diesem Moment gefürchtet. Was stimmte nicht mit ihr? Vor einigen Wochen hatte sie in einer Unterrichtsstunde an der Horace Man School Heranwachsende beobachtet und eine tiefe Sehnsucht nach eigenen Kindern verspürt. Und jetzt saß sie diesem gut aussehenden Mann gegenüber, der in sie verliebt war, und hatte Angst vor der entscheidenden Frage. Ihre Miene versteinerte, als er einen Ring aus seiner Tasche holte.
»Georgia O’Keeffe, in den Monaten, die wir uns kennen, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass du mir eine gute Ehefrau sein wirst. Wir teilen gemeinsame Interessen, ich mag deinen trockenen Humor und deine Offenheit.« Er stockte. »Und du bist eine schöne Frau, Georgia.«
Kein Wort über meine Kunst, war alles, was sie dachte.
»Möchtest du meine Frau werden?«
Es war unhöflich und verletzend, und sie hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen.
»Es, es tut mir leid, Arthur. Ich kann nicht.« Sie entzog ihm ihre Hand und stand auf. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr, und die Wände schienen zusammenzurücken, um sie zu erdrücken.
»Aber Georgia!« Vollkommen perplex erhob sich Arthur, den Ring in der Hand. Anklagend glitzerte der Diamant im Licht und schien zu schreien, was gesellschaftlich opportun wäre.
»Verzeih mir, Arthur.« Tränen stiegen in ihre Augen, und sie eilte zur Tür.
Ihre Schritte hallten laut durch das Treppenhaus und hämmerten in ihrem Kopf wie das Stakkato einer Gewehrsalve. Erst als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel und sie schwer atmend auf dem Gehweg stand, hörte sie ihren eigenen Herzschlag und presste eine Hand gegen ihre Brust. Vielleicht hatte sie einen Fehler gemacht, aber es wäre trotzdem nicht richtig gewesen.
Virginia, Mai 1916
Der Zug ratterte durch die Nacht. Normalerweise hätte Georgia sich von dem gleichmäßigen Ratatat-Ratatat in den Schlaf wiegen lassen. Doch ihre Augen waren rot und geschwollen vom Weinen. Das Telegramm hatte sie in New York erreicht. Ihre Mutter war tot.
Georgia konnte es noch nicht begreifen. Es war unvorstellbar, dass sie ihre Mutter nie wieder sehen sollte. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die geliebte Erscheinung, ihre Augen, hörte ihre Stimme und spürte die Konturen ihres Gesichts unter ihren Fingern. So oft hatte sie ihre Fingerspitzen über die Schläfen von Ida Totto O’Keeffe gleiten lassen. Sie konnte doch nicht einfach gegangen sein!
Ratatat, ratatat. »Georgia, du schaffst das. Streng dich an. Wir O’Keeffe-Frauen sind stark. Denkt immer daran, dass ihr alles schaffen könnt. Bewahrt euch eure Unabhängigkeit«, hatte Ida oft zu ihr und den Schwestern gesagt. Vielleicht öfter zu ihr, denn Ida hatte früh die außergewöhnliche Zielstrebigkeit, den Hang zur Perfektion in Georgia erkannt. Ihre Kindheit auf der Farm in Sun Prairie in Wisconsin, mit ihrer Mutter, den Großeltern und Tante Eliza, war eine Zeit der Unbeschwertheit und der Entdeckungen gewesen. Ihr Vater hingegen war durch Anstellungen in verschiedenen Orten oft abwesend gewesen. Es schien so weit entfernt.
Ratatat, ratatat. Die Tränen liefen ihr erneut über die Wangen. Georgia schluckte, presste sich ein Taschentuch gegen die nassen Wimpern und holte ein Notizbuch hervor. Darin lagen lose Blätter, auf denen sie einen Brief an Arthur zu schreiben begann. Er war ein so netter Mann, dass er ihr nicht einmal die Szene bei seiner Mutter wirklich übel genommen hatte.
Die ersten Strahlen der langsam aufgehenden Morgensonne tauchten die vorbeiziehende fruchtbare Landschaft in warmes Licht, das vom Nebel gefiltert wurde.
Arthur, schrieb Georgia. Es ist ein wunderschöner Morgen – neblig – so unglaublich grün – Arthur – ich habe solche Angst – ich wünsche mir, dass du mich in den kommenden Tagen sehr lieb haben kannst.
Nachdem sie den Brief beendet hatte und noch immer Stunden quälender Zugfahrt vor ihr lagen, begann sie einen Brief an Stieglitz. Sie hatten sich einige Male geschrieben, seit er ihre Zeichnungen von Anita erhalten hatte, und sie wusste, dass er sie verstehen würde.
Mr Stieglitz – ich schreibe Ihnen, weil ich Angst davor habe, einzuschlafen – und ich hoffe, dass ich mich nicht länger so schrecklich vor dem fürchten muss, was mich erwartet, wenn ich es jemandem gesagt habe – hoffentlich nicht. Als ich eingenickt bin, habe ich von meiner Mutter geträumt, sie war so lebendig.
Der Zug ruckelte, und sie überlegte kurz, bevor sie fortfuhr: Ich habe Sie am Nachmittag vor meiner Abreise im Metropolitan gesehen – Sie standen vor dem Winslow Homer – ich habe die Leute beobachtet – Sie haben sich nicht umgedreht. Es gab so viele Dinge, die ich tun musste, was ich Ihnen erklären wollte – es ist alles so absurd – den ganzen Tag, nachdem ich das Telegramm erhalten hatte, bin ich herumgeeilt, und es war alles so surreal.
Am Tag vorher war ich mit Anita beim Lunch und wollte ihr etwas erzählen – aber ich konnte nicht – sie sah so hübsch aus, und ich weiß gar nicht mehr – ob ich nicht albern war – dumm gar. Aber an dem Tag war es mir egal. Und heute ist ein neuer Tag. 291 ist ein sehr schöner Ort. Vielleicht kann ich jetzt schlafen. Gute Nacht – vielen Dank, dass Sie mir das Gefühl geben, ich dürfte mit Ihnen sprechen.
»Oh, Georgia!«, rief ihre jüngere Schwester Ida, und sie fielen sich in die Arme. Sie standen auf der Veranda des Backsteinhauses in Charlottesville. In diesem Haus in der Wertland Street hatte Ida Totto O’Keeffe die letzten Jahre ihres Lebens mehr schlecht als recht fristen müssen. Aus gesundheitlichen Gründen waren sie den kalten Wintern Wisconsins entflohen und in den wärmeren Süden gezogen. Francis Calixtus O’Keeffe war es nie gelungen, hier beruflich Fuß zu fassen. Alle seine Unternehmungen scheiterten, und seine Frau lebte davon, dass sie Zimmer untervermietete.
Lungenleiden zogen sich seit Generationen durch die Familie, und Ida hatte auf Besserung ihres Zustands in Charlottesville gehofft. Auch Georgia war in jungen Jahren schon einmal an einer Lungenentzündung erkrankt.
Georgias Schwester Claudia trat aus dem Haus, gefolgt von Tante Jenny. Drei Frauen, gezeichnet von Trauer. Ihre Familie. Sie umarmten einander, und Claudia nahm Georgias Hand.
»Komm.«
Zögerlich folgte Georgia der Schwester ins Haus. »Ist sie friedlich eingeschlafen?«, flüsterte sie und bewegte sich in dem vertrauten Haus, als wäre sie zum ersten Mal hier.
Claudia schüttelte vehement den Kopf und blieb vor der Tür zu Idas Schlafzimmer stehen. »Es war furchtbar, Georgia, ganz furchtbar. Wir waren allein hier. Nur Klein Ida, die Tante, Mutter und ich. Mutter hustete schon seit Tagen Blut und lag nur noch im Bett. Sie wurde immer schwächer. Da stand die Vermieterin plötzlich vor der Tür und verlangte die Miete. Wir konnten sie ihr nicht geben!«
Weinend rang Claudia die Hände. »Vater ist unterwegs und bringt das Geld hoffentlich mit. Das haben wir ihr erklärt und auch, dass Mutter so krank ist. Die alte Hexe hat geschrien und uns gedroht. Sie würde so lange bleiben, bis sie entweder das Geld bekommt oder Mutter sieht. Und dann …« Claudia schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht. »Wir sind zu Mutter gegangen, und sie wollte, dass wir sie nach vorn zur Haustür bringen. Sie konnte kaum gehen und fing an zu husten und hörte nicht mehr auf. Sie hörte einfach nicht mehr auf. Alles war voller Blut.«
»Ist ja gut, Claudia, nicht. Jetzt hat sie ihren Frieden.« Georgia drückte Claudia an sich.
Die schwere Krankheit der Mutter hatte seit vier Jahren wie eine dunkle Wolke über der Familie gehangen. Ida Totto O’Keeffe war nur zweiundfünfzig Jahre alt geworden. Der Leichnam ihrer Mutter wurde nach Madison in Wisconsin überführt, wo Ida im Familiengrab ihrer Familie, der Tottos, bestattet wurde. Das große Haus in Charlottesville konnte nicht länger gehalten werden, und Georgia half mit, den Haushalt nach der Beerdigung aufzulösen. Diese Wochen waren für sie und ihre Geschwister sehr kräftezehrend gewesen. Nachdem alles geregelt worden war, ging Catherine zurück an ihre Schwesternschule in Wisconsin, Ida zu ihrer Stelle als Kunstlehrerin und Claudia besuchte weiter die Oberschule. Vor fünf Tagen hatte Anita noch im April den Texaner Robert R. Young geheiratet. Francis Jr arbeitete als Architekt in New York, und Alexis war als Ingenieur tätig.
Von nun an wollte sich Georgia um Claudia kümmern und beschloss, sie im Herbst, nachdem Georgia ihren Sommerkurs in New York beendet hatte, mit nach Canyon, Texas, zu nehmen. Doch bis dahin verpflichtete sie sich zum Unterrichten an der Universität von Virginia und stürzte sich in die Arbeit. Es waren schwere Wochen für Georgia, und nicht einmal die Natur, die ihr sonst Trost spendete, konnte ihr jetzt helfen. Als sie spürte, dass die Trauer sie lähmte und zu erdrücken drohte, schrieb sie an Anita: Liebe kleine Pollitzer, Selbstbeherrschung ist eine wundervolle Sache – ich denke, wir müssen uns davor bewahren, zu viel zu fühlen – allzu oft – das müssen wir lernen, um bei Verstand zu bleiben und die Dinge klar betrachten zu können, um unsere Visionen ohne Vorbehalte zu sehen.
Eines Nachmittags Ende Mai saß Georgia in der Mensa der Universität, und eine junge Studentin kam zu ihr und fragte: »Sind Sie Virginia O’Keeffe?«
Überrascht ließ Georgia ihre Gabel sinken und erwiderte: »Nein. Ich bin Georgia O’Keeffe. Warum?«
»Tja, jedenfalls gibt es gerade eine Ausstellung in New York im 291 und die Künstlerin heißt Virginia O’Keeffe.«
»Was?!« Wie versteinert blieb Georgia eine Weile sitzen, bevor sie ihren Teller auf das Tablett stellte und zum Tresen trug.
Das konnte er doch nicht einfach getan haben?! Und doch wusste sie, dass Stieglitz genau das gemacht hatte. Ohne ihr Einverständnis hatte er ihre Kohlezeichnungen, die ihn so begeistert hatten, ausgestellt.
Umgehend buchte Georgia einen Zug nach New York und musste dann feststellen, dass Stieglitz nicht in seiner Galerie war. Sie stand in dem großen Raum und starrte mit brennenden Augen auf ihre Werke, die nun von allen gesehen werden konnten, ihre intimsten Gefühle lagen offen vor fremden Augen. Sie hatte diese Zeichnungen angefertigt, als ihre Gefühle für Arthur stark und intensiv gewesen waren. Erkannten die Betrachter die Intimität dieser Zeichnungen? Sahen sie, wie persönlich das war, was sie erschaffen hatte? Die runden, organischen Formen, die Schattierungen, der Kontrast von Hell und Dunkel drückten den Widerstreit ihrer Gefühle, ihre Liebe und die Sehnsucht nach dem fernen Geliebten aus. Georgia stand sehr still und versuchte, Fetzen der Unterhaltungen aufzuschnappen.
Immerhin hatte Stieglitz ihr den besten Platz gegeben. In der Ankündigung, die vorne auslag, wurde sie zuerst genannt: Exhibition of Drawings by Georgia O’Keeffe, of Virginia; Water-Colors and Drawings, by C. Duncan, of New York; and Oils, by Réné Lafferty, of Philadelphia.
Ein älterer Herr mit Hut, der neben einer eleganten Dame stand, sagte: »Jetzt müssen wir uns schon Bilder von Lehrerinnen ansehen. Hier haben mal Bilder von Picasso gehangen!«
Die Dame warf ihrem Begleiter einen missbilligenden Blick zu: »Die Künstlerin ist Amerikanerin, und mir sagen ihre Arbeiten viel.«
»Meine Liebe, das kommt daher, dass Sie eine Frau sind, und diese Bilder schreien förmlich heraus, dass die Künstlerin ein Baby will.«
Georgia spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, und verließ fluchtartig die Galerie. Sie war noch immer stolz auf ihre Arbeiten, aber sie mochte nicht, dass die Leute etwas darin sahen, was sie nicht beabsichtigt hatte.
Bei ihrem nächsten Besuch traf sie Stieglitz allein in der Galerie an und schleuderte ihm ihre Wut ins Gesicht: »Wer hat Ihnen das Recht gegeben, meine Zeichnungen auszustellen?«
Stieglitz drehte sich um und sah sie überrascht an. »Miss O’ Keeffe. Mein Beileid.«
Sie wischte seine Bemerkung weg. »Was fällt Ihnen ein? Sie hätten mich fragen müssen! Die Leute reden, und was sie sagen, stimmt alles nicht!«
Die letzten Besucher waren gegangen, und sie stand in ihrem schwarzen Kleid mit dem weißen Kragen und den streng zum Knoten aufgesteckten Haaren vor ihm. Ihre Augen fixierten ihn. Wütend, verletzt, ängstlich und gleichzeitig selbstbewusst.
Ein wissendes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Sie reden, und wie sie das tun! Diejenigen unter ihnen, die Verstand besitzen, haben erkannt, was sie da vor sich haben! Genau wie ich! Selten sind so viele Neugierige hier gewesen. Jaja, es wird von Erotik geredet, aber das ist doch richtig! Nur mit Energien wie in Ihren Darstellungen wird sich Amerika endlich von seinem Korsett aus puritanischen Zwängen befreien. Amerikanische Künstler können sich endlich von ihren Ketten lösen!«
Er redete unaufhörlich und ließ sie nicht zu Wort kommen. In seinen dunklen Augen brannte ein Feuer, das sie zu erfassen drohte. »Ihre Zeichnungen sind großartig. Punkt. Sie haben sich geöffnet wie eine Blume. Für eine amerikanische Frau ist das unerhört, das ist eine Revolution!«
Sprachlos starrte sie diesen Mann an, der sich für ihre Werke einsetzte, als sei sie bereits eine berühmte Künstlerin. »Und was wollen Sie dann mit meinen Werken machen? Nach der Ausstellung?«
»Nun, ich werde Ihre Bilder verwahren, vielleicht rahmen, und Sie sollten mir mehr schicken. Und ich bin sicher: Bald werden wir Käufer finden. Haben Sie schon gegessen?«
Am folgenden Tag holte Georgia ihre Sachen bei den Pollitzers ab und fuhr zurück nach Charlottesville. Der Tod ihrer Mutter traf sie hier mit erneuter Wucht, und sie fühlte sich erschöpft. Doch die Depression konnte nicht die Oberhand gewinnen, denn Georgia war im Grunde ein optimistischer Mensch. Pragmatismus und ihre Leidenschaft für die Kunst gaben ihr Kraft. Genau wie die Bestätigung ihrer Werke durch Stieglitz.
Georgia widmete sich mit einer neuen Intensität ihrer Kunst und spielte viel Klavier und Violine. Seit Kindertagen liebte sie klassische Musik. Ein Erbe ihrer Mutter. Und nun suchte sie in der Symbiose von Musik und Malerei nach neuen Formen. Sie griff zu Farben, und eine Serie von abstrakten blautonigen Aquarellen entstand.
Stieglitz schrieb ihr von der wachsenden Aufmerksamkeit, die ihre Werke unter den Kritikern erzielten. Er war mit seiner Familie in sein Sommerquartier am Lake George gereist, versäumte aber nicht, ihr Ausgaben seines Magazins Camera Work zu schicken, das sie mit Begeisterung las.
Auch mit Arthur schrieb sie sich weiterhin und drückte Ende Juni ihre Sehnsucht nach Zuneigung aus: Arthur, darf ich dir sagen, was ich für dich empfinde? Heute fühle ich mich wieder lebendig. Seit Tagen zum ersten Mal. Ich gebe Unterricht von 8:30 bis 10:30 und habe so viel geschlafen. Ich habe so viel Schönes gesehen, die Rotunde in Madison Hall, die Lichter – weiße Säulen mitten in der Nacht und wie der Regen an ihnen heruntertropfte. Ich wünschte, du hättest es mit mir sehen können – wünschte, wir könnten wieder gemeinsam wandern – durch die Nacht. Du musst mir nicht antworten – ich erwarte nichts – aber vielleicht kannst du mich besuchen?
Canyon, Texas, 1917
Georgia liebte die Weite des texanischen Nordens. Bereits vor drei Jahren war sie in Amarillo gewesen und hatte sich in die Landschaft verliebt. Jetzt hatte sie eine gut bezahlte Stelle als Lehrkraft am neu errichteten West Texas State Normal College angetreten. Das riesige moderne Gebäude erstrahlte in gelbem Backstein. Groß und prachtvoll dominierte der Komplex den Ort Canyon, der gerade einmal zweieinhalbtausend Einwohner zählte und fünfzehn Kilometer südlich von Amarillo lag.
An diesem Morgen wehte ein kräftiger Wind über die weite Prärie. Roter Sand stob mit den Böen auf, doch das störte weder Georgia noch ihre Schwester Claudia. Aus der Ferne waren sie kaum von den Felsen zu unterscheiden, denn ihre Mäntel waren fingerdick mit Staub bedeckt, genau wie ihre Haare. Diese frühen Morgenstunden gehörten ihnen. Stundenlang wanderten sie oft gemeinsam durch die wilde wüstenartige Landschaft des Palo Duro. Noch öfter spazierte Georgia allein durch die Canyons. Die Leute redeten über sie. Eine Frau, die kilometerweit allein durch Ödnis wanderte, konnte nicht normal sein.
Georgia wischte sich die Augen und schirmte den Blick gegen den Wind ab. Vor ihr erstreckte sich ein Ausläufer des ausgedehnten Canyons, dessen Gesteinsschichten ein Farbschauspiel verschiedenster Rot-, Ocker- und Erdtöne boten. Besonders im Dämmerlicht war dieses Spektakel unvergleichlich. Georgia konnte sich nicht sattsehen an der überwältigenden Naturschönheit und fühlte sich hier draußen freier und zufriedener als sonst irgendwo. Was dieses Land in ihr auslöste, konnte wohl niemand ganz verstehen. Es brachte etwas in ihr zum Klingen, ein wenig wie die Musik, aber rauer und drängender. Die Farben, genau diese Farben, die sie dort in den Felsen sah, ließen Formen und schließlich Bilder in ihr entstehen. Und sie malte, wann immer sie die Zeit dafür fand.
»Wir sollten umkehren, Georgia!«, sagte ihre Schwester mit Nachdruck. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«
Claudia war siebzehn Jahre alt und hatte dunkles Haar, das »irische Schwarz«. Auch Claudia trug am liebsten derbe Wanderschuhe und einen Hut auf dem streng zurückgebundenen Haar.
»Hm, umkehren, ja. Das Licht, diese Farben, Grau, Blau und ein sandiges Braun«, sprach sie ihre Überlegungen laut aus.
»Du bist doch eine gute Lehrerin und willst nicht zu spät kommen«, sagte Claudia.
Tatsächlich unterrichtete Georgia gern, und ihre unkonventionellen Lehrmethoden begeisterten die Studenten. Sie war als Leiterin des Departments eingestellt worden, und ihre Kollegen schätzten sie. Man hatte sie bereits eingeladen, einen Vortrag über die moderne Kunst zu halten. Die Zeit hier in Canyon war in vielerlei Hinsicht produktiv für Georgia, die Ibsen, Dante und Nietzsche und ästhetische Philosophie las. Stieglitz schickte ihr regelmäßig die Ausgaben der Camera Work, sodass sie über die neuesten Entwicklungen in der Kunstszene auf dem Laufenden war.
»Bin ich schon einmal zu spät gekommen?«, gab Georgia kurz zurück und beschleunigte ihre Schritte.
»Nein.« Claudia kicherte. »Dafür machst du ganz andere Sachen! Ich werde nie das Gesicht unseres ersten Vermieters vergessen, als du gesagt hast, dass man Albträume von der Tapete und dem Teppich bekommt!«
Georgia lachte. »War das vielleicht nicht so? Ich habe kein Auge zugetan in der einen Nacht, die wir dort verbringen mussten. Pinkfarbene Rosen, grüne Karos und goldene Streifen – ich bitte dich!«
»Mit den Shirleys haben wir Glück, die sind richtig nett«, meinte Claudia. Einträchtig schritten sie nebeneinanderher. Sie unternahmen vieles zusammen, gingen zelten oder machten Ausritte, auf denen Claudia Tiere jagte und Georgia auf Dosen schoss.
»Nett schon, aber genauso konservativ und spießig wie der Rest hier«, murrte Georgia.
Douglas Shirley war ein Physikprofessor und das Haus, in dem sie sich mit Claudia ein Zimmer teilte, neu errichtet. Georgia hatte um das Zimmer im Dachgeschoss gebeten, von dessen Fenster aus sie die Prärie sehen konnte. Nach anfänglichem Protest, denn das Zimmer war noch unmöbliert und ohne Gardinen, hatten die Shirleys nachgegeben.
»Du hättest vielleicht nicht fragen sollen, ob du die Holzvertäfelung schwarz streichen darfst«, stellte Claudia trocken fest.
»Das hätte dem Raum Kontur gegeben. Diese weiß-silbern gestreifte Tapete ist eine Herausforderung. Ewig halte ich das nicht aus.«
»Du würdest sowieso am liebsten in einem kahlen Raum leben, nur eine Staffelei und ein großes Fenster, aber nicht alle sind so extrem wie du.«
»Ich habe eben eine klare Vorstellung von dem, was ich will und was ich brauche. Zum Malen ist das Platz und Licht.«
Wenn sie arbeitete, war es ihr am liebsten, wenn ihre Umgebung die Klarheit ihrer Gedanken widerspiegelte.
Der Sand knirschte zwischen ihren Zähnen. Ihre Wanderschuhe fanden sicheren Halt auf dem steinigen Untergrund. Als die Sonne noch ein kleines Stück weiter über dem Horizont aufstieg, hielt Georgia den Atem an und packte Claudias Hand.
»Schau!«
Das Feuerwerk an Farben wurde durch den Sand und den Morgennebel, der noch über den Bergen hing, gefiltert. Als hätte sich vom Himmel ein Schleier herabgesenkt.
»Weich und irgendwie mystisch«, sagte Georgia leise, beinahe andächtig. »Diese Hügel sind Tausende von Jahren alt. Das Land ist so unendlich weit. Beinahe wie ein Ozean. Hörst du den Wind? Ist das nicht wundervoll?«
Claudia drückte sanft ihre Hand. »Ich kann dich verstehen, Georgia. Es ist unglaublich schön hier draußen.«
Irgendwo flatterte es im trockenen Buschwerk, und Claudia fügte hinzu: »Nächstes Mal nehme ich mein Gewehr mit. Wenn ich unserem Vermieter eine Ente kredenze, verzeiht er dir vielleicht, wenn du wieder mal einen Mann mitbringst.«
»Was? Ach, hör doch damit auf. Das war wirklich lächerlich! Ich konnte doch gar nichts dafür, dass dieser Mensch mitkommen wollte. Bin ihn einfach nicht losgeworden!«
Tatsächlich hatte sie seit einer Party auf dem Campus einen hartnäckigen Verehrer, einen Anwalt, der sie nachts nach Hause gebracht und aufs Zimmer begleitet hatte. Solch ein Verhalten galt als unschicklich. Unverheiratete Frauen und Männer durften sich nur im Beisein Dritter treffen. Professor Shirley war ihnen die Treppe hinauf gefolgt und hatte den Anwalt des Hauses verwiesen. Erbost war Georgia daraufhin mit ihrem Verehrer in dessen Automobil gestiegen und hatte eine Mondscheintour unternommen. Für Georgia war die ganze Geschichte ein großer Spaß, sie hatten sich über Kunst unterhalten. Doch dem verliebten Anwalt musste sie in aller Deutlichkeit erklären, dass sie nichts von ihm wollte. Der nächtliche Besuch mit anschließender Mondscheinfahrt der exzentrischen Lehrerin sprach sich auf dem Campus herum wie ein Lauffeuer.
»Du nimmst das so leicht, Georgia, aber die Menschen hier sind nicht so offen. Wir leben in einer Kleinstadt, wo die Leute jeden Sonntag in die Kirche gehen.« Claudia sprach sanft und ohne Vorwurf.
»Und ich gehe eben lieber spazieren!«, konstatierte Georgia. »Im Übrigen schert mich das Gerede nicht. Herrje, Claudie, wenn ich auf alles hören würde, was andere sagen, käme ich ja zu gar nichts. Erinnerst du dich daran, was Mum uns immer gepredigt hat?«
Ihre Schwester blieb stehen und sah sie mit großen Augen an. »Mädchen, wenn ihr etwas erreichen wollt, müsst ihr das selbst tun. Verlasst euch nicht auf andere, sondern nur auf euch.«
Claudia nickte. Die Schwestern lächelten, umarmten sich und gingen weiter.
Eines Nachmittags kam Georgia in Begleitung einiger Studenten aus ihrer Klasse.
»Danke, Miss O’Keeffe, das war wieder sehr interessant!«, sagte eine angehende Lehrerin aus Madison, Wisconsin.
»Machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken und lösen Sie sich von der Linie«, riet Georgia der jungen Frau.
»Das ist gar nicht so einfach, aber ja, ich gebe mir Mühe!« Damit ging sie mit den anderen Studentinnen davon.
Georgia sah auf die Uhr. Es blieb ihr noch eine Stunde bis zur nächsten Unterrichtseinheit. Die konnte sie für eine neue Skizze nutzen. Heute Abend wollte sie endlich den Faust beenden. Stieglitz hatte ihr das Buch geschickt, und sie fand den Text faszinierend. Überhaupt schien der Mann immer zu wissen, was sie interessierte und weiterbrachte.
»Georgia, haben Sie einen Moment?« Emma Jean McClesky stand im Gang vor ihr. Die Lehrerin trug ein modisches Kleid mit Spitzen, dazu eine passende Goldkette, die Haare waren lose aufgesteckt, und an ihren Händen blitzten verschiedene Ringe.
»Eigentlich nicht«, antwortete Georgia ehrlich und wollte ihren Weg fortsetzen.
»Meine Güte, Sie sind wirklich sehr direkt.«
»Was gibt es denn Dringendes?« Georgia wollte zu ihrer Staffelei.
»Nichts Dringendes. Es ist doch normal, dass man sich hin und wieder austauscht oder einen Kaffee zusammen trinkt«, meinte Emma.
Georgia verdrehte die Augen. »Die wenige Zeit, die ich habe, möchte ich für meine Arbeit nutzen.«
Seufzend sah Emma sie an. »Ja, Sie haben wirklich nur Ihre Arbeit im Kopf. Warum zum Beispiel tragen Sie Ihre Haare immer so streng und einfach? Sie könnten viel mehr aus sich machen.«
Langsam platzte Georgia der Kragen. »Ich trage meine Haare so, weil es mir Spaß macht. Auf Wiedersehen, Emma.«
Was Emma daraufhin sagte, hörte sie nicht mehr, weil sie bereits davoneilte. Kaum hatte sie das große Studio erreicht, in dem sie auch die nächste Stunde geben würde, überkam sie eine große Ruhe. Sie legte ihre Mappe auf einen Tisch und trat an ihre Staffelei. Rasch stellte sie den Aquarellblock auf, zeichnete mit wenigen Strichen, was sie seit dem letzten Abendspaziergang im Kopf hatte, und füllte dann Gläser mit Wasser. Farben und Pinsel hatten ihren Platz, und Georgia wusste genau, wie welche Farbe auf welchem Papier reagierte. Technisches Können war die Voraussetzung für ihre Kreativität. Noch lieber würde sie mit Ölfarben malen, doch dafür blieb hier im Lehrbetrieb nicht genügend Zeit.
Sie tauchte einen Pinsel ins Wasser und stieß ihn anschließend in die kleinen Farbkästchen. Kühn ließ sie kräftiges Rot in einem Halbkreis auslaufen, fügte einen orangen Kreis ein und in den einen gelben. Am unteren Bildrand und im rechten oberen Drittel fasste tiefes Blau das leuchtende Rot ein. Die nassen Farben liefen nicht ineinander, und das Weiß des Papiers wirkte in der Komposition als Kontrast.
Zufrieden betrachtete Georgia das Aquarell.
»Abendstern«, murmelte sie und nahm im Hintergrund die Geräusche der eintretenden Studenten wahr.
Canyon, 1917
Neben ihrer Lehrtätigkeit, ihrer eigenen Arbeit und ihrem Wunsch nach Ruhe auf langen Spaziergängen, hatte Georgia kaum Zeit für gesellschaftliche Zusammenkünfte. Doch im Februar bat man sie, das Bühnenbild für die Theatergruppe zu gestalten, und Georgia sagte zu.
Es machte ihr Freude, gestalterische Herausforderungen anzunehmen, und sie schätzte das Drama Department. An diesem Nachmittag goss es in Strömen. Georgia verließ die Bühne und ging zu einem der großen Fenster, die auf die weite Ebene blickten. Der Himmel war grau, die Wolken schwer, und der gelbe Sand verwandelte sich in ein Matschfeld. Fasziniert beobachtete Georgia den dichten Regen, den es so nur in Texas gab.
Sie hatte die Schritte gehört, doch auf das, was folgte, war sie nicht gefasst. Jemand legte seine Arme um sie und drückte sie kurz an sich. Erbost machte Georgia sich los und fuhr herum. Hinter ihr stand einer der älteren Studenten. Ted Reid war für die Beleuchtung zuständig. Ein großer kräftiger Mann mit einem offenen wettergegerbten Gesicht.
»Was fällt Ihnen denn ein?!«
»Ich entschuldige mich nicht, Miss O’Keeffe. Ich musste Sie einfach umarmen. Sie haben nach draußen geblickt und das Land so angesehen, wie ich es tue. Sie lieben die Natur.« Er sprach mit dem breiten Südstaatenakzent, gedehnt, langsam, unerschütterlich.
»Ach, und da umarmen Sie jeden, von dem Sie glauben, dass er gern den Regen anschaut?«, erwiderte sie sarkastisch und ließ ihn stehen.
Doch in den kommenden Tagen liefen sie sich häufig über den Weg, und Georgia konnte sich dem natürlichen Charme des Texaners nicht länger entziehen, willigte nach zahlreichen Bitten seinerseits, gemeinsam einmal die Natur zu erkunden, schließlich ein. Das war ihre große Gemeinsamkeit – sie beide liebten dieses Land. Genau wie sie spazierte Ted stundenlang durch die Prärie und erfreute sich an der Weite, dem Himmel und dem Wind. Ted war ein Farmersohn, der schon früh die Rinder von Texas durch die Wildnis nach Kansas getrieben hatte.
Wann immer es ihre Zeit erlaubte, unternahmen Georgia und Ted nun gemeinsam lange Spaziergänge durch die Prärie, fuhren zum Palo Duro Canyon und fanden Gefallen an der Gesellschaft des anderen. Von Arthur hatte Georgia schon länger nichts mehr gehört. Ted war einige Jahre jünger als Georgia, doch in seiner Art erwachsener als mancher gleichaltrige Mann. Die Begeisterung für die Natur verband sie, und Georgia fühlte sich in seiner Gegenwart wohl.
Doch Beziehungen zwischen Dozenten und Studenten waren nicht erlaubt, und schon bald wurde innerhalb der Fakultät über das unangemessene Verhältnis von Miss O’Keeffe und einem Studenten gesprochen. Weder Georgia noch Ted scherten sich darum.
Lange Zeit schien der Krieg weit weg gewesen zu sein. Doch nun griffen deutsche U-Boote sogar unbewaffnete Handelsschiffe neutraler Staaten an. Amerika erklärte Deutschland den Krieg. Georgia hörte, wie sich Studenten und Dozenten über die politischen Entwicklungen unterhielten, versuchte jedoch, die Schrecken und Gräuel des Krieges nicht an sich heranzulassen. Wie sollte sie malen, wenn sie versuchte, den Wahnsinn der Welt, den sie nicht ändern konnte, zu verstehen?
In der Mittagspause an einem Tag im April kam Claudia an ihren Tisch. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. Claudia stellte ihr Tablett ab und setzte sich. Dann holte sie ein Telegramm aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch.
Georgia öffnete es und las: HABE MICH GEMELDET – INGENIEUR 32nd DIVISION – TEX
Sie schluckte und strich mehrfach das zerknitterte Papier glatt.
»Sag doch was, Georgie!«, bat Claudia heiser.
Ihre Stimme zitterte. »Was soll ich denn sagen? Unser Bruder wird nach Europa gehen, wo sie sich gegenseitig abschlachten, wo sie Gas einsetzen, wo sie …«
»Hör auf!« Claudia hantierte mit ihrem Kaffee und stocherte in ihrem Essen herum.
Georgia brachte keinen Bissen mehr herunter. Alexis, von allen Tex genannt, war ihr Lieblingsbruder. Sie waren sich immer nahe gewesen. Seine sanfte stille Art hatte ihr oft Halt gegeben, wenn sie als Kind durch ihr ungestümes Wesen Probleme bekommen hatte. Ausgerechnet Tex musste nun gehen. Sie verbot sich jede Art von Schreckensszenario. Tex würde zu ihnen zurückkehren.
»Stieglitz wird seine Galerie schließen. Meine Ausstellung ist die letzte, die in 291 stattfindet«, sagte Georgia nach einer Weile.
Claudia legte ihr Besteck auf den Teller, auf dem sie das Essen kaum angerührt hatte. »Der Mann hält wirklich viel von deiner Arbeit, Georgia. Das bedeutet schon etwas, dass er eine Einzelausstellung mit deinen Werken macht. Du kannst stolz auf dich sein, ich bin es jedenfalls.«
Georgia schüttelte den Kopf. »Es ist ein Anfang. Diese Ausstellung ist ein großer Schritt für mich, aber ich weiß, dass ich noch nicht da bin, dass meine Vorstellungen von Abstraktion noch nicht so sind …« Sie hielt inne. »Es wird passieren. Ich fühle es.«
Sie trank ihren Kaffee und seufzte. »Stieglitz hat mir Fotos der Ausstellung geschickt. Ich zeige sie dir nachher.«
»Was? Meine Güte, das ist ja großartig!«, freute sich Claudia mit ihr.
»Hm«, brummte Georgia. »Es gefällt mir nicht, wie die Kritiker von meiner Skulptur sprechen und immer betonen, dass meine Bilder so weiblich und voller Emotionen sind.«
»Aber das sind sie doch, das ist doch nichts Schlechtes!«
»Nein, aber das ist nicht das, was meine Werke ausmacht. Jedenfalls nicht für mich.« Georgia stellte ihr Geschirr zusammen.
Eine Gruppe männlicher Studenten kam in die Mensa und wedelte mit Papieren. »Wir haben uns gemeldet!«
Einige Studentinnen standen auf und beglückwünschten ihre Kommilitonen zu deren Entscheidung.
An diesem Abend spielte Georgia Geige, um sich abzulenken und ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Musik half ihr, Gedanken in einen Fluss zu bringen. Sie war, wie Kandinsky, davon überzeugt, dass sich Farben, Formen und Klänge verbinden und in ihre Kunstwerke einbringen ließen. Einige ihrer Kohlezeichnungen und blauen Aquarelle, die Stieglitz ausgestellt hatte, waren so entstanden. Sie waren persönlich, dachte Georgia, aber darüber hinaus waren es abstrakte Formen, die den Betrachter auf unterschiedlichste Weise ansprechen konnten.