Die Forsyte Saga - John Galsworthy - E-Book

Die Forsyte Saga E-Book

John Galsworthy

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Beschreibung

Eine Familie der oberen Mittelschicht, Intrigen und Schicksale – das ist der Stoff, aus dem der Literatur-Nobelpreisträger John Galsworthy seine monumentale Romantrilogie spinnt. Beginnend im viktorianischen London der 1880er Jahre und endend in den frühen Goldenen Zwanzigern beschreibt Galsworthy über mehrere Generationen hinweg den Zerfall der Familie Forsyte: Der erfolgreiche Anwalt Soames Forsyte kauft ein Stück Land, um darauf ein Haus für sich und seine Frau Irene zu bauen, doch anders als die frisch hochgezogene Fassade des Hauses beginnt die eheliche Fassade zu bröckeln. Arroganz, falsche Entscheidungen und bittere Schuldzuweisungen führen zu einer Fehde mit fatalen Folgen – selbst für die letzten Sprösslinge der Familie Forsyte. In drei Romanen entfaltet Galsworthy, lange bevor die Granthams in Downton Abbey einzogen, ein breites Gesellschafts-Panorama voller Skandale und Tragödien, Leidenschaft und Dekadenz. Drei Bände in einem E-Book mit einem Stammbaum der Familie Forsyte.

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EPUB

Seitenzahl: 1662

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John Galsworthy

Die Forsyte Saga

Aus dem Englischen übersetzt von Luise Wolf und Leon Schalit
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Maria Slavtscheva

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961725-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-030080-0

www.reclam.de

Inhalt

Stammbaum der Familie Forsyte

Band 1: Der reiche Mann

Vorwort

Der reiche Mann

Erster Teil

Empfang beim alten Jolyon

Der alte Jolyon geht in die Oper

Dinner bei Swithin

Bauprojekte für das Haus

Ein Forsyte’scher Haushalt

James auf eigene Faust

Des alten Jolyon lässliche Sünde

Baupläne

Tante Anns Tod

Zweiter Teil

Der Bau des Hauses

Junes Fest

Spazierfahrt mit Swithin

James sieht selber nach

Soames und Bosinney korrespondieren

Der alte Jolyon im Zoo

Ein Nachmittag bei Timothy

Ball bei Roger

Der Abend in Richmond

Diagnose eines Forsyte

Bosinney auf Bewährung

June macht einige Besuche

Vollendung des Hauses

Soames sitzt auf der Treppe

Dritter Teil

Mrs MacAnders Aussage

Nacht im Park

Die Begegnung im Botanischen Garten

Auf dem Weg ins Inferno

Die Verhandlung

Soames überbringt die Nachricht

Junes Sieg

Bosinneys Ende

Irenes Rückkehr

Band 2: Nachsommer | In Fesseln

Nachsommer

I

II

III

IV

V

In Fesseln

Erster Teil

Bei Timothy

Ein Mann von Welt geht ab

Soames plant Schritte

Soho

James quälen Visionen

Der nicht mehr so junge Jolyon zu Hause

Der Junge und das Mädchen

Jolyon in der Rolle des Beraters

Val erfährt die Wahrheit

Soames macht Zukunftspläne

Und sucht die Vergangenheit auf

An der Forsyte-Börse

Jolyon merkt, wie es um ihn steht

Soames entdeckt, was er will

Zweiter Teil

Die dritte Generation

Soames versucht es noch einmal

Besuch bei Irene

Die Wege, die Forsytes scheuen

Jolly als Richter

Jolyon schwankt

Dartie contra Dartie

Die Herausforderung

Dinner bei James

Tod des Hundes Balthasar

Timothy erhebt Einspruch

Fortsetzung der Jagd

»Da bin ich wieder!«

Eine seltsame Nacht

Dritter Teil

Soames in Paris

Im Spinnennetz

Richmond Park

Über den Fluss

Soames handelt

Ein Sommertag

Eine Sommernacht

James in Erwartung

Aus dem Spinnennetz heraus

Ende einer Epoche

Neue Interessen

Geburt eines Forsyte-Kindes

James erfährt es

Seins

Band 3: Erwachen | Zu vermieten

Erwachen

Zu vermieten

Erster Teil

Begegnung

Fine Fleur Forsyte

In Robin Hill

Das Mausoleum

Die Heimaterde

Jon

Fleur

Idyll im Gras

Goya

Trio

Duett

Caprice

Zweiter Teil

Mutter und Sohn

Väter und Töchter

Zusammentreffen

In der Green Street

Rein Forsyte’sche Angelegenheiten

Soames’ Privatleben

Junes Hilfe

Störrisch

Öl ins Feuer

Entscheidung

Timothys Prophezeiung

Dritter Teil

Der alte Jolyon geht umher

Bekenntnis

Irene!

Soames sinniert

Die fixe Idee

Verzweiflung

Botschaft

Die wehmütige Melodie

Unter der Eiche

Fleurs Hochzeit

Der Letzte der alten Forsytes

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Im Namen des Romans

Zeittafel

Den Stammbaum können Sie hier als PDF herunterladen: https://www.reclam.de/data/media/030080_Galsworthy_Die_Forsyte_Saga_Einlegeblatt.pdf

Band 1: Der reiche Mann

Impressum

Englischer Originaltitel: The Forsyte Saga. Vol. I: The Man of Property

 

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: Porträtgemälde von Herbert James Gunn, 1944 – © Artiz / Alamy Stock Photo; Landschaftsgemälde von William Green, um 1800 – © British Library Board. All Rights Reserved / Bridgeman Images

Bildnachweis: YANUSHEVSKAYA VICTORIA / shutterstock; © Christos Georghiou / shutterstock

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Für meine Frau.

 

Ihr widme ich die gesamte »Forsyte Saga«, im Glauben, dass dies das am wenigsten unwürdige aller meiner Werke ist – ohne ihre Ermutigung, Zuneigung und Kritik wäre ich nicht einmal der Schriftsteller geworden, der ich bin.

Vorwort

Der Titel Die Forsyte Saga war ursprünglich für den Teil bestimmt, der Der reiche Mann genannt ist, und der Entschluss, ihn für die gesamten Chroniken der Familie Forsyte zu gebrauchen, ist der Forsyte’schen Hartnäckigkeit zuzuschreiben, die uns allen innewohnt. Gegen das Wort ›Saga‹ wäre vielleicht einzuwenden, dass es das Heroische in sich schließt und auf diesen Seiten wenig von Heroismus zu finden ist. Aber es ist mit wohlüberlegter Ironie gewählt, und schließlich fehlt es dieser langen Geschichte, wenn es sich auch um Leute in Gehröcken, um Plisseekleider und eine goldverbrämte Periode handelt, doch nicht an starken Konflikten. Abgesehen von der gigantischen Gestalt und dem Blutdurst vergangener Zeiten, wie sie uns in Märchen und Legenden überliefert sind, waren die Menschen der alten Sagas doch auch Forsytes in ihrem Streben nach Eigentum und ebenso wenig gefeit gegen den Einfall von Schönheit und Leidenschaft wie Swithin, Soames und gar der junge Jolyon. Und wenn heroische Gestalten in nie gewesenen Tagen aus ihrer Umgebung in einer Art hervorzuragen scheinen, wie sie sich für einen Forsyte aus dem viktorianischen Zeitalter nicht wohl schickt, so ist doch als sicher anzunehmen, dass das Stammgefühl selbst damals die vorherrschende Macht war und »Familie« und der Sinn für Heim und Eigentum, trotz aller späteren Bemühungen, es »abzustreiten«, ausschlaggebend waren, wie es bis auf den heutigen Tag der Fall ist.

Es haben so viele geschrieben und behauptet, in ihren Familien die Originale der Forsytes zu sehen, dass man sich fast ermutigt fühlt, an das Typische dieser Spezies zu glauben. Sitten ändern sich und Moden entwickeln sich weiter, und »das Haus Timothys in Bayswater Road« wird zu einem Nest des Unwahrscheinlichen, in allem abgesehen von dem Wesentlichen; wir werden seinesgleichen nicht mehr wiedersehen, vielleicht auch nicht einen wie James oder einen wie den alten Jolyon. Und doch liefern uns die Zahlen der Versicherungsgesellschaften und die Aussprüche von Richtern täglich den Beweis, dass unser irdisches Paradies, in das die wilden Eindringlinge Schönheit und Leidenschaft sich einschleichen und uns die Sicherheit vor der Nase wegstehlen, noch reiche Schätze birgt. So sicher ein Hund bellen wird, wenn man ihn an die Kette legt, so wird sich der wahre Soames in der menschlichen Natur immer unwillig gegen die Auflösung auflehnen, die die Grenzen des Eigentums umlauert.

»Lass die tote Vergangenheit ihre Toten begraben«1 wäre ein besserer Ausspruch, wenn die Vergangenheit jemals stürbe. Das Fortbestehen der Vergangenheit ist eine jener tragikomischen Segnungen, die jedes neue Zeitalter leugnet, das ganz sicher aber wieder auf dem Schauplatze erscheint, um seinen Anspruch auf etwas vollkommen Neues geltend zu machen. Allein kein Zeitalter ist so vollkommen neu! Die menschliche Natur ist und wird unter den wechselnden Forderungen und Kleidern immer viel von einem Forsyte haben und könnte schließlich ein noch viel schlimmeres Tier sein.

Blicken wir auf das viktorianische Zeitalter zurück, dessen Höhepunkt, Niedergang und Verfall gewissermaßen in der Forsyte Saga geschildert werden, so sehen wir jetzt, dass wir nur vom Regen in die Traufe gekommen sind. Es würde schwierig sein, die Behauptung zu untermauern, dass die Zustände Englands im Jahre 1913 besser waren als 1886, als sich die Forsytes beim alten Jolyon versammelt hatten, um die Verlobung Junes mit Philip Bosinney zu feiern. Und im Jahre 1920, als sich die Familie abermals versammelte, um der Hochzeit Fleurs und Michael Monts beizuwohnen, ist England sicher zu morsch und bankrott, wie es in den achtziger Jahren zu starr war und zu niedrige Prozente gab. Wären diese Chroniken wirklich wissenschaftliche Studien des Übergangs, so hätten wahrscheinlich solche Faktoren wie die Erfindung des Fahrrads, der Automobile und Flugzeuge, der Beginn einer billigen Presse, der Verfall des Landlebens, die Vergrößerung der Städte und die Entstehung des Kinos in Betracht gezogen werden müssen. Menschen sind in der Tat völlig unfähig, ihre eigenen Erfindungen zu kontrollieren, sie entwickeln bestenfalls eine Anpassungsfähigkeit an die neuen Bedingungen, die diese Erfindungen schaffen.

Aber diese lange Geschichte ist keine wissenschaftliche Epochenstudie, sie soll eher die Verwirrung versinnbildlichen, die Schönheit im Leben der Menschen anrichtet.

Die Figur Irenes, die man sich, wie die Leser wahrscheinlich bemerkt haben werden, fast nur durch die Empfindungen anderer vergegenwärtigen kann, ist eine Verkörperung verwirrender Schönheit, die auf eine besitzergreifende Welt einwirkt.

Leser, welche die Salzwasser der Saga durchwatet haben, werden geneigt sein, Soames mehr und mehr zu bemitleiden und zu glauben, sich dadurch gegen die Gesinnung seines Erschaffers aufzulehnen. Weit gefehlt! Auch er bemitleidet Soames, dessen Lebenstragödie die sehr einfache, unkontrollierbare Tragödie eines ungeliebten Menschen ist, dessen Fell nicht dick genug ist, um sich dieser Tatsache vollkommen unbewusst zu sein. Selbst Fleur liebt Soames nicht, wie er fühlt, geliebt werden zu müssen. Aber indem sie Soames bemitleiden, stehen die Leser Irene vielleicht feindselig gegenüber. Sie denken, er ist schließlich doch kein schlechter Mensch, es ist nicht seine Schuld, sie hätte ihm verzeihen müssen, und so weiter! Und bei dieser Parteinahme geht ihnen die Vorstellung der sehr einfachen Wahrheit verloren, die der ganzen Geschichte zugrunde liegt, dass nämlich, wo bei einem der Beteiligten sexuelle Anziehungskraft vollständig fehlt, kein Aufwand von Mitleid, Vernunft oder Pflicht einen Abscheu überwinden kann, der in seiner Natur begründet ist. Ob es so sein soll oder nicht, kommt hier nicht in Frage, weil es in der Tat niemals in Frage kommt. Und wo Irene hart und grausam erscheint – wie im Bois de Boulogne oder in der Goupenor Galerie –, ist sie allein weise realistisch, da sie weiß, dass das kleinste Zugeständnis zu unberechenbaren, abstoßenden Folgen führen kann.

Beim Kritisieren der letzten Phase der Saga könnte man beklagen, dass Irene und Jolyon – diese Rebellen gegen den Besitz – ihren Sohn Jon als geistiges Eigentum beanspruchen. Doch das wäre wahrlich eine übertriebene Kritik der Geschichte, wie sie erzählt ist. Denn kein Vater und keine Mutter hätte dem Jungen gestatten können, Fleur zu heiraten, ohne die Tatsachen zu kennen, und die Tatsachen bestimmen Jon, nicht die Überzeugung seiner Eltern. Überdies äußert Jolyon seine Ansicht nicht um seinet-, sondern um Irenes willen, und Irenes Ansicht äußert sich wiederholt in den Worten: »Denke nicht an mich, denke an dich selbst!« Dass Jon, der die Tatsachen kennt, die Gefühle seiner Mutter begreift, kann rechtmäßig kaum als Beweis dafür gelten, dass sie schließlich doch eine Forsyte ist.

Aber obgleich die Einwirkung der Schönheit und des Freiheitsdranges auf eine besitzergreifende Welt die zentralen Vorbedingungen der Forsyte Saga sind, kann sie nicht von der Aufgabe freigesprochen werden, die obere Mittelschicht einzubalsamieren. Wie die alten Ägypter ihre Mumien mit den notwendigen Dingen eines künftigen Daseins umgaben, so habe ich mich bemüht, den Gestalten von Tante Ann, Juley und Hester, von Timothy und Swithin, dem alten Jolyon, James und ihren Söhnen das beizugeben, was ihnen dereinst ein wenig Leben bewahren soll, ein wenig Balsam zur Erhaltung im gehetzten Gilead2 eines zersetzenden »Fortschritts«.

Wenn die obere Mittelschicht mit anderen Schichten dazu bestimmt ist, in Amorphie »überzugehen«, so liegt sie hier, auf diesen Seiten, konserviert unter Glas zur Schau für alle, die in dem weiten und schlecht angelegten Museum der Literatur umherstreifen. Hier ruht sie in ihrem eigenen Saft: dem Streben nach Eigentum.

John Galsworthy

1922

Erstes Buch

Der reiche Mann

»… Ihr antwortet:

Die Sklaven sind ja unser …«

Der Kaufmann von Venedig

Für Edward Garnett3

Stanhope Gate

Erster Teil

Erstes Kapitel

Empfang beim alten Jolyon

Jene Privilegierten, die einem Familienfeste der Forsytes beigewohnt haben, kennen dieses reizende und aufschlussreiche Bild – eine Familie der oberen Mittelschicht in voller Pracht. Besaß einer dieser Begünstigten aber die Gabe psychologischer Analyse (ein Talent ohne Geldwert und von den Forsytes angemessen ignoriert), so konnte er Zeuge eines Schauspiels sein, das nicht nur an sich ergötzlich war, sondern auch zur Illustration eines dunklen menschlichen Problems diente. Mit anderen Worten: Die Versammlung dieser Familie, in der kein Zweig Zuneigung für den anderen empfand und keine drei Mitglieder ein Gefühl verband, das die Bezeichnung Sympathie verdiente, bestätigte ihm jene rätselhafte eiserne Beharrlichkeit, die aus der Familie eine solch eindrucksvolle Einheit in der Gesellschaft, ein solch treues Abbild der Gesellschaft im Kleinen macht. Es zeigte sich ihm ein flüchtiger Schimmer der dunklen Pfade sozialen Fortschritts, er erhielt einen Begriff von patriarchalischem Leben, vom Nomadenleben wilder Stämme, von der Blüte und dem Verfall der Nationen. Man könnte ihn mit dem vergleichen, der das Wachstum eines Baumes – ein Vorbild für Beharrlichkeit und Gedeihen auf seinem isolierten Standpunkt inmitten hundert anderer absterbender Pflanzen, die weniger Fasern, Saft und Widerstandsfähigkeit haben – von Anfang an beobachtet hat und ihn eines Tages im vollen Schmuck seines zarten Laubes, in fast verblüffender Üppigkeit, auf der Höhe seiner Entfaltung vor sich sieht.

Am 15. Juni 1886 gegen vier Uhr nachmittags hätte sich ein zufälliger Beobachter unter den Gästen im Hause des alten Jolyon in Stanhope Gate von der höchsten Blütezeit der Forsytes überzeugen können.

Der Anlass des Empfanges war die Verlobung von Miss June Forsyte, der Enkelin des alten Jolyon, mit Mr Philip Bosinney. Im Festschmuck ihrer hellen Handschuhe, gelbbraunen Westen, Federn und Kleider war die ganze Familie anwesend – selbst Tante Ann, die nur noch selten die Ecke im grünen Salon ihres Bruders Timothy verließ, wo sie im Schutze eines Büschels gefärbter Pampasgräser in einer hellblauen Vase, von den Bildern dreier Generationen der Forsytes umgeben, den ganzen Tag lesend und strickend saß. Selbst Tante Ann war da; mit ihrem steifen Rücken und der stillen Würde ihres alten Gesichts ein Bild starren Festhaltens an der Familienidee.

Wenn ein Forsyte sich verlobte, heiratete oder geboren wurde, waren die Forsytes dabei; wenn ein Forsyte starb – aber bis jetzt war noch kein Forsyte gestorben; sie starben nicht, der Tod widersprach ihren Grundsätzen, und sie trafen Vorsichtsmaßnahmen dagegen, ganz instinktiv, wie Menschen von hoher Lebenskraft, die keine Eingriffe in ihr Eigentum dulden.

Der Erscheinung der Forsytes, die sich heute unter die Schar der Gäste mischten, war eine größere Sorgfalt als sonst anzumerken, eine wachsame, inquisitorische Sicherheit, eine gediegene Solidität, als wären sie darauf gefasst, sich gegen etwas zu wehren. Der schnüffelnde Zug, der dem Gesicht von Soames Forsyte eigen war, hatte sich in ihren Reihen verbreitet; sie waren auf der Hut.

Die unterbewusste Feindseligkeit ihrer Haltung stempelte den Empfang im Hause des alten Jolyon zum psychologischen Moment der Familiengeschichte, machte ihn zum Auftakt ihres Dramas.

Etwas verstimmte die Forsytes, nicht persönlich, aber als Familie; diese Verstimmung äußerte sich in einer mehr als sorgfältig gewählten Kleidung, einem Übermaß von Familienherzlichkeit, einer übertriebenen Betonung der Familienwürde – und in jenem ›Schnüffeln‹. Was die Forsytes witterten, war Gefahr – und eine solche war kaum zu vermeiden, wenn man den Grundeigenschaften einer Gesellschaft, einer Gruppe oder eines Individuums auf die Spur kommen wollte; die Vorahnung einer Gefahr verlieh ihren Waffen Glanz. Zum ersten Mal schienen sie als Familie das instinktive Gefühl zu haben, mit einer unbekannten und unsicheren Sache in Berührung zu kommen.

Dem Klavier gegenüber stand ein beleibter, stattlicher Mann mit zwei Westen über der breiten Brust, mit zwei Westen und einer Rubinnadel anstatt der einfachen Satinweste und der Diamantnadel für gewöhnlichere Anlässe; sein glattrasiertes, quadratisches altes Gesicht, von der Farbe blassen Leders und mit blassen Augen, trug seine würdevollste Miene über dem Satinkragen. Das war Swithin Forsyte. Dicht am Fenster, wo er mehr als genug frische Luft bekam, grübelte sein Zwillingsbruder James, vornüber geneigt wie immer, über die Szene nach. Wie der beleibte Swithin war er über sechs Fuß groß, aber sehr hager, als sei er von Geburt an dazu bestimmt, das Gleichgewicht herzustellen und den Durchschnitt aufrecht zu erhalten – den Dicken und den Dünnen nannte der alte Jolyon die beiden Brüder. James’ graue Augen hatten einen Ausdruck völliger Vertieftheit in irgendeine geheime Sorge, die nur zuweilen durch einen raschen prüfenden Blick auf die Vorgänge um ihn her unterbrochen wurde; seine Wangen, die zwei gleichlaufende Falten schmal erscheinen ließen, und die glattrasierte lange Oberlippe waren von mächtigen Koteletten à la Dundreary4 umrahmt. In den Händen drehte er einen Porzellangegenstand hin und her. Nicht weit davon, neben einer Dame in Braun, der er zuhörte, sah man blass und glattrasiert, mit dunklem Haar, aber ziemlich kahl, das Kinn seitwärts vorgeschoben, seinen einzigen Sohn Soames, der die Nase mit dem besagten ›Schnüffeln‹ hob, als verschmähe er ein Ei, das für ihn unverdaulich war. Hinter ihm stand sein Cousin, der lange George, ein Sohn Rogers, des fünften Forsyte, in Gedanken über einen seiner boshaften Späße mit einem quilphaften5 Ausdruck auf seinem fleischigen Gesicht.

Auf allen lastete ein Druck, der dem festlichen Ereignis innewohnte.

In einer Reihe, dicht nebeneinander, saßen drei Damen – die Tanten Ann, Hester (die beiden alten Jungfern der Familie Forsyte) und Juley (kurz für Julia), die sich, und nicht einmal in ihrer ersten Jugend, vergessen und Septimus Small, einen Mann von schwächlicher Konstitution, geheiratet hatte. Sie hatte ihn um viele Jahre überlebt und wohnte jetzt mit ihrer älteren und jüngeren Schwester im Hause ihres sechsten und jüngsten Bruders Timothy in Bayswater Road. Jede dieser Damen hielt einen Fächer in der Hand und betonte durch eine Farbennote, durch eine effektvolle Feder oder Brosche den feierlichen Anlass.

Mitten im Raum, unter dem Kronleuchter, stand, wie es sich für einen Gastgeber gebührt, das Haupt der Familie, der alte Jolyon selbst. Mit seinen achtzig Jahren, dem schönen weißen Haar, der hohen Stirn, den kleinen dunkelgrauen Augen und dem mächtigen, herabhängenden Schnurrbart, der sich über seinen starken Kiefer breitete, glich er einem Patriarchen, und trotz der hageren Wangen und eingefallenen Schläfen schien er über eine unversiegbare Jugendkraft zu verfügen. Er hielt sich außerordentlich aufrecht, seine scharfen ruhigen Augen hatten nichts von ihrem klaren Glanz verloren. So erweckte er den Eindruck der Überlegenheit über die Zweifel und Abneigungen unbedeutenderer Menschen. Nachdem es unzählige Jahre lang nach ihm gegangen war, hatte er ein unbestrittenes Recht darauf erworben. Ihm wäre es niemals in den Sinn gekommen, Bedenken oder Misstrauen zu hegen.

Zwischen ihm und den vier anderen Brüdern, James, Swithin, Nicholas und Roger, die sich alle eingefunden hatten, herrschte große Verschiedenheit und große Ähnlichkeit. Jeder einzelne dieser Brüder war sehr verschieden von den anderen, und doch glichen sie sich alle.

Bei aller Abweichung in Zügen und Ausdruck dieser fünf Gesichter fiel einem eine gewisse Festigkeit des Kinns auf; dies konnte trotz äußerlicher Unterschiede als ein Merkmal ihrer Abstammung – das wahre Kennzeichen und Gewähr für den Familienwohlstand – gelten, aber es bestand zu lange, es stammte aus zu ferner Vorzeit, um zurückverfolgt und untersucht zu werden.

Bei der jüngeren Generation, dem großen stierähnlichen George, dem bleichen kraftvollen Archibald, dem jungen Nicholas mit seinem liebenswürdig schüchternen Eigensinn und dem ernsten, in seiner Entschiedenheit fast albernen Eustace, bemerkte man, weniger ausgesprochen vielleicht, aber unverkennbar, dasselbe Merkmal – ein unausrottbares Zeichen der Familienseele.

Auf allen diesen unterschiedlichen und doch so ähnlichen Gesichtern hatte sich im Laufe des Nachmittags mitunter ein Ausdruck des Argwohns gezeigt, dessen Gegenstand offenbar der Mann war, den kennen zu lernen sie sich hier versammelt hatten.

Sie wussten, dass Philip Bosinney ein junger Mann ohne Vermögen war, aber Forsyte’sche Mädchen hatten sich auch früher mit solchen verlobt und sie dann auch wirklich geheiratet. Dies also war nicht eigentlich der Grund ihrer Besorgnis. Sie hätten den Ursprung dieser durch den Nebel des Familienklatsches verdunkelten Befürchtung nicht erklären können. Jedenfalls ging das Gerücht umher, er habe seinen Pflichtbesuch bei den Tanten Ann, Juley und Hester in einem weichen grauen Hut gemacht! – in einem weichen grauen Hut! und nicht einmal in einem neuen – in einem verstaubten, formlosen Ding. »So außerordentlich, meine Liebe, so merkwürdig!« Als Tante Hester durch den kleinen dunklen Flur ging, hatte sie versucht (sie war ziemlich kurzsichtig), das Ding vom Stuhl zu scheuchen, da sie es für eine gemeine fremde Katze hielt – ihr Tommy hatte so kompromittierende Freunde! Sie war ganz verstört, als es sich nicht rührte.

Wie ein Künstler beständig die bedeutsame Kleinigkeit zu entdecken sucht, in der der ganze Charakter einer Szene, eines Ortes oder eines Individuums zum Ausdruck kommt, waren die Forsytes, diese unbewussten Künstler, ganz intuitiv an diesem Hute haften geblieben. Das war für sie die bedeutsame Kleinigkeit, der kleine Nebenumstand, der die Bedeutung der ganzen Sache in sich fasst; denn jeder hatte sich gefragt: ›Hätte ich diesen Besuch in solch einem Hut gemacht?‹, und jeder hatte erwidert: ›Nein!‹, und einige mit mehr Phantasie hatten hinzugefügt: ›So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen!‹

Als George die Geschichte hörte, grinste er. Mit dem Hut hatte sich der junge Mann offenbar einen Scherz erlaubt! Er selbst verstand sich auf dergleichen.

»Sehr kühn!«, sagte er. »Dieser wilde Bukanier6!«

Und dieses mot, ›der Bukanier‹, ging von Mund zu Mund, bis es die Lieblingsform wurde, um auf Bosinney anzuspielen.

Die Tanten machten June später Vorwürfe wegen des Hutes.

»Wir finden, du solltest das nicht zulassen, Liebes!«, hatten sie gesagt.

Auf ihre herrisch lebhafte Art, in der sich die ganze Willenskraft des kleinen Geschöpfes offenbarte, hatte June geantwortet:

»Ach, was schadet das? Phil weiß nie, was er anhat.«

Niemand hätte eine so verwegene Antwort für möglich gehalten. Ein Mann, der nicht weiß, was er anhat? Unglaublich!

Wer war denn eigentlich dieser junge Mensch, der durch seine Verlobung mit June, der anerkannten Erbin des alten Jolyon, so gut für sich gesorgt hatte? Er war Architekt, das war an sich doch kein ausreichender Grund, einen solchen Hut zu tragen. Keiner der Forsytes war Architekt, aber einer von ihnen kannte zwei Architekten, die zu einem Pflichtbesuch in der Londoner Season niemals solch einen Hut getragen hätten. Gefährlich – sehr gefährlich!

June natürlich fand gar nichts darin, aber sie stand auch, trotz ihrer neunzehn Jahre, in einem besonderen Ruf. Hatte sie nicht zu Mrs Soames – die immer so wundervoll angezogen war – gesagt, Federn wären ordinär? Und Soames’ Frau hatte seitdem wirklich keine Federn mehr getragen, so schrecklich direkt war die liebe June.

Diese Besorgnisse, diese Missbilligung und dieses durchaus echte Misstrauen hinderten die Forsytes jedoch nicht daran, sich auf die Einladung des alten Jolyon hin in seinem Haus einzufinden. Ein Empfang in Stanhope Gate war eine große Seltenheit, seit dem Tode seiner Frau vor zwölf Jahren hatte er keinen mehr gegeben.

Noch nie hatte sich dort eine so zahlreiche Gesellschaft versammelt, denn trotz aller Verschiedenheit auf mysteriöse Art und Weise miteinander verbunden, hatten sie sich gegen eine gemeinsame Gefahr gewappnet. Wie eine Herde, wenn ein Hund ins Feld läuft, standen sie Kopf an Kopf und Schulter an Schulter, bereit, den Eindringling niederzurennen und totzutrampeln. Offenbar waren sie auch gekommen, um herauszufinden, was für Geschenke wohl von ihnen erwartet wurden. Regelten sie die Frage der Hochzeitsgeschenke auch gewöhnlich wie folgt: »Was schenkst du? Nicholas schenkt Löffel!«, so kam es doch sehr auf den Bräutigam an. War er gewandt, geschniegelt und von wohlhabendem Aussehen, so hielten sie es für geboten, ihm auch hübsche Geschenke zu machen, das durfte er von ihnen erwarten. Zuletzt gab jeder freilich genau das, was durch eine Art von Familienübereinkommen als passend und schicklich festgesetzt wurde, wie die Preise auf der Börse festgesetzt werden, wobei die genauen Einzelheiten in Timothys behaglichem, am Park gelegenen Haus aus roten Ziegeln näher bestimmt wurden, wo die Tanten Ann, Juley und Hester wohnten.

Die Unruhe der Familie Forsyte war durch die einfache Erwähnung des Hutes gerechtfertigt. Hätte nicht jede Familie der großartigen oberen Mittelschicht, die den ihr gebührenden äußeren Anstand zu wahren wusste, es für unmöglich und unrecht gehalten, sich hier nicht beunruhigt zu fühlen!

Der Urheber dieser Unruhe stand im Gespräch mit June an der nächsten Tür. Sein lockiges Haar war zerzaust, und er sah aus, als fände er alles ungewöhnlich, was um ihn herum vor sich ging. Seine Miene verriet auch, dass er seinen Spaß daran hatte.

George, der sich halblaut mit seinem Bruder Eustace unterhielt, sagte:

»Er sieht aus, als wolle er sich aus dem Staube machen – der flotte Bukanier!«

Dieser ›sehr sonderbar aussehende Mann‹, wie Mrs Small ihn hernach nannte, war mittelgroß und kräftig gebaut, er hatte ein bleiches, braunes Gesicht, einen staubfarbenen Schnurrbart, sehr prominente Backenknochen und hohle Wangen. Seine Stirn stieg bis zum Wirbel des Kopfes hinauf und trat über den Augen in Höckern hervor, wie man es an Löwenstirnen im Zoo sehen konnte. Er hatte Augen von der Farbe des Sherry, mit einem zuweilen beunruhigend zerstreuten Blick. Nachdem der Kutscher des alten Jolyon June und Bosinney ins Theater gefahren hatte, hatte er zum Butler gesagt:

»Aus dem wer’ ich nich’ klug. Mir kommt er wahrhaftig vor wie ’n ›halbgezähmter Leopard‹!«

Und hin und wieder tauchte ein Forsyte in der Nähe auf, schlich vorbei und warf einen Blick auf ihn.

June, das winzige Ding, ›ganz Haar und Geist‹, wie jemand einmal gesagt hatte, mit furchtlosen blauen Augen, festem Kiefer und frischer Farbe, stand vor ihm und wehrte diese müßige Neugierde ab; Gesicht und Körper waren fast zu zart für ihre Krone rotgoldenen Haares.

Eine große Frau mit schöner Figur, ein Familienmitglied hatte sie einmal mit einer heidnischen Göttin verglichen, beobachtete die zwei mit einem schattenhaften Lächeln.

Sie hielt ihre Hände in perlgrauen Handschuhen gekreuzt, das ernste schöne Gesicht zur Seite gewandt, und die Blicke aller Männer in der Nähe ruhten darauf. Ihre geschmeidige Gestalt wiegte sich, wie vom bloßen Lufthauch bewegt. Es war Wärme in ihren Wangen, aber wenig Farbe; ihre großen dunklen Augen blickten sanft. Aber die Männer schauten auf ihre Lippen, wenn sie mit jenem schattenhaften Lächeln eine Frage stellte oder eine Antwort gab. Es waren sensitive Lippen, süß und sinnlich, und wie von einer Blume schien Wärme und Duft von ihnen auszuströmen.

Von den Verlobten waren die passive Göttin und ihr forschender Blick bis jetzt unbemerkt geblieben. Bosinney entdeckte sie zuerst und fragte nach ihrem Namen.

June führte ihren Geliebten zu der Frau mit der schönen Figur.

»Irene ist meine allerbeste Freundin«, sagte sie. »Und ihr beide müsst auch gute Freunde werden.«

Alle drei lächelten bei dem Gebot der kleinen Dame, und während sie noch lächelnd dastanden, tauchte Soames Forsyte geräuschlos hinter der Frau mit der schönen Figur auf, die seine Frau war, und sagte: »Ah! Bitte, stelle mich doch auch vor!«

Er entfernte sich bei öffentlichen Gelegenheiten nur selten von Irenes Seite, und wenn sie von den Erfordernissen des gesellschaftlichen Verkehrs einmal getrennt wurden, konnte man sehen, wie seine Augen ihr mit einem seltsamen Ausdruck von Wachsamkeit und Verlangen folgten.

Am Fenster untersuchte James, sein Vater, noch immer den Fabrikstempel auf dem Porzellan.

»Ich wundere mich, dass Jolyon diese Verlobung erlaubt«, sagte er zu Tante Ann. »Wie ich höre, haben sie auf Jahre hinaus keine Aussicht zu heiraten. Dieser junge Bosinney« (im Gegensatz zu der üblichen Anwendung eines kurzen o machte er einen Daktylus aus dem Wort) »besitzt nichts. Als Winifred damals Dartie heiratete, sorgte ich dafür, dass er jeden Penny sicher anlegte – ein wahres Glück übrigens – sonst hätten sie jetzt nichts mehr!«

Tante Ann blickte von ihrem Samtsessel auf. Graue Locken rahmten ihre Stirn ein, Locken, die, seit Jahrzehnten unverändert, allen Sinn für Zeit in der Familie ausgelöscht hatten. Sie erwiderte nichts, denn sie sprach selten und schonte ihre alte Stimme, aber für James, der kein ganz ruhiges Gewissen hatte, war ihr Blick so gut wie eine Antwort.

»Ja«, sagte er, »ich konnte nichts dafür, dass Irene kein Geld hatte. Soames hatte es so eilig, er magerte sichtlich ab, als er so lange um sie warb.«

Verdrießlich stellte er die Schale aufs Klavier und ließ seine Augen zu der Gruppe an der Tür wandern.

»Meiner Ansicht nach«, sagte er ganz wider Erwarten, »ist es ganz gut, so wie es ist!«

Tante Ann forderte ihn nicht auf, diese merkwürdige Äußerung zu erklären. Sie wusste, woran er dachte. Da Irene keine Mittel hatte, würde sie nicht so töricht sein, dumme Streiche zu machen, denn es hieß – es hieß –, sie habe getrennte Zimmer verlangt; aber Soames natürlich hatte nicht –

James unterbrach ihre Träumerei.

»Wo ist denn Timothy?«, fragte er. »Ist er nicht mitgekommen?«

Über Tante Anns zusammengepresste Lippen drängte sich ein Lächeln.

»Nein, er hat es nicht für ratsam gehalten, wo so viel Diphtherie in der Luft sei und er so dazu neige, sich etwas zu holen.«

»Ja, er kümmert sich gut um sich selbst«, erwiderte James. »Ich kann’s mir nicht leisten, mich so um mich zu kümmern, wie er es tut.«

Es war nicht leicht zu sagen, ob Bewunderung, Neid oder Verachtung in dieser Bemerkung vorherrschte.

Timothy, das Baby der Familie, ließ sich in der Tat selten sehen. Er war Verleger von Beruf und hatte vor einigen Jahren, als das Geschäft noch in voller Blüte war, einen Stillstand vorausgewittert, der zwar immer noch nicht eingetreten war, aber nach der übereinstimmenden Meinung aller schließlich kommen musste, seinen Anteil an der Firma, die sich hauptsächlich mit der Herstellung religiöser Bücher beschäftigte, verkauft und den ganz beachtlichen Erlös in dreiprozentigen Konsols7 angelegt. Hierdurch war er sofort in eine völlig isolierte Stellung gekommen, denn kein Forsyte begnügte sich mit weniger als vier Prozent für sein Geld; und diese Isolierung hatte langsam, aber sicher einen Geist unterminiert, der mehr zu Vorsicht neigte, als gemeinhin üblich war. Er war fast zu einem Mythos geworden – einer Art Verkörperung der Sicherheit, die im Hintergrund der Forsyte’schen Welt spukte. Er hatte nie die Unklugheit besessen, zu heiraten oder sich irgendwie mit Kindern zu behelligen.

James fuhr fort, indem er das Porzellan beklopfte:

»Das ist kein echtes altes Worcester. Ich vermut’, Jolyon hat dir doch wohl etwas über den jungen Mann gesagt. Nach allem, was ich höre, hat er weder Geschäft noch Einkommen oder nennenswerte Verbindungen; aber ich weiß übrigens nichts – mir sagt keiner was!«

Tante Ann schüttelte den Kopf. Ein Zittern überflog ihr adlerähnliches altes Gesicht mit dem eckigen Kinn; die spindeldürren Finger pressten und verflochten sich ineinander, als wäre sie bemüht, Willenskraft nachzuladen.

Sie war um einige Jahre älter als die übrigen Forsytes und nahm deshalb eine besondere Stellung unter ihnen ein. Obwohl allesamt Opportunisten und Egoisten – wenngleich nicht mehr als ihre Nachbarn auch –, verzagten sie doch ihrem unbestechlichen Wesen gegenüber, und wurde es ihnen einmal zu arg, so gingen sie ihr lieber aus dem Wege!

James verdrehte seine langen dünnen Beine und fuhr fort:

»Jolyon muss immer seinen eigenen Weg gehen. Er hat keine Kinder«, hier stockte er, denn ihm fiel ein, dass der Sohn des alten Jolyon, der junge Jolyon, Junes Vater, noch existierte, der eine solche Torheit begangen hatte, sich selbst um alles zu bringen, indem er seine Frau und sein Kind verlassen hatte und mit der ausländischen Erzieherin durchgegangen war. »Na«, fing er hastig wieder an, »wenn er so was tut, muss er sich’s wohl leisten können, vermut’ ich. Was gibt er ihr denn jetzt mit? Wohl tausend Pfund jährlich, vermut’ ich; er hat ja sonst niemanden, dem er sein Geld hinterlassen kann.«

Er streckte die Hand aus, um sie einem lebhaften, glattrasierten Manne mit langer eingeknickter Nase, dicken Lippen und kalten grauen Augen unter rechtwinkligen Brauen zu reichen, der kaum ein Haar auf dem Kopfe hatte.

»Na, Nick«, murmelte er, »wie geht es dir?«

Mit seiner vogelartigen Geschwindigkeit und dem Aussehen eines außergewöhnlich braven Schuljungen legte Nicholas Forsyte (er hatte es bei den Gesellschaften, deren Direktor er war, durchaus rechtmäßig zu einem großen Vermögen gebracht) in diese kalte Hand seine noch kälteren Fingerspitzen und zog sie schnell wieder zurück.

»Mir geht’s schlecht«, sagte er verdrießlich, »die ganze Woche schon; kann nachts nicht schlafen, der Arzt weiß nicht, warum. Er ist ein tüchtiger Kerl, sonst hätte ich ihn nicht, aber ich bekomme nichts als Rezepte von ihm.«

»Ärzte!«, fiel James ihm scharf ins Wort. »Ich hatte die Ärzte von ganz London für uns. Aus denen ist nichts Vernünftiges herauszubekommen, sie erzählen einem alles Mögliche. Da, nimm zum Beispiel Swithin. Was haben sie dem denn genützt? Da ist er; er ist dicker denn je, geradezu unförmig; sie bekommen sein Gewicht nicht herunter. Sieh ihn nur an!«

Swithin Forsyte, groß, vierschrötig und breit, mit einer Brust in der Pracht seiner hellen Westen wie ein aufgeplusterter Täuberich, kam gerade auf sie zu stolziert.

»’n Tag, wie geht es euch?«, fragte er in seiner stutzerhaften Weise, indem er das h stark aushauchte (dieser schwierige Laut war bei ihm nahezu vollkommen sicher). »Wie geht es euch?«

Jeder der Brüder nahm eine verärgerte Miene an, wenn er die anderen beiden ansah, denn er wusste aus Erfahrung, dass sie versuchen würden, seine Leiden durch die ihren in den Schatten zu stellen.

»Wir sprachen eben davon«, sagte James, »dass du gar nicht dünner wirst.«

Swithins blasse runde Augen quollen bei der Anstrengung hervor, die ihm das Hören bereitete.

»Dünner? Ich bin in guter Verfassung«, sagte er und neigte sich etwas vor, »nicht so ein Zwirnsfaden wie ihr!«

Aber in der Furcht, etwas von seiner Stattlichkeit einzubüßen, richtete er sich wieder auf und nahm eine unbewegliche Haltung an, denn ihm ging nichts über eine distinguierte Erscheinung.

Tante Ann ließ ihre alten Augen von einem zum anderen schweifen. Ihr Blick war ernst und mild. Die drei Brüder wiederum blickten Tante Ann an. Sie begann zittrig zu werden. Eine wunderbare Frau! Mindestens sechsundachtzig, und könnte gut noch zehn Jahre länger leben, dabei war sie nie sehr kräftig gewesen. Swithin und James, die Zwillinge, waren erst fünfundsiebzig, Nicholas ein wahres Baby an die siebzig. Alle waren gesund und die Aussichten darum beruhigend. Von allem Eigentum lag ihnen ihre Gesundheit natürlich am meisten am Herzen.

»Mir geht’s eigentlich recht gut«, fuhr James fort, »aber meine Nerven sind nicht in Ordnung. Die geringste Kleinigkeit beunruhigt mich zu Tode. Ich werde nach Bath fahren müssen.«

»Bath!«, sagte Nicholas. »Ich hab’s mit Harrogate versucht. Das taugt nichts. Ich brauche Seeluft. Es geht nichts über Yarmouth. Wenn ich dort bin, schlafe ich –«

»Mit meiner Leber steht’s schlimm«, unterbrach ihn Swithin langsam. »Scheußliche Schmerzen hier«, und er legte die Hand auf die rechte Seite.

»Mangel an Bewegung«, murmelte James mit einem Blick auf die Porzellanschale. Schnell fügte er hinzu: »Ich habe da auch Schmerzen.«

Swithin wurde rot, sein altes Gesicht erinnerte an einen Truthahn.

»Bewegung!«, sagte er. »Die habe ich reichlich. Ich benutze nie den Fahrstuhl im Klub.«

»Das wusste ich nicht«, stieß James hervor. »Ich weiß nichts über niemanden; mir sagt keiner was.«

Swithin starrte ihn an und fragte:

»Was tust du gegen die Schmerzen da?«

James leuchtete auf.

»Ich nehme eine Mischung von –«

»Wie geht es dir, Onkel?«

June stand mit ausgestreckter Hand vor ihm und reckte ihr resolutes kleines Gesicht empor zu dem seinen.

Das Leuchten in James’ Gesicht erlosch.

»Wie geht es dir?«, fragte er unwirsch. »Du willst also morgen nach Wales, um die Tanten deines Verlobten zu besuchen? Da regnet es immer. Dies ist kein echtes altes Worcester.« Er beklopfte die Schale: »Das Service, das ich deiner Mutter zur Hochzeit schenkte, das war echt.«

June schüttelte ihren drei Großonkeln der Reihe nach die Hand und wandte sich darauf zu Tante Ann. Das Gesicht der alten Dame hatte einen innigen Ausdruck angenommen, sie küsste dem Mädchen die Wange mit zitternder Inbrunst.

»Nun, mein Liebes«, sagte sie, »du willst also auf einen ganzen Monat fort?«

Das junge Mädchen ging weiter, und Tante Ann sah der zierlichen kleinen Gestalt nach. Die runden, stahlgrauen Augen der alten Dame, die sich wie bei einem Vogel mit einem Schleier zu überziehen begannen, folgten ihr nachdenklich durch das lärmende Gedränge, denn die Gesellschaft fing gerade an aufzubrechen; und ihre Fingerspitzen pressten sich in erneuter Nachladung ihrer Willenskraft, wie zur Abwehr ihrer eigenen unabwendbaren letzten Reise, immer fester aneinander.

›Ja‹, dachte sie, ›es waren alle sehr freundlich; so viele kamen, um ihr zu gratulieren. Sie müsste so recht glücklich werden.‹

Von den Gästen, die sich an der Tür drängten – lauter gutgekleidete Leute aus den Kreisen von Juristen, Ärzten, Börsenkaufleuten und anderen zahllosen Berufen der oberen Mittelschicht – waren nur etwa zwanzig Prozent Forsytes. Aber Tante Ann schien alle als Forsytes zu betrachten – und ein großer Unterschied war sicher auch nicht vorhanden –, sie sah nur ihr eigen Fleisch und Blut. Die Familie, das war ihre Welt, und für sie gab es keine andere, hatte es vielleicht nie eine andere gegeben. All ihre kleinen Geheimnisse, Krankheiten, Verlobungen und Heiraten, wie sie vorankamen und ob sie Geld verdienten: All dies war ihr Eigentum, ihre Freude, ihr Leben; darüber hinaus gab es nur einen vagen, schattenhaften Nebel von Ereignissen und Personen ohne eigentliche Bedeutung. Das würde sie eines Tages aufgeben müssen, wenn die Reihe zu sterben an sie kam; das gab ihr dieses Ansehen, jenes geheime Selbstgefühl, ohne das keiner von uns das Leben erträgt; und daran klammerte sie sich inbrünstig mit einer täglich wachsenden Gier. Wenn das Leben ihr auch entglitt, das wollte sie bis zum Ende behalten.

Sie dachte an den jungen Jolyon, Junes Vater, der mit der Ausländerin durchgegangen war. Das war ein harter Schlag für seinen Vater und sie alle. Solch ein vielversprechender Junge! Ein harter Schlag, wenn es auch glücklicherweise zu keinem öffentlichen Skandal gekommen war, da Jos Frau keine Scheidung gewollt hatte! Es war lange her! Und als Junes Mutter vor sechs Jahren starb, hatte Jo jene Frau geheiratet, und sie hatten jetzt zwei Kinder, wie sie gehört hatte. Dennoch hatte er sein Recht verspielt, hier zu sein, hatte sie um die vollkommene Erfüllung ihres Familienstolzes betrogen und der rechtmäßigen Freude beraubt, ihren Liebling, solch einen vielversprechenden Jungen, auf den sie so stolz gewesen war, zu sehen und zu küssen! Dieser Gedanke zehrte mit der Bitterkeit lang erlittenen Unrechts an ihrem beharrlichen alten Herzen. Ihre Augen wurden feucht und sie trocknete sie verstohlen mit einem Taschentuch aus feinstem Batist.

»Na, Tante Ann?«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Soames Forsyte, glattrasiert, mit flachen Schultern, flachen Wangen und flachen Hüften, aber doch mit etwas Glattem und Geheimnisvollem über seiner ganzen Erscheinung, sah schräg auf Tante Ann herab, als versuche er durch seine eigene Nase zu sehen.

»Und was sagst du zu dieser Verlobung?«, fragte er.

Tante Anns Augen ruhten mit Stolz auf ihm. Seit dem Verschwinden des jungen Jolyon aus dem Familienkreise war er ihr Liebling unter allen Neffen, denn in ihm erkannte sie einen treuen Heger der Familienseele, die ihrer Obhut so bald entrissen werden sollte.

»Sehr erfreulich für den jungen Mann«, sagte sie, »er sieht gut aus. Aber ich weiß nicht, ob er so ganz der Rechte für unsere June ist.«

Soames befühlte den Rand eines vergoldeten Kronleuchters.

»Sie wird ihn zähmen«, sagte er, indem er seinen Finger heimlich nass machte und an den knubbeligen Kolben rieb. »Das ist echte alte Vergoldung, so etwas gibt es heute gar nicht mehr. Der brächte einen guten Preis bei Jobson.« Er sprach mit Behagen, als fühle er, dass er die alte Tante aufheitere. Er war selten so mitteilsam. »Ich wollte, er gehörte mir«, fügte er hinzu, »alte Vergoldung wird man jederzeit gut los.«

»Du verstehst dich so gut auf solche Dinge«, sagte Tante Ann. »Und wie geht es der lieben Irene?«

Soames’ Lächeln erstarb.

»Ganz gut«, sagte er. »Sie klagt über schlechten Schlaf, dabei schläft sie viel besser als ich«, und er blickte zu seiner Frau hinüber, die an der Tür mit Bosinney sprach.

Tante Ann seufzte.

»Vielleicht wäre es besser«, sagte sie, »wenn sie nicht so viel mit June zusammensteckte. Sie ist ein so ausgesprochener Charakter, die liebe June!«

Soames stieg die Röte ins Gesicht; sie flog über seine flachen Wangen und setzte sich als Merkmal quälender Gedanken zwischen den Augen fest.

»Ich weiß nicht, was sie an dem kleinen Irrwisch findet«, entfuhr es ihm, doch als er merkte, dass sie nicht länger allein waren, drehte er sich um und fing wieder an, den Kronleuchter zu untersuchen.

»Ich höre, Jolyon hat ein neues Haus gekauft«, sagte seines Vaters Stimme dicht neben ihm; »er muss einen Haufen Geld haben – mehr, als er zu gebrauchen weiß! Am Montpellier Square, sagen sie, in der Nähe von Soames! Mir hat keiner was davon gesagt – Irene sagt mir nie was!«

»Ausgezeichnete Lage, keine zwei Minuten von mir«, ließ sich Swithins Stimme vernehmen, »und von meiner Wohnung fahre ich in acht Minuten bis zum Klub.«

Die Lage ihrer Häuser war für die Forsytes von essentieller Bedeutung, kein Wunder übrigens, denn der ganze Geist ihres Erfolges war darin verkörpert.

Ihr Vater, der einem Bauerngeschlecht entstammte, war Anfang des Jahrhunderts von Dorsetshire gekommen.

›Der große Dosset Forsyte‹, wie ihn seine Vertrauten nannten, war Steinmetz von Beruf gewesen und hatte sich zum Baumeister emporgearbeitet. Gegen Ende seines Lebens war er nach London gezogen, wo er in Highgate begraben wurde, nachdem er bis an seinen Tod gebaut hatte. Er hinterließ seinen zehn Kindern über dreißigtausend Pfund. Wenn der alte Jolyon ihn überhaupt einmal erwähnte, beschrieb er ihn als einen ›Mann von kräftig derbem Schlag – nicht sonderlich fein‹. Die zweite Generation hatte in der Tat das Gefühl, dass nicht viel Staat mit ihm zu machen war. Der einzige aristokratische Zug, den sie in seinem Wesen entdecken konnten, war seine Gewohnheit, Madeira zu trinken.

Tante Hester, eine Autorität auf dem Gebiet der Familiengeschichte, schilderte ihn in folgender Weise:

»Ich erinnere mich nicht, dass er je etwas tat, wenigstens nicht zu meiner Zeit. Er war eben – Hausbesitzer, Liebes. Sein Haar war etwa von der Farbe wie das von Onkel Swithin; ziemlich vierschrötig war er. Groß? N-nicht sehr«, er war fünfeinhalb Fuß groß gewesen, mit fleckigem Gesicht, »von frischer Farbe. Er trank sehr gern Madeira, das weiß ich noch, frag nur Tante Ann. Was sein Vater war? Der, hm – der hat mit dem Land da unten in Dorsetshire, an der See, zu tun gehabt.«

James war einmal hingefahren, um selbst zu sehen, aus was für einer Gegend sie eigentlich stammten. Er fand zwei alte Bauernhöfe vor, von wo aus eine Wagenspur, die die rote Erde durchfurchte, zu einer Mühle unten am Strande führte, eine kleine graue Kirche innerhalb einer Pfeilermauer und eine noch kleinere und grauere Kapelle. Der Strom, der die Mühle trieb, kam in einem Dutzend kleiner Bäche plätschernd herab, und an der Bucht trieben sich Schweine umher. Ein leichter Nebel verhüllte die Aussicht. Es schien, die Vorfahren der Forsytes wären hunderte von Jahren, Sonntag für Sonntag, zufrieden gewesen, die Füße tief im Morast und den Blick aufs Meer gerichtet, durch diese Senke zu gehen.

Ob James im Stillen ein Erbe oder sonst etwas Außergewöhnliches zu finden gehofft hatte oder nicht, er kam jedenfalls ganz kleinlaut zur Stadt zurück und war aufs äußerste bemüht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Da ist nicht viel zu holen«, sagte er, »ein richtiges kleines Landnest, und uralt.«

Das Alter war noch ein Trost. Der alte Jolyon, bei dem manchmal eine unverfrorene Ehrlichkeit hervorsprudelte, sprach von seinen Vorfahren zuweilen als von »Freisassen8 – kleine Verhältnisse vermutlich«. Doch wiederholte er das Wort ›Freisassen‹, als gewähre es ihm Trost.

Die Forsytes hatten es alle so weit gebracht, dass sie nun als ›gutsituierte Leute‹, wie man es nennt, eine gewisse Stellung einnahmen. Sie hatten ihr Vermögen in allen möglichen Aktien angelegt, nur – Timothy ausgenommen – nicht in Konsols, denn sie fürchteten nichts auf der Welt so sehr wie drei Prozent für ihr Geld. Sie sammelten Bilder und unterstützten Wohltätigkeitsanstalten, die ihren kranken Dienstboten einmal zugute kommen konnten. Von ihrem Vater, dem Baumeister, hatten sie Verständnis für Ziegel und Mörtel geerbt. Wenn sie ursprünglich vielleicht auch einer schlichten Sekte angehört hatten, waren sie nach dem natürlichen Lauf der Dinge jetzt Mitglieder der Staatskirche und hielten darauf, dass ihre Frauen und Kinder ziemlich regelmäßig die vornehmeren Kirchen der Hauptstadt besuchten. Zweifel an ihrer Christlichkeit hätten sie überrascht und verletzt. Einige von ihnen bezahlten sogar ihre Kirchenbänke und brachten so in der praktischsten Weise ihre Sympathie für die Lehren Christi zum Ausdruck.

Ihre Häuser lagen in bestimmten Abständen rings um den Park und passten wie die Schildwachen auf, dass das reiche Herz Londons, an dem ihre Wünsche hingen, nicht ihren Händen entschlüpfte und sie dadurch in der eigenen Achtung sinken ließ.

Der alte Jolyon wohnte in Stanhope Place; James in Park Lane; Swithin in der einsamen Pracht orangefarbener und blauer Gemächer in Hyde Park Mansions – er hatte nie geheiratet – Gott bewahre! –, Soames mit seiner Frau in ihrem Heim bei Knightsbridge; Roger in Prince’s Gardens (Roger stach dadurch unter den Forsytes hervor, dass er sich vorgenommen und es durchgesetzt hatte, seine vier Söhne zu einem neuen Beruf zu erziehen. »Legt euer Geld in Häusern an – darüber geht nichts!«, pflegte er zu sagen. »Ich hab’s nie anders gemacht!«).

Dann Hayman – Mrs Hayman war die einzige verheiratete Schwester der Forsytes – in einem Haus oben in Campden Hill, wie eine Giraffe geformt und so hoch, dass, wer es betrachtete, einen steifen Nacken bekam. Nicholas wohnte in Ladbroke Grove in einer geräumigen Wohnung und billig dazu; und endlich Timothy in Bayswater Road, wo Ann, Juley und Hester unter seinem Schutze lebten.

James hatte die ganze Zeit nachdenklich dagestanden und fragte endlich seinen Gastgeber und Bruder, was er für das Haus am Montpellier Square gezahlt hatte. Er selber habe seit Jahren dort ein Haus im Auge, aber sie forderten einen zu hohen Preis dafür.

Der alte Jolyon berichtete über die Einzelheiten seines Kaufes.

»Auf zweiundzwanzig Jahre?«, wiederholte James. »Gerade das Haus, das ich wollte – du hast zu viel dafür bezahlt!«

Der alte Jolyon runzelte die Stirn.

»Ich will es nicht etwa für mich haben«, sagte James hastig, »zu dem Preis passt es nicht für meine Zwecke. Soames kennt das Haus sehr gut, na – er wird dir sagen, dass es zu teuer ist – auf sein Urteil kann man etwas geben.«

»Ich gebe keinen Pfifferling dafür«, sagte der alte Jolyon.

»Na«, murmelte James, »du musst ja immer deinen Willen haben – aber sein Urteil ist gut. Auf Wiedersehen! Wir wollen zum Hurlingham9 hinausfahren. Ich höre, June geht nach Wales. Du wirst morgen einsam sein. Was hast du vor? Du solltest zum Essen lieber zu uns kommen!«

Der alte Jolyon lehnte ab. Er ging mit an die Vordertür, half ihnen in den Wagen und winkte ihnen zu, denn er hatte seinen Unmut schon vergessen. In Fahrtrichtung saß groß und majestätisch Mrs James mit rotbraunem Haar, ihr zur Linken Irene – die zwei Gatten, Vater und Sohn, leicht vorgebeugt, fast erwartungsvoll, ihren Frauen gegenüber. Sich auf ihren Sprungfederpolstern auf und ab bewegend, schwankten sie jeder Bewegung des Wagens nach und fuhren, von den Blicken des alten Jolyon begleitet, schweigend im Sonnenschein davon.

Während der Fahrt unterbrach Mrs James das Schweigen.

»Ist euch jemals solch eine Gesellschaft banaler Leute vorgekommen?«

Soames, der sie unter seinen Lidern hervor flüchtig ansah, nickte und bemerkte, wie ihm Irene einen ihrer unergründlichen Blicke zuwarf. Höchstwahrscheinlich hatte jeder Zweig der Familie Forsyte auf der Heimfahrt von dem Empfang beim alten Jolyon diese Bemerkung gemacht.

Unter den letzten der aufbrechenden Gäste gingen der vierte und fünfte Bruder, Nicholas und Roger, zusammen fort und schlugen die Richtung am Hyde Park entlang zu der Praed Street Station der Untergrundbahn ein. Wie alle anderen Forsytes in einem gewissen Alter hielten sie sich eigenes Fuhrwerk und vermieden es, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, eine Droschke zu nehmen.

Es war ein schöner Tag, die Bäume des Parks standen in der vollen Pracht ihres Junilaubes, aber die Brüder schienen nicht auf die Natur zu achten, die nichtsdestoweniger zur Lebhaftigkeit ihres Ganges und der Unterhaltung beitrug.

»Ja«, sagte Roger, »eine schöne Frau, diese Gattin von Soames. Ich höre, sie verstehen sich nicht gut.«

Dieser Bruder hatte eine hohe Stirn und von allen Forsytes die frischeste Farbe. Seine hellgrauen Augen musterten die Häuser der Straßenfront am Wege, und dann und wann hob er seinen Schirm, um eine ›Monddistanz‹, wie er sich ausdrückte, der verschiedenen Höhen zu messen.

»Geld hatte sie nicht«, erwiderte Nicholas.

Er selbst hatte sehr reich geheiratet, und da es noch in der goldenen Zeit vor Einführung des Vermögensrechts der Ehefrauen10 war, hatte er glücklicherweise einen vorteilhaften Gebrauch von dem Gelde machen können.

»Was war ihr Vater?«

»Er hieß Heron, Professor, wie ich höre.«

Roger schüttelte den Kopf.

»Das bringt nichts ein«, sagte er.

»Ihr Großvater von Mutters Seite soll in Zement gearbeitet haben.«

Rogers Gesicht erhellte sich.

»Er ging aber bankrott«, fuhr Nicholas fort.

»Ah!«, rief Roger aus. »Soames wird seine Not mit ihr haben, merk dir meine Worte, er wird seine Not mit ihr haben – sie sieht ausländisch aus.«

Nicholas leckte sich die Lippen.

»Sie ist eine schöne Frau«, sagte er und winkte einem Straßenkehrer, beiseite zu gehen.

»Wie kam er eigentlich an sie heran?«, fragte Roger darauf. »Ihre Toilette muss ihn ein Heidengeld kosten!«

»Ann sagt«, erwiderte Nicholas, »er wäre ganz toll hinter ihr her. Fünfmal hat sie ihn abgewiesen. James ist die Sache fatal, das ist ihm anzumerken.«

»Ah!«, fing Roger wieder an. »Für James tut es mir leid, er hat schon mit Dartie seine Not gehabt.« Das Gehen hatte seine frische Farbe noch erhöht, er schwang den Schirm öfter denn je bis in Augenhöhe. Auch Nicholas’ Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck.

»Zu blass für meinen Geschmack«, sagte er, »aber die Figur ist prachtvoll!«

Roger erwiderte nichts.

»Ich finde, sie sieht vornehm aus«, sagte er endlich – es war das höchste Lob im Forsyte’schen Wortschatz. »Aus diesem jungen Bosinney wird nie was – in Burkitt sagt man, er sei ein künstlerischer Junge – er hat sich in den Kopf gesetzt, die englische Architektur zu verbessern; das bringt nichts ein! Ich möchte wissen, was Timothy dazu sagt.«

Sie betraten die Station.

»Welche Klasse fährst du? Ich fahre zweiter.«

»Nur nicht zweiter«, sagte Nicholas, »man weiß nie, was man sich da holt.«

Er nahm ein Billett erster Klasse nach Notting Hill Gate, Roger eines zweiter nach South Kensington. Eine Minute später fuhr der Zug ein, die Brüder trennten sich und jeder stieg in sein Abteil. Jeder von ihnen verärgert, dass der andere nicht von der eigenen Gewohnheit abgewichen war, um seine Gesellschaft etwas länger zu genießen.

›Immer ein alter Starrkopf, dieser Nick!‹, dachte Roger bei sich.

Oder wie Nicholas es im Stillen ausdrückte:

›Ein streitsüchtiger Junge war Roger von jeher!‹

Sentimentalität war nicht gerade Sache der Forsytes. Wo sollten sie in dem großen London, das sie erobert und mit dem sie eins geworden waren, auch die Zeit hernehmen, sentimental zu sein?

Zweites Kapitel

Der alte Jolyon geht in die Oper

Mit einer Zigarre zwischen den Lippen und einer Tasse Tee auf einem Tisch neben sich saß der alte Jolyon am nächsten Tage um fünf Uhr allein. Er war müde, und ehe er noch seine Zigarre ausgeraucht hatte, schlummerte er ein. Eine Fliege setzte sich auf sein Haar, sein Atem klang schwer in der schläfrigen Stille, und seine Oberlippe hob und senkte sich unter dem weißen Schnurrbart. Die Zigarre entfiel den Fingern seiner geäderten faltigen Hand und brannte in dem leeren Kamin langsam zu Ende.

Das düstere kleine Arbeitszimmer mit Fenstern aus buntem Glas, die den Ausblick verhinderten, war mit dunkelgrünen Samt- und reichgeschnitzten Mahagonimöbeln gefüllt – eine Einrichtung, von der der alte Jolyon zu sagen pflegte: »Sollte mich nicht wundern, wenn einst ein hoher Preis dafür geboten würde!«

Es war ihm ein angenehmer Gedanke, dass die Sachen nach seinem Tode einen höheren Preis erreichen würden, als er für sie gezahlt hatte.

In der Atmosphäre von reichem Braun, die den hinteren Räumen im Hause Forsyte eigentümlich war, wurde der rembrandteske11 Eindruck seines großen Kopfes mit dem weißen Haar gegen das Kissen seines hochlehnigen Sessels durch den Schnurrbart beeinträchtigt, der seinem Gesicht einen etwas militärischen Ausdruck gab. Eine alte Uhr, die schon seit vor seiner Hochzeit vor vierzig Jahren in seinem Besitz war, verzeichnete mit ihrem Ticken eifersüchtig die Sekunden, die ihrem Herrn für immer entwichen.

Ihm lag nichts an diesem Raum, und er betrat ihn kaum jemals im ganzen Jahre, außer um Zigarren aus dem japanischen Wandschränkchen in der Ecke zu holen, und nun rächte sich der Raum.

Die Schläfen des alten Jolyon, die sich wie ein Strohdach über den Höhlen darunter wölbten, seine Backenknochen und das Kinn traten im Schlafe schärfer hervor, und sein Gesicht verriet, dass er ein alter Mann war.

Er erwachte. June war fort! James hatte gesagt, er würde einsam sein. Aber James war immer ein armseliger Tropf. Mit Genugtuung dachte er an seinen Hauskauf über James’ Kopf hinweg. Geschah ihm recht für seine Knauserei, das Einzige, woran der Kerl dachte, war Geld. Oder hatte er doch zu viel gezahlt? Es musste noch eine Menge hineingesteckt werden – wahrscheinlich würde er sein ganzes Geld brauchen, bevor die Sache mit June in Ordnung war. Er hätte diese Verlobung doch nie erlauben sollen. Sie hatte diesen Bosinney im Hause von Baynes, Baynes and Bildeboy, den Architekten, kennen gelernt. Er glaubte, Baynes, den er kannte – er hatte etwas von einer alten Frau –, war ein angeheirateter Onkel des jungen Mannes. Seitdem war sie ihm ständig nachgelaufen, und wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, war sie nicht davon abzubringen. Sie hatte immer irgendwelche armen ›Hungerleider‹ an der Hand. Dieser Bursche besaß kein Geld, aber sie musste sich durchaus mit ihm verloben – mit diesem unpraktischen Windbeutel, der dauernd in Schwierigkeiten kommen würde.

Sie war eines Tages in ihrer unverfrorenen Art zu ihm gekommen und hatte es ihm gesagt; und wie zum Trost hatte sie hinzugefügt:

»Er ist prachtvoll, er hat oft schon eine Woche lang nur von Kakao gelebt!«

»Und er möchte, dass auch du nur von Kakao lebst?«

»Oh nein; jetzt kommt er schon ins rechte Fahrwasser hinein.«

Der alte Jolyon hatte seine Zigarre unter dem weißen, an den Enden mit Kaffee gefärbten Schnurrbart hervorgenommen und das winzige Ding angeschaut, das eine solche Macht über sein Herz gewonnen hatte. Er wusste über ›Fahrwasser‹ besser Bescheid als seine Enkelin. Aber sie hatte sich mit den Händen auf seine Knie gestützt, ihr Kinn an ihm gerieben und einen Laut von sich gegeben wie eine schnurrende Katze. Und er hatte, die Asche von seiner Zigarre klopfend, in nervöser Verzweiflung ausgerufen:

»Ihr seid alle gleich: Ihr gebt euch nicht zufrieden, bis ihr erreicht habt, was ihr wollt. Wenn du ins Unglück kommen musst, so tu’s. Ich wasche meine Hände.«

Und er hatte alle Verantwortung von sich geschoben, indem er zur Bedingung gemacht hatte, dass sie nicht heiraten durften, bis Bosinney wenigstens vierhundert Pfund im Jahr verdiente.

»Ich werde euch nicht viel geben können«, hatte er gesagt, eine Redewendung, die June kannte. »Vielleicht wird dieser Wie-heißt-er-doch für den Kakao sorgen.«

Er hatte sie kaum noch zu Gesicht bekommen, seitdem die Sache angefangen hatte. Eine böse Geschichte! Es fiel ihm nicht ein, ihr einen Haufen Geld zu geben, um diesem Menschen, von dem er nichts wusste, zu einem Faulenzerleben zu verhelfen. Er kannte das, es kam nie Gutes dabei heraus. Das Schlimmste aber war, dass er keine Hoffnung hatte, ihre Entschlossenheit zu erschüttern; sie war stur wie ein Maulesel, war es von Kind an gewesen. Das Ende war nicht abzusehen. Sie mussten sich nach ihrer Decke strecken. Er würde nicht nachgeben, bis er sah, dass der junge Bosinney ein eigenes Einkommen hatte. Dass June ihre Not mit ihm haben würde, war sonnenklar; er hatte ja nicht mehr Ahnung von Geld als eine Kuh. Und jetzt wieder diese überstürzte Fahrt nach Wales, um die Tanten des jungen Mannes zu besuchen, die sicherlich alte Drachen waren.

Ohne sich zu rühren, starrte der alte Jolyon auf die Wand, nur die offenen Augen verrieten, dass er nicht schlief … Diese Idee, anzunehmen, dass Soames, dieser junge Laffe12, ihm einen Rat geben könne! Er war immer ein hochnäsiger Laffe gewesen! Nächstens würde er sich wohl gar als der reiche Mann aufspielen, mit einem Haus auf dem Lande! Der reiche Mann! Hmm! Wie sein Vater war er unaufhörlich nur auf Gewinn bedacht, der kaltblütige Schlingel!

Er erhob sich, trat an das Schränkchen und fing an, sein Zigarrenetui methodisch mit frischem Vorrat zu befüllen. Sie waren nicht schlecht für den Preis, aber eine gute Zigarre war heutzutage gar nicht mehr zu haben, nichts im Vergleich zu den alten Superfinos von Hanson and Bridger. Das war eine Zigarre!

Der Gedanke trug ihn wie ein leiser Duft zu jenen wundervollen Abenden in Richmond zurück, wo er mit Nicholas Treffry und Traquair und Jack Herring und Anthony Thornworthy nach dem Essen auf der Terrasse von ›Crown and Sceptre‹ gesessen und geraucht hatte. Wie gut seine Zigarren damals waren! Armer alter Nick! – tot, und Jack Herring – tot, und Traquair – tot, durch seine Frau ins Grab gebracht, und Thornworthy – der war ja furchtbar zittrig (kein Wunder, bei seinem Appetit).

Von der ganzen Gesellschaft jener Tage schien er allein übrig geblieben zu sein, außer Swithin natürlich, aber der war so maßlos dick, es war gar nichts mit ihm anzufangen.

Schwer zu glauben, dass es so lange her war; er fühlte sich noch jung! Von allen Gedanken, die ihm beim Zählen seiner Zigarren durch den Kopf gingen, war dies der erschütterndste und bitterste. Mit seinem weißen Haar und seiner Einsamkeit war er im Herzen jung und frisch geblieben. Und die Sonntagnachmittage in Hampstead Heath, wenn er mit seinem Jungen einen Ausflug die Spaniards Road entlang bis nach Highgate oder Child’s Hill machte und hernach in Jack Straw’s Castle13 zum Essen einkehrte – wie köstlich waren seine Zigarren dann gewesen! Und das Wetter! Jetzt gab es gar kein Wetter mehr.

Als June ein kleiner Tolpatsch von fünf Jahren war und er sie jeden zweiten Sonntag von den beiden guten Frauen, ihrer Mutter und Großmutter, abholte, um sie in den Zoo mitzunehmen, wo er oben vom Bärenzwinger ihre Lieblingsbären mit Weißbrot fütterte, das er an seinen Schirm steckte, wie herrlich waren seine Zigarren da gewesen!

Zigarren! Er hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, von seiner feinen Zunge Gebrauch zu machen – dieser berühmten feinen Zunge, auf die alle Leute in den fünfziger Jahren schworen und ihn, wenn sie von ihm sprachen, »die feinste Zunge in London« nannten! Dieser feinen Zunge hatte er übrigens in gewissem Sinne sein Glück zu verdanken – das Glück der berühmten Teefirma Forsyte and Treffry, deren Tee, wie kein anderer, ein romantisches Aroma und den Reiz einer ganz besonderen Echtheit hatte. Über dem Hause Forsyte and Treffry in der City hatte eine geheimnisvolle Atmosphäre von Unternehmungslust gelegen, von besonderen Handelsbeziehungen auf besonderen Schiffen in besonderen Häfen mit besonderen Firmen des Orients.

Und wie hatte er in diesem Geschäft gearbeitet! Damals arbeitete man noch! Diese jungen Grünschnäbel kannten kaum die Bedeutung des Wortes. Er hatte sich mit jeder Einzelheit beschäftigt, hatte von allem gewusst, was vorging, und zuweilen die ganze Nacht darüber gesessen. Und immer hatte er seine Agenten selbst ausgesucht und sich etwas darauf zugute getan. Seine Menschenkenntnis, hatte er immer gesagt, sei das Geheimnis seines Erfolges, und die Ausübung dieser meisterhaften Kunst der Auswahl wäre das Einzige von allem gewesen, was ihm wirklich Freude gemacht hätte. Eigentlich war es kein Beruf für einen Mann mit seinen Fähigkeiten. Selbst jetzt, wo das Geschäft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt war und anfing zurückzugehen (er hatte seine Anteile längst heraus), empfand er einen bitteren Kummer, wenn er jener Zeit gedachte. Wie viel besser hätte er es haben können! Als Anwalt hätten glänzende Erfolge gewunken! Er hatte sogar daran gedacht, es mit dem Parlament zu versuchen. Wie oft hatte Nicholas Treffry zu ihm gesagt: »Du könntest alles machen, Jo, wenn du nicht so verdammt vorsichtig wärst!« Der liebe alte Nick! Ein so guter Kerl, aber ein wilder Geselle! Der berüchtigte Treffry! Er war nie vorsichtig gewesen. Nun war er tot. Der alte Jolyon zählte seine Zigarren mit fester Hand und fragte sich im Stillen, ob er nicht vielleicht zu vorsichtig gewesen war.

Er steckte das Zigarrenetui in die Brusttasche seines Rockes, knöpfte sie zu und stieg die hohe Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, wobei er schwer einen Fuß nach dem anderen aufsetzte und sich am Geländer hielt. Das Haus war zu groß. Sobald June verheiratet war, wenn sie diesen Burschen wirklich jemals heiratete, was sie sicherlich tun würde, wollte er es vermieten und eine Wohnung nehmen. Wozu ein halbes Dutzend Dienstboten halten, die nichts zu tun hatten.

Auf sein Klingeln kam der Butler herein – ein großer Mann mit einem Bart, leisem Tritt und einer besonderen Gabe zu schweigen. Der alte Jolyon befahl ihm, seine Sachen herauszulegen, denn er wolle im Klub speisen.

Wie lange sei der Wagen zurück, seitdem er Miss June zum Bahnhof gebracht habe? Seit zwei Uhr? Dann solle er um halb sieben vorfahren.