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Beth und Tom Hardcastle leben in dem kleinen, idyllischen Ort Lower Tew und werden von allen beneidet. Sie führen die perfekte Ehe, haben das perfekte Haus, die perfekte Tochter, kurzum: Sie sind die perfekte Familie ... zumindest bis zu dem Tag, an dem die Polizei auftaucht und Tom wegen Mordes in Haft nimmt. So beginnt auch für Beth eine tägliche Tortur, denn die Nachbarn können nicht glauben, dass sie nichts von Toms Taten gewusst hat. Zunächst verteidigt Beth ihren Mann noch und beteuert seine Unschuld. Mit der Zeit wird jedoch klar, dass auch sie ihre Geheimnisse hat, die ihre Freunde und Nachbarn nicht erfahren sollen, ganz zu schweigen von der Polizei.
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Seitenzahl: 477
Beth und Tom Hardcastle leben in dem kleinen, idyllischen Ort Lower Tew und werden von allen beneidet. Sie führen die perfekte Ehe, haben das perfekte Haus, die perfekte Tochter, kurzum: Sie sind die perfekte Familie … zumindest bis zu dem Tag, an dem die Polizei auftaucht und Tom wegen Mordes in Haft nimmt. So beginnt auch für Beth eine tägliche Tortur, denn die Nachbarn können nicht glauben, dass sie nichts von Toms Taten gewusst hat. Zunächst verteidigt Beth ihren Mann noch und beteuert seine Unschuld. Mit der Zeit wird jedoch klar, dass auch sie ihre Geheimnisse hat, die ihre Freunde und Nachbarn nicht erfahren sollen, ganz zu schweigen von der Polizei.
Alice Hunter arbeitete nach Abschluss ihres Psychologiestudiums als Interventionsleiterin in einem Gefängnis. Dort gehörte sie zu einem Team, das Rehabilitationsprogramme für Männer anbot, die wegen einer Vielzahl von Straftaten verurteilt worden waren oder schwere Gewaltverbrechen begangen hatten. Zuvor war Alice als Krankenschwester im NHS tätig. Ihre Erfahrungen in Psychologie und Kriminologie setzt sie nun erfolgreich in ihren Romanen ein.
ALICE HUNTER
DIE
FRAU
DES
SERIEN
KILLERS
JEDE EHE HAT IHRE GEHEIMNISSE
THRILLER
Übersetzung aus dem Englischenvon Rainer Schumacher
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Serial Killer’s Wife«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by HarperCollinsPublishers
Published by arrangement with AVON
A division of HarperCollinsPublishers Ltd, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und
Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-7431-4
luebbe.de
lesejury.de
Für Katie Loughnane,
eine inspirierende Lektorin und Freundin.Ich danke dir.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Verärgerung, als ich das hartnäckige Klopfen an der Tür höre. Poppy hat sich endlich zusammengekuschelt, nachdem ich ihr dreimal The Wonky Donkey vorgelesen habe. Und ich habe ihr mehr als nur einmal versprochen, dass Daddy definitiv rechtzeitig zurück sein wird, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Inzwischen ist es schon nach acht, und sie sollte eigentlich seit zwei Stunden schlafen.
»Daddy ist da!«, ruft sie und reißt ihre aquamarinblauen Augen auf und jedes Anzeichen von Müdigkeit ist augenblicklich verflogen.
»Und anscheinend ist es ihm zu lästig, den Schlüssel zu benutzen«, seufze ich und erhebe mich von dem Disneyprinzessinnenbett. »Mach ruhig wieder die Augen zu, Poppy-Püppi. Ich schicke ihn gleich rauf.« Ich streiche ihr mit dem Finger über die Nase.
Dann laufe ich die Treppe runter, ducke mich instinktiv unter dem niedrigen Eichenbalken hindurch und will die Tür aufreißen und Tom anbrüllen, weil er so spät ist und das, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Doch gleichzeitig will ich ihn auch so schnell wie möglich in die Arme schließen. Er kommt nie zu spät von der Arbeit, und ich habe mich verrückt gemacht, dass ihm etwas passiert sein könnte. Ich habe mich mit dem Gedanken beruhigt, dass der Zug Verspätung hatte, oder dass er auf dem Weg vom Bahnhof Banbury im Verkehr stecken geblieben ist – von Lower Tew nach Central London pendelt man nicht gerade über die schnellste Strecke –, aber wenn ihn wirklich etwas aufgehalten hätte, hätte er mich doch angerufen, um mir Bescheid zu sagen. In jedem Fall hätte er seine kleine Poppy nicht enttäuscht. Er liebt ihr glückliches Quieken, wenn er mit lustigen Stimmen vorliest. Etwas, das ich wohl nie hinkriegen werde, auch wenn Poppy nicht müde wird, mir zu sagen, dass ich es noch mal versuchen soll. Sie ist anscheinend fest davon überzeugt, dass es schon irgendwann klappen wird.
Ich schließe die massive Holztür auf und atme tief durch. Es gibt keinen Grund, warum ich sauer auf ihn sein sollte. Er kommt einfach nur zu spät, mehr nicht. Da ist es völlig egal, dass er Poppy geweckt hat. Er wird sie glücklich wieder ins Bett bringen, während ich ihm das Abendessen warmmache. Brüll ihn nicht an.
Ich öffne die Tür. »Warum nimmst du nicht deinen Schlüssel?«, tadele ich ihn instinktiv.
Doch es ist nicht Tom.
»Oh … Äh … Tut mir leid. Ich habe …« Ich lasse den Satz unvollendet.
»Guten Abend. Mrs. Hardcastle, nicht wahr?«, fragt einer der beiden Männer. Sie stehen Schulter an Schulter auf meiner schmalen Schwelle und versperren mir die Sicht nach draußen. Ich kann das Fahrzeug nicht sehen, mit dem sie gekommen sind, doch ihre schicken Anzüge, ihr Auftreten und die Tatsache, dass sie meinen Namen kennen, lassen keinen Zweifel daran, dass sie Polizisten sind.
»J… Ja?«, stottere ich.
Ich zittere. Ich hatte recht. Tom hatte einen Unfall. Ich halte mich am Türrahmen fest und kneife die Augen zusammen. Ich atme schnell und flach und warte auf das Unvermeidliche.
»Wir würden gerne mit Mr. Thomas Hardcastle sprechen.« Der Mann – ich schätze ihn auf Anfang fünfzig, denn sein Haar ist an den Schläfen ergraut und oben stark ausgedünnt – öffnet eine Lederbörse und zeigt mir eine Dienstmarke. »Ich bin Detective Inspector Manning von der Metropolitan Police, und das hier ist mein Kollege aus Thames Valley, Detective Sergeant Walters.«
Seine Worte fliegen über mich hinweg, und Erleichterung macht sich breit. Wenn sie nach ihm fragen, dann sind sie nicht gekommen, um mir zu sagen, dass er tot ist.
»Er ist nicht hier. Er hat sich verspätet. Als es geklopft hat, dachte ich, er wäre es«, antworte ich. Ich habe mich ein wenig gefasst. »Worum geht es denn?« Ich runzle die Stirn, als mir plötzlich bewusst wird, dass DI Manning immer weiter reinkommt, während der andere Detective, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, inzwischen durch den Vorgarten schlendert.
Manning antwortet nicht darauf.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Allmählich ärgert mich das alles. Was wollen die von uns?
»Dann kommen wir rein und warten auf ihn«, sagt Manning. Er dreht sich zu dem anderen Detective um, der inzwischen wieder an seiner Seite ist. »Walters, schauen Sie zuerst mal hinten nach«, befiehlt er in einem schroffen Ton. Diesmal merke ich mir den Namen des Jungen. Ich glaube nicht, dass ich eine Chance habe, ihnen den Zutritt zu verweigern, auch wenn es mir nicht gefällt, zwei fremde Männer um diese Zeit in mein Heim zu lassen, zumal ich alleine bin. Als würde er meine Nervosität spüren, fragt DI Manning, ob ich erst auf dem Revier anrufen wolle, um mir seine Identität bestätigen zu lassen. Ich lache, sage, das sei schon okay, und ziehe die Tür weiter auf.
Ich höre Poppy aus ihrem Zimmer rufen, und ich rufe zurück: »Ich komme gleich rauf, Süße!« Ich deute auf die Küche und sage »Bitte, da hinein« zu DI Manning. Dann folge ich ihm, als er mit langen, entschlossen Schritten vorausgeht. Ich schaue auf mein Handy. Keine verpassten Anrufe. Keine SMS von Tom.
Wo zum Teufel steckst du?
Ich stecke das Handy wieder in die Hosentasche. »Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Oder Kaffee vielleicht?«
»Ja, danke. Tee, bitte. Schwarz, kein Zucker.«
Meine Gedanken überschlagen sich, als ich den Kessel aufsetze und zwei Becher von den Haken an der Wand nehme. »Sie haben mir noch nicht geantwortet. Worum geht es denn?« Ich versuche, so gelassen wie möglich zu klingen, neugierig, nicht fordernd.
»Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich nur ein paar Fragen«, sagt DI Manning, der inzwischen an unserem großen Eichentisch sitzt. Der Tisch ist eines unserer Lieblingsstücke. Wir haben ihn gekauft, als wir vor zwei Jahren hier eingezogen sind. Ich wollte die Veränderung. Also haben wir uns vom modernen Londoner Stil verabschiedet und uns eher rustikal im Cotswold-Stil eingerichtet.
DI Mannings Wortwahl lässt mein Herz schneller schlagen. Zum jetzigen Zeitpunkt?
»Oh! Und Fragen wozu …?«
Bevor er mir antworten kann, klappert die hintere Küchentür. Ich öffne den oberen Teil. DS Walters steht davor. Offenbar hat er sich das Grundstück angesehen.
Glauben sie, dass Tom sich hier versteckt? Dass ich ihn verstecke? So etwas wie Panik keimt in mir auf, als meine Fantasie Amok läuft. Ich schlucke und versuche, diese Gedanken wieder zu verdrängen.
Ich lasse Walters herein und frage ihn, ob er auch etwas zu trinken will. Er spricht nicht, sondern schüttelt nur den Kopf. Ein sandfarbenes Haarbüschel fällt ihm dabei ins Gesicht, und er streicht es stumm mit dem Zeigefinger zurück. Wenn die beiden mich nervös machen wollen, dann ist ihnen das gelungen.
»Sie haben gesagt, Ihr Mann habe sich verspätet. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Er pendelt von Montag bis Freitag nach London. Er arbeitet in einer Bank … für Moore & Wells.« Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Also sage ich nichts mehr.
»Haben Sie schon versucht, ihn anzurufen?«
»Vorhin, ja, kurz bevor ich unsere Tochter ins Bett gebracht habe. Aber seitdem nicht mehr.«
»Könnten Sie es jetzt noch einmal versuchen? Bitte?«
Meine Fingerspitzen zittern, als ich versuche, auf Toms Namen in der Anrufliste zu tippen. Versehentlich wähle ich stattdessen Lucys Nummer und muss den Anruf sofort wieder abbrechen. Beim zweiten Versuch treffe ich den richtigen Kontakt. Es klingelt zweimal; dann springt der Anrufbeantworter an. Verdammt, er muss den Anruf umgeleitet haben. Ich will es gerade noch einmal versuchen, als ich etwas an der Haustür höre.
Es ist Tom. Gott sei Dank. Jetzt wird sich alles aufklären.
»Tom! Wo warst du?« Ich laufe zu ihm, drücke ihn fest an mich und bemerke einen leicht säuerlichen Geruch. Er trägt sein Anzugjackett nicht. Er muss es im Auto gelassen haben. Ich flüstere ihm ins Ohr: »Da sind zwei Detectives, die mit dir sprechen wollen.«
Ich löse mich gerade noch rechtzeitig von ihm, um zu sehen, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht weicht. Seine leuchtend blauen Augen flackern … als hätte er Angst.
Jetzt nagt auch an mir die Furcht.
»Mr. Thomas Hardcastle?« DI Manning ist aufgestanden, als wir in die Küche kommen. Er hält seine Dienstmarke hoch und tritt zu Tom. »Detective Inspector Manning, Metropolitan Police.«
Ich sehe, wie sich Toms Adamsapfel bewegt. Er schluckt.
»Ja. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt Tom und blickt kurz zu mir, bevor er sich wieder dem Detective zuwendet. Habe ich da ein Zittern in seiner Stimme gehört?
»Wir glauben, dass Sie uns bei einer Mordermittlung helfen können.«
Die Nespresso-Maschine zischt, während ich in der Küche herumlaufe und versuche, drei Dinge gleichzeitig zu erledigen. Das liegt nicht daran, dass Montag ist. Werktags beginnt jeder Morgen so: chaotisch, laut, hektisch … und sehr früh. Poppy war schon um fünf Uhr wach, und gut zehn Minuten lang habe ich sie in ihrem Zimmer herumhantieren und mit ihren Lieblingsstofftieren plappern hören – mit einem Löwen, einem Tiger und mit einem Faultier. Dann ist sie zu mir gekommen, ohne einen Hauch von Schlaf in ihren wunderhübschen Augen.
Ganz anders als bei mir. Meistens schlafe ich nicht mehr als vier Stunden, und daher wirken meine Augen immer müde.
Tom war schon länger auf, hat geduscht und einen seiner vielen Anzüge angezogen – dunkelgrau, seine Farbe der Wahl. Jetzt sitzt er an dem schweren Bauerntisch in der Küche, hat die Nase in sein iPad versenkt und wartet darauf, dass ich ihm Kaffee und ein schnelles Frühstück mache. Das ist unsere Morgenroutine. Anschließend fährt Tom die zwanzig Minuten zum Bahnhof Banbury, von wo er mit dem Zug um 07:04 Uhr nach Marylebone weiterfahren wird. Er hat keine Ahnung, wie sich mein Tag danach gestaltet, doch oft, wenn er noch bei Kaffee und Rührei am Tisch sitzt, küsse ich ihn auf die Stirn und sage ihm, wie chaotisch das alles ist.
Dann lächelt er immer, schaut mir in die Augen, zwinkert und sagt: »Aber das wolltest du doch so.«
Und natürlich hat er recht damit. Das Leben ist großartig. Wir tun beide, was wir lieben – er als Fondsmanager und ich mit meinem Keramikcafé –, und am Ende des Tages kommen wir wieder heim zu unserer kleinen Poppy. All unsere Freunde und Nachbarn beneiden uns. Nun, ich jedenfalls habe so ein, zwei Freunde hier, während Tom lieber allein ist. Seit wir hierher gezogen sind, hat er kaum am Dorfleben teilgenommen. Das passiert, wenn man zu lange in London gelebt hat. Ihm ist schlicht die Fähigkeit abhandengekommen, Freunde zu finden. Als ich ihn vor sieben Jahren kennengelernt habe, war er ein richtiges Feierbiest. Er war unglaublich charmant, witzig und intelligent. Aber in der Londoner Szene muss man sich auch nicht so viel Mühe geben wie auf dem Land. Ich werde demnächst mal versuchen, eine Dinnerparty zu organisieren und ihn irgendwie mitzuschleppen. Das würde mir auch guttun. Ich habe in letzter Zeit so viel im Café gearbeitet, dass ich meine sozialen Kontakte total vernachlässigt habe, aber ich hoffe, das ändert sich, wenn ich mit meinem neuen Buchclub an den Start gehe.
Nachdem Tom sein Rührei gegessen und das Geschirr in die Spüle gestellt hat, küsst er zuerst Poppy zum Abschied und kommt dann zu mir. Er schlingt die Arme um meine Hüfte, zieht mich dicht zu sich heran und drückt seine Lippen auf meine. Seine wunderbaren, weichen, vollen Lippen. So hektisch es morgens bei uns auch zugeht, diesen Moment genieße ich jedes Mal. Ich sauge ihn förmlich auf. Tom packt meinen Hintern, drückt hart zu, und sofort bin ich erregt.
»Ich könnte dich auf der Stelle nehmen. Hier. Auf der Arbeitsplatte«, keucht er mir ins Ohr und überschüttet mich mit immer sinnlicheren Küssen.
»Ja, kein Zweifel. Aber ich glaube, unsere Tochter hat da auch noch ein Wörtchen mitzureden«, flüstere ich atemlos.
Poppy ist viel zu sehr damit beschäftigt, die einzelnen Bestandteile ihres Frühstücks auf dem Plastikteller hin und her zu schieben – die Toaststreifen zu den Bananenscheiben, auf die sie dann die halbierten Erdbeeren stapelt –, als dass sie bemerkt hätte, was wir tun. Trotzdem tritt Tom einen Schritt zurück und atmet tief ein.
»Gott, was machst du nur mit mir, Mrs. Hardcastle?« Er lacht über seinen üblichen Scherz, und Lachfältchen bilden sich an seinen Augen. »Dass du mich einfach so gehen lässt …«, sagt er, nimmt meine Hand und drückt sie sich in den Schritt. »Du solltest wirklich beenden, was du begonnen hast. Was soll ich jetzt damit machen?«
Ich lache. »Jetzt benimm dich! Du wirst schon zurechtkommen.« Ich will meine Hand wegnehmen, doch Tom hält sie noch kurz fest.
»Okay. Das muss ich wohl. Ich mache mich dann auf den Weg. Vielleicht können wir da ja weitermachen, wenn ich wieder zurück bin.« Und weg ist er, und ich stehe ein wenig atemlos in der Küche, den Rücken an die Arbeitsplatte gelehnt. Poppy greift nach Toms iPad, das er mitten auf dem Tisch hat liegen lassen.
»Will CBeebies gucken«, sagt sie.
»Oh. Moment.« Ich schnappe mir ein Feuchttuch und wische ihr damit die Hände ab. »Ich glaube nicht, dass Daddy deine klebrigen, kleinen Finger auf dem Bildschirm sehen will.« Genau genommen würde Daddy gar nicht wollen, dass sie es benutzt. Er ist ziemlich pingelig, wenn es um sein iPad geht. Dabei eignet sich das Ding hervorragend dafür, Poppy bei Laune zu halten, und ich habe es in letzter Zeit auch selbst öfter benutzt, wenn er weg war. Also gebe ich es Poppy, während ich mich fertig mache.
*
Ungefähr eine Stunde später ist Poppy angezogen und ihr kleiner Rucksack gepackt. Geduldig wartet sie an der Haustür darauf, dass auch ich meine Sachen zusammensuche. Sie wippt vor und zurück und singt irgendein Lied vor sich hin, das ich nicht erkenne. Gott segne sie. Poppy hat zwar keine Lust auf die Kita, aber wenn sie erst einmal da ist, dann ist alles okay. Allerdings scheint sie noch mit keinem der anderen Kinder warmgeworden zu sein. Jedenfalls hat sie bisher keines mit Namen erwähnt. Ich glaube, sie kommt auf mich in diesem Alter. Auch ich habe damals nur schwer Vertrauen gefasst. Vielleicht bin ich ja noch immer so. Ich schnappe mir meine Schlüssel und einen Stapel Plakate vom Garderobentisch, die ich gestern gemacht habe.
»Oh! Moment. Wo hast du Daddys iPad hingetan, Süße?« Ich schaue mich im Flur um und werfe dann rasch einen Blick in die Küche. Das iPad ist nirgends zu sehen.
»Äh … Ich … Äh …« Poppy zuckt mit den Schultern.
»Egal. Ich werde es später schon finden.« Ich habe jetzt keine Zeit zum Suchen. »Okey-dokey, mein kleines Poppy-Püppi. Los geht’s!«
Als wir rausgehen, nehme ich ihre Hand. »Die sind total hübsch, Mommy«, sagt sie und deutet mit der freien Hand auf die Blumen im Garten. Ich weiß zwar nicht, was genau das für Blumen sind, aber Poppy hat recht. Sie sind wunderschön. Purpur, Blau und Pink. Auch die Tür unseres Hauses ist von Blüten eingerahmt, weiße Blüten, die beim Eintreten ein fröhliches, heimeliges Gefühl erzeugen. Tatsächlich war das auch der Grund, warum das große Cottage uns sofort angezogen hat, als wir beschlossen haben, von London nach Little Tew zu ziehen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir hatten uns in dieses Bilderbuchcottage mit seinem Reetdach und den auffälligen roten Ziegeln genauso schnell vernarrt wie ineinander.
Ich habe Tom zum ersten Mal in der Sager + Wilde Bar in Bethnal Green gesehen, in der Nacht, als ich meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag feierte. Ich spürte die Energie, die von ihm ausging, als er sich einen Weg durch die Gäste auf der Terrasse suchte, um an meinen Tisch zu kommen, und dieses Selbstvertrauen, als er meine Freunde einfach ignorierte, um sich ganz auf mich zu konzentrieren. Er nahm sogar meine Hand und küsste sie. Und genauso sprang der Funke dann auch über, als wir dieses Cottage sahen. Das war einfach Schicksal.
Und ich glaube an Schicksal.
»Ja, sie sind wunderschön, Poppy«, sage ich und konzentriere mich wieder auf den Augenblick. »Ich muss bei Gelegenheit mal nachschauen, was das für Blumen sind.« Wir wohnen ja auch erst zwei Jahre hier, füge ich im Geiste hinzu. Vor fast genau zwei Jahren sind wir hier eingezogen, und kurz darauf habe ich mein Keramikcafé eröffnet, wo die Gäste vorgefertigte Gegenstände aus Biskuitporzellan bemalen und dabei Kaffee und Kuchen essen können. Bisher war das immer nur ein Traum gewesen. Ich habe es jedenfalls nicht für möglich gehalten, dass er einmal in Erfüllung gehen würde, als ich noch als Personalassistentin in London gearbeitet habe. Ich kann noch immer nicht glauben, dass sich alles so wunderbar entwickelt hat. Mein Leben ist nahezu perfekt.
Doch es gibt immer noch etwas, wonach man streben kann, nicht wahr? Man ist immer mindestens einen Schritt von der Perfektion entfernt. Perfektion ist unerreichbar. Nichts ist je makellos.
*
»Guten Morgen, Lucy!«, rufe ich, als ich eine halbe Stunde später Poppy’s Place betrete. Eigentlich wollte ich das Café ›Poppy’s Pottery Place‹ nennen, doch Tom hat gemeint, das sei ein wenig zu viel des Guten.
Ich höre ein fernes, gemurmeltes ›Morgen‹ von hinten. Lucy hat vermutlich die frisch glasierte und inzwischen abgekühlte Ware vom gestrigen Tag aus dem Brennofen geholt.
Ich werfe mein Zeug in den Pausenraum und nehme eines der Plakate, die ich mitgebracht habe, um es an die Pinnwand zu hängen. Ich freue mich tierisch darauf, hier wieder einen Buchclub ins Leben zu rufen, doch ich bin auch aufgeregt, weil ich nicht genau weiß, wie das ankommen wird. Und ich möchte auf keinen Fall, dass die Leute glauben, ich würde einfach Camillas Idee kapern. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Es ist jetzt fast ein Jahr her, seit sie gestorben ist. Habe ich lange genug gewartet? Camilla war hier im Dorf so wahnsinnig beliebt, besonders bei den Müttern. Da könnten einige es durchaus für unangemessen halten, wenn ich etwas übernehme, was sie begonnen hat. Ihr unerwarteter Tod wirkt bis heute nach, in der ganzen Gemeinde, denn sie hat eine Zweijährige hinterlassen. Die kleine Jess ist inzwischen fast drei, ungefähr genauso alt wie Poppy. Was für eine schreckliche Vorstellung, dass Poppy ohne Mutter aufwachsen müsste. Allein der Gedanke zerreißt mir das Herz. Unvorstellbar, was Adam, Camillas Mann, durchgemacht haben muss.
Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht länger über diese Tragödie nachdenken.
»Alles bereit?« Ich zucke zusammen, als ich Lucys Stimme höre, wirbele herum und schaue sie an. Sie trägt schon ihre Schürze, ist bereit, das Café aufzumachen. Ihre langen, rotbraunen Locken hat sie zu einem lockeren Dutt gebunden, und ein blaues, mit Blumen bedrucktes Kopftuch hält den Rest an Ort und Stelle. Lucy ist erst dreiundzwanzig, aber sie ist selbstbewusst, vertrauenswürdig, und sie arbeitet hart – die Kids (wie auch die Erwachsenen) lieben ihre fröhliche Art und wie sie beim Malen singt. Hauptsächlich sind es Songs aus Disney-Filmen, aber manchmal ist auch der ein oder andere Song aus irgendeiner Show für Erwachsene dabei. Es war eine großartige Entscheidung, sie einzustellen, nachdem das Café bekannt genug war, dass ich mir eine Hilfe leisten konnte. Sie kocht den Kaffee und stellt sicher, dass alle Maschinen funktionieren und die Auslagen immer voller Gebäck sind, während ich Poppy in die Kita bringe. Und wenn ich sie wieder abholen muss, hält Lucy die Stellung. Sie öffnet sogar samstags von neun bis Mittag und serviert heiße Getränke und Snacks, während meine Wochenenden für die Familie reserviert bleiben. Was das betrifft, war ich von Anfang an unnachgiebig. Tatsächlich erledigt Lucy fast die gesamte schwere Arbeit, wie sie mir täglich zum Scherz auch unter die Nase reibt. Ich erwidere dann immer, dass sie ja auch gut bezahlt werde, und dann lachen wir und weiter geht’s.
»Ja, alles bereit. Möge der Spaß beginnen«, sage ich und reibe mir die Hände.
Hätte ich da schon gewusst, wie dieser Tag enden würde …
Meine Hände zittern, als ich mir ein Glas Pinot gris einschenke. DI Manning und DS Walters haben Tom mit aufs Revier von Banbury genommen.
»Braucht er einen Strafverteidiger?«, habe ich sie vorsichtig gefragt, als sie ihn rausführten.
Manning gab mir die Antwort, die ich schon kannte: »Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir nur ein paar Fragen.« Dann bedankte er sich für den Tee und wandte mir den Rücken zu. Es war vollkommen surreal. Mein Verstand kam nicht mehr mit. Ich habe hilflos zugesehen, wie Tom kurz nach seiner Heimkehr wieder gegangen ist. Ich hatte keine Chance, mit ihm zu reden und ihn zu fragen, wie sein Tag gewesen ist und warum er sich verspätet hat. Sein entsetzter Gesichtsausdruck hat sich förmlich in mein Gehirn eingebrannt.
Aber war da nicht auch noch etwas anderes in seinem Gesicht zu sehen als der Schock?
Rasch schiebe ich den Gedanken beiseite.
Oh Gott. Poppy.
Die arme, kleine Maus … Ich hatte ihr gerade gesagt, dass ich in einer Minute wieder da sein würde, als die Detectives ankamen, und das ist jetzt eine halbe Stunde her. Ich stelle das Glas auf die Arbeitsplatte und laufe nach oben, um nach ihr zu sehen. Die Tür ist einen Spalt geöffnet, und ich kann sie sehen. Sie schläft tief und fest, die Hände auf der Brust. Ich schmelze förmlich dahin. So unschuldig. So nah wie mit Poppy sind wir der Perfektion nie wieder gekommen, denke ich und schließe leise die Tür. Mein Dornröschen.
Ich will nur das Beste für sie. Das Beste, was ich ihr geben kann.
Ich werde sie nie so im Stich lassen, wie ich als Kind im Stich gelassen worden bin. Ich leide noch immer an der Erinnerung daran, dass mein Vater mich nicht genug geliebt hat, um bei uns zu bleiben. Meine Mutter versank in Depressionen und später im Alkohol, sodass mich de facto meine Nanna großgezogen hat. Sie hat ihr Bestes gegeben, doch der Schaden war bereits entstanden. Bis heute beeinflusst das meine Entscheidungen.
Aber Poppy wird keine schlimme Kindheit haben. Ich weigere mich schlicht zuzulassen, dass ihr etwas passiert. Sie muss glücklich sein und sich in ihrem Heim sicher fühlen, mit liebenden Eltern, die sie nie enttäuschen werden.
*
Ich leere das Glas, öffne den Kühlschrank, schnappe mir die Weinflasche und schenke nach. Als ich einen weiteren kräftigen Schluck trinke, erscheint meine Mutter vor meinem geistigen Auge.
Werde nicht wie sie.
Ich schütte die restliche Flüssigkeit in den Ausguss und stelle das Glas in die Spülmaschine. Ich muss einen klaren Kopf bewahren. Es ist erst eine halbe Stunde her, seit sie Tom abgeholt haben. Vermutlich sind sie gerade erst auf dem Revier angekommen. Es kann sicher noch Stunden dauern, bis er wiederkommt. Vielleicht sollte ich einfach ein wenig fernsehen … oder ins Bett gehen. Allerdings bin ich mir sicher, dass beides sinnlos wäre. Ich kann einfach die Gedanken nicht unterdrücken, die in meinem Kopf toben, von einer ruhigen Nacht im Bett ganz zu schweigen.
Eine Mordermittlung, hat Manning gesagt.
Wer ist denn ermordet worden? Wo? Wann? Und wie?
Und warum glauben die Beamten, dass mein Tom etwas darüber weiß?
Auf dem Weg zum Polizeirevier von Banbury rufe ich meinen Anwalt an, Maxwell Fielding. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie ein ›informelles Gespräch‹ überhaupt gibt, nicht im Zusammenhang mit einer polizeilichen Ermittlung, und auch wenn ich laut DI Manning nicht verhaftet bin, will ich kein Risiko eingehen. Worum auch immer es hier geht, ich nehme an, sie glauben, ich hätte irgendetwas mit dem Mordopfer zu tun. Bis ich also mehr weiß, möchte ich jemanden an meiner Seite haben, der mich beraten kann.
Das flaue Gefühl in meiner Brust nimmt zu, als wir das Revier erreichen.
Ein kalter Wind weht über die offene Fläche, als wir zu dritt vom Parkplatz zum Eingang gehen. Ich schaudere und verfluche mich selbst dafür, dass ich keinen Mantel mitgenommen habe. Mein Jackett musste ich im Auto lassen. Also lege ich die Arme um die Brust und bleibe kurz stehen, als ich bemerke, dass ich ein Stück vorausgelaufen bin. So sehr bin ich nun auch nicht darauf erpicht, da reinzukommen. Mir ist jetzt schon kalt, und ich kann mir gut vorstellen, dass mir noch kälter werden wird, wenn sie mich erst mal in die Mangel genommen haben.
Zieh keine voreiligen Schlüsse. Du bist nicht verhaftet.
Meine Gedanken überschlagen sich, während ich das Wer, Was und Wo zu verstehen versuche. Auf dem Revier werde ich in einen kleinen Raum geführt, wo man mir sagt, ich solle mich setzen und warten. Diese Art von Verzögerungstaktik soll einen nervös machen. Reizbar. Sie wollen einem das Adrenalin ins Blut treiben, wollen, dass man ins Schwitzen gerät, während man darauf wartet, was da kommt.
Aber vielleicht denke ich einfach nur zu viel nach. Wider alle Wahrscheinlichkeit hoffe ich, dass sie wirklich nur ein paar Fragen über jemanden stellen wollen, den ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe, oder besser noch … über jemanden, den ich nie getroffen habe. Vielleicht kenne ich die Person ja gar nicht. Das Opfer. Wir könnten auch nur eine ganz schwache Verbindung haben. Vielleicht sind wir ins selbe Fitnessstudio gegangen, oder es handelt sich um einen alten Bankkunden von mir. Ja, das wird es sein.
Ich atme tief durch und versuche, mich zusammenzureißen.
Ich will nicht bereits schuldig erscheinen, bevor ich auch nur den Mund aufgemacht habe.
Meine Gedanken wandern zu Beths Gesicht, als ich mit den Detectives weggefahren bin. Ihr Mund stand offen, und sie hatte keine Farbe mehr in ihrem hübschen, herzförmigen Gesicht.
Sie sah verängstigt aus. Als hätte sie einen Grund dafür.
Das ist zwar nicht das erste Mal, dass ich auf einem Polizeirevier bin, aber das erste Mal, dass ich im Zusammenhang mit einem Mord befragt werde.
Ich balle die Fäuste unter dem rechteckigen Tisch. Mein Ehering gräbt sich in das Fleisch der Finger daneben. Ich zwinge meine Hände, sich wieder zu entspannen, hole die Arme unter dem Tisch hervor und lege sie locker vor mich. So sollte ich nicht mehr ganz so gestresst wirken. Leicht schließe ich die Augen und blende die mattgelben, fensterlosen Wände aus. Der Raum ist klaustrophobisch und stickig, und das auch ohne weitere Personen darin. Warum konnten sie mir ihre Fragen nicht in meinen eigenen gemütlichen vier Wänden stellen, verdammt noch mal?
Weil es schlimm ist, antwortet die Stimme in meinem Kopf.
Oh Gott! Was steht mir hier bevor?
Als ich die Tür höre, reiße ich die Augen auf.
Ich nehme an, jetzt werde ich es herausfinden.
Die Matratze gibt leicht unter mir nach, und diese Bewegung reicht aus, um mich zu wecken. Ich habe aber auch nicht tief geschlafen.
»Tom? Wie viel Uhr haben wir?« Ich setze mich auf und blinzele mir den Schlaf aus den Augen.
»Schschsch. Mach dir keinen Kopf. Geh wieder schlafen, Liebes«, sagt er. Er schwingt seine Beine ins Bett und unter die Decke und kuschelt sich an mich. Seine Haut fühlt sich kalt an, und ich zittere. »Tut mir leid, Beth«, haucht er mir in den Nacken.
»Was tut dir leid? Dass du kalt bist?«
»Nein. Du weißt, was ich meine. Das mit heute Abend … dass ich zu spät war, und dann … Nun, der ganze Rest eben.«
»Ist denn jetzt alles geklärt?« Das Warten hat mich erschöpft, und meine Stimme ist nur ein Flüstern.
»Lass uns morgen früh darüber reden.«
»Aber dafür haben wir dann doch gar keine Zeit«, erwidere ich verschlafen.
»Ach, vergiss es einfach. Mach dir jetzt keinen Kopf deswegen.«
Wenn man gesagt bekommt, man soll sich keinen Kopf machen, dann hat das meist genau den gegenteiligen Effekt.
»Nein, wir werden jetzt reden«, sage ich, richte mich auf die Ellbogen auf und schaue Tom an. Mondlicht fällt durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, aber es reicht nicht, um Toms Gesicht zu sehen. Ich drehe mich um und schalte die Nachttischlampe an.
»Oh, Beth! Nicht jetzt.« Er hält schützend die Hand vor die Augen.
»Doch, jetzt! Morgen ist im Café viel zu viel los. Ich muss da eine Geburtstagsparty vorbereiten und dann Poppy aus der Kita holen und sie mitnehmen. Die Party beginnt um vier …«
»Das ist morgen«, fällt mir Tom ins Wort, er stöhnt. »Wir können abends darüber sprechen. Jetzt leg dich wieder hin.« Er will sich umdrehen.
»Nein, Tom! Setz dich bitte. Ich muss wissen, was auf dem Revier passiert ist«, bettele ich. »Konntest du ihnen helfen? Um wen ging es überhaupt? Um jemanden, den du kennst? Bitte, sag mir, dass es nichts Schlimmes ist.«
Mit einem Schnauben drückt Tom seine Kissen ans Kopfende und lehnt sich dagegen. Ich höre, wie er tief durch die Nase ein- und ausatmet. Das Blut pocht mir in den Ohren, während ich auf seine Antwort warte.
»Es ging um Katie«, sagt Tom schlicht.
»Scheiße.« Mehr als ihren Vornamen muss er nicht sagen. Ich weiß, wer sie ist. Katie Williams war Toms Freundin, bevor er mich kennengelernt hat. Und ich weiß, dass sie Tom das Herz gebrochen hat. Das hat er mir bei unserem ersten Date erzählt. Doch seitdem haben wir nicht mehr über sie gesprochen. Tom hält sich nicht mit der Vergangenheit auf. Man muss immer nach vorne schauen, pflegt er zu sagen.
»Ja, Scheiße.« Tom senkt den Kopf, bis sein Kinn fast die Brust berührt. Ich rücke näher an ihn heran, lege den Arm auf seinen Bauch und spiele mit den Fingerspitzen am Haar an seinem Bauchnabel herum.
»Ja, das ist ein Schock. Wann haben sie sie gefunden?«
»Oh nein«, sagt Tom und schüttelt den Kopf. »Das haben sie nicht. Sie nehmen nur an, dass jemand zu Schaden gekommen ist.«
»Das ist doch gut, oder?«, erwidere ich mit Optimismus in der Stimme.
»Vielleicht.«
»Dann wollten sie also nur mit dir reden, weil du mal mit ihr zusammen warst? Haben sie dich gefragt, ob du in letzter Zeit mit ihr gesprochen hast?«
»Sowas in der Art. Ja.«
»Das heißt dann ja, du konntest ihnen nicht behilflich sein, denn du hast ja nicht mit ihr gesprochen, korrekt?«
»Genau. Es gibt also nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten. Ich habe meinen Teil erledigt. Und jetzt schlaf, Beth. Wenn der Wecker klingelt, wirst du hundemüde sein.«
»Ich bin immer hundemüde. Das ist mein Normalzustand«, sage ich und versuche mich an einem Lächeln.
»Morgen werde ich dir alles genauer erzählen.«
Für den Augenblick bin ich zufrieden. Ich schalte das Licht aus, kuschele mich wieder ins Bett und lege Tom den Arm um die Hüfte. Ich will ihm zeigen, dass ich da bin – ich, seine Frau, die ihn jederzeit unterstützt. Mein Geist will jedoch nicht schlafen, im Gegenteil: Meine Gedanken überschlagen sich, und ich rufe mir alles ins Gedächtnis zurück, was ich über Katie weiß, aber das ist nicht wirklich viel. Ihre Zeit war kurz vor mir, und sie war geradezu besessen von Tom. Sie hat jede freie Minute mit ihm verbracht.
Ich denke daran zurück, wie charmant Tom damals war, wie leicht ich seinem Zauber erlegen bin. Und ich bin heute noch von ihm verzaubert. Er habe sich die Finger an ihr verbrannt, hat er gesagt. Sie habe sich verändert, habe etwas vollkommen anderes gewollt als er.
Schließlich habe ich ihn geheiratet und sein Baby bekommen.
Deshalb habe ich mich auch immer als die Auserwählte gesehen.
Ich höre, wie die Wasserstrahlen auf die Duschwand treffen, und träge drehe ich mich zu unserem Bad um. Tom hat die Tür offen gelassen. Das macht er immer, und so kann ich durch das Glas sehen, wie ihm Wasser und Schaum über Kopf und Körper laufen. Aufmerksam beobachte ich ihn, während ich mich frage, was genau DI Manning ihn gestern Abend gefragt und was Tom darauf geantwortet hat. In jedem Fall hat er ruhig gewirkt, als er ins Bett kam. Vielleicht ist das alles damit schon erledigt. Ich reiße mich von seinem Anblick los, doch anstatt noch mal zu versuchen einzuschlafen, stehe ich auf.
Tom hat recht gehabt. Ich bin hundemüde. Als ich in den Garderobenspiegel schaue, fallen mir sofort die dunklen Ringe unter meinen Augen auf. Ich werde viel Concealer und eine gute Foundation brauchen, um das heute zu verdecken. Und einen Pott Kaffee, um wieder wach zu werden. Ich habe heute viel zu tun und noch diesen Kindergeburtstag im Café zu überstehen. Der ist zwar erst um vier und es sind auch nur zehn Leute angemeldet – eine Handvoll Drei- und Vierjährige mitsamt ihren Eltern –, aber trotzdem brauche ich Zeit zur Vorbereitung, und ich weiß, dass mir die gute Stunde, die die Veranstaltung dauern soll, doppelt so lange vorkommen wird. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich gut gewesen ist zuzustimmen, als Sally, die Mutter des Geburtstagkindes, mich um eine Reservierung gebeten hat. Kleine Kinder sind notorisch schwer zufriedenzustellen. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist schlicht nicht lang genug, und sie sind nur schwer dazu zu bewegen, länger als fünf Minuten stillzusitzen. Eigentlich habe ich Nein sagen wollen, doch dann hat Sally erwähnt, dass auch Adam mit der kleinen Jess kommen wird, und ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen und habe schließlich »Ja, natürlich« gesagt. Wie hätte ich da auch Nein sagen können?
Ich höre Poppys Schritte auf der Treppe.
»Guten Morgen, meine Kleine«, sage ich, hebe sie hoch, und sie drückt mich mit ihren dicken Ärmchen. »Und? Wie hast du geschlafen?«
»Ich habe lange geschlafen, Mommy.« Poppy strahlt mich an, doch dann verzieht sie plötzlich das Gesicht. »Aber Daddy war böse.«
»Oha! War er?« Ich weiß, was jetzt kommt.
»Jep.« Sie schürzt die Lippen. »Er hat mich nicht vorm Schlafengehen geküsst.«
Die Duschtür knarrt, und wenige Augenblicke später ist Tom draußen, er hat sich ein Handtuch um die Hüfte gewickelt. »Es tut mir ja so leid, Poppy-Püppi! Daddy ist einfach nur dumm«, sagt er, grinst und streckt die Arme aus.
Poppy kichert, als Tom sie mit ein paar Wassertropfen bespritzt.
»Daddyyy!«, kreischt sie und springt hinter mich.
»Ich trockne mich nur schnell ab und ziehe mich an. Dann werde ich dich so fest drücken, wie du noch nie gedrückt worden bist. Okay?«
»Ooo-kayyy«, sagt Poppy und läuft aus dem Zimmer. »Ich frühstücke jetzt, Mommy.«
»Ich bin gleich bei dir«, rufe ich ihr hinterher. »Warte einfach am Tisch.«
»Ich weiß, dass du mich am liebsten sofort verhören willst, Beth, aber wir haben jetzt wirklich keine Zeit dafür. Ich werde dir später alles erzählen, okay? In allen Einzelheiten.«
»Ich bin nicht Poppy. Sprich nicht mit mir wie mit einem verdammten Kind, Tom.«
»Liebling.« Er setzt sich neben mich aufs Bett und nimmt meine Hand. »Das tue ich doch gar nicht. Wir werden darüber reden, aber du weißt doch, wie hektisch es morgens bei uns ist. Außerdem gibt es da wirklich nicht viel zu erzählen. Und definitiv gibt es auch nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«
»Wirklich? Nichts?« Ich höre die Ungläubigkeit in meiner Stimme. Tom strafft die Schultern und rückt ein Stück von mir weg.
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest«, wiederholt er, und sein Blick ist kalt und ernst. »Es war, wie Manning gesagt hat. Sie hatten nur ein paar Fragen.«
»Schön.« Ich atme tief durch, werde meine Nervosität aber nicht los – oder das unangenehme Gefühl, dass ich meinem Mann nicht glaube.
*
Der Weg zur Kita zieht sich. Poppy bleibt alle paar Schritte stehen, um irgendetwas zu bewundern, was sie entdeckt hat: eine Katze, ein paar Blumen in einem Garten, eine Schnecke an der Wand. Dann treffen wir auf Shirley Irish aus dem Pub, die mich nach dem Buchclub fragt.
»Ich war ziemlich überrascht, als ich gestern reingekommen bin, um meine Bestellung abzuholen, und Ihr Plakat gesehen habe«, sagt sie und rümpft die spitze Nase, als hätte sie etwas Unangenehmes gerochen.
»Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass ein Buchclub in einer Gemeinde wie unserer für eine solche Überraschung sorgt, Mrs. Irish«, sage ich leichthin. Aus irgendeinem Grund nenne ich sie immer betont Mrs. Irish, auch wenn sie mir schon öfter gesagt hat, ich solle sie Shirley nennen.
»Nun, äh, so ist es ja auch nicht. Aber Sie wissen doch, dass der Buchclub von Camilla Knight ins Leben gerufen wurde, oder?«
Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu sagen: Ich denke nicht, dass sie das jetzt noch stört. Und es ist ja auch nicht so, als würde sie davon erfahren. Stattdessen lächele ich und sage, dass das doch eine schöne Geste Camilla gegenüber sei und dass es sie sicher gefreut hätte, wenn die Dorfbewohner etwas fortsetzen, was sie begonnen hat. Shirley nickt mehrmals, und während ihr glänzendes, seidenschwarzes Haar vor- und zurückschwingt, nutze ich die Gelegenheit zur Flucht. Werden alle gegen mich sein, wenn ich den Club wieder aufmache?
*
»Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, dass ich es heute Morgen noch hierher schaffen würde«, sage ich, als ich schließlich im Café ankomme.
»Und ich habe mich schon gefragt, ob etwas passiert ist«, sagt Lucy.
»Nein, nein. Alles okay«, erkläre ich rasch. Zu rasch. »Poppy hat nur getrödelt, und dann bin ich auch noch Shirley aus dem Pub in die Arme gerannt.«
»Dann hast du ja Glück gehabt, dass du ihr entkommen bist. Wenn die erst einmal angefangen hat, dann hört sie so schnell nicht wieder auf.«
Ich lache. Lucy hat da nicht ganz unrecht. Als ich meine Sachen ins Hinterzimmer bringe, fällt mein Blick auf das Plakat für den Buchclub. Ich nehme es ab. Aber nicht, weil Shirley was gesagt hat – ich bin fest entschlossen, das durchzuziehen, egal was sie denkt –, sondern weil ich nicht will, dass Adam es später sieht und schlecht über mich denkt, weil ich Camillas Club übernommen habe. Sie hat den Buchclub gegründet und mehrere Jahre hinweg geleitet. Als wir hier hingezogen sind und ich Poppy’s Place eröffnet habe, da kam sie eines Tages vorbei. Ihr goldenes Haar fiel ihr wie Honig auf die Schultern, und ihre schlanke Gestalt steckte in schwarzen, hautengen Leggings und einem T-Shirt mit Leopardenmuster, und sie hat mich gefragt, ob sie sich einmal im Monat, mittwochabends, mit ihrem Buchclub hier treffen könne. Eigentlich würden sie sich immer bei ihr zuhause treffen, hat sie mir erzählt, doch inzwischen sei der Club zu groß geworden und bei dem fröhlichen Geplauder könne ihre Einjährige kaum noch schlafen.
Ich habe immer irgendwie gehofft, dass Camilla mich einladen würde, aus dem Buch des Monats vorzulesen, und dann mit den anderen knackigen Mamis zusammenzusitzen und sie zu fragen, was sie davon halten. Doch stattdessen blieb ich immer außen vor und servierte den anderen Kuchen und Getränke. Aber so lernte ich ihre Namen und wer ihre Kinder waren. Ich habe mit angehört, was sie sich so erzählt haben. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel in so einem kleinen Ort los sein kann.
Aber trotzdem hat Camilla mich nie in den inneren Kreis aufgenommen. Nur wenn ich ihr von meinen Keksrezepten erzählte, entstand so etwas wie eine Verbindung, denn sie hat auch so gerne gebacken. Inzwischen kommt es mir so vor, als wäre das schon eine Ewigkeit her.
»Willst du sie aus dem ganzen Porzellan auswählen lassen?«, fragt Lucy.
»Oh … Äh … Nein.« Ich verstaue das Plakat unter dem Tresen. »Ich denke, die mittelgroßen Tiere reichen. Danke, Lucy.«
»Okay«, sagt sie. Als sie nach hinten geht, höre ich sie singen. Ich lächele, doch dann senkt sich ein Schleier auf mich herab. Gestern war alles noch so normal, so glücklich und sorgenfrei. Doch heute ist alles anders. Eine schwere Last liegt auf meinen Schultern und drückt mich nieder. Das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird.
*
Es ist schneller vier Uhr, als ich dachte, und ich bin froh, dass wir den größten Teil der Vorbereitungen schon am Morgen erledigt haben, denn es war viel los, und ich habe eine gute halbe Stunde gebraucht, um Poppy abzuholen und noch ein paar Kuchen von zuhause. Ich bin unglaublich stolz darauf, wie gut Poppy’s Place hier eingeschlagen hat. Man darf schließlich nicht vergessen, dass ich in dieser eng verbundenen Gemeinschaft die Neue bin, und trotzdem haben die Menschen mich und mein Café von Anfang an unterstützt. Ich lasse meinen Blick über die frisch gebackenen Kuchen, Muffins und Cookies schweifen, die wunderbar arrangiert in der Vitrine neben dem Tresen liegen. Sie riechen einfach köstlich und sehen unglaublich appetitlich aus. Ein paar stammen von Zulieferern, aber ich backe auch viel daheim. Das ist meine Leidenschaft. Und dass ich dieser Leidenschaft auch nachgehen kann, wenn Poppy da ist, ist ein zusätzliches Plus. Manchmal backt sie auch mit mir. Ich habe schon immer wahnsinnig gerne neue Rezepte ausprobiert, und Poppy spielt gern die Testesserin. Auch die Kundschaft weiß zu schätzen, was ich mache. So habe ich mal eine Kundin sagen hören, das seien die besten Cookies, die sie je probiert habe. Tom hat nur gelacht, als ich ihm davon erzählte, und gesagt, als wir uns kennengelernt haben, hätte er sich niemals vorstellen können, dass ich mal so häuslich werden würde. Ich weiß immer noch nicht, ob das ein Kompliment oder eine Stichelei gewesen ist, aber wie auch immer … Hier zu leben und das Café zu führen, hat mich so glücklich und zufrieden gemacht wie noch nie in meinem Leben.
Poppy ist ein wahrer Engel, während sie auf die anderen Kinder wartet. Geduldig sitzt sie an dem Tisch, der dem Tresen am nächsten steht, und spielt mit dem Kinder-Kaffeeservice, das ich ihr gekauft habe, weil sie wie Mommy sein wollte. Zum Glück hat Sally sie zu Mollys Party eingeladen, so musste ich nicht nach einem Babysitter suchen.
Die kleinen Porzellantiere warten artig aufgereiht darauf, von den Kindern und ihren Eltern ausgesucht zu werden, und die acht Tische sind in unterschiedlichen Farben dekoriert. Überall liegen bunte Ballons herum, und an den Wänden hängen Banner mit ›Happy Birthday‹. Ich schaue zu Lucy, die sich ein Tuch um den Kopf gebunden und die Schürze angezogen hat. Es fühlt sich an, als würden wir auf eine Invasion warten.
»So! Alles bereit«, erklärt Lucy.
»Großartig. Und Danke für deine Hilfe – wie immer. Denk einfach immer daran, in gut einer Stunde ist alles vorbei, und dann kannst du einen entspannten Abend mit Oscar verbringen«, sage ich.
»Oh, ich liebe das doch. Das weißt du. Bei Kindern bin ich in meinem Element. Außerdem muss Oscar heute Abend lang arbeiten – irgendwas von wegen eine Reparatur beenden und ein anderes Fahrzeug überführen. Dann geht es für ihn mit dem Zug wieder zurück«, erzählt Lucy und winkt ab. »Er wird wohl erst Gott weiß wann wieder zurückkommen.« Lucy hat mit Autos nichts am Hut. Sie besitzt noch nicht mal eins, sondern zieht es vor, auf ihrem treuen, rostigen Drahtesel durchs Dorf zu radeln, und geht das mal nicht, dann nimmt sie den Bus. Mechaniker sind ein Mysterium für sie, und sie hat mir schon oft erzählt, dass sie immer einschläft, wenn ihr Freund von der Arbeit erzählt. Ich finde das lustig, aber Oscar sieht das wohl anders.
»Ach ja, die Freuden der Selbstständigkeit. Ich kann das gut nachvollziehen«, sage ich. »Er hat das verdammt gut hinbekommen mit der Werkstatt, seit er sie von seinem Vater übernommen hat, Lucy. Das war sicher nicht leicht für ihn.«
»Das stimmt wohl. Vor allem vermisst er seinen Vater. Er hat ziemlich hart gearbeitet, und er hatte nicht viel Hilfe. Sein Dad wäre jedenfalls stolz auf ihn.«
»Da bin ich sicher, Liebes«, erwidere ich. Dann setze ich ein warmherziges Lächeln auf und öffne die Tür für das Geburtstagskind.
Kurz darauf ist es mit der schönen Ruhe vorbei. Das Café explodiert förmlich. Kleinkinder und Erwachsene kämpfen lautstark darum, sich Gehör zu verschaffen. Es klingt, als würden hier zwanzig Leute eine Party feiern, dabei sind es nur halb so viele. Es dauert ungefähr fünfzehn Minuten, bis alle bei ihren Tieren am Tisch sitzen. Ich zähle rasch nach: Ein Kind fehlt. Adam und Jess sind noch nicht hier. Vielleicht haben sie ja abgesagt. Ich frage Sally, ob das alle sind.
»Äh … eigentlich nicht. Jess und ihr Dad sind noch nicht hier«, antwortet sie, und ihr Blick huscht durch das Café. Plötzlich reißt sie die Arme hoch und winkt jemandem hinter mir. Ich drehe mich um und sehe, wie Adam und Jess hereinkommen. Jess sieht winzig aus – viel kleiner als die anderen in ihrem Alter –, und das macht es ihr leicht, sich hinter den Beinen ihres Dads zu verstecken. Adam versucht, sich aus ihrem Griff zu befreien, um zu einem der Tische zu gehen, doch sie klammert sich verzweifelt an ihn. Sally springt auf und beugt sich zu ihr hinab, um sie von ihrem Dad wegzulocken – ohne Erfolg. Als Sally daraufhin wieder zu ihrem Stuhl neben Molly zurückkehrt, fällt mir eine weiße Plüschkatze auf, die Jess im Arm hält. Das ist meine Chance.
»Wie ich sehe, magst du Katzen, oder, Jess?«, sage ich. »Da drüben wartet eine ganz besondere auf dich. Möchtest du sie mal sehen?«
Jess lugt hinter Adam hervor und reckt den Hals. Ich strecke die Hand nach ihr aus, und vorsichtig nimmt sie sie. Adam lächelt mich an, während ich Jess zu den Porzellantieren führe, wo sie sich ihre Katze aussucht.
»Vielen Dank. Sie kommen wirklich toll mit ihr zurecht«, sagt Adam, als sie endlich am Tisch sitzen. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich neben ihn.
»Das muss eine schwere Zeit für Sie beide sein. Es ist sicher nicht leicht, sich umzustellen.«
»Nein, das ist es nicht.« Adam senkt den Blick, doch nicht so schnell, dass ich die Tränen in seinen Augen nicht gesehen hätte. »Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, wie viele Leute glauben, dass wir schon darüber hinweg sind. Schließlich ist es ja schon ein Jahr her. Aber ehrlich gesagt, machen wir einfach nur weiter – bis zu einem bestimmten Punkt zumindest. Ich arbeite wieder in Teilzeit im Büro, aber zum Glück kann ich auch viel von zuhause aus erledigen. Aber …« Er hält kurz inne, als müsste er erst überlegen, ob er sich mir anvertrauen soll oder nicht. »Manchmal muss ich einfach Erwachsene um mich haben, wissen Sie? Sonst verliere ich noch den Verstand. Was auch immer ich tue, ich habe das Gefühl, alles falsch zu machen …« Ihm bricht die Stimme, und er räuspert sich, um das zu verbergen. Am liebsten würde ich meine Hand auf seine legen, um mein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Doch das wäre wohl nicht angemessen, schließlich ist es das erste Mal, das ich mit ihm rede. Stattdessen frage ich ihn nach Jess: Wie sie in der Kita zurechtkommt, was sie mag und wie er sie und die Arbeit unter einen Hut bringt. Und irgendwie endet das damit, dass ich Jess für nächste Woche zum Tee einlade.
»Wirklich? Das wäre toll. Sie sollte auch außerhalb der Kita mit Kindern in ihrem Alter spielen. Sie ist ziemlich schüchtern, wissen Sie?«
»Poppy ist genauso. Tatsächlich würden Sie mir damit einen Gefallen tun.« Ich grinse. »Ich verbringe so viel Zeit im Café – ich muss –, dass ich fürchte, meine Tochter ein wenig vernachlässigt zu haben.«
»Ach, das kann ich mir nicht vorstellen. Sie sind ein Vorbild für sie. Und ohne Zweifel verbringen Sie viele schöne Stunden mit ihr, wenn sie wieder zuhause sind.«
Ich frage mich, ob Adam einfach nur höflich ist, doch dann schaut er mir in die Augen und schenkt mir ein echtes Lächeln.
»Ja, ich liebe es, mit ihr zusammen zu sein«, sage ich. »Mutter zu sein, ist der beste Job der Welt.« Sofort bereue ich meine Worte. Oh Gott, warum habe ich das gesagt? Ich habe einfach nicht nachgedacht. »Ich … Ich meine …«
»Alles gut, Beth. Wirklich. Eltern zu sein, ist wirklich der beste Job der Welt. Kein Grund, sich meinetwegen schlecht zu fühlen.«
»Manchmal rede ich einfach, ohne vorher nachzudenken«, sage ich und laufe rot an.
Adam lacht. »Wissen Sie, dass die meisten Leute mich meiden wie die Pest? Selbst nach all der Zeit wissen sie noch nicht, was sie sagen sollen. Es ist ihnen unangenehm, mit mir zu sprechen. Also sagen sie nur höflich Guten Morgen und fragen, wie’s mir geht. Doch dann geraten sie in Panik, wenn ich mit mehr als nur einem Satz antworte.« Er beugt sich näher an mich heran und flüstert verschwörerisch: »Es hat mich wirklich überrascht, dass wir zu dieser Party eingeladen worden sind. Und ehrlich gesagt, bin ich Ihnen äußerst dankbar dafür, dass Sie mit mir reden! Bitte, machen Sie sich keinen Kopf, dass Sie was Falsches sagen könnten. Das macht mir nichts aus. Ehrlich.«
»Okay. Das ist gut.« Ich grinse erleichtert und stehe auf. »Okay. Ich werde Sie und Jess jetzt malen lassen. Sieht so aus, als würde Ihre Katze die Bunteste, die ich je gesehen habe.« Lächelnd schaue ich zu Jess hinüber. »Aber ich sollte wohl mal nach den anderen sehen.«
Ich mache meine Runde und bin froh, mit Adam gesprochen zu haben. Er muss sehr einsam sein. Vielleicht ist es ja für uns beide gut, Poppy und Jess zusammenzubringen.
Kurz vor fünf zieht sich mir bei dem Gedanken der Magen zusammen, gleich wieder nach Hause zu gehen. Nun, da die Party fast vorbei ist, kann ich es mir wieder leisten, an die Mordermittlung zu denken. Heute Abend werde ich endlich mit Tom reden können. Ich weiß zwar nicht, wie diese Dinge funktionieren – zumal sie ja keine Leiche haben –, aber wenn sie den Fall als Mord behandeln, dann müssen sie genug Indizien dafür haben.
Die arme Katie.
Ich habe allerdings keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind, dass Tom ihnen helfen könnte. Und obwohl er an diesem Morgen vollkommen ruhig gewirkt hat, obwohl gestern Abend plötzlich die Polizei vor der Tür stand, hat ihn das mit Sicherheit nervös gemacht.
»Danke, dass Sie uns heute hier haben feiern lassen«, sagt Sally und drückt mir den Arm. »Molly hat das sehr genossen, und ich auch. Tatsächlich würde ich gerne auch mal alleine kommen, um etwas … Erwachseneres zu machen.«
»Sie sind uns natürlich jederzeit willkommen. Und es freut mich, dass Molly die Party gefallen hat. Es war auch wirklich lustig.« Und das meine ich ganz ehrlich. Auch wenn ich ein wenig erschöpft bin, war es lange nicht so stressig, wie ich es mir vorgestellt habe.
Der echte Stress steht mir schließlich auch erst noch bevor.
Toms Auto parkt auf der Straße vor dem Cottage. Das weckt die unterschiedlichsten Gefühle in mir. Ich bin dankbar, dass Tom pünktlich zuhause ist. Trotzdem ist mir vor lauter Nervosität ganz übel. Ich atme mehrmals tief durch und öffne die Haustür.
Sofort fühle ich, dass irgendwas nicht stimmt. Im Haus herrscht Totenstille.
Tom ist nicht da.
»Daddy?«, ruft Poppy. Auf der Suche nach ihm läuft sie erst ins Wohnzimmer und dann in die Küche. Kurz bin ich wie erstarrt, und meine Gedanken überschlagen sich. Sein Wagen ist hier, er aber nicht. Ich schaue auf mein Handy. Wenn Tom ausgegangen ist, dann hat er mir doch sicher eine Nachricht geschrieben … oder? Da ist ein verpasster Anruf von einer unbekannten Nummer, aber keine neue Nachricht, nichts.
»Vielleicht ist er ja laufen«, sage ich zu Poppy, als sie zu mir zurückstapft. So könnte es tatsächlich sein. Wir waren nicht zuhause und er hat diese seltene Gelegenheit für einen Waldlauf genutzt, anstatt alleine hier herumzusitzen. Früher hat er das regelmäßig gemacht, doch jetzt haben wir so viel zu tun, dass er seine begrenzte Zeit lieber mit Poppy verbringt, bevor sie ins Bett muss.
»Er ist gleich wieder da«, sagt Poppy und zuckt mit den Schultern.
»Ja, das nehme ich auch an, Süße. Lass uns Tee kochen, ja?«
Als ich meine Tasche auf den Garderobentisch stelle, sehe ich das blinkende rote Licht des Anrufbeantworters. Ich drücke auf Play.
»Ich möchte dir keine Angst machen, Beth …« Toms Stimme hallt so laut durch den Flur, dass sie wie verzerrt wirkt. Ihr Echo hallt von den Wänden wider. Rasch regele ich die Lautstärke herunter, und das Blut rauscht in meinen Ohren. »Tut mir leid. Sie haben mich wieder aufs Revier gebracht. Diesmal könnte es auch länger dauern. Aber mach dir keine Sorgen. Mein Anwalt ist hier. Sobald ich kann, rufe ich dich an«, sagt er. Als ich glaube, dass er zu Ende gesprochen hat, höre ich ein Seufzen, gefolgt von den geflüsterten Worten: »Ich liebe dich, Beth.« Und dann herrscht Stille.
Meine Arme und Beine fühlen sich an wie Blei. Ich kann mich nicht bewegen. Was soll ich nur tun? Ich überlege, auf dem Revier anzurufen. Oder bei Toms Anwalt. Aber wenn der gerade bei Tom ist, dann wird er mir auch nichts sagen können.
Himmel!
Die Detectives sind offenbar wieder zu uns gekommen, um ihn zu holen, denn Toms Auto steht ja noch hier. Haben die Nachbarn etwas gesehen?
Mir läuft ein Schauder über den Rücken.
Und mir dreht sich der Kopf.
Ich muss anrufen. Irgendjemanden. Ich muss etwas tun. Aber abgesehen von Tom habe ich niemanden, an den ich mich wenden könnte, niemanden, der mir zur Seite stehen würde. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Ich war viel zu beschäftigt mit dem Café. Viel zu beschäftigt mit Poppy. Viel zu beschäftigt damit, eine gute Ehefrau zu sein. Tom hat immer gesagt, Freunde seien überbewertet. Sie würden uns nur voneinander ablenken. Ich habe Lucy und die Kindergartenmütter immer auf Abstand gehalten, und deshalb ist es mir auch unangenehm, mich jetzt an sie zu wenden. Dann erfüllt Toms Stimme meinen Kopf:
Wir brauchen nur uns, Beth. Alle anderen sind egal.