Die Frau des Rabbiners - Amelia Doyle - E-Book

Die Frau des Rabbiners E-Book

Amelia Doyle

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Beschreibung

Emily Horowitz ist als Künstlerin, Frau eines modern-orthodoxen Rabbiners und Mutter zweier Söhne einiges an Chaos gewohnt. Ein spontaner Umzug nach Dublin bringt sie jedoch völlig aus dem Gleichgewicht. Was hatte sich ihr Mann nur dabei gedacht, ausgerechnet in Dublin eine neue Stelle anzunehmen? Und das ohne sich vorher mit ihr abzusprechen! In Irland angekommen, ignoriert sie Andrew, der viel lieber als Mordechai durch die Welt geht, mehr denn je. Emily vermisst ihre Freunde und Familie ungemein. Dann lernt sie plötzlich Joshua kennen, mit dem sie mehr gemeinsam hat, als ihr lieb ist... Als dann auch noch lang gehütete Familiengeheimnisse ans Licht kommen, ist das Schlamassel perfekt.

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Ame­lia Doy­le 

Die Frau des Rab­bi­ners

Ro­man

Ame­lia Doy­le, ge­bo­re­ne Co­hen, ist eine irisch-ös­ter­rei­chi­sche Au­to­rin und Po­li­to­lo­gin mit Wohn­sitz in Ir­land. Ge­mein­sam mit ih­rem Mann Ja­mes und ih­ren Hun­den An­gus und Bar­na­by, lebt sie in ei­nem wun­der­schö­nen Vor­ort Du­blins.

Die Frau des Rab­bi­ners

© 2023 Ame­lia Doy­le

E-Book © 2023 BRINKLEY Ver­lag

Ohne schrift­li­che Ge­neh­mi­gung des Her­aus­ge­bers darf kein Teil die­ser Pu­bli­ka­ti­on in ir­gend­ei­ner Form ­ver­viel­fäl­tigt, über­tra­gen oder ge­spei­chert wer­den.

So­wohl die im Buch vor­kom­men­den Per­so­nen als auch die Hand­lun­gen sind vom Au­tor frei er­fun­den. ­Na­men und Ähn­lich­kei­ten mit Per­so­nen oder tat­säch­li­chen Hand­lun­gen sind zu­fäl­lig und nicht ge­wollt.

Satz: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de

Lek­to­rat: Nora PreußKor­rek­to­rat: Ma­nue­la Teng­ler

©Um­schlag­ge­stal­tung: Steph Bun­cherwww.steph­bun­cher­de­sign.co.uk

ISBN 978-3-903392-07-6

www.brinkley-ver­lag.at

Die Frau des Rab­bi­ners

.רבד לכל ןמז שי דימתו ,ידמ לודג אוהש ץמאמ ןיא ,םיבהואשכ

(‘Abdu‘l-Bahá)

.ישפנ הבהאש תא יתאצמ

(Shir Ha­Shi­rim 3:4)

Glossar

Aba: Papa/Va­ter

Asch­ke­n­asisch: zen­tral-, ost­eu­ro­pä­isch

Baal Shem Tov: ei­gent­lich Rab­bi Is­ra­el ben ­Elie­zer (1698 – 1760). Jü­di­scher Mys­ti­ker, ­Hei­ler und der Be­grün­der des Chas­si­dis­mus; des from­men Ju­den­tums.

Baa­l­ei Tes­hu­wa: Ju­den, die nicht re­li­gi­ös er­zo­gen wor­den sind und sich spä­ter dazu ent­schei­den, ein jü­disch or­tho­do­xes Le­ben zu füh­ren.

Bar Mitz­wah (Pl. Bnei Mitz­wah): Fei­er der ­re­li­gi­ösen Mün­dig­keit ei­nes Jun­gen (mit 13 Jah­ren).

Bat Mitz­wah (Pl. Bnot Mitz­wah): Fei­er der re­li­gi­ösen Mün­dig­keit ei­nes Mäd­chens (mit 12 Jah­ren).

Chag Sa­me­ach: He­brä­i­scher Fest­tags­gruß

Chal­lah: Ge­floch­te­ner bri­oche­ar­ti­ger He­fe­zopf, der tra­di­ti­o­nell vor al­lem von zen­tral- und ost­eu­ro­pä­i­schen Ju­den am Schab­bat und an den meis­ten Fei­er­ta­gen ge­ges­sen wird.

Chal­lah­brett/Chal­lah­tel­ler: Brett oder Tel­ler, auf dem die Chal­lah ge­legt wird.

Chal­lah­de­cke: Tra­di­ti­o­nel­les Tuch, mit dem die Chal­lah vor dem Se­gens­spruch ab­ge­deckt wird.

Cha­nuk­kah: Das acht­tä­gi­ge Lich­ter­fest, das an die Wie­der­ein­wei­hung des zwei­ten Tem­pels in Je­ru­sa­lem (164 v. d. Z.) er­in­nert.

Chup­pah: Hoch­zeits­balda­chin

Get (Pl. Git­tin): Schei­de­brief, den ein or­tho­do­xer Jude sei­ner Frau als Zei­chen der Tren­nung über­gibt.

Hag­ga­dah: An­lei­tung für den Se­der­abend zu Pes­sach, die die Ge­schich­te des Ex­odus aus Ägyp­ten wie­der­gibt.

Ha­lacha: re­li­gi­ös-recht­li­che Grund­la­ge des ­jü­di­schen Le­bens.

Ha­man­ta­schen: Tra­di­ti­o­nel­le Kek­se, die an Pu­rim ge­ba­cken wer­den.

Havda­lah: Ein jü­di­sches Ri­tu­al, das am Sams­tag­abend das Ende des Schab­bats und den Be­ginn der neu­en Wo­che kenn­zeich­net.

Ima: Mama/Mut­ter

Jom Kip­pur: Jom Kip­pur ist der jü­di­sche Ver­söh­nungs­tag und zu­gleich der höchs­te Fei­er­tag im ­jü­di­schen Ka­len­der. Er wird als Fas­ten-, Buß- und Bet­tag be­gan­gen.

Kan­tor: Vor­be­ter in der Syn­ago­ge

Ke­tu­bah: Jü­di­scher Ehe­ver­trag, der auf Ara­mä­isch ge­schrie­ben ist und die Ver­pflich­tun­gen ei­nes Man­nes sei­ner Ehe­frau ge­gen­über auf­lis­tet und fest­hält.

Kid­dusch: der Se­gen über den Wein am Schab­bat oder ei­nem Fei­er­tag.

Kid­dusch­be­cher/Kid­dusch­glas: Be­cher oder Glas, der für den Wein ver­wen­det wird.

Kip­pa (Pl. Kip­pot): Kopf­be­de­ckung ei­nes re­li­gi­ösen jü­di­schen Man­nes.

Kaschrut/Ko­scher: ri­tu­el­le Rein­heits­ge­set­ze. ­Um­fasst haupt­säch­lich Spei­se­ge­set­ze.

La­schon Hara: Der ha­la­chi­sche Be­griff für »üble Nach­re­de«

Lat­kes: Kar­tof­fel­puf­fer

Ma­Ha­Ral von Prag (Ab­kür­zung für Mor­ei­nu ­ha-Rav Loew – un­ser Leh­rer Rab­bi Löw): ei­gent­lich Ju­dah Löw oder Je­hu­da ben Be­zel’el Löw (zwi­schen 1512 und 1526 – 1609). Der Ma­Ha­Ral war ein ­jü­di­scher Rab­bi­ner, Tal­mu­dist und Phi­lo­soph.

Mam­ser: Nach jü­di­schem Ge­setz ein Nach­kom­me ei­ner ver­bo­te­nen Be­zie­hung.

Mat­zen­knö­del­sup­pe: Eine tra­di­ti­o­nel­le Sup­pe, die vor al­lem von zen­tral– und ost­eu­ro­pä­isch ­stäm­mi­gen Ju­den zu Pes­sach ge­ges­sen wird.

Ma­zel Tov: Jid­di­scher Aus­druck der »Viel Glück« be­deu­tet, aber auch »Herz­li­chen Glü­ck­wunsch«.

Me­su­sa: Eine mit ei­nem Per­ga­ment ge­füll­te Schrift­kap­sel, die im obe­ren Drit­tel des rech­ten Tür­pfos­tens an­ge­bracht wird.

Pes­sach: Pes­sach ist ei­ner der wich­tigs­ten jü­di­schen Fei­er­ta­ge, der an den Aus­zug aus Ägyp­ten er­in­nert. Pes­sach ist ne­ben Scha­wuot und Suk­kot ei­nes der drei Wall­fahrts­fes­te.

Pes­sach Se­der: das ze­re­mo­ni­el­le Pes­sach-Es­sen.

Pu­rim: Re­li­gi­öses Los­fest, an dem es Brauch ist, sich zu ver­klei­den, fröh­lich zu sein und sich zu ­be­trin­ken. Er­in­nert an die Ret­tung per­si­scher Ju­den durch Esther.

Rab­bi/Rab­bi­ner: Jü­di­scher Geist­li­cher

Reb­bet­zin: Frau des Rab­bi­ners

Rosh Hasha­nah: Jü­di­sches Neu­jahr

Rosh Hasha­nah Se­der: Das ze­re­mo­ni­el­le Rosh Hasha­nah-Es­sen

Schab­bat: der 7. Tag der Schöp­fung und ab­so­lu­ter Ru­he­tag. Be­ginnt Frei­tag­abend und en­det Sams­tag­abend.

Schab­bat­be­glei­ter: Be­gleit­buch, um dem ze­re­mo­ni­el­len Teil ei­nes Schab­bat-Es­sens bes­ser fol­gen zu kön­nen.

Scha­wuot: Wo­chen­fest. Er­in­nert an die Über­g­a­be der Zehn Ge­bo­te an Mo­ses. Scha­wuot ist ne­ben Suk­kot und Pes­sach ei­nes der drei Wall­fahrts­fes­te.

Se­der/Se­der­abend: das ze­re­mo­ni­el­le Pes­sach-Es­sen. In man­chen Ge­mein­den wird auch der ze­re­mo­ni­el­le Teil des Rosh Hasha­nah-Es­sens als Se­der be­zeich­net.

Shi­va: Die Shi­va ist eine ein­wö­chi­ge Trau­e­r­zeit, bei dem sich die Fa­mi­li­en­mit­glie­der tra­di­ti­o­nell im Haus des Ver­stor­be­nen tref­fen, um Be­such zu emp­fan­gen.

Suk­kot: Laub­hüt­ten­fest. Auch als Ern­te­dank­fest be­kannt. Suk­kot ist ne­ben Scha­wuot und Pes­sach ei­nes der drei Wall­fahrts­fes­te.

So­fer STaM: Un­ter dem Be­griff So­fer StaM ­ver­steht man im Ju­den­tum einen pro­fes­si­o­nel­len Schrei­ber, der sich mit dem kunst­vol­len Schrei­ben re­li­gi­öser Tex­te wie z. B. To­rahrol­len, Me­su­sot, ­Tef­fi­lin, Ke­tu­bot und an­de­ren re­li­gi­ösen Tex­ten be­fasst.

Tal­lit: Ge­bets­schal, der von jü­di­schen Män­nern wäh­rend des Mor­gen­ge­bets ge­tra­gen wird.

Te­hi­lim: Psal­men

Te­fil­lin: Le­der­ne Ge­bets­rie­men, die aus zwei ­Tei­len be­ste­hen und werk­tags als Kap­seln auf der Stirn und dem lin­ken Ober­arm ge­tra­gen wer­den. In den Kap­seln be­fin­den sich mit To­rah­ver­sen ­be­schrie­be­ne Per­ga­men­t­rol­len.

To­rah: Die To­rah um­fasst die fünf Bü­cher Mose und dient als Haupt­quel­le jü­di­schen Rechts, ­Bräu­che, Tra­di­ti­o­nen und der Ethik. Sie ist in ­Ab­schnit­te un­ter­teilt, die über den Zeit­raum ei­nes Jah­res hin­weg wö­chent­lich in der Syn­ago­ge ge­le­sen wer­den.

Tzi­zit/Tzi­zi­ot: Fran­sen mit Kno­ten, die sich an den vier Ecken des Ge­bets­schals be­fin­den. Die ­Fä­den und Kno­ten er­in­nern an die 613 Ge­bo­te, die gläu­bi­ge Ju­den be­fol­gen.

Tz­ni­ut: Ver­hal­tens- und Klei­dungs­re­geln.

Yen­ta: Jid­di­scher Aus­druck für Tratsch­tan­te.

Yes­hi­va: Eine jü­di­sche Hoch­schu­le, an der sich männ­li­che Schü­ler dem To­rah- und Tal­mud­s­tu­di­um wid­men.

Prolog

Damals

Emi­ly Gold­blum war­te­te am Fuße des Kar­mel­ge­bir­ges in Hai­fa, nicht un­weit des Ha­ga­na Denk­mals un­ge­dul­dig auf ihre bes­te und äl­tes­te Freun­din Dvor­ah Ka­na­r­fo­gel. Seit­dem sich die bei­den Frau­en vor ein paar Jah­ren an der lo­ka­len Kunst­aka­de­mie ken­nen­ge­lernt hat­ten, wa­ren sie un­zer­trenn­lich und tra­fen sich je­den Frei­tag, um an den wö­chent­li­chen, von ei­ner un­ab­hän­gi­gen Or­ga­ni­sa­ti­on für re­li­gi­öse nord­ame­ri­ka­ni­sche Ein­wan­de­rer or­ga­ni­sier­ten, gut be­such­ten Sin­gle-Wan­de­run­gen teil­zu­neh­men.

So­wohl Emi­ly als auch die me­lan­cho­li­sche Dvor­ah stamm­ten aus New York und wa­ren als Ju­gend­li­che mit ih­ren Fa­mi­li­en nach Is­ra­el aus­ge­wan­dert. Es kam bei­den Frau­en wie eine ge­fühl­te Ewig­keit vor, dass sie ihre alte Hei­mat hin­ter sich ge­las­sen hat­ten. Heu­te konn­ten sich bei­de ein Le­ben au­ßer­halb des Na­hen Os­tens kaum noch vor­stel­len.

Wäh­rend Dvor­ahs Fa­mi­lie schon im­mer in Is­ra­el le­ben woll­te, hat­ten Sa­mu­el und Eli­za Gold­blum nie ge­plant, mit ih­ren drei Töch­tern vom so­ge­nann­ten Rü­ck­kehr­ge­setz Ge­brauch zu ma­chen, das es je­der jü­di­schen Per­son und je­der Per­son mit ei­nem jü­di­schen Gro­ß­el­tern­teil er­laub­te, sich in Is­ra­el nie­der­zu­las­sen. Die Fa­mi­lie war nicht son­der­lich re­li­gi­ös und ging, wenn über­haupt, nur zu den ho­hen Fei­er­ta­gen in eine der vie­len li­be­ra­len Syn­ago­gen, die man in den Stra­ßen New Yorks fin­den konn­te. Die Gold­blums schick­ten ihre Töch­ter nach de­ren Bnot Mitz­wah auch nie in den He­brä­isch-Un­ter­richt, der von ih­rer Syn­ago­ge für Ju­gend­li­che an­ge­bo­ten wur­de, und auch in kei­ne der un­zäh­li­gen jü­di­schen Pri­vat­schu­len. Sie wa­ren Hu­ma­nis­ten und woll­ten, dass ihre Töch­ter eine nicht-re­li­gi­öse Schul­bil­dung ge­nos­sen. Ihre Töch­ter hat­ten auch selbst ent­schei­den dür­fen, ob sie eine Bat Mitz­wah über­haupt ha­ben woll­ten. We­der Eli­za noch Sa­mu­el hat­ten sie je zu ir­gen­d­et­was ge­zwun­gen. Der ein­zi­ge Grund, war­um sie an den ho­hen Fei­er­ta­gen in die Syn­ago­ge gin­gen, war, um Eliz­as Gro­ß­el­tern einen Ge­fal­len zu tun. Es hat­te mehr mit Tra­di­ti­on und Re­spekt als mit dem Glau­ben selbst zu tun.

Emi­lys Va­ter Sa­mu­el hat­te schon im­mer eine Pas­si­on für Ma­the­ma­tik ge­habt und stu­dier­te erst an der Co­lum­bia Uni­ver­si­ty, be­vor er nach Yale wech­sel­te, um dort sei­nen Dok­tor­ti­tel zu ma­chen. Als Sohn ei­nes Ma­the­ma­ti­k­leh­rers hat­te er sich im Land der Zah­len im­mer am wohls­ten ge­fühlt. Ger­ne dach­te er an die Zeit zu­rück, als er als Kind und Ju­gend­li­cher mit sei­nem Va­ter spa­ßes­hal­ber kom­pli­zier­te­re Ma­the­ma­ti­k­auf­ga­ben ge­löst hat­te. Sa­mu­el be­saß ein Ta­lent, das wäh­rend sei­ner Uni­ver­si­täts­zeit nicht un­ent­deckt blieb. Sein Dok­tor­va­ter, der aus ­Lon­don stam­men­de Pro­fes­sor Thorn­ton, war so be­geis­tert von ­Sa­mu­el, dass er ihm zu sei­ner ers­ten Stel­le als Wirt­schafts­ma­the­ma­ti­ker in ei­nem der größ­ten und er­folg­reichs­ten Un­ter­neh­men des Lan­des ver­ha­lf. Sa­mu­el war auf sei­nem Ge­biet sehr er­folg­reich. Doch so rich­tig glü­ck­lich mach­te ihn sein Le­ben nicht. Er ar­bei­te­te viel zu viel und be­kam sei­ne Fa­mi­lie kaum zu Ge­sicht. Wenn er nicht in sei­nem Büro in New York war, be­fand er sich in ei­nem Flug­zeug nach Lon­don, Pa­ris, Frank­furt, To­ron­to oder San Fran­cis­co. Je­des Mal, wenn er das Haus ver­ließ, zer­brach et­was in ihm.

Es schmerz­te Sa­mu­el zu­tiefst, dass er die ers­ten Le­bens­jah­re sei­ner Töch­ter Mol­ly und Lucy ver­passt hat­te. Mit Emi­lys Ge­burt wur­de al­les an­ders. Sa­mu­el woll­te mehr Zeit zu Hau­se ver­brin­gen und für sei­ne Fa­mi­lie da sein. Mit et­was Glück und sehr gu­ten Kon­tak­ten, die er über die Jah­re hin­weg ge­pflegt hat­te, ge­lang es ihm, eine Pro­fes­sur an der New York Uni­ver­si­ty zu er­lan­gen. Sa­mu­el war von dem Punkt an, ob­wohl sich sein Ge­halt hal­biert hat­te, viel zu­frie­de­ner als je zu­vor mit sei­nem Le­ben. Er ar­bei­te­te noch im­mer mit Zah­len und konn­te sein Wis­sen an die nächs­te Ge­ne­ra­ti­on wei­ter­ge­ben. Sa­mu­el war ein lei­den­schaft­li­cher Leh­rer. Für ihn ging es nicht um Pres­ti­ge oder An­er­ken­nung, er woll­te die wiss­be­gie­ri­gen Stu­den­ten in sei­nem Hör­saal ein­fach nur für sein Feld be­geis­tern.

Auch die Gold­blum-Schwes­tern und ihre Mut­ter Eli­za merk­ten schnell, wie glü­ck­lich Sa­mu­el mit sei­ner Ar­beit an der Uni­ver­si­tät war. Es ver­ging kein Tag, ohne dass er ih­nen vom Cam­pus­le­ben vor­schwärm­te. Vor al­lem Mol­ly war froh dar­über, dass ihr Va­ter nicht mehr alle zwei Wo­chen weg muss­te. Die gan­ze Fa­mi­lie ge­noss ihr Le­ben in New York und hat­te nie dar­an ge­dacht, ihre wun­der­schö­ne Woh­nung mit Blick auf den Bo­ta­ni­schen Gar­ten, in dem vor al­lem Emi­ly als jun­ges Mäd­chen un­zäh­li­ge Stun­den ver­bracht hat­te, um Zeich­nun­gen von Blu­men an­zu­fer­ti­gen, zu ver­las­sen. Es gab für sie kei­nen schö­ne­ren Ort in der gan­zen Stadt. Nicht ein­mal das MoMa.

Eli­za und ihre an Kunst in­ter­es­sier­ten Töch­ter Lucy und Emi­ly gin­gen jede Wo­che ins Mu­se­um, um an un­ter­schied­li­chen Ver­an­stal­tun­gen teil­zu­neh­men oder durch die lieb ge­won­ne­nen Ausstel­lun­gen zu schlen­dern. Eli­za hat­te sehr früh er­kannt, dass ihre bei­den jün­ge­ren Töch­ter frü­her oder spä­ter selbst pro­fes­si­o­nel­le Künst­le­rin­nen sein wür­den, und un­ter­stütz­te sie von klein auf mit vol­lem Her­zen in ih­rem Vor­ha­ben.

Als Emi­ly fünf­zehn Jah­re alt war, be­kam ihr Va­ter die Mög­lich­keit, für ein Jahr an der re­nom­mier­ten He­brew Uni­ver­si­ty in Je­ru­sa­lem zu leh­ren. Sa­mu­el sag­te spon­tan zu, ohne es vor­her mit sei­ner Fa­mi­lie zu be­spre­chen. Eli­za war von der Idee be­geis­tert. Zu Be­ginn zö­ger­te Emi­ly ein we­nig und woll­te ihre El­tern nicht nach Is­ra­el be­glei­ten. Sie sprach kaum He­brä­isch, kann­te dort nie­man­den und woll­te in ih­rer Hei­mat­stadt blei­ben. Mol­ly, die sie­ben Jah­re äl­ter als Emi­ly war und be­reits in Chi­ca­go Me­di­zin stu­dier­te, bot ih­ren El­tern an, ihre klei­ne Schwes­ter zu sich zu ho­len und sich um sie zu küm­mern. Für Eli­za kam es nicht in­fra­ge, ihre jüngs­te Toch­ter in Ame­ri­ka zu­rück­zu­las­sen. Sie woll­te von al­le­dem nichts hö­ren. Auch Sa­mu­el wei­ger­te sich, dem zu­zu­stim­men. Ihm war es wich­tig, dass Mol­ly sich voll und ganz auf ihr Stu­di­um kon­zen­trier­te.

Die da­mals acht­zehn­jäh­ri­ge Lucy war von dem be­vor­ste­hen­den Um­zug ge­nau­so be­geis­tert wie ihre Mut­ter. Sie lieb­te Is­ra­el und sah so­gar den zwei­jäh­ri­gen Ar­mee­dienst, den jede is­ra­e­li­sche Frau ab­sol­vie­ren muss­te, als eine Chan­ce, um sich so schnell wie mög­lich zu in­te­grie­ren und neue Freun­de zu fin­den. Es ver­blüff­te Eli­za als An­thro­po­lo­gin im­mer wie­der, wie un­ter­schied­lich ihre Töch­ter doch wa­ren, auch wenn sie ähn­li­che In­ter­es­sen hat­ten. Ihre äl­tes­te Toch­ter Mol­ly schien ihr am ähn­lichs­ten zu sein. Zu­ver­läs­sig, streb­sam, ana­ly­tisch. Sie war die per­fek­te Mi­schung aus ihr und Sa­mu­el. Lucy war schon im­mer ein Frei­geist ge­we­sen. Das kom­plet­te Ge­gen­teil ih­rer El­tern. Sa­mu­el war fas­zi­niert von sei­ner mitt­le­ren Toch­ter. Ob­wohl sie sich mit je­der Fa­ser von­ein­an­der un­ter­schie­den, hat­ten sie ein au­ßer­or­dent­lich gu­tes Ver­hält­nis. Wenn die bei­den in ein Ge­spräch mit­ein­an­der ver­tieft wa­ren, trau­te sich nicht ein­mal Eli­za, sie da­bei zu stö­ren.

Emi­ly wie­der­um ver­blüff­te ihre El­tern. Struk­tu­rel­les Den­ken? Fehl­an­zei­ge. Lo­gik? Kaum nach­voll­zieh­bar. Es hat in der Fa­mi­lie Gold­blum sel­ten ein kre­a­ti­ver­es Kind ge­ge­ben. Eli­za ver­stand oft nicht, wie ihre jüngs­te Toch­ter letzt­end­lich all ihre Zie­le er­reich­te. Als Emi­ly noch jün­ger war, hat­te Eli­za das Ver­lan­gen, sie als For­schungs­ob­jekt zu ver­wen­den, wo­ge­gen sich Sa­mu­el ve­he­ment sträub­te. Er woll­te nicht, dass Emi­lys gan­zes Le­ben zu ei­ner For­schungs­a­r­beit mu­tier­te, nur weil sei­ne Frau neu­gie­rig war, war­um sich ihre Toch­ter ver­hielt, wie sie sich ver­hielt. Ihm war be­wusst, dass Eli­za meh­re­re Bü­cher über das Ver­hal­ten ih­rer ge­mein­sa­men Toch­ter hät­te schrei­ben kön­nen, doch sah er den Sinn dar­in nicht.

So­wohl Eli­za als auch Sa­mu­el wa­ren mehr als ver­blüfft, als Emi­ly ih­nen mit fünf­und­zwan­zig Jah­ren of­fen­bar­te, dass sie sich dazu ent­schlos­sen hat­te, ein jü­disch-or­tho­do­xes Le­ben zu füh­ren. Zu Be­ginn hat­ten ihre El­tern sie nicht ernst ge­nom­men und wa­ren fel­sen­fest da­von über­zeugt ge­we­sen, dass es sich um einen Scherz han­del­te. Sie konn­ten sich ein­fach nicht vor­stel­len, dass Emi­ly in der Lage war, sich an strik­te Re­geln zu hal­ten, re­li­gi­ös oder nicht, oder sämt­li­che Ri­ten und Prak­ti­ken bis ins kleins­te De­tail zu be­fol­gen, so wie es im or­tho­do­xen Ju­den­tum üb­lich war.

Eli­za ver­mu­te­te, dass es sich um eine Pha­se der Re­bel­li­on han­del­te oder dass sich ihre Toch­ter wäh­rend ih­rer Zeit auf der Kunst­aka­de­mie in Hai­fa in einen re­li­gi­ösen Ju­den ver­liebt hat­te. Sa­mu­el war et­was prag­ma­ti­scher als sei­ne Frau, was sei­ne jüngs­te Toch­ter be­traf. Er nahm an, dass Emi­ly sich wäh­rend ih­rer Stu­di­en­zeit mit ein paar re­li­gi­ösen Kom­mi­li­ton­in­nen an­ge­freun­det und in de­ren Le­bens­stil ver­liebt hat­te. Sie war schon im­mer et­was ru­hi­ger und zu­rück­hal­ten­der, auch kon­ser­va­ti­ver als ihre bei­den äl­te­ren Schwes­tern. Es hät­te ihn nicht ge­wun­dert.

We­der ihre Mut­ter noch ihr Va­ter hat­ten recht mit ih­ren Ver­mu­tun­gen. Was wirk­lich ge­sche­hen war, war, dass Emi­ly eine tie­fe Be­wun­de­rung für eine in Hai­fa le­ben­de Künst­le­rin heg­te, die sie in ei­ner Ga­le­rie ken­nen­ge­lernt hat­te, in der sie re­gel­mä­ßig nach ih­ren Vor­le­sun­gen und Work­shops aus­ha­lf.

Orly Sa­r­fa­ti war da­mals be­reits über acht­zig Jah­re alt, hat­te zehn Kin­der, fünf­un­d­acht­zig En­kel­kin­der und sie­ben­und­drei­ßig Ur­en­kel. Ihr Va­ter Yus­uf und ihre Mut­ter Rucha­ma stamm­ten aus an­ge­se­he­nen ägyp­ti­schen Künst­ler­fa­mi­li­en und hat­ten Orly das Ta­lent in die Wie­ge ge­legt.

In Hai­fa ge­bo­ren, spe­zi­a­li­sier­te sie sich im zar­ten Al­ter von ein­und­zwan­zig Jah­ren auf bib­li­sche Kunst. Orly hat­te nie auf­ge­hört, Kunst­wer­ke zu kre­i­e­ren. Nicht wäh­rend ih­rer Schwan­ger­schaf­ten, nicht nach den Ge­bur­ten ih­rer Kin­der, En­kel oder Ur­en­kel. Sie ar­bei­te­te vor­wie­gend mit Tu­sche. Ihre Schwa­rz-Weiß-Ge­mäl­de wa­ren nicht nur in un­zäh­li­gen jü­di­schen Mu­se­en auf der gan­zen Welt ver­streut, son­dern auch in zahl­rei­chen Häu­sern, Woh­nun­gen und Un­ter­neh­men. Emi­ly war von der ers­ten Se­kun­de an fas­zi­niert von die­ser Frau, die all das ver­kör­per­te, wo­nach sich Emi­ly so sehr sehn­te: künst­le­ri­schen Er­folg und ein er­füll­tes Fa­mi­li­en­le­ben.

Seit­dem die Gold­blums nach Je­ru­sa­lem ge­zo­gen wa­ren, wo Emi­ly tag­täg­lich auf gläu­bi­ge Frau­en traf, sehn­te sie sich nach ei­nem re­li­gi­ösen Le­ben. Sie konn­te sich selbst nicht so ge­nau er­klä­ren, war­um. Be­reits nach ih­rer Zeit im Mi­li­tär hat­te sie ver­sucht, sich ih­rer Schwes­ter Lucy an­zu­ver­trau­en. Die warf ihr le­dig­lich vor, dass sie sich wäh­rend ih­res Wehr­diens­tes ei­ner Ge­hirn­wä­sche un­ter­zo­gen hat­te. Von dem Mo­ment an er­wähn­te Emi­ly ih­ren Wunsch, ein re­li­gi­öses Le­ben zu füh­ren, nicht mehr und ver­such­te, die­ses Ver­lan­gen zu un­ter­drü­cken. Auch Lucy schnitt die­ses The­ma nie wie­der an.

Aus­ge­rech­net in Hai­fa und nicht in Je­ru­sa­lem, ver­lieb­te sich Emi­ly nicht nur in jü­di­sche Kunst, son­dern auch in einen re­li­gi­ösen Le­bens­stil. Nach ih­rer Aus­bil­dung ar­bei­te­te Emi­ly ei­ni­ge Jah­re als Eng­lisch­leh­re­rin, um sich ein klei­nes Ate­li­er nicht un­weit von Or­lys zu mie­ten. Fünf Jah­re spä­ter ge­lang es ihr noch im­mer nicht, die­se mul­ti­kul­tu­rel­le Stadt zu ver­las­sen, was nicht nur mit Orly zu tun hat­te, die über Jah­re hin­weg zu ei­ner gu­ten Freun­din und Ver­trau­ten ge­wor­den war, son­dern auch mit dem wun­der­schö­nen Kar­mel­ge­bir­ge, das Emi­ly tag­täg­lich aufs Neue in­spi­rier­te. Ihr Ge­fühl sag­te ihr, dass es noch nicht an der Zeit war, nach Je­ru­sa­lem zu­rück­zu­keh­ren.

»Dvor­ah! Da bist du ja end­lich!« Emi­ly um­arm­te ihre Freun­din zur Be­grü­ßung.

»Es tut mir so leid, dass ich zu spät bin, Emi­ly. Aber mei­ne Schwes­ter Mus­h­ky fliegt nach dem Schab­bat ins Fe­ri­en­la­ger nach Ame­ri­ka und ich habe mei­ner Mut­ter mit den Vor­be­rei­tun­gen für heu­te Abend ge­hol­fen. Wir be­kom­men von ein paar Freun­den und Ver­wand­ten Be­such. Ima hat dich üb­ri­gens auch ein­ge­la­den und freut sich schon dar­auf, dich zu se­hen.« Dvor­ah wisch­te sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Ob­wohl Dvor­ah aus ei­nem mo­dern-or­tho­do­xen Haus kam, be­stand sie dar­auf, nur dunk­le Fa­r­ben zu tra­gen, Leg­gings oder Strumpf­ho­sen un­ter ih­ren Rö­cken und Klei­dern an­zu­zie­hen und nur Ober­tei­le zu tra­gen, die so­wohl ihre Ell­bo­gen als auch ihr Schlüs­sel­bein be­deck­ten. Seit­dem Emi­ly Dvor­ah kann­te, woll­te die­se von ei­ner mo­der­nen In­ter­pre­ta­ti­on des or­tho­do­xen Ju­den­tums nichts wis­sen. An­ders als ihre Ge­schwis­ter woll­te sie ein noch kon­ser­va­ti­ver­es Le­ben füh­ren, als es ihre Fa­mi­lie ihr in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und in Is­ra­el vor­ge­lebt hat­te.

Emi­ly hat­te auch von Dvor­ahs äl­te­ren Schwes­ter Ha­dar be­reits mehr­fach ge­hört, dass ihre El­tern sich mehr und mehr um sie sorg­ten, da sie mit je­dem Ge­burts­tag re­li­gi­öser wur­de. Ih­rer Ver­mu­tung nach, weil die Hei­rats­ver­mitt­le­rin für sie noch im­mer kei­nen po­ten­zi­el­len Bräu­ti­gam ge­fun­den hat­te. Ein Ge­dan­ke, der auch Emi­ly mehr­fach ge­kom­men war. Vor al­lem, als sie das letz­te Mal mit Dvor­ah in der Stadt einen Kaf­fee ge­trun­ken hat­te, be­schlich sie das Ge­fühl, dass ihre Freun­din einen Weg ein­schlug, der ihr auf Dau­er nicht gut­tun wür­de.

Emi­ly woll­te ihre Freun­din nicht ver­lie­ren und ihr zei­gen, wie schön ein Le­ben sein konn­te, das so­wohl die mo­der­ne als auch die spi­ri­tu­el­le Welt in sich ver­ein­bar­te. Dvor­ah konn­te Emi­ly ge­ra­de des­we­gen dazu über­re­den, sie auf die­se wö­chent­li­chen Sin­gle-Wan­de­run­gen im Kar­mel­ge­bir­ge zu be­glei­ten. Zu Be­ginn hat­te sich Emi­ly ge­wei­gert, mit­zu­kom­men, da sie nicht das Ver­lan­gen hat­te, ihre Frei­tag Nach­mit­tage bei über drei­ßig Grad im Schat­ten wan­dernd zu ver­brin­gen.

Emi­ly und Dvor­ah wa­ren bei­de auf der Su­che nach der gro­ßen Lie­be, nach ih­ren See­len­ver­wand­ten und emp­fan­den es als wich­tig, einen Part­ner zu fin­den, der nicht nur zu ih­nen pass­te, son­dern auch einen ähn­li­chen kul­tu­rel­len Hin­ter­grund hat­te. So­wohl Emi­ly als auch Dvor­ah sehn­ten sich nach ei­ner Ehe mit ei­nem Ame­ri­ka­ner oder ei­nem Ka­na­di­er, der mit ih­nen in Is­ra­el le­ben woll­te. Emi­ly und Dvor­ah be­fan­den sich schon so lan­ge im Na­hen Os­ten, dass sie es sich nicht mehr vor­stel­len konn­ten, ganz nach Nord­ame­ri­ka zu­rück­zu­keh­ren. Bei­de lieb­ten es, in ei­nem jü­di­schen Staat zu le­ben, ei­nem Land, in dem sie nicht die Min­der­heit wa­ren und sich nicht für re­li­gi­öse Fei­er­ta­ge frei­neh­men muss­ten. Ei­nem Land, in dem fast das gan­ze Jahr über die Son­ne schien, mit dem Meer di­rekt vor der Haus­tür, und so viel Ge­schich­te und Kul­tur, wie man sie an kaum ei­nem an­de­ren Ort auf die­ser Welt fin­den konn­te.

Da Emi­ly we­der re­li­gi­ös auf­ge­wach­sen war, noch aus ei­ner re­li­gi­ösen Fa­mi­lie stamm­te, woll­te sie mit kei­ner der vie­len Hei­rats­ver­mitt­le­rin­nen zu­sam­me­n­a­r­bei­ten und auch ihre El­tern so gut es ging aus der Part­ner­su­che her­aus­hal­ten. Ihr war be­wusst, dass sie die­ser Art von Part­ner­su­che nie zu­stim­men wür­den und es auch nicht ver­ste­hen oder nach­voll­zie­hen konn­ten, war­um man die­sen Weg heut­zu­ta­ge noch ein­schlug. Vie­le der Hei­rats­ver­mitt­le­rin­nen hat­ten au­ßer­dem im­mer noch Vor­ur­tei­le ge­gen­über Frau­en und Män­nern, die ein gläu­bi­ges Le­ben erst spät für sich ent­deckt hat­ten. Was nichts da­mit zu tun hat­te, ob es sich um einen or­tho­do­xen oder mo­dern-or­tho­do­xen Le­bens­weg han­del­te. Das Haupt­pro­blem lag vor al­lem dar­in, dass eine gro­ße An­zahl von Fa­mi­li­en in den je­wei­li­gen Kar­tei­en der Hei­rats­ver­mitt­le­rin­nen ge­nau­so stur war wie die Ver­mitt­le­rin selbst. Sie wa­ren fel­sen­fest da­von über­zeugt, dass Baa­l­ei Tes­hu­va, wie die so­ge­nann­ten Rü­ck­keh­rer ge­nannt wur­den, nichts Gu­tes ins Haus brach­ten. Vie­le gin­gen be­dau­e­r­li­cher­wei­se von An­fang an da­von aus, dass sie dem po­ten­zi­el­len Ehe­part­ner so­wie den zu­künf­ti­gen Kin­dern und En­kel­kin­dern mehr Scha­den als Gu­tes zu­fü­gen wür­den. Emi­ly woll­te sich die­sem Stress nicht aus­set­zen. Sie fand es kom­pli­ziert ge­nug, einen mo­dern-or­tho­do­xen Mann zu tref­fen. Den­noch woll­te sie es auf na­tür­li­che Wei­se tun und nicht, weil je­mand mein­te, dass sie auf dem Pa­pier gut zu­sam­men­pas­sen wür­den.

»Sind die an­de­ren schon da?«, woll­te eine müde Dvor­ah von ih­rer Freun­din wis­sen. Emi­ly ver­nein­te und schüt­tel­te den Kopf. Sie war selbst erst vor we­ni­gen Mi­nu­ten an­ge­kom­men und hat­te noch nie­man­den aus ih­rer Wan­der­grup­pe ent­de­cken kön­nen. Ge­ra­de als Emi­ly sich um­dre­hen woll­te, hör­te sie zwei ihr be­kann­te Stim­men. Es wa­ren die Or­ga­ni­sa­to­ren die­ser wö­chent­li­chen Wan­de­run­gen: die aus To­ron­to stam­men­de Iris und ihr is­ra­e­li­scher, in Mon­tréal auf­ge­wach­se­ner Ehe­mann Yitz­hack Fein­stein. Yitz­hack hat­te sei­ne ge­sam­te Kind­heit und Ju­gend in Ka­na­da ver­bracht und war le­dig­lich in Hai­fa auf die Welt ge­kom­men. Er war kei­ne zwei Jah­re alt ge­we­sen, als sei­ne El­tern Is­ra­el mit ihm und sei­nen Ge­schwis­tern ver­las­sen hat­ten. Ge­mein­sam mit sei­ner Frau leb­te Yitz­hack seit drei Jah­ren in ei­nem Vor­ort der Stadt. Emi­ly wink­te dem Paar zu und ging ge­mein­sam mit Dvor­ah zu ih­nen hin­über. Bis die an­de­ren Teil­neh­mer ein­tru­del­ten, un­ter­hiel­ten sich die vier über das be­vor­ste­hen­de Wo­chen­en­de, das in Is­ra­el be­reits don­ners­tag­abends be­gann.

Wie schon die Wo­chen zu­vor be­fan­den sich aber­mals mehr Män­ner als Frau­en auf der Wan­de­rung. Die Freun­din­nen be­grüß­ten die ih­nen be­kann­ten Ge­sich­ter und plau­der­ten mit ih­nen. Emi­ly konn­te nicht ein­mal mehr an zwei Hän­den ab­zäh­len, wie vie­le Nach­mit­tage sie schon mit Me­nach­em, Zal­man, Ezra, Aki­va, Ba­ruch, Eli, Mi­les, To­bi­as, Cha­na, Bats­he­va und Mi­ri­am ver­bracht hat­te. Für sie war es mitt­ler­wei­le zu ei­ner klei­nen Tra­di­ti­on ge­wor­den, sich mit die­ser Grup­pe zu tref­fen.

In der Fer­ne er­kann­te Emi­ly die Brü­der Jo­seph und Abra­ham Co­hen, die wie im­mer die Schwes­tern Ra­chel und Re­bec­ca Weiz­mann im Schlepp­tau hat­ten. Über die letz­ten Wo­chen hin­weg war Emi­ly be­reits auf­ge­fal­len, dass die vier sich blen­dend mit­ein­an­der ver­stan­den und un­zer­trenn­bar ge­wor­den wa­ren. Es war nur noch eine Fra­ge der Zeit, bis sie von ei­ner oder gar zwei Ver­lo­bun­gen hö­ren wür­de. Da war sie sich si­cher. Sie moch­te die Vier und konn­te es kaum er­war­ten, mit ih­nen zu fei­ern. An­ders als Dvor­ah freu­te sich Emi­ly dar­über, wenn Freun­de oder ­Be­kann­te ihre Ver­lo­bun­gen ver­kün­de­ten. Dvor­ah hin­ge­gen schien mit je­dem Mal mehr und mehr zu ver­bit­tern. Als sich eine ih­rer ehe­ma­li­gen Kom­mi­li­ton­in­nen ver­lobt hat­te, konn­te Emi­ly Dvor­ah kaum be­ru­hi­gen. Sie hat­te stun­den­lang ge­weint und Emi­ly ge­fragt, was mit ihr nicht stimm­te, weil sie noch im­mer nie­man­den ken­nen­ge­lernt hat­te.

Dvor­ah stups­te Emi­ly mit ih­rem Ell­bo­gen in die Sei­te und deu­te­te mit dem Kopf in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung, wo ih­nen As­her Levi aus der Fer­ne auf­ge­regt zu­wink­te. Dies­mal war er je­doch nicht al­lei­ne.

As­her stell­te Emi­ly und Dvor­ah sei­nen aus New York stam­men­den Freund An­drew Ho­ro­witz vor.

»Mor­de­chai. Ich ver­wen­de seit Jah­ren den Na­men Mor­de­chai. As­her kann es sich nur nicht mer­ken.« Ein ner­vö­ses Lä­cheln husch­te über das Ge­sicht des Man­nes, der min­des­tens zehn bis fünf­zehn Jah­re äl­ter als sie zu sein schien, was we­der Emi­ly noch ihre Freun­din stör­te.

»Es freut mich, dich ken­nen­zu­ler­nen, Mor­de­chai.« Emi­ly lä­chel­te ihn freund­lich an. Sie ga­ben sich nicht die Hand, da es in ih­ren Krei­sen für Män­ner und Frau­en au­ßer­halb der Fa­mi­lie nicht üb­lich war, sich zu be­rüh­ren.

»Mich auch, Emi­ly. As­her hat mir schon viel von dir, Dvor­ah und den an­de­ren er­zählt.«

Emi­ly war über­rascht, wie selbst­be­wusst Mor­de­chai war und nicht wie vie­le an­de­re Män­ner, die sie auf die­sen Wan­de­run­gen ken­nen­ge­lernt hat­te, per­ma­nent auf den Bo­den starr­te, wann auch im­mer sie mit ih­nen sprach. Auch war sie es gar nicht mehr ge­wohnt, mit ei­nem Mann zu spre­chen, der grö­ßer war als sie oder wie in Mor­de­chais Fall sie so­gar einen Kopf über­rag­te. Mor­de­chais blaue Au­gen mach­ten einen freund­li­chen Ein­druck. Sie konn­te es kaum er­war­ten, ihn nä­her ken­nen­zu­ler­nen. Es pas­sier­te in letz­ter Zeit nicht all­zu oft, dass je­mand Neu­es an den Wan­de­run­gen teil­nahm und schon gar nicht je­mand, bei dem sie erst hin­auf­bli­cken muss­te, um ihm in die Au­gen se­hen zu kön­nen. Emi­ly kam sich in Is­ra­el mit ih­ren eins-vier­und­sieb­zig im­mer wie ein Baum vor, da die meis­ten Frau­en we­sent­lich klei­ner wa­ren. Sie woll­te gar nicht an die gan­zen Män­ner den­ken, die sie be­reits ken­nen­ge­lernt hat­te und oft über­rag­te.

»Jetzt, wo ihr alle da seid, kann es end­lich los­ge­hen!« Iris er­klär­te der Grup­pe, dass sie heu­te eine klei­ne Wan­de­rung durch die fel­si­ge Land­schaft der so­ge­nann­ten Klei­nen Schweiz ma­chen wür­den. Sie ver­si­cher­te sich, dass alle et­was zu trin­ken und ge­nug Pro­vi­a­nt bei sich hat­ten, um die Wan­de­rung zu be­gin­nen. Es war in der Ver­gan­gen­heit zu häu­fig vor­ge­kom­men, dass je­mand mein­te, er hät­te ge­nug zu trin­ken da­bei und dann zu­sam­men­ge­bro­chen war. Iris ließ mitt­ler­wei­le kei­nen mehr mit­kom­men, der nicht min­des­tens ein­ein­halb Li­ter Was­ser da­bei hat­te.

Es dau­er­te nicht all­zu lan­ge, bis sich Emi­ly und Mor­de­chai am Ende der Grup­pe be­fan­den. Emi­ly er­zähl­te ihm, wie sie Dvor­ah ken­nen­ge­lernt hat­te, von ih­rem ge­mein­sa­men Kunst­stu­di­um und ih­rer Ar­beit, wäh­rend Mor­de­chai vol­ler Stolz er­klär­te, dass sei­ne größ­ten Lei­den­schaf­ten das Sin­gen und das Schau­spie­lern wa­ren. Sie war über­rascht, dass er, be­vor er zum or­tho­do­xen Rab­bi­ner­se­mi­nar zu­ge­las­sen wur­de, eine Aus­bil­dung zum Kan­tor ge­macht hat­te.

»Bist du nun Kan­tor ei­ner Syn­ago­ge oder ar­bei­test du als Rab­bi­ner?«

Mor­de­chai er­klär­te Emi­ly, dass er als frei­schaf­fen­der Rab­bi­ner tä­tig war, da er noch kei­ne Ge­mein­de ge­fun­den hat­te, die ihn per­ma­nent ein­stel­len woll­te. »Ne­ben­bei ste­he ich im­mer wie­der auf der Büh­ne ei­nes klei­nen eng­lisch­spra­chi­gen The­a­ters, das ich mit ei­ner Be­kann­ten und ih­rem Mann ge­grün­det habe.«

Emi­ly war von Mor­de­chai und sei­ner Lie­be zu den Küns­ten fas­zi­niert. Sie hat­te noch nie je­man­den wie ihn ken­nen­ge­lernt.

»Wir ha­ben im­mer mal wie­der Auf­füh­run­gen in Hai­fa. Wenn du möch­test, kann ich dir und Dvor­ah Be­scheid ge­ben, wenn wir wie­der mit ei­nem Stück in der Stadt sind.« Mor­de­chai lä­chel­te sie freund­lich an, als sie be­geis­tert zu­sag­te. Es blieb ihm nicht un­be­merkt, wie viel Ener­gie Emi­ly plötz­lich hat­te und wie be­geis­tert sie selbst von The­a­tern und Mu­si­cals war.

»Jetzt bin ich dann doch neu­gie­rig, Mor­de­chai. Was muss ich mir un­ter ei­nem frei­schaf­fen­den Rab­bi­ner vor­stel­len?« Emi­ly konn­te es kaum er­war­ten, mehr über Mor­de­chai zu er­fah­ren. Man konn­te es ihr im Ge­sicht an­se­hen, wie sehr sie sei­ne Ge­sell­schaft ge­noss. Sie ver­such­te gar nicht erst, ihr In­ter­es­se zu ver­ber­gen. Im­mer­hin war sie hier, um den Mann fürs Le­ben zu fin­den und nicht, um un­zäh­li­ge Freund­schaf­ten zu schlie­ßen.

Auch Mor­de­chai ent­spann­te sich zu­neh­mend in ih­rer Ge­gen­wart. »Ich bin ein mo­dern-or­tho­do­xer Rab­bi­ner mit ei­nem ame­ri­ka­ni­schen Ab­schluss, den das hie­si­ge Rab­bi­nat lei­der nicht voll­stän­dig an­er­kennt. Im Mo­ment ar­bei­te ich vor al­lem mit nord­ame­ri­ka­ni­schen Fa­mi­li­en, de­ren Kin­der ihre Bar- oder Bat Mitz­wah in Is­ra­el fei­ern wol­len.«

»Un­ser Rab­bi­nat schafft es mit die­sen Ge­schich­ten im­mer wie­der in die Schlag­zei­len«, seufz­te Emi­ly. »Wie fin­den dich die Fa­mi­li­en? Hast du eine Web­sei­te?«

»Ja. Die meis­ten An­fra­gen be­kom­me ich über mei­ne Web­sei­te oder weil mich Fa­mi­li­en wei­ter­emp­feh­len. Ich schal­te auch im­mer mal wie­der On­line-Wer­bun­gen in di­ver­sen Such­ma­schi­nen. Wenn die El­tern möch­ten, be­rei­te ich ihre Kin­der ein gan­zes Jahr lang im ame­ri­ka­ni­schen Stil auf ihre Bar- oder Bat Mitz­wah vor.«

»Ich bin über­rascht, dass du über­haupt Bnot Mitz­wah an­bie­test.«

»Ich habe lan­ge dar­über nach­ge­dacht. Wie du weißt, tei­len sich die Mei­nun­gen bei die­sem The­ma.« Mor­de­chai seufz­te.

Emi­ly merk­te, dass er nicht dar­über spre­chen woll­te. »Und wo fin­den die Ze­re­mo­ni­en statt, wenn du kei­ne Syn­ago­ge hast?«

»Wo auch im­mer die Fa­mi­li­en fei­ern wol­len. Ver­mehrt je­doch un­ter frei­em Him­mel.« Mor­de­chai dreh­te sich für einen Mo­ment um und blick­te ins Tal hin­un­ter.

»Wun­der­schön hier, nicht wahr?«

Emi­ly konn­te ihm nur zu­stim­men. Das sat­te Grün des Ge­bie­tes vor ih­nen mit dem azur­blau­en Meer am Ho­ri­zont lud zum Träu­men ein. Der Nor­den Is­ra­els war ein­fach nur atem­be­rau­bend. Er ließ vie­le Men­schen ver­ges­sen, wie tro­cken der Sü­den des Lan­des war.

Mit je­der Mi­nu­te ver­stan­den sich Emi­ly und Mor­de­chai bes­ser und bes­ser. Sie wur­de im­mer ner­vö­ser und be­gann, ohne Punkt und Kom­ma von ih­rer ers­ten Kol­lek­ti­on zu er­zäh­len, an der sie da­mals kurz nach ih­rem Ab­schluss ge­ar­bei­tet hat­te.

Emi­ly hat­te die Idee, jü­di­sche Chup­pot aus Sei­de her­zu­stel­len. Die Nach­fra­ge hielt sich zu Be­ginn in Gren­zen und als mehr und mehr in­ter­kon­fes­si­o­nel­le und ho­mo­se­xu­el­le Paa­re ihre Hoch­zeits­balda­chi­ne kau­fen woll­ten, bot Emi­ly sie nicht mehr an. Für ih­ren da­ma­li­gen Rab­bi­ner war es ein ge­wal­ti­ges Pro­blem, dass vor al­lem so vie­le ho­mo­se­xu­el­le Paa­re den Weg in ihr Ate­li­er fan­den. Ins­ge­heim hät­te sie ihre Chup­pot ger­ne wei­ter­hin an sie ver­kauft, woll­te je­doch nicht ge­gen die Nor­men ih­rer Syn­ago­ge ver­sto­ßen. Es brach ihr das Herz und Emi­ly konn­te nicht an­ders, als Pin­sel und Sei­de eine Wei­le kom­plett auf die Sei­te zu le­gen. Sie woll­te nicht nur den gan­zen Tag über Sei­den­tü­cher be­ma­len und hat­te sich dar­auf­hin dazu ent­schlos­sen, sich auf eine kom­plett an­de­re Kunst­form zu spe­zi­a­li­sie­ren. Emi­ly wür­de lü­gen, wür­de sie nicht zu­ge­ben, dass sie sich manch­mal frag­te, wie weit sie es als Ju­da­i­ka-De­si­g­ne­rin ge­bracht hät­te, hät­ten ihre Prin­zi­pi­en und vor al­lem die ih­rer Ge­mein­de ihr da­mals nicht im Weg ge­stan­den.

Ganz hat­te Emi­ly die Sei­den­ma­le­rei je­doch nicht hin­ter sich ge­las­sen. Wann auch im­mer sie zu ei­ner Hoch­zeit von Freun­den, Be­kann­ten oder Ver­wand­ten ein­ge­la­den war, nahm sie sich die Zeit, um für das je­wei­li­ge Paar eine hand­ge­mach­te, hand­be­mal­te, sei­de­ne Chal­lah­de­cke als Hoch­zeits­ge­schenk zu de­si­g­nen, die am Schab­bat und an Fei­er­ta­gen ver­wen­det wer­den konn­te. Die­se Uni­ka­te gab sie ger­ne je­der­zeit aus der Hand. Sie hat­te gro­ße Freu­de an dem Ge­dan­ken, dass ei­nes ih­rer Wer­ke so Teil des re­li­gi­ösen Le­bens ei­nes frisch­ver­hei­ra­te­ten Paa­res und de­ren zu­künf­ti­ger Fa­mi­lie oder gar zu ei­nem Erb­stück wer­den wür­de. Emi­ly ver­such­te für ge­wöhn­lich, ihre Chal­lah­de­cken-De­si­gns an den Hoch­zeits­ein­la­dun­gen zu ori­en­tie­ren, um den Ge­schmack des Paa­res best­mög­lich zu tref­fen.

»Und wor­auf hast du dich seit­dem spe­zi­a­li­siert?«, woll­te ein in­ter­es­sier­ter Mor­de­chai wis­sen.

»Auf das Na­del­fil­zen. Wenn ich mal eine Pau­se da­von brau­che, set­ze ich mich auch ger­ne mit mei­nen Was­ser­fa­r­ben auf den Bal­kon oder in die freie Na­tur. Ich habe mich schon im­mer mit Aqua­rell­ma­le­rei be­schäf­tigt und ver­kau­fe auch re­gel­mä­ßig mei­ne re­li­gi­öse­ren Wer­ke. Mit ih­nen bin ich je­doch nicht so er­folg­reich wie mit dem Na­del­fil­zen.« Emi­ly er­zähl­te ihm, wie sie sich lang­sam einen Mar­ken­na­men als Filz­künst­le­rin auf­bau­te und dass sie sich über die Jah­re pri­mär auf flo­ra­le Mo­ti­ve und Land­schaf­ten spe­zi­a­li­siert hat­te. »Vor ein paar Mo­na­ten habe ich da­mit an­ge­fan­gen, Tie­re zu fil­zen. Es ist nicht son­der­lich kom­pli­ziert und Fa­mi­li­en kau­fen sie ger­ne als De­ko­ra­ti­on für das Kin­der­zim­mer.«

Hät­te Emi­ly in ih­rer Eile nicht ih­ren Fo­to­ap­pa­rat zu Hau­se lie­gen ge­las­sen, wür­de sie be­reits Bil­der von all den Blu­men, an de­nen sie vor­bei spa­zier­ten, knip­sen. Die wö­chent­li­chen Wan­de­run­gen in­spi­rier­ten sie im­mer wie­der aufs Neue. Mor­de­chai hör­te ihr ge­dul­dig zu und ver­such­te, ihr ein paar Ide­en für eine neue Kol­lek­ti­on zu ge­ben. Emi­ly war sicht­lich ge­rührt.

Für ge­wöhn­lich lang­weil­te sie Män­ner, wenn sie ih­nen von ih­rer Ar­beit er­zähl­te, oder sie ga­ben ihr re­la­tiv schnell zu ver­ste­hen, dass eine Künst­le­rin als Ehe­frau für sie nicht in­fra­ge kam. Mor­de­chai schien an­ders zu sein. Er stell­te ihr ge­ziel­te Fra­gen zu ih­rer Ar­beit. Sie fühl­te sich sehr wohl da­bei, mit ihm über ihre Kunst zu spre­chen und sich ein we­nig öff­nen zu kön­nen, ohne mit Vor­ur­tei­len über­rollt zu wer­den. Es ge­sch­ah nicht alle Tage, dass sie eine Künst­ler­see­le traf, die ähn­lich wie sie auf­ge­wach­sen war und die Lie­be zum re­li­gi­ösen Ju­den­tum erst spät ent­deckt hat­te. Oft­mals war es eher um­ge­kehrt. Wäh­rend ih­rer Zeit auf der Kunst­aka­de­mie hat­te sie meh­re­re Künst­ler ken­nen­ge­lernt, die der Re­li­gi­on den Rü­cken ge­kehrt hat­ten, um ih­rer Kunst nach­zu­ge­hen und ein sä­ku­la­res Le­ben zu füh­ren. Wäh­rend Emi­ly ihm so zu­hör­te, mal­te sie sich be­reits aus, wie das Le­ben als Frau an der Sei­te ei­nes Rab­bi­ners wohl wäre.

Auf dem Weg zu­rück zu ih­rem Treff­punkt er­zähl­te Mor­de­chai Emi­ly von sei­ner Kind­heit auf Long Is­land und das er in ei­ner ul­tra-li­be­ra­len Fa­mi­lie auf­ge­wach­sen war, die nicht ein­mal ko­sche­re Es­sens­re­geln ein­hielt, ge­schwei­ge denn in die Syn­ago­ge ging. Mor­de­chai er­wähn­te, dass er das re­li­gi­öse Ju­den­tum schon im­mer be­wun­dert hat­te. Wäh­rend alle sei­ne Freun­de in die Syn­ago­ge gin­gen, muss­te er mit sei­nem Va­ter und sei­nem ein­eii­gen Zwil­lings­bru­der El­li­ot sämt­li­che Sams­ta­ge auf dem Golf­platz ver­brin­gen. Sei­ne Mut­ter traf sich in der Zwi­schen­zeit mit ih­ren Freun­din­nen im Spa-Be­reich ih­res Coun­try Clubs.

Mor­de­chai be­ton­te mehr­fach, dass er sich schon als Kind und auch als Ju­gend­li­cher in­ner­lich leer ge­fühlt hat­te. Ein Ge­fühl, das Emi­ly nur all­zu gut kann­te. Auf die Fra­ge, zu wel­chem Zeit­punkt er die Ent­schei­dung ge­trof­fen hat­te, sein Le­ben zu än­dern, ant­wor­te­te er, dass es wie bei vie­len an­de­ren New Yor­kern auch wäh­rend sei­ner Zeit an der Uni ge­sche­hen war.

Als Mor­de­chai ihr er­zähl­te, dass er wäh­rend sei­nes Stu­di­ums von ei­nem Kom­mi­li­to­nen, mit dem er ur­sprüng­lich Be­triebs­wirt­schafts­leh­re stu­diert hat­te, zu ei­nem jü­di­schen Neu­jahr­ses­sen, ei­nem Rosh Hasha­nah Se­der, ei­ner or­tho­dox-jü­di­schen Stu­den­ten­or­ga­ni­sa­ti­on ein­ge­la­den wur­de und dort sei­ne wah­re Be­ru­fung ge­fun­den hat­te, ka­men Emi­ly die Trä­nen. Es stell­te sich her­aus, dass sein Tisch­nach­bar ein jun­ger Rab­bi­ner war, der selbst in ei­nem sä­ku­la­ren Um­feld auf­ge­wach­sen war und seit we­ni­gen Jah­ren sei­nen Traum leb­te. Die bei­den un­ter­hiel­ten sich sehr lan­ge mit­ein­an­der und Mor­de­chai ver­stand, dass es auch mit sei­nem sä­ku­la­ren Hin­ter­grund mög­lich war, Rab­bi­ner zu wer­den, eine Ge­mein­de zu lei­ten und ein er­füll­tes jü­disch-or­tho­do­xes Le­ben zu füh­ren. Er be­gann, or­tho­dox-jü­di­schen Hoch­schul­or­ga­ni­sa­ti­o­nen bei­zu­tre­ten, zu Vor­trä­gen zu ge­hen und an Dis­kus­si­o­nen teil­zu­neh­men, die ihn ei­ner­seits mit mehr Fra­gen nach Hau­se schick­ten, an­de­rer­seits je­doch in der Lage wa­ren, die Lee­re, die er in sei­nem tiefs­ten In­ne­ren ver­spür­te, zu fül­len. Mor­de­chai er­klär­te Emi­ly, dass er sich ab die­sem Mo­ment plötz­lich nicht mehr so ver­lo­ren und al­lei­ne vor­ge­kom­men war. Er fühl­te sich be­son­ders zu ei­ner mo­dern-or­tho­do­xen In­ter­pre­ta­ti­on des Ju­den­tums hin­ge­zo­gen.

Es dau­er­te nicht lan­ge, bis Mor­de­chai, da­mals noch An­drew, die Ent­schei­dung traf, sein Stu­di­um von ei­nem Tag auf den an­de­ren ab­zu­bre­chen und Rab­bi­ner zu wer­den. Sei­ne El­tern wa­ren al­les an­de­re als be­geis­tert und er­leich­tert, als Mor­de­chai zu Be­ginn nicht auf­ge­nom­men wur­de. Sein Va­ter ver­such­te ihn dazu zu be­we­gen, sich wie­der für Be­triebs­wirt­schaft ein­zu­schrei­ben, doch Mor­de­chai blieb stur. Als er die Mög­lich­keit hat­te, eine Kan­to­ren­aus­bil­dung zu ma­chen, wäh­rend er auf der War­te­lis­te für das Rab­bi­ner­se­mi­nar stand, er­griff er die Chan­ce, ohne einen wei­te­ren Ge­dan­ken dar­an zu ver­lie­ren.

Sein Zwil­lings­bru­der El­li­ot, mit dem er seit Kind­heits­ta­gen bei al­lem kon­kur­rier­te, war der Ein­zi­ge, der sich dar­über freu­te, dass sein Bru­der die­sen Pfad ein­schlug. Er hat­te die Hoff­nung, dass sein Bru­der als Kan­tor oder Rab­bi­ner end­lich mit die­sem per­ma­nen­ten Kon­kur­renz­kampf auf­hö­ren wür­de. Schon seit sei­ner Ju­gend hat­te El­li­ot die Nase voll da­von. Wann auch im­mer Mor­de­chai eine bes­se­re Note hat­te oder mit ei­nem Fe­ri­en­job mehr Geld ver­dien­te, rieb er es El­li­ot per­ma­nent un­ter die Nase. El­li­ot hat­te dies zwar, so gut es ging, igno­riert, was Mor­de­chai je­doch nicht von sei­nem Ver­hal­ten ab­hielt.

Nach­dem El­li­ot von den Plä­nen sei­nes Zwil­lings­bru­ders er­fah­ren hat­te, un­ter­stütz­te er die­se. Er hat­te die Hoff­nung, dass sein Bru­der end­lich auf­hö­ren wür­de, ihn zu ter­ro­ri­sie­ren, und war sich durch­aus be­wusst, dass Mor­de­chai fi­nan­zi­ell nie mit ihm mit­hal­ten könn­te. Eine Kom­po­nen­te, so hoff­te El­li­ot, die Mor­de­chai den Wind aus den Se­geln neh­men wür­de.

So­fern Mor­de­chai für kei­ne der gro­ßen Syn­ago­gen mit über tau­send Fa­mi­li­en als Mit­glie­der ar­bei­ten wür­de, mach­te sich El­li­ot kei­ne Sor­gen, als Steu­er­be­ra­ter je we­ni­ger zu ver­die­nen als sein um zwölf Mi­nu­ten äl­te­rer Bru­der. El­li­ot war klar, dass Mor­de­chai nicht in der Lage war, so einen Pos­ten zu be­kom­men. Sein schau­spie­le­ri­sches Ta­lent reich­te schlicht und ein­fach nicht aus, um ein Le­ben lang einen cha­ris­ma­ti­schen Rab­bi­ner zu ge­ben.

Emi­ly be­merk­te vor lau­ter Auf­re­gung nicht, wie schnell sich der Nach­mit­tag dem Ende zu­neig­te. Als sich die bei­den von­ein­an­der ver­ab­schie­de­ten, war sie von ih­rem Ge­sprächs­part­ner re­gel­recht ver­zau­bert. Auf die­sen Wan­de­run­gen hat­te ihr noch nie ein Mann so viel Zeit ge­wid­met wie Mor­de­chai. Auch er schien den Nach­mit­tag ge­nos­sen zu ha­ben und ver­sprach ihr, bald wie­der nach Hai­fa zu kom­men. Dvor­ah ver­such­te auf dem Weg nach Hau­se von Emi­ly so vie­le De­tails wie mög­lich über de­ren neu­en Be­kann­ten zu er­fah­ren.

Über die nächs­ten drei Mo­na­te hin­weg tra­fen sich Emi­ly und Mor­de­chai im Rah­men die­ser wö­chent­li­chen Wan­de­run­gen, um sich bes­ser ken­nen­zu­ler­nen. Ihre Ge­sprä­che wur­den von Wo­che zu Wo­che tief­sin­ni­ger und so ge­sch­ah es, dass sie sich je­den Frei­tag mit schwe­ren Her­zen von­ein­an­der ver­ab­schie­de­ten. Un­ter der Wo­che be­fand sich Mor­de­chai wei­ter­hin in Je­ru­sa­lem, wo er seit ein paar Jah­ren leb­te, wäh­rend Emi­ly noch im­mer in Hai­fa wohn­te. An ih­rem letz­ten ge­mein­sa­men Frei­tag Nach­mit­tag hat­te sie Mor­de­chai da­von er­zählt, dass sie sich dazu ent­schlos­sen hat­te, Ende des Mo­nats, wenn der Miet­ver­trag für ihr Ate­li­er aus­lief, wie­der zu ih­ren El­tern nach Je­ru­sa­lem zu zie­hen. Mor­de­chai hat­te eine klei­ne Woh­nung im Je­ru­sa­le­mer Stadt­teil Baka an­ge­mie­tet. Emi­lys El­tern leb­ten nicht all­zu weit ent­fernt in dem Stadt­teil Ha­Giv‘a HaTz­a­r­fa­tit, der sich nörd­lich der He­brew Uni­ver­si­ty be­fand, wo sie sich be­reits nach ih­rer An­kunft in Is­ra­el mit ih­ren Töch­tern nie­der­ge­las­sen hat­ten.

Emi­ly kann­te die Ge­gend, in der Mor­de­chai leb­te, ziem­lich gut, da ihre Schwes­ter Lucy dort nach ih­rem Mi­li­tär­dienst mit ih­rem jet­zi­gen Mann ge­wohnt hat­te, be­vor sie zu­rück in sei­ne Hei­mat­stadt Tel Aviv ge­zo­gen wa­ren. It­amar hat­te sich in Je­ru­sa­lem nie so wohl ge­fühlt wie an der Küs­te. Er ver­miss­te das Meer und die At­mo­sphä­re der Stadt viel zu sehr, um dau­e­r­haft in Je­ru­sa­lem zu blei­ben und dort eine Fa­mi­lie groß­zu­zie­hen.

Seit­dem sich Emi­ly in Hai­fa be­fand, be­such­te sie ihre El­tern in Je­ru­sa­lem kaum, da Eli­za und Sa­mu­el es vor­zo­gen, nach Hai­fa zu kom­men, um ein we­nig Zeit am Meer mit ih­rer Toch­ter zu ver­brin­gen. Emi­ly ließ es sich je­doch nicht neh­men, zu den Fei­er­ta­gen nach Je­ru­sa­lem zu fah­ren, oder auch wenn im be­rühm­ten Stadt­teil Ye­min Mos­he Kunst­märk­te statt­fan­den, an de­nen sie und Dvor­ah re­gel­mä­ßig teil­nah­men. Emi­ly lieb­te die­sen Ort und be­such­te ihn im­mer wie­der ger­ne. Ihre Schwes­tern hat­ten bei­de dort ge­hei­ra­tet und wun­der­schö­ne Hoch­zeits­fo­tos bei der Mon­te­fio­re Wind­müh­le ge­macht, die Emi­ly in ih­rem Wohn­zim­mer auf­ge­stellt hat­te. Sie träum­te schon seit ih­rer Ju­gend von ei­ner Je­ru­sa­le­mer Hoch­zeit und konn­te es kaum er­war­ten, bis sie an der Rei­he war.

»Ich kann es noch im­mer nicht glau­ben, dass sich un­se­re Emi­ly ver­lobt hat und zu­rück nach Je­ru­sa­lem kommt!« Eli­za Gold­blum stand die Freu­de ins Ge­sicht ge­schrie­ben, als sie ihre jüngs­te Toch­ter um­arm­te. Ge­mein­sam war­te­ten sie auf Sa­mu­el, der mit Mor­de­chai in den Baumarkt ge­fah­ren war, um Um­zugs­kar­tons zu be­sor­gen. Emi­ly hat­te sich kom­plett ver­kal­ku­liert. Über die Jah­re hin­weg hat­ten sich nicht nur vie­le Kunst­u­ten­si­li­en in ih­rem klei­nen Ate­li­er an­ge­sam­melt, son­dern auch eine nicht all­zu ge­rin­ge An­zahl un­ter­schied­li­cher Wer­ke, von de­nen sie sich nicht tren­nen woll­te. Vie­le von ih­nen Ge­schen­ke ehe­ma­li­ger Kom­mi­li­to­nen und an­de­rer Künst­ler.

Emi­ly konn­te es nicht er­war­ten, Mor­de­chai Orly Sa­r­fa­ti vor­zu­stel­len, von der sie sich noch ver­ab­schie­den muss­te. Sie wür­de sich mit ei­nem la­chen­den und ei­nem wei­nen­den Auge von ih­rer Men­to­rin tren­nen. Na­tür­lich freu­te sich Emi­ly, mit Mor­de­chai ein neu­es Le­ben zu be­gin­nen, die re­gel­mä­ßi­gen Ge­sprä­che mit der Künst­le­rin wür­den ihr hin­ge­gen feh­len. Die Stadt selbst wür­de Emi­ly nicht ver­mis­sen. Hai­fa war ihr mitt­ler­wei­le nicht mehr re­li­gi­ös ge­nug, um dort auf Dau­er zu le­ben. Sie hat­te sich im­mer vor­ge­stellt, nach ih­rem Stu­di­um zu­rück nach Je­ru­sa­lem zu ge­hen, eine Fa­mi­lie zu grün­den und ihre Kin­der dort auf­wach­sen zu se­hen.

Die Grün­de, war­um sie doch so lan­ge in Hai­fa ge­blie­ben war, konn­te sie an ei­ner Hand ab­zäh­len. Orly leb­te und ar­bei­te­te dort, ihre bes­te Freun­din Dvor­ah wohn­te nur zehn Mi­nu­ten von ihr ent­fernt, ein Groß­teil ih­res Freun­des­krei­ses be­fand sich dort und na­tür­lich war da das Ge­fühl, für die wö­chent­li­chen Sin­gle-Wan­de­run­gen blei­ben zu müs­sen, die sie so zu schät­zen ge­lernt hat­te.

Emi­ly war dank­bar, ih­rer In­tu­i­ti­on ver­traut zu ha­ben und nach ih­rem Ab­schluss et­was län­ger ge­blie­ben zu sein, auch wenn sie nahe dar­an ge­we­sen war, die Hoff­nung auf­zu­ge­ben und zu­rück nach Hau­se zu ge­hen. Sie hat­te da­mals die Mög­lich­keit ge­habt, nach Je­ru­sa­lem zu zie­hen, doch es hat­te sich falsch an­ge­fühlt. Sie war glü­ck­lich, auf ihr Bauch­ge­fühl ge­hört zu ha­ben und in Hai­fa ge­blie­ben zu sein, da sie da­von über­zeugt war, Mor­de­chai sonst nie ken­nen­ge­lernt zu ha­ben.

Um das Le­ben am Meer rich­tig ge­ni­e­ßen zu kön­nen, hat­te Emi­ly nie ge­nug Zeit ge­fun­den. Für die wun­der­schö­nen Bahá’í Gär­ten hin­ge­gen schon.

Die Or­ga­ni­sa­to­ren der Wan­de­run­gen, Iris und Yitz­hack, hat­ten, nach­dem sie sich mit ei­nem Rab­bi­ner be­ra­ten hat­ten, da sich die Grup­pe nicht im Kla­ren dar­über war, ob sie sich die­se re­li­gi­öse Stät­te an­se­hen konn­ten, vor gut zwei Jah­ren eine pri­va­te Füh­rung ar­ran­giert. Emi­ly wür­de die hit­zi­ge Dis­kus­si­on nie ver­ges­sen. Ihr war durch­aus be­wusst, dass es im Ju­den­tum eine Viel­zahl ver­schie­de­ner Strö­mun­gen gab und dass jede die re­li­gi­ösen Ge­set­ze an­ders aus­leg­te, aber auf so ein Dra­ma war sie nicht ge­fasst ge­we­sen. Sie war sprach­los, als Dvor­ah und ein paar an­de­re ih­rer Be­kann­ten ver­kün­det hat­ten, nicht mit­zu­kom­men.

Ob­wohl sich Emi­ly selbst un­si­cher war, stand für sie von An­fang an fest, dass sie mehr über die­se wun­der­schö­nen Gär­ten er­fah­ren muss­te. Sie ging je­den Tag an ih­nen vor­bei, um zu ih­rem Ate­li­er zu ge­lan­gen. Die sym­me­tri­sche Per­fek­ti­on die­ser Pracht­gär­ten in­spi­rier­te sie häu­fig. Die wun­der­vol­len Fa­r­ben die­ses Or­tes fan­den im­mer wie­der ih­ren Weg in Emi­lys Wer­ke. Vor al­lem in ihre flo­ra­len Filz­land­schaf­ten.

Be­vor Emi­ly Hai­fa ver­ließ, mach­te sie mit Mor­de­chai und ih­ren El­tern einen Spa­zier­gang, um sich ein letz­tes Mal von die­ser Stadt, die sie so lan­ge ihr Zu­hau­se ge­nannt hat­te, zu ver­ab­schie­den. Sie wuss­te, dass sie ir­gend­wann ein­mal wie­der zu Be­such kom­men wür­de. Im­mer­hin war Je­ru­sa­lem nicht aus der Welt.

Nach ei­ner kur­z­en Ver­lo­bung hei­ra­te­te Emi­ly Mor­de­chai an ei­nem war­men Früh­lings­tag im März. Die Ze­re­mo­nie fand un­ter frei­em Him­mel in den Bo­ta­ni­schen Gär­ten Je­ru­sa­lems statt, ei­nem be­son­de­ren Ort für Emi­ly. Das frisch­ver­mähl­te Ehe­paar strahl­te bis über bei­de Oh­ren. Mor­de­chais El­tern Ma­r­vin und Ruth Ho­ro­witz konn­ten, wie auch sein Bru­der El­li­ot und des­sen Frau Nao­mi, die lan­ge Rei­se nach Is­ra­el auf­grund ei­ner an­de­ren Rei­se, die seit Mo­na­ten ge­plant war und nicht um­ge­bucht wer­den konn­te, nicht an­tre­ten.

El­li­ot und Nao­mi be­fan­den sich zu die­sem Zeit­punkt ge­mein­sam mit ih­ren Kin­dern Sa­rah und Da­vid in Neu­see­land, um Da­vids Ab­schluss zu fei­ern. Mor­de­chais El­tern hat­ten El­li­ot und die En­kel nach Neu­see­land be­glei­tet, um ein we­nig mit ih­nen zu fei­ern und an ei­ner Kreuz­fahrt teil­zu­neh­men, die ih­nen El­li­ot und Nao­mi zum Hoch­zeits­tag ge­schenkt hat­ten.

Emi­ly hat­te die Fa­mi­lie ih­res Man­nes bis dato nicht ken­nen­ge­lernt, wun­der­te sich aber nicht wei­ter dar­über. Ihr war be­wusst, dass nicht je­der sei­ne Plä­ne ein­fach so über den Hau­fen wer­fen konn­te, wenn sich je­mand spon­tan ver­lob­te und be­reits nach nicht ein­mal sechs Wo­chen hei­ra­te­te.

Es dau­er­te kei­ne zwei Mo­na­te, bis Emi­ly schwan­ger wur­de. Ga­bri­el er­blick­te im dar­auf­fol­gen­den Ja­nu­ar das Licht der Welt. Na­than folg­te zwei Jah­re spä­ter im Fe­bru­ar. Zu die­sem Zeit­punkt wohn­te die klei­ne Fa­mi­lie be­reits in ei­nem Neu­bau­vier­tel im Je­ru­sa­le­mer Vor­ort Me­va­se­ret Zion. Als Hoch­zeits­ge­schenk hat­ten Mor­de­chais El­tern ih­nen dort eine klei­ne Woh­nung ge­kauft, wor­über Emi­ly zu Be­ginn et­was ir­ri­tiert war, was sie je­doch letzt­end­lich nicht mehr über­rasch­te, als Mor­de­chai ihr nach ih­rer Hoch­zeit da­von er­zähl­te, dass sei­ne El­tern auch sei­nem Bru­der und sei­ner Schwä­ge­rin nach de­ren Hoch­zeit auf die Füße ge­hol­fen hat­ten. Er selbst er­war­te­te, dass es bei ih­nen auch so sein wür­de. Emi­lys Mut­ter Eli­za war über­haupt nicht da­von be­geis­tert, dass die Schwie­ger­el­tern dem Paar so ein teu­res Ge­schenk mach­ten. Sie war re­gel­recht scho­ckiert, dass we­der ihre Toch­ter noch Mor­de­chai einen Mo­ment zö­ger­ten, die­ses Ge­schenk an­zu­neh­men. So hat­ten die Gold­blums kei­ne ih­rer Töch­ter er­zo­gen. Zu die­sem Zeit­punkt hielt sich Eli­za noch zu­rück und auch Sa­mu­el sag­te nichts wei­ter dazu. Sie woll­ten es ver­mei­den, einen un­nö­ti­gen Streit her­auf­zu­be­schwö­ren. Da­für war ih­nen ihre Toch­ter viel zu wich­tig.

Au­ßer­dem kann­ten sie Mor­de­chai da­mals noch nicht so gut wie heu­te und wa­ren be­müht, ein gu­tes Ver­hält­nis zu ihm auf­bau­en. Eli­za und Sa­mu­el hat­ten mit ih­ren ers­ten bei­den Schwie­ger­söh­nen gro­ßes Glück und hoff­ten, dass sich Mor­de­chai trotz des gro­ßen Al­ters­un­ter­schieds zu Emi­ly, aber auch zu ih­rer äl­tes­ten Toch­ter wun­der­bar in­te­grie­ren wür­de. Was sie bis dato von ihm ge­se­hen hat­ten, ge­fiel ih­nen größ­ten­teils, auch wenn sie selbst nicht re­li­gi­ös wa­ren.

Über die nächs­ten vier Jah­re hin­weg fand Emi­ly In­spi­ra­ti­on in dem atem­be­rau­ben­den Aus­blick über die grü­ne Hü­gel­land­schaft, den sie von ih­rer klei­nen Ter­ras­se aus hat­te. Nie in ih­rem Le­ben hät­te sie ge­dacht, dass sie in ei­ner so schö­nen Ge­gend le­ben und na­he­zu täg­lich die­se atem­be­rau­ben­den Son­nen­un­ter­gän­ge ge­ni­e­ßen wür­de. Emi­ly kre­i­er­te in die­sen Jah­ren Hun­der­te von Filz­land­schaf­ten, die sie im­mer wie­der in klei­ne­ren Kunst­ga­le­ri­en in und um Je­ru­sa­lem ausstell­te und auf ver­schie­de­nen Kunst­märk­ten in der Re­gi­on an Tou­ris­ten ver­kauf­te. Für ihre Aqua­rell­ma­le­rei hat­te sie nur früh mor­gens Zeit, wenn ihre Söh­ne noch schlie­fen.

Mor­de­chai ar­bei­te­te wei­ter­hin als frei­schaf­fen­der Rab­bi­ner und dach­te mit Freun­den und Be­kann­ten dar­über nach, eine klei­ne mo­dern-or­tho­do­xe Syn­ago­ge zu grün­den.

Ga­bri­el ging be­reits in die ein­zi­ge re­li­gi­öse Pri­vat­schu­le der Stadt, die sich das Paar mit der Hil­fe von Emi­lys El­tern leis­ten konn­te, als Mor­de­chai von ei­nem Be­kann­ten aus Ame­ri­ka ein lu­kra­ti­ves An­ge­bot be­kam.

Als Mor­de­chai sich dazu ent­schlos­sen hat­te, Rab­bi­ner zu wer­den, träum­te er da­von, eine der gro­ßen mo­dern-or­tho­do­xen Syn­ago­gen in Ame­ri­ka zu lei­ten. Er be­wa­rb sich vol­ler Hoff­nung von Los An­ge­les bis New York auf die­se heiß be­gehr­ten Stel­len und ver­such­te sein Glück so­gar in Ka­na­da, be­dau­e­r­li­cher­wei­se ohne Er­folg. An­statt als frei­schaf­fen­der Rab­bi­ner von New York aus zu ar­bei­ten, stieg er, als er di­rekt nach der Uni­ver­si­tät eine Ab­sa­ge nach der an­de­ren be­kam, in den ers­ten Flie­ger nach Tel Aviv, um in Je­ru­sa­lem einen Freund zu be­su­chen und den Kopf frei­zu­be­kom­men. Seit­dem hat­te er nie zu­rück­ge­blickt. Bis jetzt.

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Heute

»Ich habe heu­te Vor­mit­tag einen An­ruf von Max Green­berg aus Phil­adel­phia be­kom­men.« Mor­de­chai stand noch in der Tür, als Emi­ly ihm be­reits eine Tas­se Kaf­fee ein­schenk­te und sie ne­ben ei­nem Stück Zi­tro­nen­ku­chen auf dem Ess­tisch stell­te.

»Max Green­berg? Ken­ne ich ihn?« Sie konn­te sich bei bes­tem Wil­len an kei­ne Green­bergs aus Phil­adel­phia er­in­nern.

Mor­de­chai schüt­tel­te den Kopf. »Nein. Max und ich ken­nen uns von frü­her. Wir wa­ren in der­sel­ben The­a­ter­grup­pe, als wir stu­diert ha­ben. Nach der Uni hat er über ir­gend­ei­nen Ver­wand­ten oder Be­kann­ten ein An­ge­bot in Te­xas be­kom­men. Er war lan­ge Zeit in Dal­las Rab­bi­ner und ist jetzt zu­rück in sei­ner Hei­mat­stadt.«

»Und was woll­te er von dir?« Emi­ly räum­te ein paar Spiel­zeu­ge aus dem Weg, die Na­than lie­gen ge­las­sen hat­te, um sich zu ih­rem Mann an den Tisch zu set­zen.

»Er hat mir von ei­ner Syn­ago­ge er­zählt, die nach ei­nem Rab­bi­ner sucht und den Kon­takt für mich her­ge­stellt. Ich habe be­reits mit dem Vor­stand ge­spro­chen und es klingt al­les sehr viel­ver­spre­chend. Die Stel­le ist vor­erst be­fris­tet, da­mit sie se­hen kön­nen, ob ich in ihre Ge­mein­de pas­se, aber das ist ganz nor­mal.« Mor­de­chai zog einen Stuhl her­aus und setz­te sich an sei­nen ge­wohn­ten Platz ne­ben sei­ne Frau.

»Und wo ist die­se Syn­ago­ge?« Emi­ly ge­fiel der Blick in sei­nen Au­gen über­haupt nicht.

Mor­de­chai lehn­te sich zu­rück, um die Re­ak­ti­on sei­ner Frau bes­ser be­ob­ach­ten zu kön­nen. »In Ir­land.«

»Nein! Das kommt gar nicht in­fra­ge. Wie sol­len wir dort als Ju­den ko­scher le­ben? Au­ßer­dem ist es viel zu weit weg. Die Kin­der ha­ben hier ihre Freun­de und mei­ne El­tern sind auch hier.« Emi­ly schüt­tel­te den Kopf.

»Ko­sche­re Le­bens­mit­tel sind über­haupt kein Pro­blem. Es gibt einen Su­per­markt, der ko­sche­res Fleisch aus Groß­bri­tan­ni­en ver­kauft, und sie lie­fern so­gar nach Hau­se, wenn du in der Nähe wohnst. Fisch gibt es auch wie Sand am Meer, Emi­ly. Es ist schließ­lich eine In­sel. Du musst dir wirk­lich kei­ne Sor­gen ma­chen.«

»Bis wann musst du ih­nen Be­scheid ge­ben?«

»Ich habe die Stel­le be­reits an­ge­nom­men. In drei Wo­chen flie­gen wir.«

Die Wut stand Emi­ly ins Ge­sicht ge­schrie­ben. Sie konn­te nicht fas­sen, was ihr Mann sag­te. Er hat eine Stel­le im Aus­land an­ge­nom­men, ohne vor­her mit ihr zu spre­chen. Wie konn­te er so et­was nur über ih­ren Kopf hin­weg ent­schei­den? Ge­ra­de als sie et­was sa­gen woll­te, läu­te­te es an der Haus­tür und sie sprang auf, um ihre Söh­ne her­ein­zu­las­sen, die mit den Nach­bars­kin­dern im Hof des Wohn­hau­ses ge­spielt hat­ten.

– 2 –

Die letz­ten Wo­chen in Is­ra­el ver­gin­gen wie im Flug. Emi­ly hät­te es ohne die Hil­fe ih­rer El­tern nicht ge­schafft, al­les so schnell zu er­le­di­gen. Je­den Mor­gen kam ihre Mut­ter Eli­za vor­bei, um Emi­ly die Kin­der ab­zu­neh­men und mit ih­nen in den Park zu ge­hen, ans Meer zu fah­ren oder ei­nes der vie­len kin­der­freund­li­chen Mu­se­en zu be­su­chen, die Je­ru­sa­lem zu bie­ten hat­te. Sa­mu­el, der noch im­mer an der Uni­ver­si­tät un­ter­rich­te­te, traf sei­ne Frau und sei­ne En­kel­kin­der täg­lich zum Mit­tag­es­sen, um ein we­nig Zeit mit ih­nen zu ver­brin­gen. Er war von dem be­vor­ste­hen­den Um­zug be­geis­tert und konn­te es kaum er­war­ten, sei­ne Toch­ter und ihre Fa­mi­lie in Ir­land zu be­su­chen. Be­vor Sa­mu­el mit sei­nem Stu­di­um be­gon­nen hat­te, hat­te er sich ge­mein­sam mit sei­nen Freun­den dazu ent­schlos­sen, den Som­mer in Eu­r­o­pa zu ver­brin­gen. Er konn­te sich noch sehr gut an Ir­land er­in­nern. Du­blin war die ers­te Sta­ti­on auf ih­rer Rei­se, be­vor es nach Lon­don und Pa­ris ging.

Wäh­rend die Kin­der un­ter­wegs wa­ren, mis­te­ten Emi­ly und Mor­de­chai or­dent­lich aus und pack­ten die Sa­chen, die sie mit nach Eu­r­o­pa neh­men wür­den. Den Rest wür­den sie bei Emi­lys El­tern un­ter­stel­len.

In dem gan­zen Cha­os zeig­ten sie ihre Woh­nung po­ten­zi­el­len Mie­tern, die sie mö­bliert über­neh­men woll­ten. Es dau­er­te eine gan­ze Wei­le, bis sie ein ver­trau­ens­wür­di­ges re­li­gi­öses Paar fan­den, bei dem Mor­de­chai ein gu­tes Ge­fühl hat­te. We­der er noch Emi­ly woll­ten ihre Woh­nung ei­ner nicht-re­li­gi­ösen Fa­mi­lie über­las­sen. Da­bei wa­ren sie sich von An­fang an ei­nig.

Zu Be­ginn woll­ten sie ihre Woh­nung über­haupt nicht ver­mie­ten, doch Mor­de­chais Va­ter poch­te dar­auf, da so je­mand an­de­rer und nicht er die Kre­dit­ra­ten eine Wei­le zu­rück­zah­len wür­de. Emi­ly war nicht be­wusst ge­we­sen, wie viel ihr Schwie­ger­va­ter in die­se Woh­nung in­ves­tier­te, und hat­te sich auch nie da­für in­ter­es­siert. Sie dach­te, Mor­de­chai wüss­te es. Als sie ih­ren El­tern da­von er­zähl­te, üb­ten auch sie Druck aus, einen Mie­ter zu fin­den. Eli­za konn­te sich dies­mal nicht zu­rück­hal­ten und er­klär­te Emi­ly, dass sie und Mor­de­chai nicht er­war­ten konn­ten, dass ihre je­wei­li­gen El­tern­paa­re sie ein Le­ben lang fi­nan­zier­ten, so ger­ne sie die Schul­kos­ten der Kin­der auch über­nah­men, konn­te das so nicht auf Dau­er wei­ter­ge­hen. Emi­ly ver­stand das Pro­blem ih­rer Mut­ter nicht und er­klär­te ihr, wie un­fair Mor­de­chai es fand, dass sein Bru­der bei sei­ner Hoch­zeit eine Woh­nung be­kom­men hat­te und sie ihre jetzt fak­tisch selbst mit den zu­künf­ti­gen Mie­t­ein­nah­men ab­be­zah­len muss­ten. Eli­za konn­te nicht glau­ben, was sie da aus dem Mund ih­rer Toch­ter hör­te. Auch Sa­mu­el, der sich al­les hat­te selbst er­a­r­bei­ten müs­sen und nie auf die Idee ge­kom­men wäre, von ir­gend­je­man­dem fi­nan­ziert zu wer­den, schüt­tel­te nur den Kopf. Um kei­nen Streit mit sei­ner Toch­ter an­zu­fan­gen, be­vor sie das Land ver­ließ, bat er Eli­za, sich nicht ein­zu­mi­schen. Es han­del­te sich im­mer­hin um ein Pro­blem in­ner­halb der Fa­mi­lie Ho­ro­witz und nicht um ei­nes zwi­schen ih­nen und ih­rer Toch­ter.

Wäh­rend sie noch in Is­ra­el wa­ren, ver­such­te Emi­ly, sich mit so vie­len Nach­barn und Freun­den wie mög­lich zu tref­fen. Tag­täg­lich ging sie mit ih­ren Kin­dern auf den Spiel­platz, da­mit sie mit ih­ren Freun­den aus der Nach­bar­schaft spie­len konn­ten. Zu Emi­lys gro­ßer Über­ra­schung freu­ten sich die Kin­der auf den be­vor­ste­hen­den Um­zug. Vie­le ih­rer Freun­de gin­gen mit ih­ren El­tern zu­rück in de­ren je­wei­li­ge Hei­mat­län­der, oft­mals die Staa­ten oder Ka­na­da, oder wan­der­ten mit ih­ren Fa­mi­li­en aus, so­dass Ga­bri­el und Na­than ihre be­vor­ste­hen­de Rei­se als ein gro­ßes Aben­teu­er sa­hen.

Emi­ly schloss sich in die­sen letz­ten Wo­chen in Is­ra­el so­gar ei­ner Frau­en­grup­pe an, die sich re­gel­mä­ßig zum Bas­ket­ball spie­len traf, nach­dem eine Nach­ba­rin ge­se­hen hat­te, wie gest­resst sie war, und sie über­zeugt hat­te, sie zu be­glei­ten, um den Kopf frei­zu­be­kom­men und ein we­nig Ab­stand von dem Gan­zen zu ge­win­nen.

Emi­ly tat al­les, um nicht all­zu oft mit ih­ren Ge­dan­ken oder Mor­de­chai al­lei­ne zu sein. Sie war noch im­mer wü­tend dar­über, dass er sie bei der Ent­schei­dung, nach Du­blin zu ge­hen, nicht mit­ein­be­zo­gen hat­te. Dies wür­de sie ihm nicht so schnell ver­zei­hen. Er wuss­te, dass sie Is­ra­el nicht ver­las­sen woll­te, und hat­te die­sen Wunsch den­noch igno­riert. Emi­ly kam sich bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad be­tro­gen vor, was ihr nicht da­bei half, ihre Sa­chen zu pa­cken. Am liebs­ten hät­te sie je­des ein­zel­ne Stück zum Fens­ter hin­aus­ge­schmis­sen.

Mor­de­chai war ein an­de­rer Typ Mensch. Kaum war al­les er­le­digt, setz­te er sich in sein klei­nes Ar­beits­zim­mer, das mehr ei­ner Ab­stell­kam­mer als ei­nem Büro glich, und fing an, die ers­te Pre­digt für sei­ne neue Syn­ago­ge zu schrei­ben. Ent­we­der fiel es ihm nicht auf oder er igno­rier­te, dass sei­ne Frau ver­such­te, die be­vor­ste­hen­de Flug­rei­se zu ver­drän­gen. Er war so in sei­ner Ar­beit ver­tieft, dass er nicht merk­te, wie Emi­ly stän­dig mit den Kin­dern un­ter­wegs war und sei­ne Söh­ne per­ma­nent er­schöpft wa­ren und sich auf gar nichts mehr kon­zen­trie­ren konn­ten.

– 3 –

Ih­ren letz­ten Abend im Na­hen Os­ten ver­brach­te die Fa­mi­lie Ho­ro­witz ganz zu Mor­de­chais Miss­fal­len bei den Gold­blums, wo sie auch über­nach­ten wür­den. Emi­lys Schwes­ter Lucy und ihr Mann It­amar wa­ren mit den ge­mein­sa­men Töch­tern Maya und Noa aus Tel Aviv zum Abend­es­sen ge­kom­men, um sich von ih­rer Schwes­ter und ih­ren Nef­fen zu ver­ab­schie­den. Lu­cys Toch­ter Ila­na be­fand sich mit Freun­den au­ßer Lan­des, so­dass sie an dem Abend­es­sen nicht teil­neh­men konn­te. Sie ver­sprach ih­rer Mut­ter je­doch, ihre Tan­te vor dem Schla­fen­ge­hen an­zu­ru­fen, um ihr einen gu­ten Flug zu wün­schen.

»Freust du dich schon auf Ir­land?«, riss Lucy ihre klei­ne Schwes­ter aus den Ge­dan­ken.

Emi­ly, die vor we­ni­gen Mi­nu­ten ihre Söh­ne ins Bett ge­bracht hat­te und ge­ra­de da­bei war, sich ein wei­te­res Glas Wein ein­zu­schen­ken, seufz­te nur. »Es ist Got­tes Wil­le.«

»Ich habe nicht ge­fragt, wes­sen Wil­le es ist, dass ihr um­zieht, son­dern ob du dich dar­auf freust.« Lucy ver­dreh­te die Au­gen.

»Wir wer­den se­hen, wie es wird.« Ohne ein wei­te­res Wort zu sa­gen, leer­te Emi­ly ihr Glas in ei­nem Zug.

It­amar, der sei­ner Frau ge­gen­über­saß, blick­te sei­ne Schwä­ge­rin ver­wun­dert an, sag­te je­doch nichts. Ihm war es lie­ber, den Frau­en zu­zu­hö­ren und im­mer mal wie­der et­was zu sa­gen, an­statt sich mit Mor­de­chai un­ter­hal­ten zu müs­sen, der zu It­amars Er­leich­te­rung in ein Ge­spräch mit ih­rem Schwie­ger­va­ter ver­tieft war. Sei­ne ei­ge­nen Töch­ter sa­ßen wie im­mer auf dem ge­räu­mi­gen Sofa im Wohn­zim­mer ih­rer Gro­ß­el­tern und spiel­ten mit ih­ren Smart­pho­nes. Bei­de wa­ren An­fang zwan­zig und woll­ten ihre El­tern ei­gent­lich nicht nach Je­ru­sa­lem be­glei­ten, um sich von der Fa­mi­lie Ho­ro­witz zu ver­ab­schie­den. Sie wä­ren viel lie­ber zum Flug­ha­fen ge­fah­ren, um si­cher­zu­ge­hen, dass Mor­de­chai wirk­lich ins Flug­zeug stieg. Hät­te ihr Groß­va­ter sie nicht bei­de im Lau­fe des Nach­mit­tags zwi­schen sei­nen Vor­le­sun­gen an­ge­ru­fen, sä­ßen sie jetzt am Strand in Tel Aviv und wür­den Cock­tails mit ih­ren Freun­den schlür­fen. It­amar muss­te schmun­zeln, als er dar­an dach­te, wie er­leich­tert vor al­lem Maya war, dass ihre Woh­nung in Tel Aviv nicht ko­scher ge­nug für Mor­de­chai war, um bei ih­nen zu über­nach­ten. Ob­wohl bei­de Mäd­chen viel Zeit in den Woh­nun­gen ih­rer Freun­de ver­brach­ten, wa­ren sie noch nicht of­fi­zi­ell aus ih­rem El­tern­haus aus­ge­zo­gen. Lucy hat­te kein Pro­blem da­mit, dass ihre Töch­ter mehr Zeit bei ih­ren Freun­den ver­brach­ten als bei ihr und It­amar. Sie sah al­les et­was lo­cke­rer als er und ver­stand, dass ihre Töch­ter nicht für im­mer bei ih­nen woh­nen wür­den.

Es war für Eli­za und Sa­mu­el mehr als of­fen­sicht­lich, dass so­wohl Lucy als auch It­amar an die­sem Abend ver­such­ten, so we­nig wie mög­lich mit ih­rem Schwa­ger zu spre­chen. Je­des Mal, wenn vor al­lem die Män­ner auf­ein­an­der­tra­fen, en­de­te eine re­la­ti­ve ru­hi­ge Dis­kus­si­on in ei­nem hef­ti­gen Streit dar­über, war­um es so schreck­lich für Mor­de­chai war, dass so vie­le Is­ra­e­lis als Athe­is­ten oder Agno­s­ti­ker durchs Le­ben gin­gen und die Syn­ago­ge kom­plett igno­rier­ten. Beim letz­ten ge­mein­sa­men Es­sen wa­ren sie sich fast an die Keh­le ge­gan­gen, weil It­amar es ge­wagt hat­te zu sa­gen, dass er froh war, nur Töch­ter zu ha­ben, weil er ein ge­wal­ti­ges Pro­blem mit Be­schnei­dun­gen hat­te und so et­was ei­nem Sohn nie an­tun wür­de. Die Gold­blums hat­ten Mor­de­chai noch nie so wü­tend er­lebt wie in dem Mo­ment, in dem It­amar ihm mit­ge­teilt hat­te, dass es für ihn ein­fach kei­nen Sinn mach­te. Nach sei­ner Lo­gik brauch­te man Jun­gen nicht mehr be­schnei­den, da man Frau­en auch nicht mehr stei­nig­te, wenn sie ihre Män­ner be­tro­gen. Lucy war durch­aus be­wusst, dass ihr Mann ge­wis­se Din­ge nur sag­te, um Mor­de­chai auf die Pal­me zu brin­gen. Hät­ten sie einen Sohn ge­habt, war sie sich zu neun­zig Pro­zent si­cher, dass er ihn hät­te be­schnei­den las­sen. Ihm mach­te es je­doch viel mehr Spaß, sei­nen Schwa­ger in die­sen Si­tua­ti­o­nen zur Weiß­glut zu brin­gen. Sa­mu­el wür­de lü­gen, wenn er be­haup­ten wür­de, das Ver­hal­ten sei­ner bei­den Schwie­ger­söh­ne amü­sie­re ihn nicht. Er hielt sich für ge­wöhn­lich aus die­sen Dis­kus­si­o­nen her­aus, weil es kei­nen Sinn mach­te, sich we­gen den bei­den auf­zu­re­gen und wo­mög­lich noch einen Herz­in­farkt zu ris­kie­ren.

It­amar stamm­te aus ei­ner lai­zis­ti­schen Fa­mi­lie und ver­brach­te fast sein gan­zes Le­ben im Nor­den Tel Avivs. Er hat­te zwar in Je­ru­sa­lem stu­diert, konn­te sich je­doch nie so rich­tig mit der Stadt an­freun­den. Sie war ihm zu re­li­gi­ös und das Meer viel zu weit weg. Sei­ne Fa­mi­lie war schon im­mer im Na­hen Os­ten an­säs­sig und hat­te sich be­reits mit der Grün­dung Tel Avivs 1909 dort nie­der­ge­las­sen. It­amar stamm­te von jü­di­schen Pa­läs­ti­nen­sern ab und moch­te Men­schen wie Mor­de­chai nicht, die nicht nur den Kon­flikt zwi­schen bei­den Par­tei­en igno­rier­ten, son­dern auch mein­ten, es sei ihr Land. Ame­ri­ka­ner, wie sein Schwa­ger ei­ner war, wa­ren ihm schon im­mer ein Dorn im Auge ge­we­sen. Er ver­stand nicht, war­um Men­schen wie Mor­de­chai be­ses­sen da­von wa­ren, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu ver­las­sen, um sich in ir­gend­wel­chen Sied­lun­gen im West­jord­an­land nie­der­zu­las­sen. Als er da­von ge­hört hat­te, dass Emi­ly und Mor­de­chai sich ein paar Woh­nun­gen in Sied­lungs­ge­bie­ten in der Nähe von Je­ru­sa­lem an­ge­schaut hat­ten, war er scho­ckiert. Ge­nau­so wie Emi­lys El­tern war auch It­amar er­leich­tert, als ihre Schwie­ger­el­tern ein Macht­wort ge­spro­chen hat­ten.

Als Lucy ihm von Emi­lys Vor­ha­ben er­zählt hat­te, hat­te er sei­ner Frau klar ge­macht, dass er Emi­ly und Mor­de­chai nie im Le­ben in ei­ner Sied­lung be­su­chen wür­de. Er woll­te es ver­mei­den, sich in ei­nem Feu­er­ge­fecht zwi­schen fa­na­ti­schen Sied­lern und Pa­läs­ti­nen­sern wie­der­zu­fin­den. Mor­de­chai war die letz­te Per­son auf Er­den, für die er sein Le­ben und das sei­ner Fa­mi­lie ris­kie­ren wür­de.

Gin­ge es nach It­amar, wür­de das Rü­ck­kehr­ge­setz ge­stri­chen wer­den. Sei­ner Mei­nung nach soll­ten die Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze mo­der­ni­siert und an­ge­gli­chen wer­den. Die Tat­sa­che, dass je­der so mir nichts, dir nichts so­fort die Staats­bür­ger­schaft und eine Ar­beits­er­laub­nis be­kom­men konn­te, ohne auch nur einen El­tern­teil oder Gro­ß­el­tern­teil mit is­ra­e­li­scher Staats­bür­ger­schaft zu ha­ben, miss­fiel ihm sehr. Er konn­te schließ­lich auch nicht ein­fach so in den Staa­ten lan­den und so da bin ich sa­gen. Ge­nau dar­über hat­te It­amar bei ei­nem der letz­ten Fa­mi­lienes­sen mit Mor­de­chai ge­strit­ten. Er war auch heu­te nahe dran ge­we­sen, mit sei­nen Töch­tern zu Hau­se zu blei­ben. Emi­ly hat­te ihm da­mals an den Kopf ge­wor­fen, dass er sei­ne Frau ohne die­ses Ge­setz nie ken­nen­ge­lernt hät­te. It­amar er­klär­te sei­ner Schwä­ge­rin dar­auf­hin das jü­di­sche Kon­zept der See­len­ver­wandt­schaft und dass er fel­sen­fest da­von über­zeugt war, dass er Lucy so oder so ken­nen­ge­lernt hät­te. Wenn nicht in der Ar­mee, dann auf ei­ner Rei­se oder über Freun­de.

Emi­ly und Mor­de­chai ver­ga­ßen ger­ne, dass It­amar sich, ob­wohl er nicht re­li­gi­ös war, sein gan­zes Le­ben lang für jü­di­sche Ge­schich­te, Re­li­gi­on und Kul­tur in­ter­es­siert hat­te. Sein In­ter­es­se hat­te un­ter an­de­rem dazu ge­führt, dass er nach sei­nem Wehr­dienst Ge­schich­te als Ne­ben­fach stu­diert hat­te. Er ar­bei­te­te zwar nicht auf die­sem Ge­biet, las aber je­des Jahr un­zäh­li­ge Bü­cher zu die­sen The­men. It­amar lieb­te es, Mor­de­chai zu kor­ri­gie­ren und sei­ne bib­li­schen Zi­ta­te mit wis­sen­schaft­li­chen und his­to­ri­schen Fak­ten zu wi­der­le­gen, was Eli­za wie­der­um re­gel­mä­ßig zum Schmun­zeln brach­te, nach­dem ihre Kin­der und En­kel­kin­der nach Hau­se ge­gan­gen wa­ren.

»Ich kann nicht glau­ben, dass es schon Zeit ist zu ge­hen. Gib den Jungs mor­gen früh einen Kuss von mir und mel­de dich, wenn ihr an­ge­kom­men seid.« Lucy um­arm­te ihre klei­ne Schwes­ter ein letz­tes Mal, be­vor sie ih­rer Fa­mi­lie zum Auto folg­te.

Für Emi­ly war es im­mer noch be­fremd­lich, dass sie zum ers­ten Mal in ih­rem Le­ben nicht im sel­ben Land wie ihre Schwes­ter oder ihre El­tern le­ben wür­de. Sie ver­miss­te auch Mol­ly an die­sem Abend mehr als sonst. Ob­wohl sie ihre Ab­rei­se bis jetzt hat­te ver­drän­gen kön­nen, hat­te Emi­ly das Ge­fühl, dass es jetzt rich­tig ernst wur­de. Sie wuss­te, dass ihre Aus­wan­de­rung nicht von Dau­er sein wür­de, aber ir­gend­wie fühl­te es sich doch ei­gen­ar­tig an dem Land, das sie so sehr lieb­te, den Rü­cken zu keh­ren. Um sich ab­zu­len­ken, küm­mer­te sie sich um die Kü­che ih­rer Mut­ter, nach­dem alle ins Bett ge­gan­gen wa­ren. Sie konn­te oh­ne­hin nicht schla­fen und mach­te sich lie­ber nütz­lich, als die gan­ze Nacht über die be­vor­ste­hen­de Rei­se und ih­ren Neu­an­fang in Eu­r­o­pa nach­zu­den­ken.

Als Emi­ly auf Ze­hen­spit­zen ins Wohn­zim­mer schlich, um sich zu ih­rem Mann auf das aus­ge­zo­ge­ne Sofa zu le­gen, wur­de sie von Pa­nik über­wäl­tigt. Ihr wur­de ab­wech­selnd heiß und kalt. Sie be­gann zu zit­tern und das At­men fiel ihr im­mer schwe­rer. Mor­de­chai schlief wie ein Stein und merk­te nichts da­von, wie sei­ne Frau sich über al­les Mög­li­che Sor­gen mach­te. Von der be­vor­ste­hen­den Rei­se bis hin zu ih­rem neu­en Zu­hau­se, das ih­nen von der Syn­ago­ge zur Ver­fü­gung ge­stellt wur­de, und der neu­en Schu­le ih­rer Söh­ne. Es mach­te ihr vor al­lem zu schaf­fen, dass sie zum ers­ten Mal in ih­rem Le­ben die Frau des Rab­bi­ners ei­ner ak­ti­ven Syn­ago­ge sein wür­de.

Emi­ly konn­te noch im­mer nicht glau­ben, dass sie für ein paar Jah­re nach Ir­land zie­hen wür­den. Es wur­de ihr erst jetzt rich­tig be­wusst, dass sie mor­gen zwar in Is­ra­el auf­wa­chen, aber in ei­ner ganz neu­en Um­ge­bung schla­fen ge­hen wür­de – und das für eine sehr lan­ge Zeit.

Emi­ly war bis­her nur ein­mal in Eu­r­o­pa ge­we­sen. Nach ih­rer Zeit in der Ar­mee woll­ten ihre El­tern ihr un­be­dingt Frank­reich zei­gen, das Land, in dem sie sich ver­lobt und spä­ter auch ihre Flit­ter­wo­chen ver­bracht hat­ten.