Die Frau mit dem roten Tuch - Jostein Gaarder - E-Book

Die Frau mit dem roten Tuch E-Book

Jostein Gaarder

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Beschreibung

Ein dramatisches Ereignis bringt eine Liebe zum Scheitern. 30 Jahre später trifft sich das ehemalige Paar überraschend wieder - am gleichen Ort in Norwegen, an dem sich der Vorfall ereignete. Ist es Schicksal oder einfach nur Zufall, dass sie sich genau dort wieder begegnen? In einem Briefwechsel erinnern sie sich, was damals eigentlich geschah. Wie sie heftig verliebt ins Fjordland fuhren, eine wahnsinnige Dummheit begingen, und jener rätselhaften Frau mit dem roten Tuch begegneten. Gibt es Kräfte, die stärker sind, als Vernunft und Wissenschaft es wahrhaben wollen? Jeder der beiden hat seine eigene Philosophie. Um endgültig Klarheit über das rätselhafte Erlebnis zu gewinnen, beschließen sie, sich noch einmal wiederzusehen.

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Jostein Gaarder

Die Frau mit dem roten Tuch

Roman

Aus dem Norwegischen

von Gabriele Haefs

Carl Hanser Verlag

Die norwegische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Slottet i Pyreneene bei Aschehoug in Oslo.

eBook ISBN 978-3-446-23526-7

© 2008 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Oslo, Norway

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Greiner & Reichel, Köln

www.hanser-literaturverlage.de

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

1

Hier bin ich, Steinn. Es war wie ein Zauber, dich wiederzusehen. Und ausgerechnet dort! Du warst so verdutzt, dass du fast über die eigenen Füße gestolpert wärst. Glaub mir, das war keine zufällige Begegnung. Hier waren Kräfte am Werk!

Vier Stunden waren uns gegönnt. Was heißt gegönnt: Niels Petter fand das Ganze gar nicht lustig. Erst in Førde hat er wieder mit mir geredet.

Wir sind einfach durchs Mundalstal nach oben gestiegen. Nach einer halben Stunde standen wir wieder vor dem Birkenwäldchen …

Auf dem ganzen Weg haben wir kein Wort gewechselt. Darüber, meine ich. Über alles andere haben wir geredet, aber darüber nicht. Wie damals, als wir es auch nicht schafften. Wir waren unfähig, uns dem, was geschehen war, gemeinsam zu stellen. So sind wir an der Wurzel verfault, vielleicht nicht du als du und nicht ich als ich, aber wir als wir beide. Wir schafften es nicht einmal, einander eine gute Nacht zu wünschen. Ich erinnere mich, dass ich in der letzten Nacht in unserer gemeinsamen Wohnung auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen habe. Und ich erinnere mich an den Geruch der Zigaretten, die du nebenan im Schlafzimmer geraucht hast. Ich bildete mir ein, durch die Wand und die geschlossene Tür hindurch deinen gesenkten Kopf zu sehen. Du hast über deinen Schreibtisch gebeugt gesessen und geraucht. Am nächsten Tag bin ich ausgezogen, und wir haben uns nicht wiedergesehen, mehr als dreißig Jahre lang. Das ist nicht zu begreifen.

Und jetzt erwachen wir plötzlich aus unserem Dornröschenschlaf – wie vom selben wundersamen Signal geweckt. Wir nehmen ganz unabhängig voneinander noch einmal dort Quartier. Am selben Tag, Steinn, in einem neuen Jahrhundert. In einer vollkommen neuen Welt. Nach über dreißig Jahren!

Erzähl mir bitte nicht, das sei Zufall gewesen. Behaupte nicht, da gäbe es keine Regie!

Der Gipfel des Surrealistischen war, als auch noch die Hotelbesitzerin auf die Veranda trat. Damals war sie die junge Tochter des Hauses gewesen, auch für sie waren über dreißig Jahre vergangen. Ich glaube, sie hatte das Déjà-vu ihres Lebens. Erinnerst du dich, was sie gesagt hat: Wie schön zu sehen, dass ihr noch immer zusammen seid! Das tat weh. Aber es hatte natürlich auch etwas Komisches, schließlich hatte sie uns seit jenem Morgen Mitte der siebziger Jahre, an dem wir auf ihre drei kleinen Mädchen aufpassten, nicht mehr gesehen. Wir hatten ihr diesen Gefallen getan, weil sie uns Fahrräder und ein kleines Kofferradio geliehen hatte.

Sie rufen nach mir. Es ist ein schöner Juliabend, und wir führen hier am Meer ein Ferienleben. Ich glaube, sie haben Forellen auf den Grill gelegt. Und Niels Petter bringt mir einen Schnaps. Er gibt mir zehn Minuten, um die Mail zu beenden, und die Zeit brauche ich auch, denn ich möchte dich um etwas Wichtiges bitten.

Wollen wir einander feierlich versprechen, dass wir alle unsere Mails löschen, sobald wir sie gelesen haben? Ich meine, sofort, auf der Stelle. Und natürlich lassen wir konsequent die Finger vom Drucker.

Ich stelle mir unseren neuen Kontakt lieber als vibrierenden Gedankenstrom zwischen zwei Seelen vor denn als festen Briefwechsel, der dann für alle Zeit zwischen uns steht. So könnten wir auch über alles schreiben.

Wir sind beide verheiratet, und wir haben Kinder. Mir gefällt die Vorstellung nicht, alles Mögliche im Speicher des Rechners liegen zu haben.

Wir wissen alle nicht, wann wir aufbrechen müssen. Aber eines Tages werden wir uns von diesem Karneval mit all seinen Masken und Rollen verabschieden und nur eine Handvoll flüchtige Requisiten zurücklassen, ehe auch die vom Spielfeld des Lebens gefegt werden.

Wir müssen irgendwann heraus aus der Zeit, aus dem, was wir »Wirklichkeit« nennen.

Die Jahre vergehen, aber der Gedanke, dass etwas von dem, was damals geschehen ist, plötzlich wiederkehren könnte, lässt mir keine Ruhe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir jemand auf dem Fuß folgt oder mir plötzlich in den Nacken haucht.

Ich werde nie das Blaulicht in Leikanger vergessen, und ich zucke noch immer zusammen, wenn hinter mir ein Streifenwagen auftaucht. Vor einigen Jahren klingelte einmal ein uniformierter Polizist an meiner Tür. Er muss bemerkt haben, wie ich mich erschrocken habe. Dabei wollte er sich nur nach einer Adresse in der Nachbarschaft erkundigen.

Du findest sicher, dass ich mir unnötig Sorgen mache. Und sowieso wäre die Sache, juristisch gesehen, verjährt.

Aber Schuldgefühle verjähren niemals …

Versprich mir, die Mails zu löschen!

Erst als wir oben zwischen den Überresten der alten Berghütte saßen, hast du erzählt, was dich wieder in das Hotel geführt hatte. Wie im Zeitraffer hast du erzählt, was du in den vergangenen dreißig Jahren gemacht hast, und mir dein Klimaprojekt erklärt. Danach reichte es gerade noch für ein paar Sätze über einen besonders intensiven Traum in der Nacht, bevor wir uns auf der Veranda des Hotels begegneten. Es sei ein kosmischer Traum gewesen, hast du erzählt, doch dann kamen diese jungen Kühe auf uns zu gejagt, und wir mussten flüchten. Auf dem Weg hinunter haben wir über den Traum nicht mehr gesprochen.

Dass du kosmische Träume hast, liegt für mich auf der Hand … Damals wollten wir versuchen, ein paar Stunden zu schlafen, aber wir waren zu aufgeregt, natürlich, deshalb lagen wir mit geschlossenen Augen nebeneinander und unterhielten uns flüsternd. Wir sprachen über Sterne und Galaxien, nichts sonst. Nur über solche großen, fernen, sozusagen übergeordneten Dinge …

Wenn ich heute daran denke, finde ich es seltsam. Es war, bevor ich an etwas geglaubt habe. Aber bis dahin war es nur ein kleiner Schritt.

Sie rufen mich wieder. Nur noch einen letzten Kommentar, ehe ich die Mail abschicke. Der See von damals heißt Eldrevatn. Ist das nicht ein seltsamer Name für einen einsamen Bergsee weit entfernt von der nächsten menschlichen Ansiedlung? Wer waren damals wohl die »Älteren« dort oben zwischen Felskegeln und den Gipfeln der Berge?

Auf der Fahrt mit Niels Petter habe ich erst nur die Landkarte angestarrt. Ich war seit damals nicht mehr dort gewesen und konnte trotzdem nicht aufblicken, nicht bei dem See. Ein paar Minuten später kamen wir auch an der anderen Stelle vorbei, ich meine, an der Kurve bei dem Abgrund. Es war der Moment auf der Fahrt, der am meisten wehgetan hat.

Ich glaube, ich habe erst unten im Tal wieder von der Karte aufgeschaut. Wenigstens habe ich so ein paar neue Ortsnamen entdeckt. Ich habe sie Niels Petter vorgelesen, etwas musste ich ja tun. Ich hatte Angst vor einem Nervenzusammenbruch, denn den hätte ich ihm erklären müssen.

Ich war froh, als wir zu den neuen Tunneln kamen, und bestand darauf, durch sie durchzufahren, nicht vorbei an der Stabkirche und über die alte Straße am Fluss entlang. Ich saugte mir die blöde Erklärung aus den Fingern, dass es spät sei und wir nicht viel Zeit hätten.

Zum Eldrevatn also.

Die Preiselbeerfrau war »älter«. Fanden wir damals jedenfalls. Eine ältere Dame mit einem roten Tuch um die Schultern. Wir mussten uns gegenseitig versichern, dass wir dasselbe gesehen hatten. Das war, als wir noch miteinander redeten.

Die Wahrheit ist, dass sie damals so alt war wie ich heute, nicht älter und nicht jünger. Eine Frau mittleren Alters …

Als du auf die Veranda kamst, war es, als begegnete ich mir selbst. Wir hatten uns dreißig Jahre nicht gesehen. Aber das war nicht alles. Ich hatte ganz deutlich das Gefühl, mich von außen sehen zu können, ich meine, aus deinem Blickwinkel und mit deinen Augen. Plötzlich war ich die Preiselbeerfrau. Der Gedanke überkam mich wie eine bange Ahnung.

Sie rufen schon wieder. Es ist das dritte Mal, ich schicke die Mail jetzt ab und lösche sie dann. Ich denk an dich. Solrun.

Ich muss mich zusammennehmen, um nicht »deine Solrun« zu schreiben, zwischen uns hat es ja nie eine richtige Trennung gegeben. Ich habe an jenem Tag meinen Kram genommen und bin gegangen. Und ich bin nicht zurückgekommen. Ich brauchte fast ein ganzes Jahr, bis ich dir aus Bergen schrieb und dich bat, mir meine restlichen Habseligkeiten zusammenzupacken und zu schicken. Und auch das wollte ich nicht als offizielle Trennung verstanden wissen, es war einfach praktischer so, weil ich schon lange auf der anderen Seite der Berge war. Es hat dann noch ein paar Jahre gedauert, bis ich Niels Petter kennenlernte. Und mehr als zehn Jahre, wie ich jetzt weiß, bis du und Berit einander gefunden habt.

Du hattest Ausdauer. Du hast uns niemals ganz aufgegeben. Und ich hatte ab und zu das Gefühl, ein Leben als Bigamistin zu leben.

Ich werde nie vergessen, was uns dort oben auf der Passhöhe passiert ist. Manchmal kommt es mir vor, als verginge keine Stunde, ohne dass ich daran denke.

Aber es geschah noch etwas danach, und das war wunderbar und verheißungsvoll. Heute betrachte ich es als Geschenk.

Stell dir vor, wir hätten es geschafft, dieses Geschenk zusammen anzunehmen? Aber wir waren leider außer uns vor Angst. Erst bist du zusammengebrochen und hast dich von mir trösten lassen wie ein Kind, dann bist du plötzlich aufgesprungen und davongestürzt.

Schon nach wenigen Tagen schauten wir in unterschiedliche Richtungen. Wir hatten die Fähigkeit oder den Willen eingebüßt, einander in die Augen zu blicken.

Wir beide, Steinn. Es war nicht zu glauben.

Solrun, Solrun! Du warst so schön! So strahlend in dem roten Kleid vor dem weißen Geländer, mit dem Rücken zum Garten und zum Fjord!

Ich habe dich sofort erkannt, natürlich habe ich das. Oder hatte ich Halluzinationen? Nein, du warst es – wie aus einer anderen Epoche entsprungen!

Und um es gleich zu sagen: Ich habe bei unserer Begegnung keine Sekunde an die »Preiselbeerfrau« gedacht.

Dass du wirklich schreibst! In den letzten Wochen hatte ich so gehofft, dass du es tun würdest. Der Vorschlag zu mailen kam von mir, aber bis zuletzt hast du gesagt, du würdest dich melden, wenn es sich ergäbe, und damit lag die Initiative nun mal bei dir.

Ich war so überwältigt, dass wir uns ausgerechnet in demselben entlegenen Winkel wiedersehen sollten wie damals. Es war, als hätten wir mit einer uralten Verabredung gelebt, genau dort noch einmal zusammenzukommen. Nur hatten wir so eine Verabredung gar nicht getroffen. Es war einfach nur der pure Zufall.

Ich kam mit einer vollen Tasse auf der Untertasse aus dem Speisesaal und ließ in meiner Verwirrung den Kaffee überschwappen. Ich habe mir ein bisschen das Handgelenk verbrüht, und du hast recht, ich konnte gerade noch einen Sturz vermeiden. Ich wollte nicht, dass die Tasse auf dem Boden landet.

Ich habe deinen Mann nur kurz begrüßt, dann musste er plötzlich dringend etwas aus dem Auto holen, so konnten wir beide ein paar Worte wechseln. Dann kam die Hotelbesitzerin heraus, vielleicht hatte sie mich durch die Halle gehen sehen und mich erkannt, von damals vor dreißig Jahren, als ihre Mutter noch das Hotel geleitet hat.

Wir standen einander gegenüber, du und ich, und sie hielt uns offenbar für ein Ehepaar mittleren Alters, das einmal eine Liebesreise an ihren Fjord gemacht hatte, vor Urzeiten, bevor es sesshaft wurde und fürs Leben zusammenblieb – ich habe mir das übrigens vorzustellen versucht. Und jetzt waren wir endlich, vielleicht in einem Anfall von Nostalgie, in die Kulissen unseres jugendlichen Abenteuers zurückgekehrt. Natürlich mussten wir nach dem Frühstück auf die Veranda hinaus. Wie es der Zeitgeist verlangt, haben wir beide mit dem Rauchen aufgehört, selbstverständlich, aber wir mussten uns die Blutbuche, den Fjord und die Berge ansehen. Denn das hatten wir damals auch immer getan.

Das Hotel hatte eine neue Rezeption, und es gab jetzt zusätzlich ein Touristen-Café. Aber die Bäume, der Fjord und die Berge waren noch dieselben. Wie die Möbel und Gemälde im Kaminzimmer, sogar der Billardtisch stand noch an genau derselben Stelle im Zimmer nebenan, und ich bezweifle, dass sie das alte Klavier im Musikzimmer jemals haben stimmen lassen. Du hattest darauf Debussy gespielt und Nocturnes von Chopin. Ich werde nie vergessen, wie andere Gäste sich um das Klavier versammelten. Du hast reichlich Beifall eingeheimst.

Dreißig Jahre waren vergangen, aber es war fast, als hätte die Zeit so lange stillgestanden.

Jetzt hätte ich fast die einzige wirkliche Veränderung vergessen: Die Tunnel waren neu! Wir kamen damals mit der Fähre und sind mit der Fähre wieder weggefahren. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Weißt du noch, wie damals die Gewissheit, dass die letzte Fähre gekommen war, uns beruhigt hat? Damit war das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten, und wir hatten den ganzen restlichen Abend, die Nacht und den nächsten Morgen für uns, ehe die M/F Nesøy auf den Fjord hinausfuhr und irgendwann später am Vormittag mit Fahrgästen wieder zurückkehrte. Gnadenfrist nannten wir es. Wenn es heute wäre, würden wir vermutlich den ganzen Abend auf der Veranda sitzen und die Autos mustern, die aus dem Tunnel fahren. Würden sie alle weiter nach Westen jagen, oder würden sie beim Gletschermuseum abbiegen und zum Hotel kommen, um uns zu holen, ich meine, um uns festzunehmen?

Ich hatte übrigens vergessen, dass wir auf ihre Töchter aufgepasst haben. An alles erinnere ich mich also nicht.

Ich bin einverstanden, dass wir die Mails gleich löschen, wenn wir sie gelesen haben, und die Antworten nach dem Absenden ebenfalls. Es kann befreiend sein, seinen Gedanken und Assoziationen einmal einfach nur freien Lauf zu lassen. Es wird schon viel zu viel gespeichert und aufbewahrt, überall.

Ich hatte deine Mail schon gelöscht, als ich es mir vorhin gemütlich gemacht habe, um sie zu beantworten. Jetzt muss ich zugeben, dass das Löschen auch seine Nachteile hat: Ich merke, dass ich gern das ein oder andere nachlesen würde. So werde ich mich auf mein Gedächtnis verlassen müssen.

Du deutest an, dass hinter unserem unglaublichen Wiedersehen auf der Hotelveranda übernatürliche Kräfte gesteckt haben könnten. Was das angeht, bitte ich dich um Verständnis dafür, dass ich heute ebenso aufrichtig sein werde wie damals. Ich kann so einen Zufall nur als ein Ereignis ansehen, hinter dem sich keinerlei Wille oder »Lenkung« verbirgt. Zugegeben, hier handelt es sich um einen gewaltigen Zufall und keine Bagatelle. Aber du musst auch an all die Tage unseres Lebens denken, an denen nichts Vergleichbares geschieht.

Auf die Gefahr, deinen Hang zum Okkulten noch zu schüren, muss ich dir dennoch etwas anvertrauen: Als ich mit dem Bus aus dem langen Tunnel oben bei Bergshovden herauskam, lag der Fjord in Nebel gehüllt, und ich konnte unter mir nichts sehen. Ich sah natürlich die Berggipfel, aber Fjord und Täler waren wie aus der Landschaft wegradiert. Und dann kam noch ein Tunnel, und als wir den verließen, befand ich mich unterhalb der Wolkendecke. Ich sah den Fjord und die drei Talgründe, aber jetzt konnte ich die Berggipfel nicht einmal mehr ahnen.

Ich dachte: Ob sie auch hier sein wird? Kommt sie auch?

Und dann warst du wirklich da, am nächsten Morgen, hast in einem mädchenhaften Sommerkleid auf der Veranda gestanden, als ich mit meiner ein bisschen zu vollen Kaffeetasse aus dem Speisesaal kam.

Ich hatte für einen Augenblick das Gefühl, dich dort erschaffen zu haben, als hätte ich dich an genau diesem Tag in das alte, ganz aus Holz gebaute Hotel hineingedichtet. Es war, als wärst du an Ort und Stelle aus meiner Erinnerung und meiner Sehnsucht geboren worden.

Andererseits ist es natürlich kein Wunder, dass du dich so heftig in meine Gedanken gedrängt hast, schließlich habe ich mich plötzlich wieder an einem Ort aufgehalten, den wir einmal als erotischen Winkel bezeichnet hatten. Nur: Dass wir beide gleichzeitig dort eintrafen, war dann wieder pures, reines Glück.

Ich hatte am Frühstückstisch gesessen und an dich gedacht, während ich Orangensaft trank und auf ein Ei einhackte. Ich war vollständig benebelt von dem mächtigen Traum, den ich gehabt hatte. Dann gehe ich mit meinem Kaffee hinaus auf die Veranda – und da stehst du!

Dein Mann hat mir leidgetan. Er hatte mein volles Mitgefühl, als wir ihm eine Stunde später den Rücken kehrten und zu unserer Zweisamkeit in die Berge zogen.

Die Art, wie wir gingen, und die Art, wie wir miteinander sprachen, erschien mir als wunderschöner Nachhall von damals, als wir noch jung waren. Das Tal war dasselbe, und wie ich schon sagte: Du siehst noch immer jung aus.

Dennoch glaube ich nicht an Fügungen des Schicksals, Solrun. Wirklich nicht.

Was nun die »Preiselbeerfrau« betrifft, so berührst du damit eines der seltsamsten Erlebnisse, das ich jemals hatte. Denn ich habe sie nicht vergessen, und ich will sie auch nicht verleugnen, warte nur noch einen Moment: Da war noch etwas, was ich auf dem Heimweg gesehen habe.

Als ihr gefahren wart, bin ich ja noch geblieben, um am nächsten Vormittag an der Eröffnung des neuen Klimazentrums teilzunehmen. Du erinnerst dich, ich sollte vor dem Mittagessen eine kleine Rede halten. Am Freitagvormittag bin ich dann mit der Schnellfähre von Balestrand nach Flåm gefahren, nach einigen Stunden von dort mit der Bahn nach Myrdal und von dort nach Oslo.

Vor Myrdal hält die Flåmsbahn noch bei einem gewaltigen Wasserfall, dem Kjosfos. Die Touristen werden dort fast mit Gewalt aus dem Zug getrieben, damit sie den Wasserfall fotografieren oder zumindest einen Blick auf die kreideweißen Kaskaden werfen können.

Während wir auf dem Bahnsteig standen, tauchte am Hang rechts vom Wasserfall eine Hulde auf. Sie schien urplötzlich aus dem Nichts herauszuspringen. Ebenso plötzlich war sie wieder verschwunden, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, um dann dreißig oder fünfzig Meter weiter unten abermals aufzutauchen. Das wiederholte sich noch zweimal.

Was sagst du dazu? Könnte es sein, dass sich solche übernatürlichen Wesen den Naturgesetzen nicht zu beugen brauchen?

Lass uns keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen. Hatte ich womöglich eine Erscheinung oder eine Vision? Nun, dort waren zweihundert Menschen, die genau dasselbe sahen wie ich. Waren wir also alle zusammen Zeugen von etwas Übernatürlichem, ich meine, sahen wir wirklich eine Elfe oder einen Waldgeist? Natürlich nicht. Das Ganze war arrangiert, für die Touristen, meine ich, und das Einzige, worüber ich in diesem Zusammenhang keine klare Aussage machen kann, ist der Stundenlohn dieser jungen Frau.

Habe ich noch etwas vergessen? Ja. Denn diese junge Frau bewegte sich nicht auf natürliche Weise, vielmehr wechselte sie blitzschnell von einem Ort zum anderen. Wir haben es alle gesehen. Aber es war ein Trick! Wie viele Hulden an diesem Nachmittag am Kjosfos im Einsatz waren, weiß ich nicht. Ich gehe allerdings davon aus, dass sie, ob nun zu zweit oder zu dritt, alle für denselben Stundenlohn arbeiten.

Ich schreibe dir das, weil mir einfällt, dass es etwas gibt, woran wir damals nicht gedacht haben, was wir aber dennoch in Betracht ziehen sollten, denn noch ist es dazu nicht zu spät. Ich meine die Möglichkeit, dass es mit dem Auftritt der Preiselbeerfrau eine ähnliche Bewandtnis gehabt haben könnte. Sie könnte irgendeine Rolle gespielt haben, sie könnte uns einen Streich gespielt haben, wer weiß. Vielleicht schlüpfte sie sogar öfter in die Rolle, und wir waren nicht ihre einzigen Opfer. Auf dem Dorf gibt es alle möglichen Käuze.

War’s das, oder habe ich wieder etwas vergessen? Ja. Denn sie schien nicht nur aus dem Nichts und von nirgendwoher gekommen zu sein. Sie schien auch einfach im Erdboden zu versinken, nachdem sie ihren Auftritt absolviert hatte. Vielleicht war es sogar so. Vielleicht war sie ein Spaßvogel, der sich in irgendeine Grube fallen ließ. Oder in einen Reisighaufen, was weiß ich. Wir haben das Gelände ja nicht genauer untersucht. Die Wahrheit ist, dass wir die Beine in die Hand genommen haben, als wäre der Leibhaftige hinter uns her.

Manchmal sagen wir: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Aber es ist gar nicht so sicher, dass wir dann auch wirklich glauben müssen, was wir sehen. In besonderen Fällen sollten wir uns zumindest die Augen reiben, ehe wir ein Urteil fällen. Wir müssen uns dann fragen, wie etwas oder jemand uns dermaßen an der Nase herumführen konnte. Das haben wir damals nicht getan. Wir waren außer uns vor Angst. Wir waren außerdem aufgewühlt wegen all der Dinge, die ein paar Tage zuvor geschehen waren. Wenn einer von uns die Nerven verloren hätte, hätte er den anderen unweigerlich mitgerissen.

Fühl dich jetzt bitte nicht zurückgestoßen! Ich habe mich sehr darüber gefreut, dich wiederzusehen, und noch immer ertappe ich mich bei einem Lächeln, wenn ich daran denke. Denn ich halte solche Zufallsbegegnungen beileibe nicht für gleichgültig oder sinnlos. Sie können sogar ungeheuer viel Sinn haben, einfach weil sie uns packen und uns prägen. Sie können außerdem entscheidend dafür sein, was als Nächstes mit uns geschieht.

Dass wir ausgerechnet dort wieder zusammenkommen sollten! Und dann sind wir auch noch wieder zu der Berghütte hinaufgegangen. Wer hätte gedacht, dass sich so etwas wiederholen könnte!

Eine vierstündige Wanderung ist nicht lang, wenn man öfter solche kleinen Ausflüge unternimmt. Aber nun waren seit dem letzten Mal ein paar Jahrzehnte vergangen, da sind vier Stunden sehr viel. Da wird der Unterschied zwischen der einen Begegnung und nichts überwältigend.

Okay, Steinn. Es ist nett, von dir zu hören. Aber was du schreibst, erinnert mich daran, warum wir uns damals getrennt haben. Ein Grund war, dass wir damals wie heute bestimmte Dinge, die wir gemeinsam erlebt haben, auf höchst unterschiedliche Weise deuten. Ein anderer Grund war, dass du über meine Deutungen immer nur herablassend gesprochen hast.

Trotzdem ist es wirklich nett, von dir zu hören. Du fehlst mir. Gib mir nur ein wenig Zeit, ich antworte, wenn ich bessere Laune habe.

Ich wollte nicht herablassend klingen, aber ich kann mich auch nicht mehr genau erinnern, wie ich mich ausgedrückt habe. Was habe ich denn geschrieben? Habe ich nicht geschrieben, dass ich mich immer wieder bei einem Schmunzeln ertappe, wenn ich daran denke, dass wir uns wiedergesehen haben?

Übrigens gibt es noch mehr, das ich dir erzählen muss. Ich war mit einer Fähre unterwegs, die denselben Namen trug wie der Arm des Fjords, an dem das Hotel liegt. Zuerst haben wir bei Hella angelegt, wo wir damals unser beschädigtes Auto abgestellt hatten – es war seltsam, an Deck zu stehen und auf den Fähranleger hinabzublicken, aber dann haben wir den Hauptarm des Fjords in Richtung Vangsnes überquert, dort kehrtgemacht und Balestrand angelaufen. Dort bin ich auf der Landspitze beim Kvikne Hotel hin und her gegangen und habe auf die Schnellfähre aus Bergen gewartet. Sie kam ein wenig verspätet, um eine halbe Stunde, glaube ich, und als ich an Bord ging, sah ich, dass sie M/S Solundir hieß.

Ich bin zusammengezuckt. Ich musste natürlich an dich denken. Ich hatte eigentlich nur noch an dich gedacht, seit wir uns zwei Tage zuvor an dem alten Dampferanleger zum Abschied zugewinkt hatten. Aber jetzt musste ich außerdem an den Sommer denken, als wir dort draußen auf einer der Inseln von Solund deine Großmutter besucht haben. Hieß sie nicht Randi? Randi Hjønnevåg?

Ich versank vollkommen in meinen Gedanken, es war wie ein besonderer Gemütszustand, möchte ich fast sagen, denn plötzlich überrollte mich eine Lawine aus alten Erlebnissen – lebhafte Bilder und Eindrücke von damals am Meer, als wir erst Anfang zwanzig waren, wie Filmschnipsel von Momenten, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie aufgenommen hatte, und es war auch kein Stummfilm, denn ich glaubte, deine Stimme zu hören, ich hörte dich lachen und mit mir reden. Und ich hörte außerdem den Wind und die Seevögel, und ich konnte deine langen dunklen Haare riechen. Es roch nach Meer und Tang. Das waren keine normalen Gedanken, es war wie ein Geysir aus verdrängter Glückseligkeit, der an die Oberfläche drängte, wie ein Zurück in die Zeit, die einmal uns gehörte.

Erst begegne ich dir mehr als dreißig Jahre nach unserem letzten Besuch dort in dem alten Hotel, und wenn ich dann weiterfahre, trägt die Fähre, die ich nehme, den Namen der kleinen Insel, von der die Familie deiner Mutter stammt. Hast du nicht irgendwann erzählt, dass du fast nach diesem Herkunftsort Solrun genannt worden bist? Sonst haben wir ja vor allem über Ytre Sula gesprochen, die alleräußerste Insel, auf der deine Großmutter wohnte. Aber Solrun und Solundir! Ist es da ein Wunder, dass ich zusammengezuckt bin?

Dennoch sollten wir uns von solchen zufälligen Verbindungslinien nicht zu okkulten Schlussfolgerungen verleiten lassen. Die Fähre verdankte ihren Namen schlicht einem Hafenort in dem Regierungsbezirk, in dem ich mich gerade aufhielt, so einfach war das. Also beruhigte ich mich. Aber ich stand noch lange an Deck und lächelte vor mich hin.

Und was glaubst du?

Ich bin jetzt hier draußen. Auf Ytre Sula, der Solund-Insel, meine ich. Ich sitze in dem alten Haus in Kolgrov und schaue auf Inseln und Schären. Das Einzige, was mir diese Aussicht ein wenig verstellt, ist ein Paar Männerbeine. Niels Petter steht auf einer Aluminiumleiter und streicht die Fensterrahmen im Obergeschoss neu.

Als wir beide an dem Mittwoch von der Berghütte zurückkamen, wollte er unbedingt gleich losfahren, damit wir rechtzeitig zu den Abendnachrichten zu Hause in Bergen sind.

Als wir durch Bøyadalen und den Tunnel am Gletscher fuhren, ging es schon gegen drei. Als wir aus dem Tunnel herauskamen, sahen wir, wie der Nebel sich auflöste. Während der Fahrt am Jølstravatnet entlang brach dann die Sonne durch. Der Nebel war das Einzige, was Niels Petter vor Førde zu einem Kommentar veranlasste. Es klärt sich auf, sagte er, als wir bei Skei den See umrundeten. Ich versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber mehr war ihm nicht zu entlocken. Später ging mir auf, dass seine Bemerkung sich vielleicht nicht nur auf das Wetter bezog, sondern auch auf seine Stimmung.

Als wir dann nach Süden auf Førde zufuhren, wandte er sich mir zu und meinte, das alles sei vielleicht ein bisschen viel gewesen für einen Tag, und wir könnten doch eine Nacht im Haus der Familie meiner Mutter verbringen, das wir jetzt einfach das Sommerhaus nennen. Wir hatten tatsächlich nach Hause fahren wollen, vor allem weil er Pläne hatte für den nächsten Tag, aber der Vorschlag war ein Versöhnungsangebot, eine Art Entschuldigung dafür, dass er erst so sauer war, als ich auf einem längeren Spaziergang mit dir bestand, und dann die ganze Fahrt über stumm blieb wie ein Fisch. Wir machten es dann, wie er vorgeschlagen hatte. Wir überquerten zwischen Rysjedalsvika und Rutledal den Fjord und fuhren weiter zu den Inseln von Solund. Wir hatten einen wunderbaren Tag dort draußen am offenen Meer, während du bei der Eröffnung dieses Klimazentrums warst. Natürlich habe ich dir die ganze Zeit Gedanken geschickt, ich meine, Erinnerungen und Momentaufnahmen von Dingen, die wir damals zusammen erlebt hatten, auch an den folgenden Tagen habe ich das immer wieder getan, sehr intensive Erinnerungen waren das, und einige davon haben dich also erreicht, als »Filmschnipsel« von Momenten, von denen du gar nicht mehr wusstest, dass du sie aufgenommen hattest …

Wir waren am späten Donnerstagabend zu Hause in Bergen, und am frühen Freitagmorgen bin ich zum Strandkai gegangen, um die Solundir anlegen zu sehen. Sie fährt um acht Uhr von Bergen ab. Ich wusste, dass du an diesem Vormittag von Balestrand aufbrechen würdest, das hattest du ja erzählt, und wo ich ohnehin so früh aufgestanden war, habe ich einen Morgenspaziergang von Skansen herunter über den Fischmarkt zum Strandkai gemacht. Um dir eine gute Fahrt zu wünschen, Steinn, um noch einmal Abschied zu nehmen. Irrational, ich weiß, aber ich war mir sicher, dass ich genau das wollte. Und jetzt erzähl mir nicht, mein Gruß hätte dich nicht erreicht. Ich fand es witzig, daran zu denken, dass du mit der Solundir fahren würdest, und ich stellte mir vor, dass du auch an mich und an unser Sommermärchen hier draußen denken würdest.

Die Fähre ist nicht nach mir benannt. Wie du sagst, hat sie ihren Namen von der Inselgemeinde westlich im Meer bei der Mündung des Sognefjord, wo ich mich fast den ganzen Tag zuvor aufgehalten hatte, und wo ich jetzt sitze und beim Schreiben aufs Meer hinausblicke. Zum Glück sind die Beine jetzt verschwunden, sie haben doch ein wenig gestört, beim Aus-dem-Fenster-Schauen und beim Nachdenken …

Solundir ist einfach die altnordische Mehrzahl von Solund, hier gibt es ja viele Hunderte von Solund-Inseln. Sól bedeutet »Furche«, und bedeutet »versehen mit«. Die Inseln von Solund sind also versehen mit Furchen. Das ist keine unpräzise Beschreibung der Geologie hier draußen. »Zerfurcht, wettergegerbt über dem Wasser …«

Du weißt sicher noch, wie wir damals zwischen den psychedelischen Steinformationen Versteck gespielt haben. Sie sind aus bunten Konglomeraten entstanden, und du hast wahrscheinlich auch nicht vergessen, dass wir dort stundenlang Steine gesammelt haben, du Marmor, und ich irgendwelche roten Steine. Die liegen noch immer hier und leuchten, deine und meine. Ich lege sie in die Beete.

Es stimmt, dass meine Großmutter Randi hieß, und es enttäuscht mich fast ein bisschen, dass du dir da nicht sicher bist, ihr wart doch so begeistert voneinander. Ich weiß noch, dass du meine Großmutter einmal als den wärmsten und schönsten Menschen bezeichnet hast, der dir je begegnet sei. Und sie ihrerseits stand immer wieder in dem kleinen Garten und sang beinahe vor sich hin: »Dieser Steinn, ja!« »Dieser Steinn« hatte etwas ganz Besonderes. Ein feinerer Kerl war Oma nie über den Weg gelaufen.

Auch meine Mutter ist dort draußen aufgewachsen, das weißt du ja, da, wo sich heute die westlichste Siedlung des ganzen Landes befindet. Ihr Mädchenname war tatsächlich Hjønnevåg, und dass meine Eltern mir den Namen Solrun gegeben haben, war nicht einfach aus der Luft gegriffen, es war ein wenig von diesem familiären Hintergrund inspiriert.

Jetzt sind wir wieder hier, alle vier, bevor in wenigen Tagen wieder Schule und Alltag über uns bestimmen. Ingrid hat gerade ihr Abitur gemacht. Dafür, dass wir uns am offenen Meer befinden, ist es ungewöhnlich windstill, darum konnten wir gestern ausnahmsweise einmal im Garten sitzen und grillen.

Die Welt ist kein Mosaik aus Zufällen, Steinn. Sie hängt zusammen.

Wie schön, dass du antwortest, und es hat zum Glück nicht lange gedauert. Bis deine Stimmung sich gebessert hatte, meine ich.

Aber was für eine Vorstellung, dass du jetzt wirklich dort draußen bist. Dann ist es so, als wäre ich auch selbst ein wenig dort, wenn wir einander mailen. Ich vertrete nämlich durchaus die Ansicht, dass zwei Menschen einander nahe sein können, obwohl die physische Entfernung zwischen ihnen groß ist. Insofern stimme ich dir zu, dass die Welt zusammenhängt.

Wie rührend, dass du an dem Morgen zum Strandkai gegangen bist, um mir mit der Schnellfähre einen Gruß zu schicken. Ich kann dich fast vor mir sehen, wie du die vielen Treppen von Skansen heruntergehst, und bei dem Anblick muss ich an einen spanischen Film denken. Im Übrigen kann ich dir bestätigen, dass der Gruß angekommen ist.

Auf dem Weg bergauf durchs Mundalstal hast du mir erklärt, dass du die Existenz »sogenannter übernatürlicher Phänomene« bestreitest. Du glaubst auch nicht an Telepathie, hast du betont, oder an irgendeine Form von Hellseherei oder Eingebung – das alles, nachdem ich dir ein paar überzeugende Beispiele für solche Erscheinungen geliefert hatte. Vielleicht ist es bei dir so, dass du die Antennen, die du besitzt, nicht benutzt. Du willst dir die Scheuklappen nicht wegreißen, oder vielleicht willst du auch nicht einsehen, dass du manchmal nur »annehmen« kannst, was du für deine eigenen Einfälle hältst.

Aber da bist du nicht der Einzige, Steinn. In unserer Zeit gibt es viel psychische Blindheit und viel geistige Armut.

Ich dagegen bin so naiv, dass ich es nicht als schnöden Zufall abtun kann, dass wir plötzlich noch einmal zusammen auf dieser Hotelveranda standen. Ich glaube, es hat dabei eine Art Regie gegeben. Frag mich nicht, wie oder auf welche Weise, denn das weiß ich wirklich nicht. Aber es nicht zu verstehen bedeutet, die Augen zu verschließen. König Ödipus hat auch nicht gesehen, welche Schicksalsfäden sich um ihn webten, und als er es endlich sah, war er so beschämt, dass er sich selbst das Augenlicht genommen hat. Was sein Schicksal betrifft, war er ja die ganze Zeit schon blind gewesen.

Plötzlich geht es zwischen uns zu wie beim Pingpong. Vielleicht sollten wir den ganzen Nachmittag so weitermachen? Dann komme ich an diesem schönen Sommertag auch noch ein wenig hinaus nach Ytre Sula. Was meinst du?

Doch, lass uns miteinander reden. Ich habe Ferien, und hier gilt die ungeschriebene Regel, dass an einem Ferientag jeder macht, was er will. Ein bisschen streng sind wir nur mit den Mahlzeiten, die wir gemeinsam einnehmen. (Nur frühstücken darf jeder, wenn er aufsteht.) Aber jetzt liegt das Mittagessen noch nicht lange zurück, und ich habe bis zum späten Abendessen keine Verpflichtungen mehr. Wenn kein Wind aufkommt, können wir vielleicht auch wieder grillen.

Und du? Wohin wird es mich an diesem Nachmittag noch ein wenig verschlagen, meine ich?

Ich habe leider nichts zu bieten, was es mit deiner Umgebung aufnehmen könnte. Ich sitze in einem langweiligen Universitätsbüro in Blindern und werde auch hier sitzen bleiben, bis ich mich gegen sieben in Majorstua mit Berit treffe. Wir fahren nach Bærum und besuchen ihren alten, aber geistig noch frischen und überaus spirituellen Vater. Bis sieben ist es noch lange hin, wir haben also noch ein paar Stunden für uns.

Vergiss nicht, dass ich fünf Jahre in Blindern studiert habe. Diese Jahre, Steinn … Für mich ist es exotisch genug, mich dorthin zurückzuträumen.

Dass du Professor an der Uni Oslo werden würdest, hättest du dir früher sicher auch nicht träumen lassen. Wolltest du damals nicht an die Schule?

Als du nicht mehr da warst, stand ich vor einem fast bedrohlichen Überschuss an Zeit, das hat mir den Doktor und ein Forschungsstipendium eingetragen. Aber vielleicht sollten wir noch nicht von »damals« reden. Ich bin neugierig darauf, wer du heute bist.

Nun, ich bin jedenfalls Lehrerin geworden, darüber sprachen wir ja, und ich habe es wirklich nie bereut. Ich betrachte es als Privileg, meinen Lebensunterhalt damit verdienen zu können, dass ich jeden Tag einige Stunden mit jungen, engagierten Menschen verbringe, noch dazu, wo ich Dinge unterrichte, die mir wichtig sind. Es ist nicht nur ein Klischee, dass wir lernen, so lange wir leben. In jeder zweiten Klasse, die ich hatte, saß übrigens ein blonder Lockenkopf und erinnerte mich an dich und uns beide damals. Einmal sah dir einer übrigens wirklich ähnlich, er hatte sogar fast die gleiche Stimme.

Aber jetzt hast du das Wort. Wie ich dir schrieb, halte ich es nicht unbedingt für einen Zufall, dass wir beide plötzlich wieder auf dieser Veranda standen …

Da standen wir plötzlich, richtig. Aber das Wort »Zufall« weist ja gerade auf etwas hin, das statistisch gesehen nicht sonderlich wahrscheinlich ist. Ich habe einmal berechnet, dass die Chance, mit einem Würfel eine Serie von zwölf Sechsern zu würfeln, ich meine zwölf hintereinander, nicht größer ist als eins zu