Rory & Chloé - Amelia Doyle - E-Book

Rory & Chloé E-Book

Amelia Doyle

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Beschreibung

Chloé Amiya Kapoor und Rory McCarthy verbrachten sämtliche Sommer ihrer Kindheit und Jugend mit Chloés Tante Élodie und Rorys Patentante, deren Frau Saoirse, im wunderschönen Dublin. Sowohl Chloé in Mumbai als auch Rory in London sind verblüfft, als ihnen knapp ein Jahr nach Élodies Beerdigung unerwartet ein Anwaltsschreiben ins Haus flattert, das sie auffordert, Ende Mai nach Irland zu kommen. In Dublin angekommen, warten nicht nur der Anwalt der Tanten auf sie, sondern auch die große Überraschung: Saoirse hat ihnen das Haus überschrieben mit einer Zusatzklausel, die besagt, dass sie einen letzten Sommer miteinander in der Villa verbringen müssen, bevor sie entscheiden können, was mit ihr geschehen soll. Seit einem unerwarteten Zwischenfall am Flughafen im Vorjahr, nur eine Woche nach Élodies Beerdigung haben die Freunde jedoch kein Wort mehr miteinander gewechselt. Wie werden sie auf diese Zusatzklausel reagieren, die das Potenzial hat, ihr ganzes Leben zu verändern?

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Amelia Doyle

 

Rory & Chloé

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Amelia Doyle ist eine irisch-österreichische Autorin und Politologin mit Wohnsitz in Irland. Gemeinsam mit ihrem Mann James und ihren Hunden Angus und Barnaby, lebt sie in einem wunderschönen Vorort Dublins.

 

 

 

Rory & Chloé

 

 

 

 

© 2024 Amelia Doyle

 

E-BOOK © 2024 BRINKLEY Verlag

 

Ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers darf

kein Teil dieser Publikation in irgendeiner Form

vervielfältigt, übertragen oder gespeichert werden.

 

Sowohl die im Buch vorkommenden Personen

als auch die Handlungen sind vom Autor

frei erfunden. Namen und Ähnlichkeiten mit Personen

oder tatsächlichen Handlungen sind zufällig und nicht gewollt.

 

 

Satz: Sussman Marketing

Lektorat/Korrektorat: Manuela Tengler

©Umschlaggestaltung: Steph Buncher

www.stephbuncherdesign.co.uk

FB/IG: @stephbuncherdesign

 

Gedruckt und gebunden von: SKALA PRINT

 

ISBN 978-3-903392-15-1

 

www.brinkley-verlag.at

 

 

 

Prolog

Vor 12 Monaten

Chloé Amiya Kapoor konnte noch immer nicht glauben, dass ihre geliebte Tante vor einer Woche beerdigt worden war und sie bis gestern Schiwa gesessen hatten. Sie konnte sich ein Leben ohne Rivka Élodie Bamberger nicht vorstellen und wollte es erst gar nicht. Den Tag, an dem ihr Vater an ihre Bürotür im familieneigenen Verlag in Mumbai geklopft hatte, würde sie nie vergessen. Sie saß gerade am Telefon mit einem ihrer Autoren, der mit ihren Anmerkungen an seinem neuesten Manuskript nicht einverstanden war. Kaum sah sie die rot verweinten Augen ihres Vaters, fiel ihr der Telefonhörer aus der Hand.

„Was ist passiert, Baba? Ist es Maman?“

„Élodie … Sie ist. Ein Unfall. Krankenhaus.“ Vikram stockte. „Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Deine Mutter konnte nicht länger warten. Sie sitzt schon im Flugzeug nach Dublin. Über Paris. Deine Tante Miriam wird sie am Flughafen treffen und mit ihr weiter nach Irland fliegen. Die Beerdigung ist morgen.“

„Nein! Das kann nicht wahr sein, Baba. Nein.“ Chloé brach zusammen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie ihr Vater sie aufgefangen hatte und mit ihr zum Flughafen gefahren war, geschweige denn daran, dass sie keine 20 Stunden später in Dublin gelandet waren.

 

Saoirse O´Mara-Bamberger stand in der Tür eines ihrer drei Gästezimmer, wo ihr Patensohn Rory McCarthy die letzte Woche über geschlafen hatte und jetzt seinen Koffer packte, um in wenigen Stunden nach Edinburgh zu fliegen. „Hast du alles, mein Schatz? Soll ich dir noch schnell etwas zum Essen machen, bevor ihr losmüsst?“

„Bist du dir sicher, dass du nicht willst, dass ich mir noch ein paar Tage freinehme, Saoirse? Ich möchte dich so nicht alleine lassen.“ Der Pilot sah vom anderen Ende des Raumes zu der Frau, mit der er sämtliche Sommerferien verbracht hatte. Er erkannte sie kaum wieder.

„Das musst du nicht, Rory. Miriam, Léa und Vikram bleiben noch ein paar Wochen und helfen mir mit … mit …“ Saoirse begann zu schluchzen.

Rory ging zu ihr hinüber und nahm seine Patentante in den Arm. Auch er konnte noch immer nicht fassen, dass er Élodie nicht wieder sehen würde. Rory würde Saoirses Frau nie vergessen. Beide waren wie Mütter für ihn. Vor allem, nachdem seine eigene nach der Scheidung seiner Eltern Irland verlassen hatte, um mit dem Geschäftspartner seines Vaters ihr Glück in Kalifornien zu finden.

 

Es brach Rory das Herz, Saoirse so leiden zu sehen. Obwohl ihre Schwägerinnen und ihr Schwager noch einige Wochen bleiben würden, würde er sie am liebsten mit nach Großbritannien nehmen.

Wie andere Familienmitglieder und enge Freunde auch fühlte er sich seit einer Woche so, als hätte er den Autopiloten eingeschalten, um nur zu funktionieren. Élodies Tod war ein Schock für alle gewesen. Rory ging es genauso schlecht wie Chloé.

Während der Beerdigung auf dem liberal-jüdischen Friedhof stand er Vikram gegenüber und hatte einen Platz in erster Reihe. Er sah, wie der Mann, zu dem er ein Leben lang aufgesehen hatte, selbst zusammenbrach, während er versuchte, die wichtigsten Frauen in seinem Leben zu stützen. Rory selbst wich Saoirse nicht von der Seite. Den Blick, den Vikram ihm zuwarf, während die Rabbinerin irgendetwas auf Hebräisch vorlas, das beide nicht verstanden, ging ihm unter die Haut. Beiden Männern wurde in diesem Augenblick bewusst, dass alles vorbei war. Sich alles auf einen Schlag verändert hatte.

„Ich packe euch noch ein paar Stücke von dem Kuchen ein, den die Frau des Kantors gestern noch vorbeigebracht hat.“ Saoirse wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging die Stiegen hinunter, als plötzlich Vikram in der Tür stand.

„Hast du einen Augenblick, Rory?“

„Natürlich, Vikram!“ Rory ging auf die Seite, damit der Mann den Raum betreten konnte. Zu seiner großen Überraschung machte er die Tür hinter sich zu.

„Das muss alles sehr schwer für dich sein, Beta ...“ Vikram setzte sich aufs Bett und deutete ihm sich neben ihn zu setzen.

„Es ist nicht einfach, Vik“, seufzte Rory.

„Léa möchte, dass Saoirse für ein paar Monate mit uns nach Mumbai kommt. Ich denke, dass es eine gute Idee ist.“

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass keiner ihrer Verwandten zur Beerdigung gekommen ist!“ Rory ballte die Fäuste.

„Strenggläubige Katholiken. Ich war überrascht, dass Miriam gekommen ist …“, schweifte Vikram ab. Sowohl die Geschwister als auch die strenggläubigen Eltern seiner Frau hatten nicht nur Léa, sondern auch Élodie verstoßen, nachdem sie sich dazu entschlossen hatten, keine arrangierten Ehen mit guten orthodoxen, jüdischen Männern einzugehen. Er selbst hatte seine Schwiegereltern nie kennengelernt und seine Schwägerin Miriam nur zweimal im Leben gesehen – und das, obwohl er seit über 35 Jahren mit Léa verheiratet war.

„Rory“, wandte sich Vikram seinem Gesprächspartner abermals zu. „Du musst für mich nicht stark sein, Beta. Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich fühlst. Chloé und du … Ihr habt über die Sommer hinweg unzählige Stunden mit Saoirse und Élodie verbracht und …“ Kaum hatte Vikram die Worte ausgesprochen, liefen Rory bereits die Tränen übers ganze Gesicht. „Komm her …“ Chloés Vater nahm Rory in den Arm. „Lass es raus, Beta … Lass es raus …“

 

Während Chloé sich von ihrer Mutter Léa und Saoirse verabschiedete, umarmte Vikram Rory ein letztes Mal, der bereits die Koffer in den Kofferraum des wartenden Taxis gestemmt hatte.

„Ich melde mich, sobald ich in Edinburgh angekommen bin, Saoirse.“ Rory fiel es wahnsinnig schwer, seine Patentante loszulassen. „Bist du sicher, dass du nicht doch mitkommen möchtest? Ich lasse dich sogar bei mir im Cockpit sitzen!“ Ein trauriges Lächeln huschte über Rorys Gesicht. Seine grünen Augen sahen müde aus.

Saoirse nahm ihm seine Dienstmütze aus der Hand, fuhr ihm ein letztes Mal durch die Haare und setzte sie ihm auf. „Beim nächsten Mal, mein Schatz. Ich kann unser Haus … mein Haus … nicht alleine lassen. Außerdem habe ich Besuch. Wie würde das aussehen, wenn ich auf einmal meinen Koffer packe und abhaue?“

Das Zwinkern in ihren Augen brachte ihn zum Grinsen. „Ich bin in ein paar Tagen wieder in Dublin.“ Rory gab ihr einen letzten Kuss auf die Wange und öffnete für Chloé die Taxitür. Wenn sie ihren Flug nach London rechtzeitig erwischen wollte, mussten sie los.

 

Geistesabwesend spielte Chloé mit dem Verlobungsring auf ihrem linken Ringfinger, während sie schweigend durch die Straßen Sandymounts fuhren. Auch der Taxifahrer traute sich nicht ein Wort zu sagen. Es war mehr als offensichtlich, dass seine heutigen Fahrgäste nicht in der Stimmung waren, sich mit ihm über das Wetter oder das letzte Rugbyspiel zu unterhalten. Rory hatte ihn zu Beginn der Fahrt lediglich gebeten, am Strand entlangzufahren und den mautpflichtigen East-Link zu verwenden, um so schnell wie möglich zum Flughafen zu gelangen.

Chloé starrte die ganze Fahrt über zum Wasser hinaus. Nicht einmal als sie die Tom-Clarke-Brücke überquerten, traute sie sich, ihren Blick vom Hafen abzuwenden, um sich die Stadt ein letztes Mal anzusehen, bevor sie auf die Autobahn auffahren würden. Rory sah im Augenwinkel immer mal wieder zu ihr hinüber. Obwohl sie sich ihr ganzes Leben kannten, hatte er sie noch nie so gesehen.

Erst als sie leise zu weinen begonnen hatte und sich die rechte Hand vors Gesicht schlug, nahm er ihre Linke in die seine und strich ihr sanft mit seinem Daumen über den Handrücken. Ihm fehlten selbst die Worte, sodass er es für klüger hielt, nichts zu sagen, ehe er etwas Falsches sagte. Rory hatte am Vorabend ein Gespräch zwischen Chloé und Vikram mitbekommen und wusste, dass sie eigentlich bei ihren Eltern bleiben wollte. Sie musste jedoch zurück nach Mumbai, um eine andere Beerdigung eines Verwandten ihres Verlobten Rahuls zu besuchen. Ihr Vater hatte mehrfach erwähnt, dass die Sharmas es verstehen würden, wenn sie noch ein paar Wochen mit ihnen in Irland verbringen würde, doch davon wollte Chloé nichts hören.

Was weder Vikram noch Rory wussten war, das Rahul und sie nur wenige Stunden vor dem Gespräch zwischen Vater und Tochter miteinander gestritten hatten und sie primär deswegen das Gefühl hatte, zurück nach Mumbai fliegen zu müssen.

 

„Das macht dann 28 Euro“, verkündete der Taxifahrer und blickte Rory im Rückspiegel auffordernd an.

„Danke.“ Rory ließ seinen Blick nicht von Chloé, die ihn noch immer nicht ansehen wollte, und zahlte mit seiner App. Der Taxifahrer hatte bereits den Kofferraum geöffnet, als Rory Chloé bat, aus dem Auto zu steigen.

 

Nachdem sie am British Airways-Schalter Chloés Koffer aufgegeben hatten, nahm Rory sie bei der Hand und zog sie mit sich mit, damit sie bei der Sicherheitskontrolle nicht in der Schlange stehen und warten musste. Er wollte nicht, dass sie sich in ihrer Verfassung diesem Stress aussetzte.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch ein paar Minuten Zeit hatte, bevor er seinen Co-Piloten finden und sich auf seinen Flug vorbereiten musste. Er wollte Chloé zumindest noch zu ihrem Gate bringen, ehe er sich von ihr verabschiedete. Ohne ein Wort zu sagen, wischte sich Chloé immer wieder Tränen aus dem Gesicht. Rory bereute es, die Airline nicht gebeten zu haben, ihn heute nach London zu schicken. Auch wenn er nicht neben ihr gesessen hätte, wollte er zumindest in ihrer Nähe sein, bis sie in den Flieger zurück nach Mumbai stieg.

Chloé seufzte, als sie nicht unweit von ihrem Gate vor einem kleinen Bücherkiosk stehen blieb. Wie gerne sie sich jetzt eines für den Flug kaufen würde … nur hatte sie panische Angst davor, eines auszuwählen, in dem eine geliebte Figur starb. Bei dem Gedanken daran begann sie abermals zu schluchzen und drehte sich zu Rory, der sie ohne Worte in den Arm nahm und ihr durchs Haar strich. In diesem Moment war ihm egal, dass er sich verspäten würde. Er konnte und wollte sie so nicht alleine lassen.      

„Ich verstehe es nicht, Rory.“ Chloé sah mit verweinten Augen zu ihm auf. „Élodie war so eine wundervolle Person! Es ist einfach nicht fair …“

Rory stockte der Atem. „Chloé …“

„Ach, Rory. Es ist alles so schrecklich“, schluchzte Chloé, während er ihr mit seinen Daumen versuchte, ihr die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, die nun unaufhörlich über ihre Wangen liefen. Vorsichtig drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er seine Mütze herunternahm, und begann ihr die Tränen wegzuküssen, bis seine Lippen, die ihren fanden. Beide wussten nicht, wie ihnen geschah. Zu Chloés eigener Überraschung küsste sie ihn zurück. Als Rory merkte, was gerade zwischen ihnen passierte, riss er die Augen auf und schob sie abrupt von sich weg. Er sah erst nach links und dann nach rechts, ehe er sich umdrehte und wegrannte. Nach ein paar Metern erinnerte er sich daran, dass er sein Handgepäck neben ihr stehen gelassen hatte, drehte wieder um und rannte zu ihr zurück. Perplex blickte Chloé, die nicht wusste, was sie sagen sollte, ihn mit offenem Mund an. Als er wieder vor ihr stand und noch immer seine Mütze in der Hand hielt, brachte er kein Wort heraus. Chloé runzelte lediglich die Stirn, als er sich seinen Pilotenkoffer schnappte und genauso schnell, wie er gekommen war, wieder davonlief. Sie verstand die Welt nicht mehr.

Verwirrt ging sie zu einem der letzten freien Plätze vor ihrem Gate. Chloé ahnte in diesem Moment noch nicht, dass sie den ganzen Flug nach London über an nichts anderes mehr denken würde als Rorys Kuss, den er ihr vor nicht einmal fünf Minuten gegeben hatte. Allen Anschein nach hatte sie sich ohne Grund die Nacht zuvor Sorgen gemacht, dass sie an ihre verstorbene Tante denken würde, bis sie in Mumbai landete und ihr Verlobter sie vom Flughafen abholen würde. Falls er nicht seinen Assistenten schicken würde.

 

1

Heute

Chloé wachte um halb acht Uhr morgens nach einer unruhigen Nacht in einem der zahlreichen Flughafenhotels nicht unweit von London Heathrow auf und ging ins Badezimmer, um ihren Tag zu beginnen. Sie war gestern am späten Nachmittag in London gelandet, um den Abend mit einer aus Neu-Delhi stammenden Freundin, die seit Jahren in England lebte, und ihrer Familie zu verbringen. Chloé musste nicht vor elf Uhr in Dublin sein, sodass sie diesen Zwischenstopp gerne einlegte. Bei so vielen Direktflügen von London in die irische Hauptstadt machte sie sich keine Sorgen, nicht rechtzeitig zu ihrem Termin zu erscheinen.

 

Nachdem sie sich die Haare geföhnt hatte, ging sie hinunter in den Frühstücksbereich des Hotels, um eine Kleinigkeit zu essen. Seitdem sie eingecheckt hatte, hatte sie immer wieder an ihre Tante Élodie denken müssen. Es würde das erste Mal sein, dass sie wieder in Dublin wäre seit der Beerdigung, was dazu führte, dass sie die Nacht über kaum geschlafen hatte. Sie vermisste ihre Tante jeden Tag. Wann auch immer etwas in ihrem Leben passiert war, das sie unbedingt mit ihr teilen wollte, griff sie auch heute noch automatisch nach ihrem Smartphone, um ihre Tante anzurufen. Der Unterschied zwischen damals und heute war lediglich, dass sie nicht mehr ständig in Tränen ausbrach.

Kaum waren Chloés Eltern nach acht Wochen gemeinsam mit der Witwe ihrer Tante im Vorjahr in Mumbai gelandet, hatte ihr Vater Vikram darauf bestanden, dass sie eine Trauertherapie machte. Zu Beginn war sie noch skeptisch, doch als es ihr nach einem weiteren Monat noch immer so ging wie an dem Tag, als sie ihre geliebte Tante beerdigt hatten, gab sie nach.

Dr. Shakti Patil wurde Vikram von dem Personalleiter seines Unternehmens empfohlen. Die nächsten Monate über würde Chloé die warmherzige Frau regelmäßig in ihrer Praxis im Zentrum Mumbais aufsuchen. Auch heute wunderte sie sich immer wieder darüber, was Shakti dazu bewogen hatte, sich auf Trauertherapie zu spezialisieren.

 

Chloés Gedanken wurden vom Läuten ihres Smartphones unterbrochen.

 

„Guten Morgen, ma choupette!“ Ihre Mutter Léa klang, als ob sie sich auf einem Marktplatz befinden würde.

„Maman! Wo bist du? Ich kann dich kaum verstehen.“

„Erinnerst du dich an den Autor Amir Singh, den dein Vater letztes Jahr aufnehmen wollte, bevor …“ Léa versagte es die Stimme.

„Ja, Maman. Was ist mit ihm?“ Chloé wusste, wie schwer es auch ihrer Mutter heute noch fiel, über den Tod ihrer Schwester Élodie zu sprechen. Nicht die Tatsache, dass Èlodie nicht mehr lebte, sondern wie sie aus dem Leben gerissen worden war. Auch Chloé versuchte den Gedanken zu verdrängen. Nie wieder würde sie in einen Zug oder eine Straßenbahn steigen und sich irgendwo hinsetzen, wenn sie ständig an die letzten Sekunden im Leben der jüngeren Schwester ihrer Mutter denken würde.

„Er möchte, dass wir ihn repräsentieren …“

„Ich höre ein aber …“ Chloé balancierte ein Tablett mit einer Schüssel Früchten und einem Löffel griechischem Joghurt mit Honig, die sich neben ihrem Tee befand, zu einem der vielen freien Tische am Fenster, während sie ihr Smartphone zwischen ihrem rechten Ohr und der Schulter geklemmt hielt.

„Er will erst sehen, wie ich mich auf einem indischen Markt schlage. Als er gehört hat, dass ich Französin bin und gemeinsam mit Baba das Unternehmen leite, war er skeptisch, ob wir der richtige Verlag für ihn sind“, seufzte Léa. Auch nach über 35 Jahren in Indien hatte sie noch immer mit gewissen Vorurteilen zu kämpfen.

„Nimm es dir bitte nicht zu Herzen, Maman. Du weißt, wie exzentrisch manche Autoren sind“, versuchte Chloé ihre Mutter aufzuheitern.

„Amir ist gerade aus dem Taxi gestiegen. Hab einen guten Flug nach Dublin und melde dich bitte nach deinem Termin bei uns. Bis später, ma choupette!“ Noch bevor ihre Tochter ihr antworten konnte, hatte Léa aufgelegt.

Chloé musste lächeln. Amir hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Ihre Mutter war in der Lage, jeden in Grund und Boden zu verhandeln, was sie vor allem von ihrer indischen Schwiegermutter über die Jahre gelernt hatte. Spaßeshalber neckte Chloé sie immer wieder damit, dass gewisse jüdische Vorurteile manchmal keine waren und es vielleicht mehr mit ihren Genen zu tun hatte als mit ihrer Großmutter, die sie früh unter ihre Fittiche genommen hatte. Heute kann ihre Mutter bei diesem Kommentar mitlachen. Etwas, was ihr verständlicherweise nicht immer leichtfiel.

 

Ein Blick auf die Armbanduhr, die Chloé von ihrer Cousine, einer Uhrenmacherin in Chennai, vor ihrer Abreise geschenkt bekommen hatte, als sie mit ihrem Mann in Mumbai zu Besuch war, verriet ihr, dass sie noch genug Zeit hatte, um ihren Vater anzurufen, bevor sie in den Shuttle zum Flughafen steigen musste. Als er auch nach dem dritten Versuch nicht abgehoben hatte, gab sie es auf und schrieb ihm eine Nachricht.

Während Chloé ihr Frühstück aß, klickte sie ein wenig durch die Online-Ausgabe der Financial Times, die sie seit Jahren abonniert hatte. Sie hatte sich schon als Jugendliche für Wirtschaft interessiert und wollte früher immer in der Finanzabteilung des Familienunternehmens arbeiten. Ihrem Vater lag sehr viel daran, dass sie während ihres Studiums in die verschiedenen Bereiche des Verlages hineinschnupperte. Auch wenn er Eigentümer des größten Verlags Indiens war, wollte er nicht, dass seine Tochter alles auf dem Silbertablett serviert bekam. Er wollte vermeiden, dass sie mit seiner Pensionierung irgendwann das Unternehmen einfach übernehmen würde, ohne es zu kennen. Vikram war genauso überrascht wie sie, als Chloé sich nach ihrem Wirtschaftsstudium und dem Studium indischer Literatur dazu entschloss, als Lektorin für den Verlag tätig zu sein.

Sie fühlte sich von Manuskripten umgeben am wohlsten, was vor allem ihren Vater Vikram zum Schmunzeln brachte. Seit Jahren hatte er eine Wette mit seiner Frau Léa am Laufen, welche Abteilung es für ihre gemeinsame Tochter letztendlich werden würde. Auch wenn Chloé ein Zahlenmensch war, sah man sie nur selten ohne Buch in der Hand. Genauso wie ihre Mutter las Chloé vor allem Sachbücher und freute sich immer über neue Projekte in diesem Genre.

 

„Guten Morgen, Ms. Kapoor!“ Der Rezeptionist begrüßte Chloé mit einem strahlenden Lächeln. „Ich hoffe, es hat Ihnen bei uns gefallen. Gibt es noch etwas, was ich für Sie tun kann? Der Shuttle wird Sie und die anderen Gäste in fünf Minuten abholen.“

„Es war alles perfekt, Paul. Vielen Dank.“ Chloé unterhielt sich noch ein wenig mit ihm, ehe sie den Shuttle durchs Fenster erspähte und sich von ihm verabschiedete.

„Ich wünsche Ihnen einen guten Flug, Madam.“

„Vielen Dank, Paul. Haben Sie einen wundervollen Tag und richten Sie Ihrer Frau bitte noch einmal meine herzlichsten Glückwünsche zur Geburt Ihres Sohnes aus! Ich freue mich sehr für Sie beide.“Der Rezeptionist bedankte sich bei Chloé. Es war nicht ihr erster Aufenthalt in diesem Hotel und sie genoss es jedes Mal zurückzukommen. Die letzten Monate war sie so oft für den Verlag in London, dass sie das Gefühl hatte, Paul mehr zu sehen als ihren eigenen Vater, der zur selben Zeit durch ganz Indien gereist war, um sich mit Autoren und Druckereien zu treffen. Chloé erinnerte sich gerne daran zurück, wie Paul an ihr vorbeigerannt war, weil bei seiner Frau die Wehen eingesetzt hatten, als sie selbst vor nicht einmal zwei Wochen zur Drehtür hineingekommen war.

Auf dem Weg zum Terminal 2 dachte Chloé unwillkürlich an ihren bevorstehenden Termin beim Anwalt ihrer Tante. Sie konnte sich nicht erklären, worum es sich handelte, oder warum sie persönlich in Dublin erscheinen musste. Obwohl es ihr mittlerweile besser ging, fühlte es sich eigenartig an, wieder nach Irland zu fliegen. Heute würde ihre Tante nicht am Flughafen auf sie warten, wie unzählige Sommer zuvor.

Auch Saoirse würde diesmal nicht in der vertrauten Ankunftshalle stehen und auf Chloé warten. Die befand sich momentan in ihrem Ferienhaus in Südfrankreich. Nach ihrem Aufenthalt in Indien hatte sie es noch nicht geschafft, einen Flug nach Dublin zu buchen und setzte sich lieber ins Flugzeug nach Paris. Zu tief saß bei Saoirse auch nach einem Jahr noch der Schmerz, ihre Seelenverwandte verloren zu haben. Sie brauchte noch mehr Zeit, ehe sie sich stark genug fühlte, in ihr Heimatland zurückzukehren.

 

 

2

Erleichtert, dass sie einen Sitz in der achten Reihe hatte, setzte sich Chloé hin. Der Mann, der die Reise über neben ihr sitzen würde, fragte sie, ob sie lieber am Fenster sitzen wolle, sodass sie spontan ihren Mittelsitz mit ihm tauschte. Er machte einen etwas nervösen Eindruck auf sie und Chloé wollte nicht, dass er beim Abflug oder der Landung eine Panikattacke bekam. Sie selbst saß gerne am Fenster, um während des Fluges hinaussehen zu können. Vor allem, wenn es sich um so einen kurzen Flug wie nach Dublin handelte. Die Stunde würde buchstäblich wie im Flug vergehen.

Kaum hatte Chloé es sich gemütlich gemacht und ihre Laptoptasche unter den Vordersitz verstaut, schnallte sie sich an und öffnete das Buch, das sie sich im letzten Moment im Flughafen gekauft hatte. Obwohl sie tagein, tagaus am Lesen war, genoss sie es noch immer, es auch privat zu tun. Noch bevor sie es zu lesen begonnen hatte, kam ihr der Gedanke, wie ruhig und gelassen sie sich fühlte. Obwohl sie traurig war, dass weder Élodie noch Saoirse in Dublin auf sie warten würden, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass es in Ordnung war. Die Tatsache, dass sie einen Termin in der Stadt hatte, half immens dabei, ihre Gedanken nicht allzu sehr schweifen zu lassen. Sie war erleichtert, dass sie bei ihrem ersten Flug nach Dublin seit Élodies Tod ein Ziel hatte, worauf sie sich konzentrieren konnte.

 

„Guten Morgen, liebe Fluggäste. Mein Name lautet Captain Rory McCarthy und gemeinsam mit meinem Co-Piloten Matthew Williams und unserem Team heißen wir Sie herzlich willkommen auf unserem heutigen Flug nach Dublin. In Irland erwarten uns 15 Grad und Sonnenschein. Die Flugdauer beträgt eine Stunde und fünfzehn Minuten. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug.“

Chloé fiel das Buch aus der Hand, das ihr Sitznachbar augenblicklich für sie aufhob und ihr zurückgab. Sie bedankte sich mit einem Lächeln bei ihm.

Ausgerechnet Rory würde sie heute nach Dublin fliegen. Seine Stimme würde sie überall wiedererkennen. Dazu musste er sich nicht erst vorstellen. Sie wusste zwar, dass er bei dem Termin dabei sein würde, hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sie gemeinsam nach Irland fliegen würden. Dass er sie nach Irland fliegen würde. Warum befand er sich nicht schon in der Stadt? Chloé seufzte. Seitdem sie Mumbai verlassen hatte, hatte sie versucht, nicht an ihn zu denken oder daran, was das letzte Mal geschehen war, als sie sich gesehen hatten. Unbewusst strich sie mit den Fingern ihrer rechten Hand über ihre Lippen. Seit einem Jahr hatte sie kein Wort von ihm gehört, erinnerte sich jedoch nahezu täglich daran, wie sein Mund sich auf dem ihren angefühlt hatte, als ob es gestern gewesen wäre.

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Ob er wusste, dass sie nur ein paar Reihen hinter ihm saß?

 

Das Flugzeug beschleunigte und es dauerte nicht lange, bis sich der British Airways-Flieger in der Luft befand. Chloé sah zum Fenster hinaus, um noch einen letzten Blick auf London zu erhaschen. Gott, wie sie diese Stadt liebte!

Als sie sich über Wales befanden, gingen zwei Flugbegleiterinnen durch den Gang, um warme Schokoladen-Muffins zu verteilen und Getränke auszuschenken. Chloé sah noch immer zum Fenster hinaus und war so in Gedanken versunken, dass sie nicht hörte, wie eine der Flugbegleiterinnen sie mit Namen ansprach. Erst als ihr Sitznachbar sie vorsichtig anstupste, sah sie zu ihnen hinüber.

„Ms. Kapoor?“, fragte die freundliche Flugbegleiterin bei ihr nach.

„Ja?“ Irritiert sah Chloé die Frau an, deren Namensschild verriet, dass sie Victoria hieß.

„Ich habe eine Nachricht für Sie.“ Sie beugte sich ein wenig hinunter und reichte ihr einen zusammengefalteten, abgerissenen Zettel. „Möchten Sie etwas trinken oder vielleicht einen Muffin?“

„Nein, danke … Ich habe schon gefrühstückt …“ Irritiert sah Chloé von der Flugbegleiterin auf das Stück Papier in ihrer Hand.

„Sie können mich jederzeit rufen, falls Sie es sich anders überlegen!“ Victoria zwinkerte ihr freundlich zu, ehe sie einen Schritt nach hinten tat und den Trolley mit sich mitzog und sich weiteren Fluggästen hinter ihnen zuwandte.

Chloé merkte, wie ihr Sitznachbar neugierig auf das Blatt Papier in ihrer Hand schaute, und räusperte sich. Ihre Blicke trafen sich. Als sie den Mann mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, wandte er verlegen seinen Blick ab und griff nach seinem Muffin.

 

Guten Morgen, Chloé!

Bitte warte nach der Landung auf mich. Dann können wir gemeinsam durch die Passkontrolle gehen und zu unserem Termin fahren.

Rory

 

Die Wut stand Chloé ins Gesicht geschrieben. Nachdem sie das Stück Papier zerknüllt hatte, wollte sie am liebsten aufspringen, ins Cockpit stürmen und es ihm in den Mund stopfen. Ein Jahr lang hatte sie nichts von ihm gehört und jetzt tat er so, als ob nichts geschehen wäre und sie gemeinsam zum Anwalt ihrer Tante fahren könnten. Als ob sie es geplant hätten, miteinander im selben Flugzeug zu sitzen! Zum ersten Mal an diesem Tag bereute sie es nicht schon gestern Abend nach Dublin geflogen zu sein oder einen noch früheren Flug gebucht zu haben. Bei über dreihundert wöchentlichen Direktflügen zwischen London und Dublin hatte sie ausgerechnet seinen buchen müssen! Chloé nahm sich vor, nur mehr Aer Lingus-Flüge zu buchen. Avios-Punkte würde sie auch mit der irischen Fluglinie sammeln können. Von nun an war die British Airways tabu für sie. Das nahm sie sich fest vor!

 

„Crew, bereitet euch zur Landung vor“, ertönte Rorys Stimme abermals durch den Lautsprecher.

Chloé trieb es Tränen der Wut in den Augen, die sie sich augenblicklich wegwischte. Sie hatte sich den Moment, in dem sie ihn wieder sah, zig Mal vorgestellt, doch dieses Szenario war nie dabei gewesen.

Das Flug-Update, das der Co-Pilot vorhin gegeben hatte, hatte sie nur am Rande registriert. Sie war jedoch froh darüber, Rorys Stimme nicht noch einmal hören zu müssen, und hatte gehofft, dass es bis zu ihrem Termin so bleiben würde.

Chloé konnte sich beim besten Willen nicht mehr an den Namen des Anwalts erinnern, so ungeduldig war sie mittlerweile. War es Colm oder Colin Byrne? Irgendetwas mit C. Vielleicht Ciarán? Auf einmal kam ihr der Name John in den Sinn. Wie hieß dieser Mann noch mal? Chloé griff bereits nach ihrer Tasche, um in ihrem Kalender nachzusehen, erinnerte sich jedoch, dass sie ihr Smartphone ausgeschaltet hatte. Seufzend wandte sie sich wieder dem Fenster zu ihrer Linken zu und blickte hinaus. Obwohl sie erwartet hatte, über Dublin Bay die Hauptstadt anzufliegen, schien Rory es vom Südosten der Insel zu tun. Chloé sah unter sich nur die unterschiedlichen Grüntöne, in die sie sich schon als Kind verliebt hatte.

 

„Liebe Fluggäste, liebe Crew. Willkommen in Dublin! Es ist 9:30 Ortszeit, sonnig und hat bereits 12 Grad. Allem Anschein nach liegt ein wunderschöner Frühsommertag vor uns! Allen, deren Reise hier nicht endet, wünschen wir eine angenehme und vor allem sichere Weiterreise. Den anderen wünschen wir viel Spaß in Dublin!“

 

„Wunderschöner Frühsommertag, Rory?! Wirklich?“, murmelte Chloé vor sich hin, während sie nach ihrer Handtasche und ihrer Laptoptasche griff, die sich unter dem Vordersitz befand. Sie konnte es kaum erwarten, sich endlich abschnallen zu können und das Flugzeug zu verlassen. Warum hatte sie auch ihren Sitz tauschen müssen? Sie sprach ein Stoßgebet, dass die beiden Männer neben ihr es genauso eilig hatten wie sie, das Flugzeug zu verlassen. Warum dauerte das mit dem Parken so lange? Machte er das absichtlich? Der rationale Teil ihres Gehirnes wusste, dass dem nicht der Fall war und Rory sich an die Anweisungen des Flughafens halten musste. Der kreative Teil gab ihr das Gefühl, in einem fliegenden Gefängnis zu sitzen. Das Letzte, was sie wollte, war, Rory vor ihrem Termin zu sehen. Sie konnte nur schwer zugeben, dass sie nicht wollte, dass er sie so wütend sah. In ihrer Fantasie sahen sie sich erst in der Kanzlei des Anwaltes. Kühl und entspannt! Chloé wollte nicht, dass Rory mitbekam, wie sehr sie sein Verhalten auch ein Jahr später noch ärgerte.

Kaum hatte Chloé den Gedanken zu Ende geführt, schaltete sich die Anschnallpflicht aus. Sie sprang wie von der Tarantel gestochen auf, um keine wertvolle Zeit zu verschwenden und vor ihren Sitznachbarn in den Gang zu kommen. Schockiert blickten sich die beiden Männer an als sie ihnen auf die Füße trat und sich wortlos an ihnen vorbei quetschte. Chloé interessierte es nicht, was sie in diesem Moment von ihr dachten. Sie versuchte sich, so gut es ging, vorzudrängen, um als einer der ersten Passagiere das Flugzeug verlassen zu können.

Da sie nicht wusste, wie lange die Cockpit-Tür geschlossen bleiben würde, versuchte sie sich hinter ein paar Rugbyspielern zu verstecken, die in den ersten Reihen saßen. Sie hoffte so, das Flugzeug vor Rory ungesehen verlassen zu können. Ungeduldig blickte sie sich um, bis sich die Flugzeugtür öffnete und sie als einer der ersten Passagiere hinausrannte.

Chloé reiste mit ihrem französischen Pass, sodass es keine fünf Minuten dauerte, durch die Passkontrolle zu gehen. Kaum stand sie vor dem Gepäckkarussell im Terminal 2, wurde sie erst richtig ungeduldig. Es schien eine gefühlte Ewigkeit zu dauern, bis sie den ersten Koffer herauskommen sah. Immer wieder blickte sie sich nervös um, um sicherzugehen, dass Rory nicht plötzlich hinter ihr stand. Sie ärgerte sich, dass sie nie darauf geachtet hatte, wie lange nach ihr die Piloten das Flugzeug verließen und ob sie ihr Gepäck, wenn sie mehr bei sich trugen als Handgepäck, wie jede andere Person auch aufgaben. Sie ging bei den vielen Sicherheitsbestimmungen davon aus.

„Komm schon“, murmelte Chloé vor sich hin, die ihren lavendelfarbenen Koffer noch immer nicht sehen konnte. Sie bedankte sich bei sämtlichen jüdischen und indischen Gottheiten, dass ihre Tante Élodie ihr vor Jahren diesen Koffer zum Geburtstag geschenkt hatte, damit sie nicht lange ihr Gepäck suchen musste. Bei dem Gedanken an ihre Tante musste sie lächeln. Sie nahm sich vor, wenn möglich noch an diesem Nachmittag ein Taxi zum liberalen jüdischen Friedhof zu nehmen und ein paar Steine auf ihr Grab zu legen.

 

Chloé bemerkte, dass immer mehr ihrer Mitreisenden auf das Gepäckkarussell zugingen. Was vor allem daran lag, dass ihr einige einen bösen Blick zu warfen. Als sie ihren Sitznachbarn erspähte, versuchte sie sich so hinzustellen, dass er sie nicht sehen konnte. Es gelang ihr jedoch nicht, sich vor ihm zu verstecken.

„Toilette oder Hunger?“, fragte der Mann mit einem Grinsen auf dem Gesicht.

Am liebsten hätte Chloé ihm den Absatz ihrer Stöckelschuhe in den Fuß gerammt, die sie für ihren Termin in ihrer Handtasche mit sich trug. Warum war sie nur immer so pragmatisch und trug flache Schuhe, wenn sie mit dem Flugzeug unterwegs war? „Vielleicht wollte ich einfach nur von meinem Sitznachbarn wegkommen?“

„Hat es etwas mit der Nachricht zu tun, die du von der Flugbegleiterin bekommen hast?“, fragte der Unbekannte mit einem Zwinkern in den Augen.

„Geht es dich irgendetwas an?“ Warum sprach sie überhaupt mit diesem Mann?

„Nein, ich bin einfach nur neugierig“, erwiderte er.

„Was, wenn es sich bei diesem Stück Papier um meinen nächsten Auftrag handelt und ich freischaffenden Auftragsmörderin bin?“

„Dann würdest du es vermutlich nicht erwähnen“, kommentierte er und lachte.

Chloé musste zugeben, dass er freundlich aussah. Blonde Haare, blaue Augen – er könnte gut Werbung für Vanillepudding machen. Jeder normale Mensch würde jetzt an Haarshampoo denken, nur sie nicht.

„Bist du dir da sicher? Vielleicht bin ich einfach nur eine ehrliche Person?“ Chloé sah ihm gespannt in die Augen.

„Wie wäre es, wenn du es mir heute beim Abendessen erzählst?“

Sie konnte sehen, wie nervös er war. „Du hattest eine Stunde Zeit, um dich mit mir zu unterhalten“, erwiderte Chloé grinsend.

„Ich habe es versucht! Oder was meinst du, warum ich dich gebeten habe, mit mir den Platz zu tauschen?“ Der Unbekannte wurde rot.

„Oh … du wolltest ein Gespräch mit mir beginnen …“

Er nickte und lächelte sie schüchtern an.

„Ich habe geglaubt, dass du Flugangst hast und deswegen nicht neben dem Fenster sitzen wolltest.“ Chloé entspannte sich ein wenig.

„Flugangst habe ich keine.“ Der Unbekannte lachte auf. „Ich habe sogar einen Segelflugschein!“

„Nicht noch ein Pilot …“, murmelte Chloé, als sie im Augenwinkel ihren Koffer erspähte. „Mein Koffer!“ Sie wollte bereits hingehen und nach ihm greifen, als der Unbekannte ihn schon für sie vom Band hob.

„Vielen Dank!“ Chloé zog den Griff heraus und wollte schon in Richtung Ankunftshalle gehen, als er sie bat noch einen Moment zu warten.

„Würdest du nun gerne heute Abend …“

Chloé blickte sich nervös um. Als sie die Flugbegleiterinnen näherkommen sah, griff sie in ihre Handtasche und reichte ihm eine Visitenkarte. „Ich habe es wirklich eilig. Danke noch einmal für den Koffer und Entschuldigung, dass ich vorhin über dich drüber gesprungen bin, aber ich muss jetzt wirklich los …“

„Jederzeit wieder. Oh Gott, das klang eigenartig. Ich bin kein Widerling!“, versicherte er ihr mit hochrotem Kopf.

„Keine Sorge“, Chloé musste grinsten. „Ich muss nur wirklich los!“ Sie rannte zur Ankunftshalle, als er ihr in letzter Sekunde nachschrie, dass er Nick hieß und sich später bei ihr melden würde.

Mit später habe ich natürlich in zwei Sekunden gemeint, Chloé. Schön deinen Namen durch deine Visitenkarte zu erfahren Nick

 

Chloé musste schmunzeln, als sie seine Nachricht sah, nachdem sie sich ins Taxi gesetzt und angeschnallt hatte. Binnen Sekunden war sie auf dem Weg in Colin Byrnes Kanzlei. Sie nahm sich vor, Nick etwas später zurückzuschreiben und sich bei ihm zu entschuldigen. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass sie ihm ihre Karte gegeben hatte. Die Ablenkung konnte sie zugegebenermaßen gut gebrauchen …

 

 

 

3

Während der Fahrt durch den Norden der Stadt am Botanischen Garten vorbei, dachte Chloé, wie einzigartig die irische Hauptstadt war. Dublin war weder London noch Paris oder Madrid, dennoch war da etwas, was sie nicht in Worte fassen konnte.

„Ich kann es kaum glauben, wie sehr sich die Stadt verändert hat“, erwähnte Chloé dem Taxifahrer gegenüber.

„Das stimmt. Wie lange liegt dein letzter Besuch zurück?“, wollte Rob Lawless von ihr wissen, der soeben an einer roten Ampel stehen geblieben ist.

„12 Monate“, seufzte Chloé.

„Eine harte Trennung?“

„So kann man es auch nennen … Ich habe meine Tante beerdigen müssen“, erklärte Robs Fahrgast.

„Oh! Das tut mir leid. Seid ihr euch nahegestanden?“

Chloé fand es wie immer interessant, wie Iren den Tod als Teil des Lebens akzeptierten und problemlos darüber plaudern konnten.

„Ich habe bei ihr und ihrer Frau seit meinem achten Lebensjahr meine Sommerferien verbracht“, erklärte Chloé Rob, der in den Rückspiegel blickte.

„Auch wenn der Schmerz tief sitzt, bleiben immerhin die Erinnerungen.“

„Hat nicht die Königin Englands vor ihrem Ableben immer gesagt, dass Kummer der Preis ist, den wir für Liebe bezahlen?“, fügte Chloé mit einem müden Lächeln hinzu.

„Besuchst du die Frau deiner Tante oder was führt dich diesen Sommer nach Dublin?“ Rob bog in die Straße, die am St. Stephen´s Green Park vorbeilief, dem einzigen Park Dublins, der genauso lang wie breit war und einem perfekten Viereck glich – tagein tagaus verwirrte er sämtliche Touristen.

„Die befindet sich gerade in Südfrankreich. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was ich hier mache. Vor einigen Tagen habe ich ein Schreiben vom Anwalt meiner Tante bekommen, dass ich heute um 11 Uhr in seiner Kanzlei erscheinen soll. Als ich mit seiner Sekretärin telefoniert habe, wollte oder konnte sie mir leider auch nichts verraten“, lachte eine gestresste Chloé auf, während der Taxifahrer in der Straße des Anwalts parkte.

Die gregorianischen Gebäude, die sich am Fitzwilliam Square South befanden, brachten sie zum Schmunzeln. Chloé kniff die Augen zusammen. Es kam ihr so vor, als wäre sie schon einmal in diesem Teil der Stadt gewesen. Wenn sie sich recht erinnerte, befanden sich die letzten originalen Doppeltüren Dublins hier irgendwo um die Ecke.

„Das wären dann 20 Euro.“

„Kann ich mit dem Telefon zahlen?“, fragte Chloé, während sie ihre Louboutins anzog und ihr anderes Paar Schuhe in die Tasche packte.

„Natürlich.“ Rob hielt ihr sein Kartenlesegerät nach hinten, ehe er ausstieg und ihren Koffer aus dem Kofferraum hob. „Alles Gute!“

„Dir auch, danke!“ Chloé drehte sich nach rechts, atmete tief durch und ging die vier Stufen zur Haupteingangstür des Gebäudes. Allem Anschein nach befand sie sich im Anwaltsviertel der Stadt. Gleich vier Kanzleien teilten sich das Gebäude. Sie ließ ihren Blick über die Türglocken gleiten und läutete bei Byrne.

 

„Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine freundliche Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.

„Mein Name lautet Chloé Kapoor. Ich habe um elf Uhr einen Termin mit Colin Byrne“, antwortete Chloé.

„Wunderbar! Wir befinden uns im zweiten Stock. Sie können Ihren Koffer unten stehen lassen.“ Die Frau auf der anderen Seite ließ sie hinein.

Chloé konnte sich bereits denken, warum sie wusste, dass sie direkt vom Flughafen gekommen war. Rory. Allen Anschein nach hatte er es geschafft, vor ihr hier anzukommen.

Vorsichtig schloss Chloé die bordeauxfarbene Tür hinter sich und stellte ihren lavendelfarbenen Koffer neben Rorys waldgrünen. Auch ein Geschenk ihrer Tante. Wäre es nicht für Élodie, wäre Chloé jetzt nicht in Dublin. Sie atmete ein letztes Mal tief durch und griff nach dem Geländer. Ihre Schuhwahl würde sie erst, wenn sie wieder hinuntergehen musste, bereuen.

 

„Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen. Ms. Kapoor!“ Catherine O´Reilly hielt Chloé die Hand entgegen. „Bisher haben wir leider nur miteinander telefoniert. Darf ich Ihnen Ihren Trenchcoat abnehmen?“

„Vielen Dank, Catherine! Nennen Sie mich doch bitte beim Vornamen.“ Erleichtert, dass sie sich an den Namen der Sekretärin erinnern konnte, zog Chloé ihren cremefarbenen Trenchcoat aus, den sie sich spontan in London gekauft hatte.

„Welch wunderschönes Kleid, Chloé! Ich liebe es!“ Catherine bewunderte das schwarze Etuikleid, das sich die Mandantin ihres Chefs vor wenigen Stunden angezogen hatte. „Oh mein Gott, sind das Louboutins? Größe 5?“

„Ja, ein Geschenk an mich selbst, nachdem ich letzten Monat eine bekannte indische Autorin dazu gebracht habe, unserem Verlag beizutreten.“ Chloé wurde rot. Sie stand nicht gerne im Mittelpunkt.

„Ich sollte auch damit anfangen mich für diverse Projekte zu belohnen!“, lachte Catherine auf und wollte schon die Tür zu Colin Byrnes Büro aufmachen, als Chloé sie fragte, ob sie noch eine Minute hatte, um sich frisch zu machen.

„Aber natürlich!“ Catherine deutete auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite und sah bewundernd auf Chloés Schuhe hinunter, während sie hinüber ging.

„Danke!“

Chloés Armbanduhr zeigte an, dass sie noch drei Minuten Zeit hatte. Sie blickte nervös und aufgeregt zugleich in den Spiegel. Reiß dich zusammen, Chloé!

Ihre gewellten schwarzen Haare reichten ihr mittlerweile bis zur Mitte ihres Rückens. Sie hatte sich, seit sie Dublin im Vorjahr verlassen hatte, nur die Spitzen schneiden lassen. Seitdem Rory am Flughafen seine Hände in ihren Haaren gehabt hatte, hatte sie sich nur von wenigen Millimetern verabschieden können. Chloé schloss die Augen. Sie wollte nicht an Rory denken oder was gewesen war. In wenigen Sekunden würde sie ihn sehen. Abermals seufzte sie, ehe sie ein letztes Mal in den Spiegel sah und zurück zu Catherine ging, die lächelnd aufstand und zur Bürotür des Anwalts vorausging.

Nach einem sanften Klopfen öffnete sie die Tür und kündigte Chloé an, ehe sie auf die Seite ging und die Mandantin ihres Chefs eintreten ließ.

 

„Ms. Kapoor!“ Colin war bereits im Aufstehen, als Chloé ihm deutete, einen Moment zu warten und sich zu Rory drehte, der bereits aufgestanden war und nun vor ihr stand.

„Warum hast du nicht auf mich gewartet?“, fragte er lächelnd und wollte nach ihrem Oberarm ergreifen, um ihr einen Kuss auf beide Wangen zu geben, wie es in Irland und auch in Frankreich üblich war.

Ohne Vorwarnung ohrfeigte sie ihn. Verblüfft sah Rory sie mit seinen grünen Augen an, ehe er verschmitzt zu grinsen begann. „Ich habe dich auch vermisst, Chloé!“ Im selben Moment drehte er sich zu einem überraschten Colin. „Keine Sorge, die habe ich verdient!“

„Das hat er!“ Chloé drehte sich zu Colin, nahm ihre übergroße Jimmy Choo-Sonnenbrille vom Kopf und reichte ihm die Hand. „Chloé Kapoor.“

„Was auch immer hier gerade passiert ist interessiert mich!“ Der Anwalt zwinkerte ihr mit einem diabolischen Grinsen zu. „Seid ihr …?“

„Definitiv nicht!“ Chloé schüttelte vehement den Kopf.

„Konntest du das noch schneller sagen?“, warf Rory irritiert ein.

„Weißt du, wo sich die Stoppuhr auf deinem Smartphone befindet?“, forderte Chloé ihn mit einem süffisanten Grinsen heraus.

„Das wird immer interessanter! Wie wäre es, wenn wir heute Abend miteinander essen gehen?“ Sowohl Chloé als auch Rory ließen ihren Blick voneinander ab und sahen zu Colin hinüber, der mittlerweile wieder hinter seinem Schreibtisch saß.

„Freundin? Verlobte? Ehefrau?“ Chloé legte den Kopf auf die Seite.

„Definitiv nicht!“ Colin grinste bei seiner Wortwahl, die er bewusst gewählt hatte, um eine Reaktion von ihr zu bekommen.

„Ich verstehe.“ Ein Schmunzeln machte sich auf ihren Lippen breit. Nick würde warten müssen. „Hol mich um acht Uhr vom Haddington House in Dún Laoghaire ab!“

Rory räusperte sich, als er bemerkte, wie Colin auf ihre Füße starrte. „Seid ihr fertig? Ich will, was auch immer das ist, nicht unterbrechen, aber können wir jetzt, wo Ms. Kapoor da ist, endlich darüber sprechen, warum wir eigentlich hier sind?“

Irritiert sah Chloé zu ihm hinüber. Hatte er sie gerade wirklich Ms. Kapoor genannt?

Sie musste sich die ganze Zeit über zwingen, sich voll und ganz auf den Anwalt ihrer Tante zu konzentrieren, um nicht Rory anzusehen. Er sah viel zu gut aus in seiner Uniform. Warum fiel es ihr nur so schwer, ihn zu ignorieren? In dem Jahr, in dem sie ihn nicht gesehen hatte – warum lud er auch nie Fotos von sich auf seinen Instagram-Account? –, hatte er sich zwar kaum verändert, doch sah er irgendwie anders als zuvor. Rory erschien ihr größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Abermals schweiften ihre Gedanken zu ihrem Abschied im Flughafen.

Chloé blickte geschockt zu ihm. Hatte sie ihn wirklich gerade geohrfeigt? Vor einem Anwalt?

„Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe, Chloé?“, fragte Colin sie.

„Ich war in Gedanken … verzeih mir … kannst du es bitte wiederholen?“

„Du kannst dein Hotel stornieren. Deine Tante und ihre Frau haben euch das Haus überschrieben“, wiederholte Colin.

„Wie bitte?“ Chloé verstand zwar die Worte, die der Anwalt sagte, konnte sie jedoch nicht glauben. „Sie haben was gemacht?“

„Sie haben euch ihr Haus überschrieben …“, wiederholte Colin ein drittes Mal.

„Höre ich hier ein aber?“, wollte Rory von dem Mann wissen, der ihm gegenübersaß.

„Da sie wussten, dass du deinen Hauptwohnsitz in London hast, Rory, und du deinen in Mumbai, Chloé, hatten sie Angst davor, dass ihr emotional entscheiden und das Haus sofort verkaufen würdet. Deswegen haben sie bereits lange vor Élodies Tod veranlasst, dass ihr nur dann eine Entscheidung treffen könnt, was mit dem Haus geschieht, nachdem ihr drei Monate lang zusammen in der Villa gelebt habt.“ Colin lehnte sich in seinen whiskeyfarbenen Ledersessel zurück und sah sie erwartungsvoll an.

„Drei Monate? Mit ihm?“ Chloé riss die Augen auf und starrte ihr Gegenüber an, während sie mit ihrem linken Daumen auf Rory zeigte.

„Chloé …“, seufzte Rory.

„Das sind die Konditionen.“

„Was sollen wir mit einem Haus in Dublin?“ Chloé fühlte sich verloren, was man ihr auch ansehen konnte. „Wie kann ich, nachdem wir dort Schiwa gesessen haben, drei Monate lang glücklich sein“, flüsterte sie kaum hörbar. Als sie bemerkte, wie Rory nach ihrer Hand greifen wollte, stand sie hastig auf und rückte mit ihrem Stuhl auf die andere Seite des Raumes.

„Hier sind die Schlüssel.“ Colin überreichte ihnen je einen Bund.

Rory konnte nicht fassen, dass seine Patentante ihm ihre Hälfte des Hauses überschrieben hatte, das er so sehr liebte. Warum hatte sie nichts gesagt, als er sie auf dem Weg zum Anwalt angerufen und mit ihr gesprochen hatte? Immer wieder fiel sein Blick auf Chloé, der es wahnsinnig schwerfiel, Colin die Schlüssel aus der Hand zu nehmen.

Irritiert verließ Chloé den Raum und sah zu Catherine, ehe sie sich mit einem forcierten Lächeln zu Colin umdrehte, der abermals bestätigte, dass er sie am Abend von ihrem Haus abholen würde.

„Ich freue mich schon auf unseren Abend, Chloé.“ Galant half er ihr in den Trenchcoat, den Catherine bereits in der Hand hielt.

„Habt einen schönen Tag, ihr beiden!“, rief die Sekretärin Chloé und Rory hinterher, ehe er die Tür hinter sich zumachte und Chloé voraus die Stufen hinunterging.

 

4

Seit sie das Gebäude, in dem sich die Kanzlei befand, verlassen hatte, war Chloé nachdenklich gestimmt. Sie merkte nicht einmal, wie Rory ihr den Koffer aus der Hand nahm und zu seinem Auto hinüberging, dass er, wenn es nicht im Flughafen stand, bei seinem Bruder in dessen Einfahrt parkte. Bisher übernachtete er bei ihm und seiner Schwägerin, wann auch immer er in Dublin war.

Ohne ein Wort mit ihm zu wechseln und in Gedanken ganz woanders stieg Chloé auf der Beifahrerseite des dunkelblauen Audi ein. Schweigend fuhren sie durch Ballsbridge.

„Hast du jetzt vor mich die ganze Fahrt über wegen dieser Sache zu ignorieren?“, räusperte sich Rory, der leicht errötete und einen Moment zu ihr hinübersah.

„Ich habe dir nichts zu sagen“, erwiderte sie.

„Übertreibst du jetzt nicht ein wenig, Chloé?“

„Ich war verlobt, Rory!“

„Jetzt bist du es offensichtlich nicht mehr.“ Rory blickte auf ihre linke Hand hinunter, um sicherzugehen, dass er sich zuvor nicht geirrt hatte und sie wirklich weder einen Verlobungsring noch einen Ehering trug.

„Das tut nichts zur Sache! Du kannst nicht durch die Gegend laufen und verlobte Frauen küssen! Schon gar nicht so!“

„Es war eine Extremsituation! Meinst du, ich habe am Vorabend im Bett gelegen und mich gefragt, wie ich dich wohl am bestem vor einem Langstreckenflug überrumpeln kann? Meinst du, ich habe das alles geplant?“, entfuhr es ihm.

„Das wäre ja noch schöner gewesen!“ Chloé hatte Flammen in den Augen, während Rory sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „So meine ich es nicht, Rory!“ Chloé hatte selbst große Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken, so wie er sie ansah. „Es ist grün. Willst du nicht weiterfahren?“, fragte sie, als sie sich für einen Moment wieder zu ihm drehte.

„Du hast nur so traurig ausgesehen …“ Rory legte seufzend den zweiten Gang ein.

„Küsst du jede Frau, die vor dir steht und traurig aussieht?“ Herausfordernd blickte sie ihn von der Seite an. Sie hatte vergessen, wie attraktiv sein Profil war.

„Chloé …“

„Das ist nicht einmal das größte Problem an dem Ganzen!“ Chloés Stimme begann zu beben.

„Sondern?“

„Dass du einfach davongelaufen bist, ohne ein Wort zu sagen!“

Der Gedanke an diesen Tag schmerzte Chloé zutiefst. Es kam ihr auch jetzt so vor, als ob seit ihrem Abschied kaum 24 Stunden vergangen waren.

„Weil sie meinen Namen gerufen haben. Nicht, weil ich wollte …“ Rory umklammerte angespannt das Lenkrad. Er musste sich an etwas festhalten.

„Ich war verlobt, Rory …“, flüsterte Chloé.

„Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich zurückgeküsst …“ Er war nahe dran zuzugeben, dass er seit ihrem Abschied im Vorjahr an nichts anderes mehr denken konnte.

„Das habe ich ganz bestimmt nicht!“, rief Chloé eine Oktave höher. Sie würde sich vor dem Mann neben ihr keine Blöße geben und zugeben, dass er recht hatte.

„Ich werde doch wohl noch wissen, ob mich eine Frau zurückküsst oder nicht!“

„Rory!“

„So schlimm konnte es für dich nicht gewesen sein, sonst hättest du es nicht gemacht!“, sprudelte es aus ihm heraus.             

Chloé war viel zu irritiert, um etwas zu erwidern, was ihn abermals zum Grinsen veranlasste.

„Gibst du mir gerade zu verstehen, dass es der beste Kuss aller Zeiten war und du seither an nichts anderes mehr denken kannst?“

Den strafenden Blick, den sie ihm nach diesem Kommentar zuwarf, konnte er nicht sehen, da er konzentriert auf die Straße blickte. Chloé hatte auch diesmal nicht vor zuzugeben, dass er, auch wenn er scherzte, nicht unrecht mit seiner Vermutung hatte.

„Hast du Rahul davon erzählt?“, fragte Rory sie unerwartet.

Zu Chloés großer Überraschung wirkte er extrem nervös.

„Nein …“, piepste es kaum hörbar vom Beifahrersitz.

„Haben wir etwa ein kleines Geheimnis vor ihm?“ Rory zwinkerte ihr aufmunternd zu.

„Das ist nicht witzig …“

„Warum hast du ihm nichts davon erzählt? Wo ist er überhaupt?“, fragte Rory, während er in eine ruhige Seitenstraße einbog.

„Entweder unter der Innenarchitektin seiner Mutter, auf seiner Stiefschwester oder hinter unserer Hochzeitsplanerin.“ Chloé schloss die Augen. Sie konnte noch immer nicht glauben, wie dumm sie gewesen war. Sie hatte nicht gemerkt, mit wie vielen Frauen Rahul sie in Indien betrogen hatte. Hätte ihre Mutter ihn nicht in flagranti mit der Hochzeitsplanerin erwischt, hätte sie es womöglich nie herausgefunden.

„Wie bitte?“ Rory bremste ab. „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“

Chloé riss die Augen auf und sah ihn verdutzt an. „Warum bist du stehen geblieben? Hast du noch nie gehört, dass ein Mann seine Verlobte mit verschiedenen Frauen betrogen hat?“

„Ich bin nicht deswegen stehen geblieben, sondern weil wir angekommen sind.“ Rory deutete zum Fenster hinaus. „Also, warum hast du mir nichts davon erzählt?“

„Weil es dich nichts angeht, du von mir weggelaufen bist und mich ein Jahr lang ignoriert hast?“

„Ich habe dich nicht ignoriert, Chloé … “ Rory klang so erschöpft, wie sie sich fühlte.

„Du bist einfach weggelaufen … ausgerechnet du!“ Chloé lehnte ihren Kopf frustriert gegen die Lehne und schloss die Augen.

„Weil sie meinen Namen gerufen haben!“ Er ließ seine Stirn auf sein Lenkrad fallen.

„Du hättest dich melden können …“

„Hättest du das gewollt?“ Rory drehte seinen Kopf auf die Seite, sodass er sie besser beobachten konnte.

„Wie bitte?“ Nun wandte sich Chloé auch ihm zu.

„Hättest du Rahul für mich verlassen?“

„Darum geht es nicht, Rory!“ Chloé verstand die Welt in diesem Moment nicht. Gab Rory McCarthy ihr wirklich gerade zu verstehen, dass er Interesse an ihr hatte? Noch immer hat?

„Was, wenn ich … Oder was, wenn Rahul mitbekommen hätte, was passiert ist und dich vor die Entscheidung gestellt …“

Chloé atmete tief durch. „Du hast keine Ahnung, was für ein schlechtes Gewissen ich die ganze Zeit über hatte, Rory! Mir ist es mehrmals beinahe herausgerutscht! Was im Nachhinein nicht verkehrt gewesen wäre. Habe ich schon erwähnt, dass es meine Mutter war, die ihn erwischt hat? Letzten Monat. Im Auto. Mit unserer Hochzeitsplanerin!“

„Léa? Wirklich?“ Rory wollte noch etwas hinzufügen, als plötzlich die Nachbarin gegen das Fenster auf der Fahrerseite klopfte und er aufschreckte.

 

Áine McDonnell wollte Chloé gar nicht mehr loslassen, so sehr freute sich die Frau, sie zu sehen. „Saoirse hat mich gestern aus Frankreich angerufen und mir erzählt, dass ihr heute kommt! Ich freue mich sehr, euch beide nach so langer Zeit zu sehen! Olivia ist vor ein paar Tagen auch aus Melbourne zurückgezogen.“ Áine erzählte den beiden ohne Punkt und Komma, dass sich ihre Tochter – eine Ärztin, die zwei Jahre lang in Australien praktiziert hatte – wie viele anderen irischen Ärzte auch entschlossen hatte, wieder zurück in die Heimat zu ziehen. „Wenn man vom Teufel spricht! Liv, komm her! Rory ist gerade gekommen!“

Chloé zog die Augenbrauen hoch. War sie plötzlich unsichtbar?

„Rory! Schön, dich zu sehen.“ Olivia stieß die Gartenpforte auf und fiel Rory um den Hals. „Du hast dich in den letzten Jahren kaum verändert!“

„Du auch nicht, Olivia! Wie lange ist es her? Drei Jahre?“ Rory ließ sie los und trat einen Schritt näher an Chloé heran.

„Chloé!“ Genauso herzlich, wie sie Rory begrüßt hatte, begrüßte Olivia nun auch ihre Freundin aus Kindheitstagen.

„Liv! Ich habe geglaubt, dass du erst in ein paar Monaten zurückkommst?“ Die beiden Frauen hatten sich über die letzten Jahre hinweg immer mal wieder in Asien für ein paar Tage getroffen, um gemeinsam neue Städte zu erkunden.

„Toby und ich haben uns getrennt und ich habe es nicht mehr ausgehalten“, flüsterte Olivia ihrer Freundin ins Ohr. „Mum weiß nichts von ihm. Bitte sag nichts“, fügte sie hinzu.

Olivia band sich einen Pferdeschwanz und hörte Rory gespannt zu, wie er ihrer Mutter von seinem Leben in London erzählte. Chloé sah von der Mutter zur Tochter und zurück zur Mutter und stelle erstaunt fest, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen, jetzt, wo Olivia älter war. Beide hatten blonde Haare, wasserblaue Augen und eine so helle Haut – wie die Porzellanpuppen in der Vitrine ihrer Mutter in Mumbai. Bei ihren Eltern musste sie sich auch noch melden! Sie hatte bisher noch keine Zeit dafür gefunden. Hoffentlich machten sie sich nicht allzu große Sorgen.

Chloé wusste nicht, wie die beiden darauf reagieren würden, dass ihre Tochter die nächsten Monate in Irland verbringen würde. Höflich nickte sie immer wieder, während Áine ihnen von irgendwelchen Blumen erzählte, die ihr Gärtner die Woche zuvor in ihrem Vorgarten gesetzt hatte.

 

5

Nachdem sich die McDonnells von Chloé und Rory verabschiedet hatten und zurück ins Haus gegangen waren, starrten die beiden einen Moment lang auf die vertraute viktorianische Villa vor ihnen. Sie konnten beide nicht fassen, dass dieses Haus in der Shrewsbury Road nun zu gleichen Teilen ihnen gehörte.

„Wir sollten langsam unsere Sachen reinbringen, bevor es zu regnen anfängt, Chloé. Das Auto fahre ich später rein, wenn wir aus dem Supermarkt zurück sind“, räusperte sich Rory.

---ENDE DER LESEPROBE---