Die Flucht der Ameisen - Ulrich C. Schreiber - E-Book

Die Flucht der Ameisen E-Book

Ulrich C. Schreiber

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn die Erde erbebt und der Rhein in Flammen steht, ist nichts mehr sicher. Ein unheilvolles Zittern durchläuft den Rhein. Der erfahrene Geologe Gerhard Böhm bemerkt die Anzeichen zuerst: ungewöhnliche Bewegungen im Erdreich und das seltsame Verhalten der Waldameisen. Trotz des frühen Wintereinbruchs sind die Ameisen noch aktiv, und die Beben häufen sich. Steht ein Vulkanausbruch bevor? Und was hat die Befürchtung mit den Ameisen zu tun? Böhm ist mehr als beunruhigt und sucht fieberhaft nach verbindlichen Indikatoren. Zu spät. In der Silvesternacht geschieht das Unfassbare: Mit einer heftigen Eruption bricht zum ersten Mal nach über 10.000 Jahren in Deutschland ein Vulkan aus. In Koblenz und den Orten am Mittelrhein herrscht Panik. Die eruptive Gewalt stürzt den Rhein ins Chaos, Lava versperrt den Fluss, und riesige Wassermassen drohen, Städte wie Mainz und Frankfurt zu überschwemmen. Die Lage scheint aussichtslos… Ulrich C. Schreiber entwirft einen wissenschaftlich fundierten Geo-Thriller, in dem man hautnah miterlebt, wie brachiale Naturgewalten eine ganze Region verwüsten und den betroffenen Menschen die sicher geglaubte Lebensgrundlage entziehen. Der Bestseller »Die Flucht der Ameisen« verwebt wissenschaftliche Genauigkeit mit packender Spannung und führt die Leser an die Grenzen menschlicher Beherrschbarkeit gegenüber den gewaltigen Kräften der Natur. Der Bestseller in einer Neuauflage

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 491

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE FLUCHT DER AMEISEN

EIN VULKANAUSBRUCH AM RHEIN

ULRICH C. SCHREIBER

IMPRESSUM

Die Flucht der Ameisen

Ulrich C. Schreiber

1. Auflage 2024

© 2024 Calderan

Ein Imprint der Kraterleuchten GmbH,

Gartenstraße 3, 54550 Daun

Verlagsleitung: Sven Nieder

Alle Rechte vorbehalten.

Bereits erschienen als:

978-3-926126-54-2 (Shayol, Originalausgabe)

978-3-492-25134-1 (Piper)

978-3-941378-48-3 (Die Zeit - Wissenschaftskrimi)

978-1544929859 (Ulrich C. Schreiber)

Korrektorat: Tim Becker

Umschlag: Björn Pollmeyer

Cover Montage: DALL·E, iStock Goldi59

(This image was generated with the assistance of AI)

Urheber der Karte: Ronald Hoppe

ISBN E-Book 978-3-98600-026-4

ISBN Print 978-3-98600-027-1

www.calderan.de

Meinen Eltern

Christtraut und Hermann

INHALT

Liste der Personen

Vorwort

I. Erde

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

II. Feuer

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

III. Wasser

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Danksagung

Nachbemerkung

Und was kam nach dem Erscheinen des Romans?

Weitergehende Literatur für Geologie-Interessierte

Museen zum Thema Geologie und Vulkanismus der Eifel

Glossar

Ulrich C. Schreiber

LISTE DER PERSONEN

(IN DER REIHENFOLGE DES EINSTIEGS)

Gerhard Böhm: Geologe

Katrin Böhm: Frau von Gerhard

Marcello: Sohn von Gerhard und Katrin

Susanna: Jüngste Tochter von Gerhard und Katrin

Kirstin: Älteste Tochter von Gerhard und Katrin

Arne Schäfer: Leiter der Erdbebenstation Bensberg

Silja und Lutz: Studenten

M. Wollschläger: Kolleg vom Aachener Institut

Michael und Roger: Diplomanden

Horst Ganter: Geologe, Kolleg vom Mainzer Landesamt

Manfred Bäumler: Geologe, Kolleg vom Mainzer Landesamt

M. Wiese: Leiter vom Geologischen Landesamt Mainz

Karsten Specht: Geophysiker und Erdbebenspezialist aus Köln

Markus: Laborant aus dem Kölner Institut

Helmut Jahn: Geophysiker aus Potsdam

Eduart Wischnewski: Geologe aus Potsdam

Heinz Lindert: Geologe aus Bonn und Tektoniker

Waldemar Röttgen: Vulkanologe aus Brüssel

Gernot Kruse: Leiter des Krisenstabes, Staatssekretär aus dem Innenministerium von Rheinland-Pfalz

Erik Wagner: Einsatzleiter

Arnold und Georg: THW-Männer

Fuchs: Staatssekretär vom Bundesinnenministerium

Kromme: Einsatzleiter der Region Koblenz

Ahrens: Wasserbauingenieur und Mitglied des örtlichen Krisenstabes

Schönegger: Leiter der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Südwest

Mareike: Ehemalige Freundin von Gerhard

Irma und Marie: Zwillingstöchter von Mareike

Maron: Höherer Offizier der Bundeswehr

Herbert Müller: Mitglied der Wasser- und Schifffahrtsdirektion

Horstkotte: Leiter der Baumaßnahmen

Berger: Stellvertreter von Horstkotte

Seifert: Stellvertretender Einsatzleiter des Katastrophenstabes

Kalle: Arbeiter im Tunnel

Grobecker: Archäologe

Perenz: Materialwissenschaftler aus Aachen

Konrad: Stellvertretender Leiter des Krisenstabes aus dem Bundesinnenministerium

Erich Madel: Bauingenieur

Joachim Lengert: Geophysiker aus Münster

Thorsten: Inhaber einer Tauchschule in Duisburg

Rolf Klages: Geologe und Privatdozent in Aachen, auf Geotechnik und Tunnelbau spezialisiert

VORWORT

Der Geologe Gerhard Böhm ist mehr als beunruhigt: Er bemerkt sonderbare Strukturen in der Erdkruste und kann sich das eigenartige Verhalten der hügelbauenden Waldameisen nicht erklären. Trotz des frühen Wintereinbruchs sind die Ameisen an bestimmten Stellen noch immer aktiv. Verstärkt treten Beben im Neuwieder Becken und im Aachener Raum auf. Steht ein Vulkanausbruch bevor? Eine Katastrophe nicht abzuschätzenden Ausmaßes! Gemeinsam mit Kollegen sucht er fieberhaft nach verbindlichen Indikatoren – und in der Silvesternacht geschieht das Unfassliche: Mit einer heftigen Eruption unmittelbar am Rhein bricht zum ersten Mal nach über 10.000 Jahren in Deutschland ein Vulkan aus. In Koblenz und den Orten am Mittelrhein kommt es zum Chaos. Der Lavastrom versperrt den Rhein, mit entsetzlichen Wassermassen ist zu rechnen. Bald sind Mainz und Frankfurt überschwemmt. Die Lage scheint aussichtslos… Ulrich C. Schreiber entwirft einen wissenschaftlich fundierten Geo-Thriller, in dem man hautnah miterlebt, wie brachiale Naturgewalt einen dicht besiedelten Wirtschaftsraum mitten in Europa trifft.

Ulrich C. Schreiber, geboren 1956, studierte Geologie, Chemie sowie Geochemie. Er ist seit 1996 Professor für Allgemeine Geologie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsgebiete sind die regionale Geologie von Mitteleuropa, Vulkanismus und Tektonik sowie die Geoökologie. Er entdeckte die Rolle der Ameisen als Anzeiger für gasführende Bruchstrukturen in der Erdkruste. Dies bildete die Grundlage für ein Forschungsprojekt, in dem die Bedingungen für die Entstehung des Lebens in der oberen Erdkruste erforscht werden. Die Flucht der Ameisen ist sein erster Roman.

TEILEINS

ERDE

Die Luft ist kühl und es dunkelt

Und ruhig fließt der Rhein;

Der Gipfel des Berges funkelt

Im Abendsonnenschein

Heinrich Heine,

2. Strophe des Loreley-Liedes

Vorsichtig tastete sie mit den Fühlern den Rand der glatten Oberfläche ab. Noch vor wenigen Augenblicken war alles so wie immer gewesen. Nur der gewohnte Waldboden mit den trockenen Tannennadeln, dem geringen Grasbewuchs und den harzig riechenden Zapfen. Dann das ungewohnte Zittern, das Beben des Bodens. Vor ihr erhob sich unvermittelt ein kleines Gebirge, völlig neu, mit befremdlichen Gerüchen. Sie stammten von der Fläche, die sie gerade ertastete. Mit nichts vergleichbar, was sie in ihrem kurzen Leben bisher kennen gelernt hatte. Es waren scharfe, durchdringende Gerüche, die in ihrem winzigen Gehirn eine erhöhte Aktivität auslösten. Ein Duftmolekül ließ plötzlich eine Erinnerung in ihr aufkeimen – an die Bienen, die sie letztens zu dritt getötet und ins Nest geschafft hatten. Sie hatte halb verendet unter einem Farn gelegen und war kaum noch imstande gewesen, sich zu wehren. Es waren Spuren von Wachs, die die Erinnerung auslösten. Ohne weiteres Zögern bestieg die große rote Waldmeise den Bergschuh, der still auf der Stelle verharrte. Mit ihr machten sich sechs weitere Arbeiterinnen an den Aufstieg. Sie waren alle vom selben Stamm, von der Art Formica polyctena, die ihre Nester in großen Bauten anlegte. Gut sichtbare Hügel auf dem Waldboden mit etwa gleich großer Ausdehnung unter der Erde. Aufgeregt liefen sie über das Leder, betasteten sich hektisch mit den Fühlern, jeder Mal, wenn sie sich bei der Umrundung begegneten und versuchten, irgendetwas Verwertbares zu entdecken.

Die Erkundung von Neuland war für die kleinen Wesen immer ein lebensgefährliches Wagnis. Doch diesmal gab es ein völlig unkalkulierbares Risiko. Eine plötzliche Beschleunigung des Schuhs, ein kräftiges Aufstampfen, und die entdeckungsfreudigen Kerbtiere wurden mit Wucht auf den Waldboden geschleudert. Nur die erste Arbeiterin war weit genug nach oben gestiegen. Rechtzeitig konnte sie sich am Rand einer rauen Fläche festklammern, die zu einer Röhre geschlossen ein muskulöses Bein umhüllte. Einem inneren Drang folgend kletterte sie aufwärts in die Dunkelheit, auf einem ihr unbekannten Material, wieder mit seltsamen Düften. Zielstrebig bewegte sie sich an einer Naht der Jeanshose nach oben, bis es bedrohlich eng wurde. Der Geruch von menschlichem Schweiß und die unmittelbare Nähe warmer Haut setzten ihr Nervensystem unter Hochspannung. Mit viel Geschick kämpfte sie sich durch ein immer dichter werdendes Gestrüpp. Es waren Körperhaare im Raum zwischen Bein und Hose.

Dann passierte es. Eine langsame Bewegung, der Zwischenraum verschwand, und die Hose presste die Ameise fest an den Oberschenkel. Mit panischer Kraft stemmten sich alle sechs Beinchen des Eindringlings dem Druck entgegen. Der Fluchtweg führte nur nach oben. In den einzigen freien Raum, weiter auf der Haut, unter dem nächsten anders riechenden Stoff.

Die Millionen Jahre währende Evolution führte bei den Ameisen zur Entwicklung zahlreicher Überlebensstrategien, die sie bisher vor dem Aussterben bewahrt hatten. Hierzu gehörte das perfekt abgestimmte Zusammenspiel tausender Individuen. Eine einzelne Ameise war hilflos den kleinsten Naturgewalten ausgeliefert. Doch in einer Staatengemeinschaft gelang es ihnen, sich in ihrer Umwelt zu behaupten und ihre Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. In dieser ungewohnten Situation, unter dem Stoff der Hose eines Menschen, fehlte ihr die Fähigkeit, die eine entfernte Verwandte besaß, ein Parasit, der sich in der Natur als Einzelkämpfer durchschlug. Die Zecke schaffte es fast immer, über die Haut des Menschen zu wandern, ohne die feinen Schaltzellen zu aktivieren und die heftigen Abwehrreaktionen auszulösen.

Plötzlich, mit unendlicher Gewalt, presste sich der helle Stoff auf die Haut. Unter hohem Druck bewegte er sich hin und her, genau dort, wo die Hinterbeine des Insekts einen deutlichen Signalreiz in der Haut hinterlassen hatten. Der hintere Torso der Arbeiterin wurde fast zerdrückt. Reflexartig rammte sie die Zangen ins Fleisch und spritzte mit der letzten Kraft ihres Lebens die gesamte ihr zur Verfügung stehende Ameisensäure in die kleine Wunde.

„Verdammt!“, schrie Gerhard Böhm, „Schon wieder einer! Das ist der dritte Biss in zwei Tagen.“ Mit säuerlich verzogener Miene kratzte er sich im Schritt und sprang zur Seite, stampfte mehrmals mit den Füßen auf und klopfte wild fuchtelnd die Hose ab. Unmittelbar neben ihm verlief eine Ameisenstraße, genau über der Quarzfüllung einer besonderen geologischen Störung.

KAPITEL1

Der Brohlbach schlängelt sich durch die tief eingeschnittenen alten Sedimentgesteine des Rheinischen Schiefergebirges und mündet bei Brohl in den Rhein. Eine Museumsbahn folgt dem Bach über alte Viadukte und Dämme, vorbei an gelbbraunen Wänden aus einem Gestein, das hier überhaupt nicht hinzugehören scheint. Es ist der Trass des Brohltales. Schon die Römer haben den verfestigten Strom aus Bimsen, Aschen und zerriebenem Grundgebirgsgestein abgebaut. Viele Höhlen, Steinbrüche und Säulenreste aus dieser und jüngerer Zeit verleihen dem Tal einen einzigartigen Charakter. Der Trass besteht aus mehreren Schichten von Schlammströmen, die bei der Ausbruchsserie des Laacher-See-Vulkans gebildet wurden. Mächtige Eruptionsmassen aus einer Magmakammer in der tieferen Kruste wurden vor 12000 Jahren in kurzer Folge in die Luft geschleudert und bis zur Ostsee und nach Italien getragen, insgesamt mehr als ein halber Kubikkilometer. Die Massen, die direkt am Krater zurückfielen, bildeten heiße Aschenströme. Starke Regenfälle trugen Material aus den bereits abgelagerten Tuffen der Umgebung bei. Diese Mischung führte zu gefährlichen heißen Schlammströmen, die die Täler der Umgebung überschwemmten.

Beim Eintritt dieser Schlammströme in das Rheintal musste es zu einem brodelnden Inferno mit einem kurzfristigen Rückstau des gesamten Rheins gekommen sein. Gerhard wusste von früheren Exkursionen, dass ein Teil des Trassstromes oben am Hang im Übergang vom Brohltal in das Rheintal haften geblieben war. Während seiner Aachener Assistentenzeit hatte er häufig Kartierübungen in diesem Gebiet betreut. Er erinnerte sich noch ganz genau, dass sich unter dem Trass der Rest eines Schuttfächers des Baches verbarg, der damals bereits einen Teil des Brohltales eingekerbt hatte. Er war hier vor mehr als 200 000 Jahren in den Rhein geflossen, zu einer Zeit, als das Gebirge erst um drei Viertel der heutigen Höhe herausgehoben war. Der Brohlbach lagerte seine Fracht auf den groben Sedimenten des Rheintales ab. Sie waren bis heute an einigen Stellen als Reste an den Hängen erhalten geblieben und ließen eindrucksvoll das Niveau der heutigen Mittelterrasse erkennen. Gerhard begeisterte sich jedes Mal, wenn er im Rheintal unterwegs war, an den vielen herrschaftlichen Gebäuden, alten Villen, kleinen Schlössern oder Burgen. Sie standen auf den kleinen Vorsprüngen an den steilen Kanten des Engtales, immer mit den herrlichsten Ausblicken auf den tiefer liegenden Flusslauf.

Der Aufschluss, den Gerhard jetzt aufsuchte, lag genau unterhalb der Abfolge von Trass, Schwemmfächer und Mittelterrasse in den wenig spektakulären Sand- und Tonsteinen des Grundgebirges. Es war nur schwer und mit besonderer Ausrüstung zu erreichen. Die Gefahr eines Steinschlages war hoch. Aus diesem Grund hatte er seinerzeit die Studenten vor einem Begehen gewarnt und die Geologie nur an der Abbruchkante, von einem kleinen Trampelpfad aus, erklärt. Jetzt, fast genau sieben Jahre später, stand er wieder vor dem kleinen Steinbruch in halber Höhe am Steilhang des Rheintales. Es war März, und die Sonne war erstaunlich warm für diese Jahreszeit Ein weiterer Grund, warum es Gerhard nicht mehr in den Institutsräumen hielt. Die Pause während des Winters war viel zu lang gewesen. Das Wetter hatte sich zeitweise von seiner schlechtesten Seite gezeigt, mit viel Regen, Schneematsch und Nebel. An geologische Untersuchungen in der Eifel war nicht zu denken gewesen.

Jetzt im Frühjahr herrschten die besten Bedingungen für Geländearbeiten. Die Felder und Wiesen waren in dieser Zeit kaum bewachsen, und entlang der Waldränder und auf den Lichtungen fehlten die Brennnesseln und Farne, die später im Jahr große Teile des Untergrundes verdeckten. An den Steilhängen des Rheintals klammerten sich die Laubbäume mit wenigen Wurzeln an den Felsen fest. Es waren vorwiegend Eichen, die mit wenig braunem Restlaub einen guten Blick auf die Felsen gewährten. Dadurch war es leichter, aus der Entfernung einzelne Gesteinsschichten über größere Strecken zu verfolgen – sofern nicht alles von der „Rheinischen Macchia“, einem dichten, undurchdringlichen Gestrüpp mit immergrünen Pflanzen, abgeschottet wurde.

Von unten drang das Grummeln eines vorbeirollenden Güterzuges empor, begleitet vom niederfrequenten Tuckern der allgegenwärtigen Schiffsdiesel. Endlich konnte Gerhard den Geologenkompass aus der Gürteltasche nehmen und an die steile Fläche halten. Mit Helm und Leine gesichert tat er das, was er seit Monaten intensiv geplant hatte. Er suchte Hinweise auf bestimmte geologische Störungen, die als senkrecht stehende Verwerfungsflächen in der Erdkruste auftreten konnten. Nach seinen Überlegungen mussten sie in der Eifel vorkommen und eine wichtige Rolle in der jüngeren Entwicklung des Rheinischen Schiefergebirges spielen.

Oben an der Abbruchkante stand Katrin. Sie hatte das Seil über einen stabilen Ast einer Eiche geführt und hielt es, halb um die Hüften gewickelt, leicht gespannt.

„Hast du etwas entdeckt?“, rief sie zu ihm hinüber.

Gerhard hatte sich auf dem rutschigen Schuttfächer nach oben zur steilen Felswand durchgekämpft und hackte schwungvoll mit der Hammerspitze in weiche Gesteinsschichten.

„Moment noch. Ich muss erst mit dem Hammer den lockeren Dreck abtragen.“

Gerhard kratzte eine senkrecht stehende Fläche frei.

„Unter dem Schutt sind mehrere dünne Quarz- und Eisenerzgänge verborgen. Die ganze Einheit ist mindestens vier Meter breit und völlig zermürbt. Sogar der Quarz ist zerrieben und fühlt sich an wie grober Zucker.“

„Was bedeutet das“?

„Das könnte eine größere Störung sein.“

„Und was für eine?“

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Weil sie so steil steht, ist eine Seitenverschiebung am wahrscheinlichsten. Ich suche noch nach Harnischen“.

„Was ist das denn schon wieder? Hat das nicht irgendwas mit Ritterrüstungen zu tun?“

„Ja und nein. In der Geologie sind es die besten Anzeichen für Bewegungen, die auf den Störungsflächen stattgefunden haben. Es sind Kratzspuren oder längliche Minerale, die sich neu gebildet haben und in der Bewegungsrichtung liegen. Solche Spuren hast du schon an Stellen beobachtet, wo Gletschereis über Felsen geschrammt ist. Ähnlich sieht es aus, wenn zwei Krustenblöcke gegeneinander bewegt werden.“

„Müssten sie hier dann nicht waagerecht liegen?“

„Genau! Du machst Fortschritte. Das wäre endlich der Beweis für Seitenverschiebungen in der Eifel und möglicherweise auch für andere Gebiete im Rheinischen Schiefergebirge.“

Gerhard Böhm hatte Glück gehabt, dass er vor sechs Jahren auf die Stelle eines Universitätsprofessors für Geologie in Köln berufen wurde. Die Stellen an den Universitäten waren selten und die Konkurrenz groß. Aber seine Forschungsrichtung passte perfekt zur Ausschreibung und die Publikationen hatten überzeugt. Seit dieser Zeit arbeitete er an den Zusammenhängen von Vulkanismus und Tektonik, besonders im mitteleuropäischen Raum.

Mit Katrin war er bereits eine halbe Ewigkeit zusammen, ein Glücksfall, wie er in vertraulichen Runden gerne betonte. Kirstin, Susanna und Marcello, ihre Kinder, waren inzwischen erwachsen und hatten bis auf Susanna das Haus verlassen. Sie war die Jüngste und übte sich gerade in den ersten Studierversuchen. Es musste ausgerechnet Sport sein, ein völlig unwissenschaftliches Fach, wie Gerhard verschiedentlich anmerkte. Und ausgerechnet in Köln. Aber so war das dritte zu finanzierende Studium immerhin tragbar, und Susanna konnte den Service im Elternhaus noch eine Weile genießen. Kirstin, die Älteste, hatte es am weitesten fort verschlagen. Ihr Traumberuf war Ärztin und ihr Zeugnis gut genug. Schon seit vier Jahren studierte sie in Heidelberg und sprach bereits über die Doktorarbeit als nächstes Ziel. Marcello lag zeitlich zwischen den beiden Mädchen, auch bei der Wahl des Studienortes. Er studierte Medien Psychologie und Kommunikationsdesign in Aachen. Gerhard war bisher nicht klar geworden, wie man auf dem Arbeitsmarkt damit Geld verdienen konnte. Dafür schätzte er die Kenntnisse seines Sohnes in Sachen Computer sehr und allem, was damit zusammenhing. Für die nächste Zeit war Marcello schon für den Aufbau einer privaten Web-Seite eingeplant.

Katrin überlegte derzeit, ob sie wieder als Apothekerin arbeiten sollte, hatte nun aber viel mehr Spaß und Interesse daran, endlich mit ihrem Mann ins Gelände zu gehen. Zu oft hatte sie sich bei seinen Erzählungen vorgestellt, die gleichen Erfahrungen in der Natur zu machen, dort hinzukommen, wo man normalerweise nie im Leben hinkam, außer man war Geologe. Sie fand es unheimlich spannend, alles im Zusammenhang zu sehen und zumindest teilweise zu verstehen. Die Geologie, die Landschaft mit der Pflanzen- und Tierwelt und die überall sichtbaren Auswirkungen des Menschen.

Kennen gelernt hatten sie sich vor 26 Jahren, in einer der kleinen Studentenkneipen in Göttingen. „Wir kamen uns damals vor wie zwei passende Puzzleteile, die irgendjemand zusammengelegt hatte“, erzählte Katrin manchmal, wenn sie neue Bekanntschaften gemacht hatten. „Vom ersten Augenblick an war alles entschieden“, behauptete auch Gerhard bei solchen Gelegenheiten.

Sie ergänzten sich wirklich sehr gut. Bis auf die Ausnahmen, die es wohl in jeder Beziehung gibt. Jetzt stand jedenfalls für beide eindeutig fest, dass die neu gewonnene Freiheit gemeinsam genutzt werden sollte – jedenfalls, so gut es ging. Es gab da eigentlich nur noch Morpheus, den rot-weißen Kater. Morpheus war ein wahres Ungetüm von siebeneinhalb, nach dem Winter manchmal auch acht Kilo. Sehr schmusebedürftig und für eine Katze viel zu intelligent. Aber ihn konnten sie durchaus drei oder vier Tage allein lassen, wenn Susanna ebenfalls unterwegs war. Unter der Kontrolle verständiger Nachbarn brauchte es nur genügend Futter, das regelmäßig nachgefüllt werden musste.

Es waren Semesterferien zwischen Winter- und Sommersemester. Gerhard hatte sich vorgenommen, in diesem Frühjahr zusammen mit Katrin möglichst viele Geländedaten zu sammeln, um die nötigen Grundlagen für einen größeren Forschungsantrag zu erarbeiten. Jetzt standen sie beide am Hang und untersuchten erstmals gemeinsam einen Aufschluss. Katrin sicherte die Leine mit einem Karabinerhaken an der Hüftschlinge ab und versuchte, gleichzeitig mit Geländebuch, Stift und Seil zu hantieren.

Gerhards Kratzeifer nahm plötzlich zu. Mit der Spitze des Hammers hakte er hinter die Kante einer größeren Steinplatte und klappte sie langsam zur Seite. Einmal in Bewegung, gab es kein Halten mehr. Unaufhaltsam rutschte sie in die Tiefe. Der Schutt wirkte wie Rollsplitt. Nachbrechende Gesteinsmassen polterten hinterher und verschwanden krachend im Geäst weiter unten am Hang Gerhard konnte sich gerade noch mit einem Satz zur Seite retten, bevor auch sein Standplatz in die Rutschmasse einbezogen wurde.

„Juchhu!“, brüllte er.

„Das macht dir wohl Spaß, was?“ Katrin blickte halb erstarrt, halb erschrocken zu ihm auf dem neuen Standplatz und folgte schließlich den letzten Brocken, die in die Tiefe prasselten.

„Nein, das war ein Volltreffer! Schau mal, das müsstest du auch von dort sehen können. Hier sind ganz deutlich Harnische ausgebildet. Und genau wie ich sie brauche: horizontal!“

Gerhard nahm den Kompass und hielt die Messplatte an die Gesteinsfläche.

„Nanu!“, wunderte er sich. „Die Spuren verlaufen in Nordost-Südwest-Richtung. Das hatte ich eigentlich nicht erwartet.“

„Gib mir die genauen Daten!“ Katrin schlug das Geländebuch auf und notierte die Messwerte, die Gerhard ihr zurief. Anschließend trug sie die genauen Koordinaten ihres Standortes ein, die sie vom ihrem kleinen GPS-Gerät abgelesen hatte.

„Leg das Seil noch einmal um den Ast, damit es besser hält!“, rief Gerhard. „Ich versuche, mit einem Sprung über die Rutschzone zu kommen!“

„Hoffentlich geht das gut!“

„Du solltest mal sehen, was wir so alles trainieren, wenn wir im Gelände sind.“

Gerhard straffte das Seil, hielt es mit angewinkelten Armen fest und nahm einen kurzen Anlauf. Der Schwung führte ihn in einem großen Bogen über den Schuttfächer, wobei ihn das Seil auf einer bogenförmigen Bahn hielt, allerdings anders als geplant. Der Ast gab unter der Last deutlich nach, sodass ihn die Flugbahn um einige Meter versetzt direkt in die Brombeerranken beförderte.

„Verflucht!“, schrie Gerhard.

Katrin prustete los vor Lachen.

„Das findest du wohl lustig?“, brummte er sie an.

„Nein, ich lache nur über deine Haltungsnoten. Du solltest diese Nummer vielleicht noch einmal überarbeiten.“ Langsam zog sie ihn am Seil zu sich hoch, bis Gerhard leicht keuchend den Trampelpfad erreichte.

„Es wird Zeit, dass der Sommer kommt und ich wieder öfter im Gelände bin. Dann wird meine Kondition auch wieder besser.“

Katrin wickelte das Seil auf und grinste. „Wollten wir nicht schon seit einem Jahr joggen gehen, Tarzan?“ Sie nahm ein Taschentuch und säuberte den Kratzer in seinem Gesicht. Dann strich sie ihm über das Haar und gab ihm einen Kuss.

Gerhard hatte die Bemerkung überhört. Er war viel zu sehr von seinem neuen Fund begeistert.

„Jetzt haben wir einen Anfang — zwar nicht das, was ich mir vorgestellte habe, aber immerhin. Diese GPS-Geräte sind hervorragend. So hat man viel mehr Sicherheit bei der Standortbestimmung. Die hätte ich mir schon früher gewünscht. “

Katrin erkundigte sich kurz, wie es weitergehen würde. Gerhard deutete nach oben. Er musste weitere Hinweise auf die neu entdeckte Störungszone finden. Gleichzeitig warnte er mit einem leichten Grinsen vor Wildschweinen.

“Die haben sich in den letzten Jahren kräftig vermehrt!“

Katrin konterte mit einem Hinweis auf seinen Geologenhammer. Schließlich sei der auch als Waffe zu gebrauchen. Jedenfalls so lange, bis sie auf dem nächsten Baum sei.

Sie stiegen bis zu einer Schurfrinne hinauf, die parallel zum Hang verlief. Gerhard peilte erneut mit dem Kompass den Verlauf des Schurfes.

„Das ist die gleiche Richtung, die ich vorhin unten auf der Störungsfläche gemessen habe. Das muss der Quarz-Erz-Gang der Störungszone sein. Wahrscheinlich wurde das Erz hier von unseren Altvorderen abgegraben. Wenn wir die Augen offen halten, finden wir vielleicht noch Reste aus dieser Zeit.“

„Sind diese Gebiete eigentlich schon alle von Archäologen untersucht?“

„Auf keinen Fall. Die sind noch schlimmer dran als die Universitäten. Da fehlt doch überall das Geld.“

„Könnt ihr nicht zusammenarbeiten?“

„Genau das werden wir tun. Ich habe schon Kontakt zu den Archäologen aus der Umgebung aufgenommen. Wenn wir etwas Interessantes finden, sollen wir sofort Bescheid sagen.“

„Und wem würde der Fund gehören? Wenn es zum Beispiel eine römische Münze ist?“

„Das kommt ganz darauf an. Hier in Rheinland Pfalz gehört alles dem Land, man muss jedes Fundstück abliefern. In Nordrhein-Westfalen, also etwas weiter nördlich von hier, wird geteilt.“

„Wie? Wird die Münze dann zersägt?“

„Blödsinn! Natürlich nicht. Aber die eine Hälfte des Wertes gehört dem Finder, die andere dem Eigentümer. Allerdings nicht, wenn das Fundstück ausgegraben wurde. Grabungen ohne Genehmigung sind generell nicht erlaubt, wenn ich mich recht entsinne. Und bei Einzelstücken einigt man sich irgendwie.“

„Und wer ist der Eigentümer?“

„In Forstgebieten das Land, im Privatwald der Waldbesitzer und auf Äckern und Wiesen meistens der Bauer.“

„Also würde ich damit zu einem Archäologen gehen, und der regelt das dann?“

„Die Archäologen würden zunächst ihr Recht in Anspruch nehmen, ein Fundstück für wissenschaftliche Zwecke einige Monate lang zu untersuchen. Dann müssen sie es aber wieder zurückgeben. Wahrscheinlich klären sie dich dann auf, wie die Besitzverhältnisse geregelt sind.“

„Dann wäre man schön blöd, wenn man hier in der Grenzregion einen Fund in Rheinland-Pfalz meldet. Der wäre für mich als Finder verloren.“

„Genau. Das wird auch von den Archäologen kritisiert. Sie bemerken tatsächlich eine erstaunliche Häufung von Funden hinter der Grenze in Nordrhein-Westfalen und südlich davon kaum welche in Rheinland-Pfalz.“

„Also scheint es durch diese unsinnige Gesetzgebung zu einer ungewöhnlichen Verzerrung der Fundstellen zu kommen.“

„Das kann man wohl sagen.“

Langsam gingen sie in Richtung des Schurfes weiter. Anhand der Steine, die immer wieder unter Laub und Gebüsch auftauchen, konnte Gerhard die Störung recht einfach quer durch das Gelände verfolgen.

„Man braucht gar keinen großen Steinbruch, um sich in die Geologie unter uns einzudenken. Man muss nur die vielen kleinen Hinweise in den richtigen Zusammenhang stellen können.“

„Dazu braucht es aber auch die notwendige Erfahrung, die dann den Meister macht.“

„Nein, den Geländegeologen. “

An einer kleinen Lichtung stießen sie auf drei große Hügel der roten Waldameise.

„Die sind aber riesig!“ staunte Katrin.

„Anscheinend fühlen sie sich hier besonders wohl. Komisch, dass sie genau auf der Störung wohnen. Ich würde mein Haus nicht an dieser Stelle bauen.“

„Warum nicht?“

„Beim nächsten Erdbeben würde der Haufen sofort zerstört werden.“ Gerhard grinste Katrin an.

„Du willst mich auf den Arm nehmen! Wir sind hier doch nicht in Kalifornien, an dieser großen San-Andreas-Störung.“

In weitem Bogen umrundeten sie die Haufen und suchten den Anschluss an die vorherige Richtung.

Das Buschwerk wurde wieder dichter. Es bestand überwiegend aus Schlehensträuchern und anderen stacheligen Gewächsen. Vor allem dornige Brombeerranken nahmen zu, die sich besonders gut in Haaren und Jacken verfingen. Tief gebeugt und fast auf allen Vieren mühten sich die beiden durch einen flachen Gestrüpptunnel, den die Wildschweine freigehalten hatten. Der gebückte Fortbewegungsstil hatte aber auch einen Vorteil. Die Augen befanden sich so dicht über dem Gesteinsschutt, dass selbst die kleinsten Bruchstückchen zu erkennen waren.

„Wenn uns jetzt eine fette Wildsau durch dieses Dickicht jagt und du heute Abend die Dornen und Zecken aus den Beinen rausoperierst, weißt du endlich, wie aufregend Geologie sein kann.“ Gerhard merkte, wie Katrin langsam unruhig wurde

„Hier stinkt es ganz schön nach Schwein“, kam die Antwort.

„An mir liegt es nicht! Aber schau mal, hier sind überall Fellreste und Schlafplätze der Borstenviecher.

„Was hat das zu bedeuten?“

„Ich glaube, wir sollten uns etwas mehr bemerkbar machen. Sonst haben wir möglicherweise gleich Beißkontakt. Ah, schau mal, was ich gefunden habe!“

Gerhard kratzte mit dem Hammer auf dem Boden und nahm ein schwarzes Stück Schlacke in die Hand. „Hier wurde das Erz direkt vor Ort verhüttet.“

„Wie das?“

„Mit ganz primitiven kleinen Schmelzöfen, die schon die Römer oder noch ältere Kollegen erfunden hatten und die bis ins Mittelalter in dieser Art genutzt wurden. Gebaut wurden die Öfen mit Lehm und Wasser.“

„Und die Feuerung?“

„Man hat Holzkohle hergestellt und dabei jede Menge Holz verbraucht. Ich glaube, das könnte für die Archäologen richtig interessant sein. Wir sollten auch diese Funde in die Karten eintragen. Schreib doch bitte die GPS-Daten auf.“

Das Gestrüpp wurde immer dichter. Nur noch wenige Lesesteine mit Quarz und Erz ließen erkennen, dass die Störung in der Nähe sein musste.

Als sie vor einer dichten Mauer aus Ilex und anderen Stachelgewächsen standen, protestierte Katrin heftig.

„Da gehe ich nicht rein! Da drinnen knackt es schon so verdächtig. Außerdem habe ich bereits die fünfte Zecke von der Hose gesammelt. Es reicht!“

Gerhard suchte den Hang ab und gab nach.

“Ich glaube auch, dass es hier keinen Sinn hat. Lass uns in den hohen Eichenwald dort drüben gehen. Da kommen wir besser voran.“

Mit sicherem Abstand umrundeten sie das Buschwerk. Plötzlich krachte es im Unterholz und zwei ausgewachsene Wildschweine preschten den Hang hinunter.

Den beiden fuhr der Schreck in die Glieder.

„Hast du gesehen, wie schnell die Viecher sind?“, fragte Katrin entsetzt.

„Ja, erstaunlich. Da bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. Letztens hat mir unser Personalchef aus der Verwaltung einiges über Wildschweine erzählt.“

„Du meinst den Klesper? Was hat der denn mit Wildschweinen zu tun?“

„Er ist passionierter Jäger. Er hat behauptet, dass die Viecher fast blind sind. Die können dich kaum sehen, wenn du nur still dastehst. “

„Und wie soll ich das machen, wenn so eine Sau auf mich zugerannt kommt?“

„Dann wäre es wohl besser, wenn du hinter einen Baum springst.“

„Also doch nicht stehen bleiben, damit sie mich nicht sehen?“

„Das musst du von Fall zu Fall entscheiden. Klesper hat erzählt, dass es neulich einen Jagdgenossen erwischt hat. Sein Gewehr hat dreimal versagt, die Sau hat das irgendwie mitgekriegt und den Kerl einfach über den Haufen gerannt.“

„War es schlimm für ihn?“

„Die Biester haben anscheinend recht scharfe Zähne im Unterkiefer, fast wie ein Teppichmesser. Das Vieh hat ihm den Lederstiefel, die Hose und die Thermounterhose aufgetrennt und ihm die Wade aufgeschlitzt.“

„Nett, dass du mir das ausgerechnet jetzt erzählst!“

Langsam gingen sie den Hang hinauf, wobei sie ständig das dichte Gebüsch im Auge behielten. Zehn Schritte weiter standen sie unverhofft vor einer Reihe tiefer Löcher.

„Schau mal, hier gibt es alten Bergbau!“ Gerhard nahm den Kompass und peilte die Richtung. „Das sind Pingen, die genau auf unserer Störung liegen, die wir vom Rhein her verfolgt haben. Hervorragend! Komm, wir gehen zum Auto zurück. Ich bin gespannt, ob wir in der Verlängerung noch weitere Stellen finden.“

Die nächsten Punkte, die sie anfuhren, waren Volltreffer. Gerhard hatte den richtigen Riecher gehabt. An diesem Tag fanden sie eine Störung mit mehr als vier Kilometern Länge, die vom Rhein in südwestliche Richtung bis östlich von Burgbrohl verlief. Danach gab er auf.

„Es hat keinen Zweck, weiter im Süden zu suchen. Dort fangen die mächtigen jungen Tuffe an, die aus dem Vulkanausbruch des Laacher Sees stammen und das alte Gestein überlagern. Da werden wir nichts mehr finden.“

„Und wenn wir uns in tieferen Täler umsehen?“

Gerhard studierte die Karte. „Nein, in dieser Richtung gibt es keine Talanschnitte mehr.“

„Also Feierabend?“

„Vorher möchte ich noch die Punkte, die wir bisher gefunden haben, miteinander verbinden und schauen, wo die Sache hinführt.“

Gerhard breitete die Karte auf der Motorhaube aus, zog eine lange Linie durch alle Fundpunkte und verlängerte sie weiter nach Südwesten.

„Oh!“, staunte er nicht schlecht. „Genau an den Westrand des Laacher Sees. Jetzt weiß ich auch, warum der Rand genau in dieser Richtung eingebrochen ist. Das wird ja richtig spannend.“

„Was meinst du damit?“

„Eine Seitenverschiebung, wie wir sie gefunden haben, ist die ideale Möglichkeit für Schmelzen, aus großer Tiefe nach oben zu kommen. Wenn wir nachweisen können, dass die Störung noch heute aktiv ist, dann war sie es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schon vor dreizehntausend Jahren.“

„Wie kann man so etwas über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren behaupten?“

„Hier geht es um Geologie. Da ticken die Uhren wesentlich langsamer. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.“

„Aber dreizehntausend Jahre?“

„Das war geologisch gesehen erst gestern oder heute Vormittag. Sonst rechnen wir mit Jahrmillionen. Geologie hat etwas mit langen Zeiträumen zu tun.“

„Was ich noch nicht verstehe, ist, wie die Schmelze an so einer Störung nach oben kommen soll. Erst erzählst du, dass die Gesteinsschichten so fest aneinander gepresst werden, dass sich diese Harnische bilden und dann soll sich auch noch das heiße Magma hindurchquetschen?“

„Das ist kein Problem. Du hast ja selbst gesehen, dass in den Störungszonen immer dort Erz und Quarz vorkommen, wo salzhaltiges Wasser in der Kruste aufgestiegen ist. Daraus haben sich schließlich die Minerale gebildet, also muss es auch Platz dafür gegeben haben.“

„Wie bei unserer Wasserleitung, die wir neulich austauschen mussten?“

„Völlig richtig. Übrigens kann man sich das ganz leicht vorstellen. Drück mal beide Hände in senkrechter Stellung fest zusammen.“

„So?“ Katrin hielt ihm die aneinander gelegten Hände entgegen.

„Du musst sie etwas versetzen, damit die Knicke der Fingerglieder nicht genau gegenüber liegen.“

„Okay, und nun?“

„Jetzt verschieb die Hände etwas gegeneinander und schau von oben auf die Zeigefinger. Was siehst du?“

„Ich kann hindurchschauen, dort wo sich kleine Kanäle bilden, weil die Handflächen nicht glatt sind.“

„Genauso ist es bei unseren Störungszonen. Das sind keine ganz ebenen oder gar polierten Flächen. Im Gegenteil, sie sind fast immer gewellt oder es gibt mittendrin Abbrüche. Sobald ein kleiner Versatz eintritt, kann ein Kanal entstehen, der die gesamte Kruste durchschlägt. Und wenn die Sache noch etwas tiefer geht, bis in den Erdmantel, und es dort Magmen gibt, dann können die ganz schnell nach oben kommen, weil sie unter sehr hohem Druck stehen.“

„Das habe ich verstanden. Und welche Gesteine werden aus der Schmelze gebildet, die oben rauskommt?“

„Das werden Vulkanite, zum Beispiel Basalte, wenn es sehr schnell geht.“

„Und was ist mit dem Laacher See? Hast du nicht immer erzählt, dass diese Schmelzen aus der Kruste stammen?“

„Völlig richtig, aus vielleicht fünf bis zehn Kilometern Tiefe. Da hat der flüssige Basalt einen Zwischenstopp eingelegt und sich völlig verändert.“

„Der ist bestimmt gerostet.“

„Wie bitte?“

„Du weißt doch, wer rastet der rostet.“

Gerhard verzog kurz das Gesicht. Dann sah er Katrin lachend an und empfahl ihr, sich diese Art Sprüche aufzuschreiben. Für das nächste Jahr würden noch dringend Autoren für die geologische Büttenrede zum Karneval gesucht.

Sie packten ihre Sachen zusammen und fuhren aus dem Tal auf die Höhe. An einem kleinen Weg in einer Kurve hielt Gerhard an. Von hier aus hatten sie einen herrlichen Ausblick auf das Siebengebirge und das nördliche Rheintal mit den Nebentälern. Es war schon nach achtzehn Uhr und die lockere Bewölkung zauberte eine besondere Stimmung an den frühabendlichen Himmel. Sie stiegen aus und genossen den ersten warmen Wind, der über die Hochflächen strich.

„Ist das schön! Endlich wird es Frühling.“

Katrin lehnte sich an Gerhard und folgte seinem ausgestreckten Arm. Er zeigte auf die Stelle, wo sie am Morgen den ersten Beleg für die Störung gefunden hatten.

„Ich glaube, dieser Job könnte mir auch gefallen. Vielen Dank für die Einführung in die Geologie.“

„Du weißt doch, wie das ist. Wenn jetzt wir zusammen im Gelände sind, musst du für das herhalten, was sonst die Studenten ertragen müssen. Denen erkläre ich dauernd etwas. Das werde ich bei dir nicht so schnell ablegen können.“

„Schon gut. Es macht mir wirklich Spaß, auch wenn es manchmal etwas lehrmeisterhaft rüberkommt.“

„Sei froh, dass du nicht mit einem Lehrer verheiratet bist. Die können das noch viel besser – Und jetzt auf nach Köln! Inzwischen dürften die Autobahnen wieder einigermaßen frei sein.“

Wegen der Kinder, aber auch wegen Morpheus, hatten sie sich ein kleines Haus in Kölner Randlage gekauft. Dort, wo es gerade noch bezahlbar und so verkehrsberuhigt war, dass man Kinder und Kater draußen herumlaufen lassen konnte.

Morpheus kam ihnen schon in der Garageneinfahrt entgegen. Gerhard stieg aus und schnappte ihn sich.

„Na, Dicker, was hast du heute wieder ausgefressen?“ Er stemmte ihn mit beiden Armen hoch. „Oh! Schau dir das an, Katrin! Der Kerl hat einen völlig weißen, verklebten Bauch.“

„Ach Gott, ist er wieder über einen frisch gestrichenen Zaun geklettert?“

„Sieht ganz danach aus!“

„Wunderbar! Dann haben wir ja heute ein abendfüllendes Programm.“

In den nächsten Tagen studierte Gerhard die alten geologischen Karten der Eifel und suchte nach Hinweisen, die seine Entdeckung bestätigten. Schnell stellte er fest, dass die alten Bearbeiter diesen Quarzfunden und Störungsrichtungen keinerlei Bedeutung beigemessen hatten. Zum Teil waren die Karten über 80 Jahre alt. Deshalb wunderte es ihn nicht. Aber hin und wieder fand er in alten Veröffentlichungen ein oder zwei Nebensätze über einzelne Quarzgänge. Deutlich mehr Material gab es über die Erzvorkommen der Eifel und die Bergbautätigkeit.

Gerhard hatte Blut geleckt. Die nächsten Tage im Gelände brachten ein erstaunliches Ergebnis. Die neu entdeckte Störung war nicht die einzige dieser Art. In fast regelmäßigen Abständen traten immer wieder parallel verlaufende Verwerfungen auf, die die gleichen typischen Quarzgänge mit Vererzungen aufwiesen. Und immer wieder tauchten im Verlauf der Störungen alte Pingen auf. Nur eine Sache fehlte noch. Gerhard suchte eine andere Richtung. Nach seinen Vorstellungen mussten viel größere Störungen in Ost-West-Richtung vorhanden sein, die eine große Bedeutung für die gesamte Geologische Entwicklung der Eifel haben sollten. Es dauerte nicht lange, bis ihm ein merkwürdiger Zufall zu Hilfe kam.

In ihrem Haus am Rand von Köln hatte Gerhard sich ein kleines Arbeitszimmer eingerichtet, in dem er abends häufig über den Karten saß und Pläne für die nächsten Fahrten ins Gelände schmiedete. Die neuen Funde trug er regelmäßig aus der Geländekarte in eine Übersichtskarte ein, um langsam ein Verständnis für die großräumigen Verhältnisse zu bekommen.

Das Hauptproblem war Morpheus, der überall dabei sein musste und ständig auf der Suche nach Möglichkeiten war, Unfug anzustellen. Es war den Böhms nie klar geworden, wie es eigentlich angefangen hatte. Von einem bestimmten Tag an konnte der Kater Türen öffnen. Vielleicht hatte er es sich von seiner Mutter, einer kleinen wendigen Katzendame abgeschaut. Sie sprang auf die Klinke und drückte sie durch geschickte Gewichtsverlagerung nach unten, bis die Tür aufging. Morpheus war so groß, dass er bereits mit gestrecktem Körper die Klinke erreichen konnte. Das genügte allerdings nicht, um sie zu bewegen. Befand er sich auf der Seite der Tür, die sich nach innen öffnete, sprang er ein Stück hoch und hängte sich mit der einen Pfote auf die Achse der Türklinke. Danach zog er gelassen mit der anderen Pfote am Griff, und die Tür bewegte sich in die Richtung, in der die Katermasse hing. Besonders herzinfarktträchtig war seine Öffnungstechnik für Türen, die zur anderen Seite aufgingen. Dazu nahm er regelrecht Anlauf, dann folgte nahezu gleichzeitig Hochspringen, Einhängen und Drücken der Klinke. Mit großem Schwung krachte er gegen die Tür, die schlagartig aufflog. Besucher, die nicht vorgewarnt waren, fuhren regelmäßig senkrecht aus den Sesseln in die Höhe.

Außerdem schlich sich Morpheus häufig unbemerkt ins Arbeitszimmer. Er liebte Wärme und Menschennähe und besonders den Platz auf dem Schreibtisch unter der Lampe. Meistens bemerkte Gerhard ihn erst, wenn er auf den Tisch gesprungen war, doch dann war es bereits zu spät. Im nächsten Moment hatte sich der Kater direkt vor Gerhard auf die Karte gepflanzt und rekelte sich unter der Schreibtischlampe auf dem Papier. Ihn einfach wergzunehmen wäre der größte Fehler, den Gerhard machen konnte. Wenn er die Hände um sein dickes Fell schloss und ihn anhob, krallte sich das Tier in die Karte und nahm sie reflexartig mit.

Noch schlimmer war es, wenn Gerhard die Karten auf dem Boden ausgebreitet hatte. Dann sprang der Kater mit wahrer Wollust auf das Papier, rutschte über die Karte und schob sie zu einem Faltengebirge zusammen. Mit dem restlichen Schwung ließ er sich auf die Seite fallen und ruderte so heftig mit Hinter- und Vorderpfoten, dass der gesamte Faltenberg als Papierkugel unter den dicken Bauch wanderte. Das waren die kritischen Momente, in denen Gerhard die Beherrschung verlieren konnte. Inzwischen hatte er aus den Erfahrungen gelernt und ließ die Tür zu seinem Arbeitszimmer nicht mehr offen stehen. Wenn Morpheus nun mit seiner Massenschwungtechnik ins Zimmer einbrach, hörte er es rechtzeitig und konnte Gegenmaßnahmen ergreifen. Leider ließ sich die Glastür nicht abschließen, was Gerhard oft bedauerte.

Am Wochenende saß er wieder über seinen Karten. Katrin murrte bereits, dass sie ihn abends gar nicht mehr zu Gesicht bekam. Aber er musste die Daten der letzten Tage eintragen. Diesmal war er allein unterwegs gewesen, während Katrin in Köln mit Einkäufen und Arztbesuchen beschäftigt war. Gerhard hatte gerade vier Geländekarten auf dem Boden aneinander gelegt, als er plötzlich ein menschliches Bedürfnis verspürte.

„Katrin!“, rief er die Treppe hinunter. „Ich muss ganz dringend aufs Klo. Pass bitte solange auf, dass Morpheus nicht in mein Zimmer geht!“ Dann hetzte er ins Badezimmer. Er hörte die Antwort von Katrin nicht mehr, die ihn bat, noch einen Augenblick zu warten, weil sie zuerst das Essen aus dem Backofen nehmen musste.

Gerhard war eine Weile gefesselt. Etwas, das er unterwegs in einer Gaststätte gegessen hatte, war nicht richtig auf seinen Magen abgestimmt gewesen. Als er sich die Hände wusch, hörte er Katrin laut schimpfen. Ihm schwante Böses. Mit nassen Händen eilte er in Richtung Arbeitszimmer.

Es war, als hätte er es geahnt. Katrin beugte sich über den Kater und versuchte, ein grün-weißes Papierknäuel aus dem Griff seiner Pfoten zu befreien. Morpheus hatte seinen üblichen verschmitzten Katergesichtsausdruck aufgesetzt und hielt krampfhaft fest.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, schrie Gerhard in einer Lautstärke, dass der Kater sofort alles losließ, ruckartig auf die Beine sprang und wie ein Blitz an ihm vorbeischoss. Gerhard versuchte ihn zu packen, rutschte aber mit den nassen Händen an der beschleunigten Masse ab. Der nächste Griff ging zum Hausschuh. Wütend schleuderte er den Pantoffel aus der Hüfte dem flüchtenden Untier hinterher. Doch er traf nur ein Trockengesteck auf dem Flur. Zum Glück war die Vase nicht viel wert.

Jetzt waren alle Zutaten für einen handfesten Ehekrach beisammen. Als verstärkender Faktor erwies sich die Erkenntnis, dass Teile der in die Geländekarte eingetragenen Informationen zerstört waren und Gerhard sich in seinem Zorn nicht mehr genau an alle Daten erinnern konnte oder wollte.

Morpheus war in der griechischen Mythologie der Gott der Träume. Morpheus Böhm entwickelte immer mehr Ähnlichkeit mit einem Gott der Alpträume.

In diesem Moment ging die Tür. „Hallo! Ich bin’s!“

Susanna war nach Hause gekommen. Sie trat in den Flur und starrte auf die Bescherung. „Was ist denn hier los?“ Fragend schaute sie Gerhard an, der gerade aus seinem Zimmer kam, in der Hand das grün-weiße Kartenknäuel. Susanna machte auf dem Absatz kehrt und steuerte ihr Zimmer an. „Hab schon verstanden! Will gar nichts mehr wissen.“ Und weg war sie.

Katrin war klar, dass es eine Weile dauern würde, bis sich Gerhard wieder beruhigt hatte. Sie ließ ihn an diesem Abend in Ruhe und ging ausnahmsweise etwas früher ins Bett.

Ein leichtes Knistern ließ Gerhard mitten in der Nacht wach werden. Es war 3:20 Uhr. Durch das Fenster drang ein schwacher Schein von der nächtlichen Lichtglocke über Köln in das Zimmer. Das merkwürdige Geräusch schien aus einer Zimmerecke zu kommen, wanderte in den Kleiderschrank, verstärkte sich zu einem merkwürdigen Knarzen und erfasste das Ehebett. Gleichzeitig dröhnte ein tiefes Brummen durch den Raum. Bereits beim ersten Knacken war Gerhard wie elektrisiert aufgesprungen. Als das Bett heftig wackelte, stand er bereits an der Balkontür und suchte mit zittrigen Fingern den Schlüssel.

„Ein Erdbeben!“, rief er. „Schnell zur Tür!“

„Was rüttelst du so am Bett? Und was ist das für ein Lärm?“, kam es schlaftrunken von Katrin. Erst dann bekam sie mit, dass das ganze Haus zitterte. „Erdbeben? Ist das wirklich ein Erdbeben? Das gibt es hier doch gar nicht!“

Es war für beide das erste Mal, dass sie es hautnah erlebten.

Wenige Sekunden später war der Spuk vorbei. Gerhard stand immer noch an der Tür und suchte den Schlüssel.

„Mann, das hat mich aber kalt erwischt!“ Gerhard versuchte sich zu beruhigen. „Ich konnte die ganze Nacht nicht richtig schlafen. Ich habe ständig Bilder von Störungen, Beben und Vulkanen im Kopf gewälzt. Und jetzt so etwas!“

„Typisch. Du konntest wieder mal nicht richtig abschalten, nichtwahr?“

„Nein, nicht nach diesem Abend. Mir war sofort klar, dass das ein Erdbeben ist. Ich konnte sogar hören, aus welcher Richtung es kam. Direkt aus Westen. Mach das Radio an, vielleicht bringen sie schon etwas darüber. Ich schaue mal nach, ob irgendwelche Risse im Haus zu sehen sind.“

Gerhard machte einen Rundgang durch die Zimmer. Susanna rekelte sich unruhig in ihrem Bett. Offenbar hatte sie alles verschlafen. An den Fensterstürzen und im Treppenhaus schienen sich alte Risse vergrößert zu haben. Gerhard beschloss, die genauere Untersuchung auf den nächsten Tag zu verschieben.

Als er wieder zu Katrin ins Bett kroch, kam die erste Meldung. Der Sprecher berichtete von einem deutlich spürbaren Beben, dessen Zentrum vermutlich im Oberrheingraben lag und nur kleinere Schäden verursacht hatte.

„So ein Blödsinn!“, erregte sich Gerhard. „Das kann auf keinen Fall der Grund sein.“

„Wie kann es hier überhaupt so starke Beben geben?“ Katrin gähnte und drehte sich auf die Seite.

„Diese Gegend ist eben tektonisch aktiver, als wir bisher angenommen haben.“

Gespannt warteten sie auf die Nachrichten um 3:30 Uhr. Das Beben war nun das wichtigste Thema. Inzwischen hatte man auch das Zentrum ermittelt. Es lag südwestlich von Aachen im Hohen Venn und hatte immerhin eine Stärke von 5,9 auf der Richterskala erreicht. Über Verletzte oder Schäden an Gebäuden konnten noch keine genauen Angaben gemacht werden. Aber die Sache schien sich in Grenzen zu halten.

„Also habe ich mich doch nicht getäuscht.“

„Und? Gibt es Risse im Haus, oder müssen wir sogar ausziehen?“

„Ach, so kräftig war das Beben hier zum Glück nicht mehr. Aber ein paar leichte Schäden sind schon zu sehen, besonders die Treppe hat es erwischt. Aber das schaue ich mir morgen in Ruhe an.“

„Kann es noch zu Nachbeben kommen?“

„Klar, aber die sind meistens nicht mehr so stark.“

„Sollten wir vielleicht Marcello anrufen? In Aachen war es sicher deutlich heftiger.“

„Um diese Uhrzeit? Andererseits dürfte er auf jeden Fall wach geworden sein.“ Gerhard griff nach dem Telefon und drückte die eingespeicherte Nummer. Marcello brauchte eine Weile, bis er am Apparat war.

„Hallo, wie sieht es bei euch aus? ... Wie bitte?“ Gerhard verzog das Gesicht zu einem leichten Grinsen.

„Na, dann noch viel Spaß!“ Gerhard legte auf und drehte sich amüsiert zu Katrin um.

„Nun spann mich nicht auf die Folter. Was ist passiert?“

„Marcello hat einen Freund zu Besuch.“

„Und?“

„Er hat auf dem Boden geschlafen, genau vor dem Aquarium.“

„Ich ahne es.“

„Genau! Die sind gerade fleißig dabei, die Bude auszuwischen und den Schlafsack trocken zu legen.“

„Kaum zu glauben, dass so etwas urplötzlich passieren kann.“

„So etwas kommt halt vor. Jetzt möchte ich doch noch etwas schlafen. Gute Nacht!“, brummelte Gerhard, drehte sich auf die Seite und zog sich das Kissen über den Kopf.

Am nächsten Morgen war der Streit vom Vorabend vergessen. Auch Morpheus hatte längst kein schlechtes Gewissen mehr. Das war an seinen halb zusammengekniffenne Augen bei gleichzeitig leicht nach hinten gedrehten Ohren zu erkennen, während er auf spitzen Pfoten etwas hektisch durch den Raum trippelte. Nachdem er sein gewohntes Futter bekommen hatte, war er wieder ganz der Alte. Vom Erdbeben schien der Kater nicht beeindruckt worden zu sein.

Richtig ausgeschlafen fühlte sich keiner der Böhms. Trotzdem war Gerhard leicht aufgekratzt. So früh wie möglich wollte er mit seinem Kollegen aus der Geophysik sprechen. Der konnte ihm vielleicht schon sagen, um welche Art von Beben es sich handelte. Gerhard witterte eine große Chance, mit diesem tektonischen Ereignis endlich die lang erhoffte Schlüsselinformation für die weiteren Untersuchungen in der Eifel zu bekommen.

Am frühen Vormittag war es so weit. Die ersten vorläufigen Berechnungen seiner Kollegen lagen vor.

„Und? War es ein Abschiebungsbeben oder ein Seitenverschiebungsbeben?“, fragte Gerhard ungeduldig am Telefon. Er hatte Arne Schäfer in der Erdbebenstation Bensberg auf seinem Privathandy angerufen. Die offizielle Leitung war den ganzen Morgen lang durch Anfragen von Presse und Privatleuten blockiert.

„Nach den ersten Abschätzungen war es eine Kombination von beiden“, sagte Arne. „Wobei die Seitenverschiebung einen etwas größeren Anteil hat.“

„In welcher Richtung?“

„Das lässt sich natürlich noch nicht ganz genau sagen, aber ich würde ungefähr auf Ost-West oder Nord-Süd eingrenzen.“

„Endlich!“, entfuhr es Gerhard.

„Es ist mir allerdings ein Rätsel, zu welcher Störung das Beben gehören soll. In dieser Region ist mir keine bekannt.“

„Ich werde sie dir demnächst liefern. Ruft mich an, sobald ihr die genaue Lage des Herdzentrums und die Richtung habt. Das könnte mir sehr helfen.“

Gerhard versprach, einen Kasten Kölsch auszugeben, wenn er mit Arnes Hilfe die Störung fand, und meldete sich zu einem Besuch an, um seine neuesten Erkenntnisse vorzustellen.

Am Abend klingelte das Telefon, als Gerhard gerade das Institut verlassen wollte. Es war Arne.

„Es hat ein bisschen gedauert, aber dafür haben wir jetzt eine recht genaue Lagebestimmung.“ Er gab die Koordinaten des Bebenzentrums durch.

„Und die Richtung der Seitenverschiebung?“

„Du weißt ja, bei dieser Methode gibt es immer zwei Möglichkeiten. Du als Geologe müsstest mir dann sagen, welche von beiden die wahrscheinlichere Richtung ist.“

„Ist klar. Sag an.“

„Die eine Richtung ist etwa Nord-Süd und die andere Ost-West, fast im rechten Winkel dazu. Aber nicht ganz genau, sondern leicht nach Süd gedreht.“

„Hervorragend, das habe ich gebraucht! Besten Dank! Vielleicht gibt es demnächst etwas Flüssiges.“

Gerhard packte eilig die Geräte für den Geländeeinsatz ein und fuhr nach Hause.

„Katrin!“, rief er, sobald er durch die Haustür getreten war.

„Erst einmal guten Abend.“ Sie ging zu Gerhard und nahm in kurz in den Arm. „Was gibt es so Dringendes?“

„Pack deine Sachen für Morgen ein. Wir fahren raus. Könntest du Abendbrot machen? Ich muss noch etwas in der Karte nachschauen.“

Gerhard stürmte nach oben in sein Arbeitszimmer und suchte die Karten vom Aachener Gebiet bis zum Rhein aus seiner Sammlung heraus.

Gespannt trug er die Koordinaten, die Arne ihm genannt hatte, in die Karte ein. Dann legte er ein langes Lineal an den Punkt und drehte es langsam aus der Ost-West-Richtung nach Süden. Der Drehpunkt war das Bebenzentrum. Entlang der immer wieder neu entstehenden Linien suchte er nach Auffälligkeiten in der Karte. Nach einer halben Stunde hatte er sich festgelegt. Der Vergleich mit den geologischen Karten ließ nur einen Verlauf zu, der keine Widersprüche aufwies. Aber das, was Gerhard viel mehr faszinierte, war der Übergang der vermuteten Störungen in das Neuwieder Becken weit im Osten des Bebengebietes.

Katrin hatte ihn schon zweimal zum Abendessen gerufen. Nun rief er sie zu sich ins Arbeitszimmer.

„Schau mal, wohin die vermutete Störung in östlicher Richtung führt, wenn ich die Bebenfläche verlängere.“

„Ich fürchte, das wird mein laienhaftes Auge erst erkennen, wenn Herr Professor eine genauere Erklärung abgegeben hat.“

Gerhard war viel zu aufgeregt, um auf Katrins Ironie einzugehen. „Du kennst doch den Rheinübergang vom Neuwieder Becken bei Koblenz in das Tal nördlich davon.“

„Das müsste ein Stück südlich von Brohl sein, wo wir zusammen im Gelände waren.“

„Genau! Da gibt es einen Basaltvulkan, der vor fünfzig- oder hunderttausend Jahren noch aktiv war. Seine Lava ist damals auf einem Flussniveau in den Rhein gelaufen, das nicht viel höher lag als das heutige.“

„Das heißt, dass das Tal schon damals fast bis auf diese Höhe eingeschnitten war?“

„Exakt. Es muss die unterste Mittelterrasse gewesen sein. Aber die spannende Frage ist jetzt, ob wir im Gelände eine Störung finden, die darauf zuläuft.“

„Und wenn wir sie finden?“

„Dann werde ich mir den Vulkan mit ganz anderen Augen ansehen. Ich glaube, wir sollten heute ein bisschen feiern. Irgendwie ist mir danach zumute. Was gibt es zu essen?“

„Ich habe die selbstgebackene Pizza aufgetaut. Marcello hat vorhin angerufen. Er will wegen irgendwelcher Unterlagen vorbeikommen und hat sich gleich ein Stück bestellt.“

„Wahrscheinlich sollen wir ihn über das feuchte Beben hinwegtrösten. Gut, dann trinken wir heute den Rioja.“

„Den uns Pedro geschenkt hat?“

„Exacto! Der passt bestimmt ausgezeichnet dazu.“

Gerhard rief sich genüsslich den Geschmack des Weines in Erinnerung, den er durch seinen spanischen Freund kennen und schätzen gelernt hatte. Hinzu kam ein immer stärker werdendes Hungergefühl, das die Vorfreude auf das Essen steigerte. In dieser Stimmung spürte er, fast unbewusst, den Hauch einer unbestimmten Vorahnung, aber so schwach und tief im Untergrund, dass es ihm mühelos gelang, ihn während des Abends mit Katrin und Marcello aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Der nächste Tag begann für die Böhms sehr früh. Gerhard wollte noch vor dem Berufsverkehr den Kölner Ring hinter sich lassen. Zum Glück sollte es den Tag über trocken bleiben — beste Voraussetzungen für das Programm, das er sich vorgenommen hatte. Als Erstes brauchte er tiefe Taleinschnitte, die die mögliche Störung querten, möglichst in großem Winkel. Sein Ziel war deshalb das Ahrtal bei Dernau, westlich von Bad Neuenahr. Doch zuvor musste er zwei neue Diplomanden an einer Bushaltestelle einladen. Er hatte Silja und Lutz, die nur noch eine Diplomarbeit für ihren Studienabschluss brauchten, angeboten, über die Störungen zu arbeiten. Diese Exkursion war eine gute Gelegenheit, die Problematik im Gelände kennen zu lernen.

„Na, schon wach?“, empfing Gerhard die beiden. „Das sind ja eigentlich keine Studentenzeiten.“

„Geht schon“, murmelten sie und begrüßten Katrin.

„Bei diesen Verkehrsverhältnissen müssten wir mit einer guten halben Stunde Fahrt hinkommen“, erklärte Gerhard, als er auf die Autobahn fuhr. „Ich werde die Zeit nutzen, um Ihnen schon einiges über die Situation zu erzählen.“

„Gut, dann schlafen wir nicht gleich wieder ein.“ Silja richtete sich auf und rieb sich die Augen.

Gerhard fasste die bisherigen Geländeergebnisse kurz zusammen und erklärte seine weiteren Pläne. Katrin nutzte die Gelegenheit, die Diskussion des ersten Tages mit Gerhard im Gelände fortzusetzen.

„Du hast mir doch neulich einiges über die Basalte erzählt. Von den Schmelzen, die aus mindestens fünfzig Kilometern Tiefe aufsteigen sollen.“

„Ja. Worauf willst du hinaus?“

„Heißt das, alle Vulkanberge, die ich in der Eifel kenne, sind aus dieser Tiefe versorgt worden?“

„Nicht alle, aber die meisten.“ Gerhard nahm das Thema dankbar auf und wandte sich gleichzeitig an Silja und Lutz. „Das Schiefergebirge ist schon seit vierzig Millionen Jahren aktiv. Im Laufe der jüngeren Erdgeschichte sind in der Eifel, im Siebengebirge und im Westerwald immer wieder Vulkane ausgebrochen. Die letzten vor wenigen zehntausend Jahren, zum Beispiel einer, der direkt am Rhein liegt und der mich seit gestern besonders interessiert.“

„Dann streng dich an, damit du vielleicht den nächsten Ausbruch vorhersagen kannst.“ Katrin drehte sich lachend zu Silja und Lutz um.

„Ach, das wäre schon phantastisch, wenn das so einfach ginge“, fuhr Gerhard unbeirrt fort. „Aber nach dieser langen Ruhephase lässt sich ein Ausbruch erst vorhersagen, wenn es eindeutige Anzeichen gibt.“

„Was wäre das für Anzeichen?“, fragte Silja.

„Gehäuft auftretende Erdbeben, die durch den Aufstieg der Schmelze ausgelöst werden, starke Gasaustritte mit bestimmten Zusammensetzungen und ein paar andere Dinge, die man mit geophysikalischen Messgeräten feststellen kann.“

„Das geht doch sicher nur sehr kurzfristig.“

„Klar. Eine langfristige Vorausbestimmung des Ausbruchszeitpunkts ist einfach unmöglich. Das wäre genauso unseriös wie der Versuch, das Wetter für Donnerstag, den 4. April in drei Jahren vorherzusagen.“

„Das wäre tatsächlich etwas gewagt.“

„Aber für die Eifel kann man langfristig relativ sicher vorhersagen, dass es wieder einen Ausbruch geben wird. Die Verhältnisse im Erdmantel sprechen dafür. Nur wann genau und wo das sein wird, lässt sich nicht prophezeien.“

„Und das könnt ihr auch mit all euren teuren Messgeräten nicht genauer eingrenzen?“

„Nein, so weit sind wir noch nicht. Die Stellen im Mantel, wo sich zurzeit Magmen befinden können, sind kaum oder nur mit sehr großem Aufwand zu finden.“

„Und wie ist es mit dem Laacher See?“, fragte Lutz. „Der soll doch eine riesige Magmakammer gehabt haben. So etwas müsste man doch orten können.“

„Das ist alles nicht so einfach, wie es in den Modellen dargestellt wird.“

„Du hast gesagt, dass die basaltische Schmelze beim Laacher See einen Zwischenstopp in der Kruste eingelegt hat.“ Katrin machte es großen Spaß, endlich mitdiskutieren zu können.

„Genau. Und da kamst du mit dem Hinweis, dass sie gerostet ist. Ihr versteht?“, fragte Gerhard nach hinten. „Rasten und rosten?“

Lutz nickte etwas abwesend. „Das ist etwas, das ich mir nie richtig vorstellen konnte“, meinte er. „Wieso kommt die Schmelze an manchen Stellen sofort an die Oberfläche, während sie anderswo im Untergrund bleibt?“

„Unter dem Laacher See hat sich eine Magmakammer gebildet, die von einer Basaltschmelze oder etwas Ähnlichem ausgefüllt wurde“, erklärte Gerhard. „Aber solche Kammern waren vorher nicht etwa Hohlräume in der Kruste, sondern Bereiche die unter starker Zugspannung stehen, sodass sie auseinander gehen, wenn das Magma kommt. Der entstehende Raum wird sofort wieder ausgefüllt.“

„Und woher kommt diese Zugspannung?“

„Zum Beispiel durch eine Seitenverschiebung an dieser Stelle. Das habe ich meiner Frau neulich genau wie Ihnen in der Vorlesung mit den Händen erklärt. Mit den kleinen Kanälen, die sich bei der Verschiebung bilden. In der Kruste können an gewellten Störungen auch größere Bereiche extrem gedehnt und mit Magma ausgefüllt werden.“

„Trotzdem kann ich mir das immer noch nicht so richtig vorstellen.“

„Aber Sie können sich vorstellen, einen Gartenschlauch in der Hand zu haben und ihn senkrecht in die Luft zu halten.“

„Klar.“

„Oben sprudelt fleißig das Wasser raus, und irgendwo weiter unten ist der Schlauch weich geworden, aus irgendeinem Grund. Können Sie sich vorstellen, was jetzt passiert.“

„Es bildet sich eine dicke Blase, bis sie platzt.“

„Ähnlich ist es bei einer Magmakammer. Nur dass die nach oben platzt, weil sich Gas ansammelt, das irgendwann explodiert.“

„Wie beim Ausbruch des Laacher Sees?“

„Genau. Der eigentliche Vulkan des Laacher Sees ist übrigens gar nicht mehr da, weil er weggesprengt wurde. Anschließend ist noch die Kruste über der Magmakammer eingebrochen, weil daraus mindestens ein halber Kubikkilometer Gesteinsschmelze ausgeworfen wurde. Dadurch ist dieser Kessel entstanden, den man Caldera nennt. Die Senke, sie ist übrigens nur etwa einen halben Kubikkilometer groß, hat sich dann allmählich mit Regenwasser gefüllt.“

„Der Laacher See ist also kein Maar?“

„Nein, eben nicht, sondern eine Caldera, ein Einbruchkessel!“

Sie fuhren inzwischen auf der Straße, die nach Dernau direkt ins Ahrtal führte. Der Übergang von der Hochfläche zum steilen Taleinschnitt gab eine beeindruckende Aussicht auf den Flusslauf frei. Die Ahr bog bei Dernau fast im rechten Winkel von Nord-Süd nach Ost-West um. Die unteren Talhänge waren mit abenteuerlich steilen Weingärten ausgekleidet. Erst die oberen Lagen, die für einen Weinbau zu kalt waren, wurden durchgehend von Buschwerk und Laubäumen eingenommen. Die Schuttmassen an den Weinhängen erlaubten den Geologen einen schnellen Einblick in die darunter anstehenden Gesteine.

Es gab zwei Gründe, warum Gerhard sich für diesen Tag die Umgebung von Dernau vorgenommen hatte. Zum einen querte die Linie, die er in die Karte eingezeichnet hatte, den Talanschnitt in einem passenden Winkel. Ein weiterer Grund für die Wahl des Ahrtales war Morpheus. Die von ihm vernichteten Daten der anderen Störungsrichtung hatte Gerhard in der Nähe von Dernau aufgenommen, und nun wollte er diese Erkundung wiederholen.

Er versuchte, so dicht wie möglich an den vermuteten Störungsdurchgang heranzukommen und hielt schließlich mitten in einem Weinberg an.

„Nach der sicherlich dringend nötigen Pinkelpause gebe ich eine Einführung in das Gebiet. Für die Damen befindet sich da hinten ausreichend Gebüsch.“

„Danke für die freundliche Rücksichtnahme“, brummte Katrin. Sie musste sich erst noch an den Ton gewöhnen, den Gerhard bei Exkursionen anschlug.

Als sie zurückkam, studierte er bereits die Karten. Sie baute sich neben ihm auf und hielt ihm einen Quarzblock hin.

„Suchst du nicht so etwas?“

„Das ist ja ein Ding!“, staunte Gerhard. „Wo hast du den gefunden?“

„Im Gebüsch da hinten.“

„Letzte Woche habe ich da oben am Hang, aber viel weiter rechts, die andere Störung entdeckt. Von dort kann der Block eigentlich nicht stammen.“

„Vielleicht ist er von einem Winzer verschleppt worden“, sagte Lutz, der ebenfalls die Erleichterungspause beendet hatte.

„Aber dort drüben gibt es jede Menge davon.“ Auch Silja hatte einen Brocken mitgebracht.

„Der ist hoffentlich trocken“, sagte Lutz grinsend.

Katrin schaute Silja kopfschüttelnd an. „Ich glaube, ich werde mich noch an einiges gewöhnen müssen.“

Gerhard legte ein Lineal auf die Karte und probierte verschiedene Winkel aus.

„Vielleicht ist die Stelle da oben gar keine von deinen bisherigen Störungen, sondern eine Ost-West-Richtung. Oder sogar eine Kreuzung von beidem“. Überlegte Katrin.

„Wenn das stimmt, nehme ich alles zurück, was ich gegen Morpheus und dich gesagt oder auch nur in Ansätzen gedacht habe.“

Gerhard teilte die Gruppe auf, damit sie einzeln den gesamten Hang absuchen konnten. Lutz und Silja hatten schnell die Zusammenhänge begriffen und waren überzeugt, die richtigen Gesteine zu erkennen. Zu viert erklommen sie den Weinberg und den oberen Grüngürtel. Als sie sich noch ein Stück höher auf einem Feldweg trafen, war die Sache eindeutig. Alle hatten Hinweise auf die Störung gefunden, und Gerhard konnte bereits die grobe Richtung in die Karte eintragen.

„Könnten Sie vielleicht den Bus heraufholen?“, fragte er die Diplomanden. „In der Zwischenzeit werden wir uns hier im Wald die Fortsetzung nach Westen anschauen.“

Als die beiden hinter der Kante verschwunden waren, stießen Gerhard und Katrin ins Gebüsch vor. Nach fünfzig Metern fanden sie die ersten großen Quarzblöcke.

„Volltreffer! Es hat sich gelohnt, sich hier noch einmal umzusehen.“

„Schau mal, die vielen Ameisenhaufen da hinten!“ Katrin zeigte in die Richtung, in der sie die Störung vermuteten.

„Das hatten wir doch schon mal.“

„Ja, unten am Hang zum Brohltal.“

„Ich habe den Bus gehört. Lass uns zurückgehen.“

Zu viert berieten sie über die Punkte, die sie als Nächstes anfahren wollten. Sie lagen zwischen Dernau und dem Rheintal, teilweise mitten im Wald. Bereits am ersten Punkt wurde klar, dass sie auf der richtigen Spur waren. Jedes Mal zeigte sich das gleiche Bild, eine Häufung von Quarzblöcken mit Vererzungen und Grabungsspuren früher Vorfahren.

An diesem Tag konnten sie die erste Ost-West-Störung über mehrere Kilometer festlegen. Gerhard war äußerst zufrieden. Dass sich die Sache so eindeutig nachweisen ließ, hatte er nicht erwartet.

„Leute, wir haben sie. Morgen muss ich einen Kasten Kölsch kaufen.“

„Für wen?“, wollte Katrin wissen.

„Für Arne. Er ist schuld – und natürlich das Beben –, dass ich überhaupt auf den richtigen Trichter gekommen bin.“

„Dann musst du auch Morpheus einen ausgeben. Früher oder später hättest du die von ihm vernichteten Daten noch einmal aufgenommen. Spätestens dann wäre dir die Störung bei Dernau aufgefallen.“

„Da ist was dran. Also werde ich mir auch mit dem Kater einen Kater trinken.“