Ein treuer Freund - Jostein Gaarder - E-Book

Ein treuer Freund E-Book

Jostein Gaarder

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Beschreibung

Jakop Jacobsen ist stets ein Einzelgänger gewesen, seit seiner Jugend in einem abgelegenen Tal in Norwegen. Sein bester Freund Pelle ist eine Handpuppe, mit der er lange Gespräche führt und die deutlich schlagfertiger ist als er selbst. Und er hat ein merkwürdiges Hobby: Jakop geht gern auf fremde Beerdigungen. Er gibt sich dort als Freund des Toten aus, bei den Familien der Toten fühlt er sich wohl. Dumm nur, wenn jemand sein falsches Spiel durchschaut ... So wie Agnes. Jakop verliebt sich in sie und hofft, dass sie ihn trotz seiner Eigenart und des vorlauten Pelle erhört. „Ein treuer Freund“ ist ein philosophischer Schelmenroman, eine herrlich schräge Liebesgeschichte und eines von Jostein Gaarders schönsten Büchern.

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Jakop ist stets ein Einzelgänger gewesen, seit seiner Jugend in einem abgelegenen norwegischen Tal. Sein bester Freund ist der merkwürdige Pelle, mit dem er lange Gespräche führt. Dieser schlagfertige Kerl sagt Dinge, die Jakop nie über die Lippen brächte. Jakops Hobby sind indogermanische Sprachen und nordische Göttermythen. Außerdem liebt er Begräbnisse und das gesellige Beisammensein danach. Bei den Angehörigen der Toten fühlt er sich wohl. Unter ihnen lernt er auch Agnes kennen, die sein falsches Spiel zwar durchschaut, ihn aber nicht verrät. Er verliebt sich in sie und hofft, dass sie ihn trotz des vorlauten Pelle erhört. Ein treuer Freund ist ein hinreißender philosophischer Schelmenroman und eines von Jostein Gaarders schönsten Büchern.

Hanser E-Book

Jostein Gaarder

Ein treuer Freund

Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Carl Hanser Verlag

EIN TREUER FREUND

GOTLAND, MAI 2013

Liebe Agnes, erinnerst du dich: Ich hatte versprochen, dir zu schreiben. Jedenfalls wollte ich es versuchen.

Ich sitze hier auf einer Insel in der Ostsee, und auf einem kleinen Schreibtisch vor mir steht mein Laptop. In einer Zigarrenkiste daneben befindet sich alles, was ich an Gedächtnisstützen brauche.

Mein Hotelzimmer besitzt einen Boden aus Kieferndielen, und ich brauche neun Schritte, um es zu durchqueren, was ich mehrmals getan habe, bis ich wusste, wie ich meinen Bericht beginnen soll. Mitten im Raum steht eine Sitzgruppe aus zwei roten Sesseln, einem roten Sofa und einem Teakholztisch, und ich musste jedes Mal durch einen der zwei schmalen Korridore zwischen Tischkante und Polstermöbel hindurch.

Ich habe ein Eckzimmer und kann in zwei Richtungen aus dem Fenster schauen. Vom einen Fenster, dem nach Norden, sehe ich von oben auf die typische gepflasterte Straße einer alten Hansestadt, aus dem anderen, das nach Westen geht, blicke ich über Almedalen und weit hinaus aufs Meer. Es ist warm, und ich habe beide Fenster geöffnet.

Ich stand eine halbe Stunde am Fenster und beobachtete die Menschen, die unter mir durch die Straße gingen, die meisten in Röcken oder kurzen Hosen und lockeren, kurzärmeligen Blusen oder Hemden. Pfingsttouristen. Viele von ihnen sind paarweise unterwegs, oft Hand in Hand, manche auch in großen, lärmenden Gruppen.

Es ist ein Märchen, dass Jugendliche mehr Krach machen als Leute meines Alters. Treten sie im Rudel auf und haben womöglich noch getrunken, können Menschen in mittleren Jahren ebenso laut sein wie Teenager. Man könnte auch sagen, ebenso menschlich. Seht mich an! Hört mir zu! Amüsieren wir uns nicht königlich?

Wir wachsen aus unserer menschlichen Natur nicht heraus. Wir wachsen mit ihr mit. Und wir wachsen in sie hinein.

Mir gefällt der Blick auf das Straßenleben anderthalb Stockwerke unter mir. Die Entfernung ist so gering, dass ich den Vorübergehenden ziemlich nahe bin. Sogar Gerüche steigen zu mir hoch, denn auch Menschen riechen, vor allem an windstillen Sommertagen in engen Gassen. Zudem halten manche brennende Zigaretten in der Hand, und ich spüre den beißenden Rauch in der Nase. Ich befinde mich gerade so weit über der Straße, dass die Objekte meiner Aufmerksamkeit in der Regel nicht zu mir hochschauen, mich also auch nicht bemerken, besonders dann nicht, wenn ich halb versteckt hinter dem blauen, bei gelegentlichen Windstößen aus dem Fenster flatternden Vorhang stehe.

Ich genieße es zu beobachten, ohne beobachtet zu werden.

Dabei behalte ich auch die Segelboote weit draußen auf der glitzernden See im Auge; es ist die sanfte Brise von Westen, die hin und wieder den Vorhang des Nordfensters bewegt.

In der vergangenen halben Stunde habe ich drei weiße Segel gesehen. Es ist ein strahlend schöner Tag und, von den gelegentlichen Brisen abgesehen, nahezu windstill. Also nicht das allerbeste Segelwetter.

Es ist nicht nur Pfingsten. Es ist auch der 17. Mai, der norwegische Nationalfeiertag. Der Gedanke daran macht mich fast ein bisschen wehmütig, denn es ist, als hätte man Geburtstag und befände sich unter Fremden, die davon nichts wissen. Niemand gratuliert einem oder singt ein Geburtstagslied.

Die norwegische Nationalhymne singt hier natürlich auch niemand, und ich habe keine einzige norwegische Flagge gesehen. Obwohl: Die Häkeldecke auf dem Hotelbett leuchtet so weiß wie der Glittertind, die Polstermöbel sind rot und die Vorhänge an den Fenstern blau – die norwegischen Farben. Mehr kann man nicht verlangen.

Beachte bitte das Datum! Im Augenblick, da ich dies schreibe, ist seit unserer Begegnung in Arendal genau ein Monat vergangen.

Ein paar Stunden später hast du auch Pelle kennengelernt. Ihr habt euch gut verstanden, anders kann man es nicht sagen.

Wir waren uns vorher nur ein einziges Mal begegnet, etwas mehr als ein Jahr zuvor, zwei Tage vor Heiligabend 2011; im Folgenden möchte ich versuchen, dir den Hintergrund dieser ersten Begegnung zu schildern. Ich tue es, weil du mich um eine Erklärung für mein damaliges Verhalten gebeten hast. Die werde ich nach bestem Wissen zu geben versuchen. Allerdings halte ich es in diesem Zusammenhang für angebracht, auch dir eine Frage zu stellen. Ich hatte mich blamiert, und du hast mich zurückgehalten, als ich aufspringen und davonlaufen wollte. Warum du das getan hast, ist für mich ein Rätsel, über das ich mir bis heute den Kopf zerbreche. Und es hat an jenem Nachmittag ja nicht nur mich überrascht, sondern offensichtlich alle, die mit uns am Tisch saßen. Ich bin mir sicher, viele von ihnen haben sich dieselben Fragen gestellt wie ich: Warum tut sie das? Warum lässt sie ihn – beziehungsweise mich – nicht laufen?

Wo soll ich anfangen?

Ich könnte mit meiner Kindheit in Hallingdal beginnen, um zu zeigen, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich heute bin. Oder ich könnte das genaue Gegenteil versuchen und zwei bemerkenswerte Ereignisse an den Anfang stellen, die sich erst heute Nachmittag hier auf der Insel zugetragen haben, aber durchaus zu meinem Bericht dazugehören. Von da könnte ich zu unserer Begegnung vor einem Monat in Arendal zurückblenden, um von dort den Faden erst zu dem verstörenden Nachmittag im Dezember 2011 zurückzuspinnen – einem der schwersten Tage deines Lebens, Agnes – und schließlich zur Beerdigung Erik Lundins zu Beginn des neuen Jahrtausends. Mich Schritt für Schritt in die Vergangenheit begebend, könnte ich dir am Ende von Erfahrungen erzählen, die ich schon als Junge gemacht habe und aufgrund derer ich auf ein gewisses Verständnis hoffen könnte, um nicht zu sagen, auf eine Art Vergebung wie nach einer Beichte.

Wie können wir unsere Lebensläufe am ehesten verstehen? Erzählen wir sie vom Beginn her, oder nehmen wir besser das Hier und Jetzt, das uns natürlich am deutlichsten vor Augen steht, und bewegen uns, davon ausgehend, an den Beginn zurück? Die Schwäche der zweiten Vorgehensweise liegt darin, dass es in einem Menschenleben ja keine zwingenden Abfolgen von Ursache und Wirkung gibt, wir vielmehr immer wieder schicksalhafte Entscheidungen treffen müssen.

Es gibt keinen schlüssigen Nachweis, dass man nur so werden konnte, wie man ist. Viele haben ihn versucht, aber herausgekommen ist kaum mehr als ein Schlussstrich unter ihre Existenz.

Ich war wieder am Fenster. Die drei Segelboote kommen bei der Windstille nicht vom Fleck. Ich weiß, dass es ein abstruser Einfall ist, aber ich muss dabei an uns drei denken, an dich und mich – und an Pelle, denn er gehört unbedingt dazu.

Es ist mir fast peinlich, aber weit hinten in meinem Kopf hat sich ganz von selbst ein altes Lied aus der Sonntagsschule angestimmt: Mein Boot ist so klein, und das Meer ist so groß …

Und hiermit fasse ich einen Entschluss: Ich werde meinen Bericht sozusagen mitten auf der Reise beginnen lassen. Ich werde von dem Augenblick an erzählen, als ich auf Erik Lundins Beerdigung deinen Vetter kennenlernte. Danach werde ich den Fäden folgen, die direkt zu unserer ersten Begegnung etwa zehn Jahre später führen. Zur Last, die ich aus Hallingdal mitgeschleppt habe, komme ich später.

ERIK

WIR WAREN VIELE an jenem Nachmittag Anfang September 2001, als wir Erik Lundin das letzte Geleit gaben. Unter uns war auch dein Vetter Truls, deshalb lasse ich meinen Bericht hier beginnen. Zehn Jahre später traf ich ihn zusammen mit Liv-Berit und den beiden Töchtern wieder. Dabei bin ich dir zum ersten Mal begegnet.

Die Vestre-Aker-Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, und wir gingen dicht gedrängt hinter der Bahre her zur Grabstätte. Die Sonne spielte im Laub der Bäume, aber sie brannte uns auch in den Augen – für manche eine willkommene Gelegenheit, die Sonnenbrille herauszuholen. In mir klangen noch immer Chorgesang, majestätische Trompetensoli und berauschende Orgeltöne nach.

Nachdem wir Erde auf den Sarg geworfen hatten, gingen wir zurück zur Kirche und zum Gemeindehaus. Es war mild für die Jahreszeit, um die zwanzig Grad. Erst als sich die Sonne hinter eine Wolke verzog, spürten wir den frischen Wind, der vom Fjord und vom Tiefland heraufkam.

Bei einer von so vielen Menschen besuchten Beerdigung fällt es nicht weiter auf, wenn jemand allein unter den Bäumen dahinwandert und keinen Kontakt zu den Angehörigen aufnimmt. Die Familie im engeren Sinne ist ohnehin mit sich selbst beschäftigt. Wie sollten sie da jemanden bemerken, der sich, auch vom Rest der Trauernden abgesondert, im Hintergrund hält?

Einige der auf dem Friedhof Versammelten waren mir allerdings schon früher begegnet, und einem davon, einem ehemaligen Schüler, nickte ich sogar zu. Aber wir hatten nie wieder miteinander zu tun gehabt; er brauchte mich also nicht zu kümmern. Dann war da noch ein großer dunkler Mann, dem ich schon öfter über den Weg gelaufen war, aber auch er war ein Außenstehender und damit kein Problem. Mir fiel nur ein, dass ich einmal von ihm geträumt hatte, wie er mit einer Sense um sich schlug.

Auf dem geräumigen Platz vor der Kirche winkte man einander zu und umarmte sich zum Abschied, manche begrüßten sich aber auch erst und stellten sich einander vor. Einige der ganz Alten wurden zu wartenden Autos geleitet, die danach eins nach dem anderen den Motor anließen und langsam den abschüssigen Weg hinunterfuhren, auf dem es bereits von schwarz gekleideten Menschen wimmelte.

Ich selbst war fest entschlossen, zu bleiben und mit ins Gemeindehaus zu gehen. In der Anzeige hatte ja gestanden, dass alle, die Erik zum Grab geleiteten, dort willkommen seien. Mir war klar, dass das Beisammensein mit den Angehörigen und Freunden eine Herausforderung werden würde, aber nicht mitzugehen schien mir keine Alternative zu sein.

In der Kirche hatte ich mich fast ganz nach vorn und direkt an den Mittelgang gesetzt, auf die rechte Seite, denn so hatte ich den Pastor im Blick, der die Trauerfeier damit begann, dass er die Stufen vom Altar herunterkam und nicht weniger als vier Generationen der Familie Lundin mit Handschlag begrüßte: zuerst die Witwe Ingeborg Lundin, danach die drei zwischen vierzig und fünfzig Jahre alten, von ihren Ehepartnern begleiteten Kinder und zum Schluss die Enkel und Urenkel.

Ich versuchte zu erraten, welche der Töchter Marianne und welche Liv-Berit war. Ich wusste, dass Marianne die Ältere war, und stellte fest, dass zwischen den beiden Schwestern ein beträchtlicher Altersunterschied bestehen musste. Die Sache war also einfach. Liv-Berit war vielleicht Anfang vierzig, und ihre Schwester, Marianne, mochte in meinem eigenen Alter sein, also um die fünfzig. Jon-Petter, das älteste der Kinder, saß dicht neben seiner Lise, die leicht als die Schwiegertochter zu erkennen war, denn Jon-Petter, Marianne und Liv-Berit waren blond und konnten als Paradebeispiele einer eindrucksvollen Geschwisterähnlichkeit gelten, während Lise ein vollkommen anderer Menschentyp mit dunklen Haaren war. Ich kombinierte weiter, dass Marianne und Sverre zusammengehörten, denn sie hatten Hand in Hand gesessen, bis der Pastor sie begrüßte. Wenig später beobachtete ich, dass der Mann, den ich von Anfang an für Truls gehalten hatte, Liv-Berit ein Taschentuch reichte.

Dann waren da die jungen Leute. Ich brauchte lange, um herauszufinden, wer von ihnen wer war, aber bis wir die Kirche verließen, hatte ich mir auch hier einen Überblick verschafft. Ylva und Joakim hatte ich auf Bildern im Netz gefunden; heute hätte ich sie sicher alle bei Facebook und Instagram ausfindig machen können. Die Anzeige in der Zeitung hatte mir nützliche Informationen über die Altersreihenfolge gegeben. Es konnte deshalb keine unlösbare Aufgabe sein, auch Sigrid, Fredrik, Tuva und Mia zu identifizieren. Die Frau, die einen drei oder vier Jahre alten kleinen Jungen auf dem Schoß hielt, musste Sigrid sein, das älteste Enkelkind, vielleicht Ende zwanzig. Sie saß neben einem Mann, bei dem es sich sicher um den Vater des Kleinen handelte, und ein Mädchen von vielleicht fünfzehn war dann wohl Mia, das jüngste Enkelkind, denn das zweitjüngste war Joakim. Tuva, vermutlich zwei Jahre älter als Joakim, war eine junge Dame, die offensichtlich schon aus dem Teenageralter heraus war.

Diesen Menschen also reichte der Pastor die Hand. Aber welche der jungen Leute waren Geschwister, welche Vettern und Kusinen? Bei der Beantwortung dieser Frage war mir die Todesanzeige keine Hilfe, deshalb musste ich sie fürs Erste auf sich beruhen lassen. Ich versuchte auch gar nicht erst zu ergründen, wer die Eltern welches Enkelkindes waren. Vieles würde sich bei dem Zusammensein im Gemeindehaus von selbst klären.

In der Anzeige, die in der Innentasche meines Jacketts steckte, waren die Kinder und Enkelkinder namentlich aufgeführt. Die darauf folgende Zeile lautete »Urenkel und übrige Angehörige«. Ich konnte also nicht wissen, wie viele der jungen Leute schon eigene Kinder und wie viele Urenkel folglich der alte Professor gehabt hatte. Es konnte nur einer, es konnten aber auch mehrere sein. In vielen Sprachen wäre das ganz deutlich gewesen, aber es gibt eben Wörter bei uns, die im Singular und Plural gleich sind, meist maskuline Substantive wie »Enkel«, »Tischler«, »Kaiser« oder »Finger«.

Ich konnte zudem nicht wissen, welche eventuellen Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen, Neffen und Nichten von norwegischer und welche von schwedischer Seite in der Kirche waren, denn sie alle fielen unter den Sammelbegriff »übrige Angehörige«. Trotzdem war es erstaunlich, wie viel man einer Todesanzeige entnehmen konnte, und schon bei den ersten Worten des Pastors füllten sich die ersten Lücken: Wie ich vermutet hatte, war es Sigrid, die einen fast vier Jahre alten Sohn bei sich hatte, Morten, aber Sigrid und Thomas hatten auch eine Tochter von einem Jahr, Miriam, der allerjüngste Spross des Stammes.

Der Pastor zeichnete ein schönes Porträt des schwedischen Stipendiaten, der im Herbst 1946 nach Oslo gekommen war, um seine Doktorarbeit zu vollenden, in der er die Eddagedichte und den altnordischen Mythenschatz im Lichte der Studien betrachtete, die Magnus Olsen über ein halbes Jahrhundert hinweg angestellt hatte. Hier lernte Erik Ingeborg kennen und gründete eine Familie. Er war zunächst Doktorand, dann Universitätsdozent, um schließlich viele Jahre als Professor für Altnordische Philologie zu wirken. Diesen Aspekt von Eriks Leben repräsentierte ich. Auf entsprechende Fragen würde ich der Familie erzählen, dass ich in seinen Vorlesungen gesessen hätte und wir danach noch lange in lockerem Kontakt geblieben und schließlich zu dem geworden seien, was man treue Freunde nennen könne. Es seien nur leider zu viele Jahre verstrichen, seit wir zuletzt miteinander sprachen.

Ich versuchte, nicht unter den Ersten zu sein, die sich ins Gemeindehaus begaben, ich wollte aber auch nicht zu den Letzten gehören. Als wir nicht weit voneinander entfernt eintraten, traf mich unerwartet ein Blick des großen dunklen Mannes, aber ich schaute sofort in eine andere Richtung und machte einen Schritt zur Seite. Zur Strafe war ich dann doch einer der Letzten.

Als ich aus der Garderobe kam, saßen die meisten schon an den Tischen, und im Hintergrund war jemand emsig damit beschäftigt, für die zuletzt Gekommenen zusätzliche Gedecke aufzulegen. Ich weiß noch, dass ich ein wenig hilflos stehen blieb, und jetzt war es Tuva, die sich erhob, mich im Namen der Familie begrüßte und mich fragte, ob ich schon einen Platz hätte. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe oder wo man mich überall unterzubringen versuchte, aber es endete damit, dass man mich zu einem freien Stuhl am Tisch der jungen Leute führte. Dort saßen Tuva und Mia jeweils am Tischende, dazu, mir schräg gegenüber, Ylva, eingerahmt von Fredrik und Joakim, die sich als ihre Vettern erwiesen und beide eine Spur jünger waren als sie. Fredrik war der Ältere von beiden, und ich erfuhr bald, dass er Jura studierte und Joakim kurz vor dem Abitur stand. Ich erfuhr zudem, dass sie Sigrids Brüder und die Söhne von Jon-Petter und Lise waren. Rechts von mir saßen Liv-Berit und dein Vetter Truls, die du ja beide gut kennst und die ich dir deshalb nicht weiter vorzustellen brauche. Mir ging bald auf, dass sie die Eltern von Tuva und Mia waren, deren Kindheit und Jugend du miterlebt hast. Ich sah sofort, dass dein Vetter eine alte Narbe über der ganzen rechten Stirnhälfte hatte. Diese Narbe war so auffällig, dass ich mir noch länger den Kopf darüber zerbrach, was ihm wohl passiert sein mochte. Die Geschichte hast du mir dann mehr als zehn Jahre später erzählt.

Lass mich hier schnell einschieben, dass es mir natürlich klar ist, von wie vielen Menschen hier die Rede ist; es sind sicher zu viele, als dass man sie auf Anhieb auseinanderhalten könnte. Aber du wirst ihnen allen wiederbegegnen. Denn in den Jahren nach Erik Lundins Beerdigung bin ich sämtlichen Kindern, Schwiegerkindern und Enkelkindern des alten Professors in anderen Zusammenhängen wieder über den Weg gelaufen, nicht allen auf einmal wie bei dieser Trauerfeier, aber in unterschiedlichen Kombinationen immer wieder. Am besten, du betrachtest dieses erste Kapitel meines Berichts als kleine Einführung in die Verhältnisse der Familie Lundin. Wie oder warum ich ihnen allen wiederbegegnet bin, lasse ich vorerst beiseite. Ich brauche nicht alles auf einmal zu erzählen. Es wäre ohnehin unmöglich.

Und gar so umfangreich ist dieses Familienalbum ja auch wieder nicht. Wer weiß, vielleicht kennst du all diese Namen schon von Truls? Um es noch einmal kurz zu rekapitulieren: Erik Lundin hatte drei Kinder, Jon-Petter war bei seinem Tod Mitte fünfzig, Marianne einige Jahre jünger und Liv-Berit Mitte vierzig. Die Altersreihenfolge geht auch aus der zitierten Todesanzeige hervor. Jon-Petter und Lise hatten die Tochter Sigrid und die Söhne Fredrik und Joakim, und vor allem von Sigrid wird noch oft die Rede sein. Marianne und Sverre hatten nur die Tochter Ylva, die damals Mitte zwanzig war, und auch diese drei werden in meinem Bericht noch eine wichtige Rolle spielen. Das reicht für den Augenblick. Liv-Berits Mann ist schließlich dein Vetter, und wie du mir viele Jahre später anvertraut hast, habt ihr beide euch schon als kleine Kinder sehr gemocht. Seine Frau wurde dir in späteren Jahren eine Freundin, und die beiden Töchter, Tuva und Mia, hast du aufwachsen sehen. Bei der Beerdigung ihres Großvaters an jenem Septembertag mag Tuva zwanzig gewesen sein und Mia um die fünfzehn, aber das weißt du besser als ich.

Ich schaute mich um und kam zu dem Schluss, dass wir mehr als hundert Menschen in diesem Raum sein mussten. Ich selbst hätte nie gedacht, dass ich hier den Angehörigen so nahe kommen würde, und es war auch wirklich nicht meine Absicht gewesen. Ich hatte mir einen eher versteckten Platz an einem Tisch weit hinten im Lokal vorgestellt, zusammen mit Kollegen und Bekannten von Erik Lundin vielleicht oder allenfalls einer Nichte oder einem Neffen, mit oder ohne Ehepartner, je nachdem. Ich fühlte mich nicht wohl in der Situation, in die ich geraten war. Ich fror, und mein Magen rebellierte.

Obwohl alle am Tisch schwarz gekleidet waren, hatten die Lundins nichts pietistisch Strenges an sich. Sie trugen eng anliegende Kleider und schicke Anzüge besten Fabrikats, und die jungen Damen sparten nicht an Wimperntusche, Lippenstift und Nagellack. An ihren Ohren und um ihre Handgelenke funkelten Gold und Edelsteine, und ich weiß es noch wie heute, dass Ylva bei dieser ersten Begegnung eine Kette mit einem saphirblauen Anhänger trug, der irritierenderweise wie ein drittes Auge in ihrer Halsgrube lag. Jedenfalls war er von genau der gleichen Farbe und hatte fast die gleiche Form. Was mich auch irritierte, waren die vielen Düfte am Tisch, eine bunte Mischung aus Parfüms, Eaux de Cologne und Rasierwassern aller Art. Ich bin für solche Sinneseindrücke vielleicht besonders empfänglich, da ich allein lebe. In meinem Badezimmer und meiner Küche zu Hause in Gaupefaret gibt es keine anderen Gerüche als meine eigenen.

Am Nachbartisch hatte sich der Rest des engsten Familienkreises niedergelassen. Sigrid, Thomas und der kleine Morten saßen mit den Eltern der jungen Mutter zusammen, Jon-Petter und Lise, und lange war es der Opa, der sein Enkelkind auf dem Schoß hielt. Am einen Tischende saß Ingeborg, eine schöne alte Dame mit silbergrauem Haar, und schließlich waren da Marianne und Sverre, die Eltern von Ylva, dem einzigen Einzelkind in der großen Familie.

Eine Art Déjà-vu-Erlebnis hatte ich, als ich Marianne und Sverre aus der Nähe beobachtete. War ich ihnen etwa schon früher begegnet? Wenn ja, musste das lange her sein. Sverre trug einen kleinen roten Stein im linken Ohrläppchen, der mich auf die Spur hätte bringen können, denn mit ihm hatte es etwas auf sich. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, und als ich über den Tisch hinweg Ylva anschaute, war mir zudem, als sähe ich ihre Mutter in jungen Jahren vor mir. Etwas später registrierte ich, dass Sverre mit einem deutlichen südnorwegischen Akzent sprach, was mich aus irgendeinem Grund nicht überraschte. Aber vielleicht war das auch alles nur Einbildung. Ich war schließlich schon vielen Menschen begegnet.

Am selben Tisch saßen noch zwei weitere Gäste, eine Frau und ein Mann, die, wie die Kinder des Professors, um die vierzig, fünfzig Jahre alt waren. Sie sprachen Schwedisch, genauer gesagt Gotländisch oder Gutnisch, wie dieser Dialekt auch genannt wird. Man erkennt ihn an den charakteristischen Diphthongen.

*

Sigrid erhob sich am einen Ende des großen Familientisches und klopfte mit einem Teelöffel an ihre Kaffeetasse, was aber in dem Gesumme und Gesurre so vieler Stimmen unterging. Sigrid räusperte sich und schlug um einiges energischer an ein Weinglas, dann begann sie laut und deutlich zu den Anwesenden zu sprechen.

»Liebe Familie! Liebe Freunde und Kollegen von Erik Lundin, liebe ehemalige Studierende …«

Ich bemerkte wieder, dass mir kalt war, und mein Magen signalisierte mir, was ich hier machte, könne noch böse enden.

»Ich heiße Sigrid und bin Eriks ältestes Enkelkind, die Tochter von Jon-Petter, der Eriks ältester Nachkomme ist und hier rechts von mir sitzt. Auf seinem Schoß seht ihr einen Vertreter der allerjüngsten Generation mit Namen Morten … Nein, nicht jetzt, Morten! Bleib du schön brav bei Opa! … Die Familie möchte gern allen danken, die heute das letzte Stück Weges mit Erik gegangen sind. Wir sind glücklich, dass sich so viele von euch hier eingefunden haben. Wir hatten gehofft, dass viele kommen würden, aber wir hätten nicht erwartet, dass es so viele sein würden. Und doch gibt es einen, der nicht mehr bei uns sein kann … Mein Großvater hätte sich über jede und jeden von euch gefreut!«

Viele der Anwesenden schluchzten an dieser Stelle auf, aber Sigrid ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen.

»Gleich wird ein Imbiss serviert werden, dann lasst uns zusammen essen und versuchen, uns ein wenig besser miteinander bekannt zu machen! Es soll auch Gelegenheit sein, ein paar Worte zu sagen, aber dann bitte ich um ein Zeichen, denn, wie ihr seht, spreche ich hier heute Nachmittag im Namen der Familie. Wenn wir Eriks gedenken, darf auch die Kultur nicht zu kurz kommen, das versteht sich von selbst, aber zuerst gibt es Räucherschinken mit Sauerrahm, Rührei, Kartoffelsalat, Knäckebrot, Bier und Mineralwasser. Wir wissen nicht, ob das in diesem Haus gestattet ist, aber wir haben auch Schnaps für alle, die ihn vertragen können und alt genug dafür sind …«

Sigrid warf einen Blick zu unserem Tisch herüber, und vielleicht galt er Mia, der Fünfzehnjährigen, doch dann bemerkte sie mich, den Fremden, und fuhr fort:

»Es ist traurig und macht wehmütig, dass unser Großvater nicht mehr da ist, aber ich möchte euch etwas erzählen: Ich habe Opa versprochen, euch alle zu grüßen, euch alle zusammen, aber später auch jede und jeden für sich. Er wusste, dass er bald sterben würde, und er wollte so gern, dass eins seiner Enkelkinder hier als Toastmaster fungiert, wie er es nannte. Bei unserem allerletzten Gespräch schaute er zu mir auf und sagte: Du machst dann den Toastmaster! Ich nickte, schließlich bin ich die Älteste unter uns Enkeln, und damit war die Sache in der Familie beschlossen. Er sagte auf Schwedisch: Grüß alle! Vergiss nicht, alle meine Freunde und Bekannten ein letztes Mal von mir zu grüßen!

Opa hatte seit fünfundvierzig Jahren in Norwegen gewohnt, und ich hörte ihn zum allerersten Mal Schwedisch sprechen. Ich nickte noch einmal, und vielleicht musste ich mir auch eine Träne abwischen. Dann fügte er, immer noch auf Schwedisch, hinzu: Und dann müsst ihr singen! Es muss gefeiert werden! Ich wünsche mir ein Gelage, Sigrid. Ein richtiges altnordisches Leichenbier! Versprichst du mir das?

Mit diesen seinen eigenen Worten heißen wir euch zu unserer kleinen Gedenkfeier für Erik Lundin willkommen. Bleibt, solange ihr könnt und mögt! Wir haben das Haus bis zum späten Abend für uns.«

Eine mit Räucherschinken üppig bestückte Platte wurde gebracht, und alle außer Mia füllten ihre Gläser aus den Bierflaschen, die schon auf dem Tisch gestanden hatten, als wir uns setzten. Das Bier war warm, aber bald wurden zwei Flaschen Mineralwasser durch neues, diesmal eisgekühltes Bier ersetzt, und ein junger Mann ging umher und schenkte Aquavit ein. Es gab keine Gläser dafür, aber der junge Mann hatte eine Einkaufstüte voller Schnapsgläser aus Plastik bei sich, und man musste ihm nur ein Zeichen geben, dann kam er an den Tisch. So wirkte die Einladung zum Aquavit, typisch norwegisch, wie etwas, das sich neben der offiziellen Bewirtung abspielte. An unserem Tisch waren Ylva und ich allerdings die Einzigen, die das Angebot annahmen.

Liv-Berit schaute mich an, lächelte freundlich und sagte: »Sigrid hat uns ja aufgefordert, uns ein wenig besser miteinander bekannt zu machen …«

Sie stellte der Reihe nach erst sich und ihren Mann vor, also deinen Vetter Truls, dann ihre beiden Töchter und die Nichte Ylva und zum Schluss die Neffen Fredrik und Joakim. Sie sagte über alle etwas mehr als nur den Namen und den Verwandtschaftsgrad. Zum Beispiel erfuhr ich jetzt, dass Fredrik Jura studierte und Joakim am Ende des Schuljahres Abitur machen würde. Außerdem, dass Tuva an der Hochschule der Oper Gesang studierte und dass Ylva bereits ihren Master in Religionswissenschaften in der Tasche hatte. Bei dieser letzten Mitteilung wurden mir die Ohren ein bisschen heiß, vielleicht so, wie ein Hypochonder plötzlich das Blut in den Ohren hämmern hört, wenn ihm aufgeht, dass er mit einem Arzt am Tisch sitzt; aber ich nickte interessiert und tat so, als wären mir die Namen in meiner Runde und ihre enge Beziehung zu dem Verstorbenen bis zu diesem Augenblick vollkommen fremd gewesen. Als einer der zuletzt Gekommenen saß ich ja nur hier, weil es einen freien Stuhl gegeben hatte. Ich musste nicht wissen, dass ich bei den engsten Anverwandten des Professors gelandet war.

Alle starrten mich natürlich an. Niemand außer mir hatte seinen Blick um den Tisch wandern lassen und den oder die angesehen, die jeweils genannt und mit einigen Worten vorgestellt wurden. Man kannte sich schließlich.

»Und Sie?«, fragte Liv-Berit. Sie lächelte warm und als gehörte ich dazu.

»Jakop«, sagte ich. Ich hätte auch Jacobsen sagen können. Ich sage nur selten beides: Jakop Jacobsen. Wie ich diesen komischen Namen immer gehasst habe!

Niemand fragte mich nach meinem Nachnamen, aber es wandte auch niemand den Blick von mir.

»Und woher kannten Sie meinen Vater?«, fragte Liv-Berit.

Ich erzählte, dass ich in den siebziger Jahren bei Erik studiert hatte, und fügte einige Worte über seine hervorragenden Vorlesungen und zwei kleine Anekdoten aus dem damaligen akademischen Milieu hinzu. Aber sie sahen mich immer noch an, und ich musste weitermachen.

»Auch als ich längst das Examen in Norwegisch hinter mir hatte – oder in Nordisch, wie das Fach und das Institut ja eigentlich heißen –, blieben wir in Kontakt und trafen uns mehr oder weniger regelmäßig zu Gesprächen über die alte germanische Religion. Es waren informelle Kolloquien, könnte man sagen, die ich natürlich ungeheuer zu schätzen wusste …«

Hier fiel mir Ylva ins Wort. Sie war eine schöne junge Frau mit einem sensiblen, fast zarten Aussehen. Sie sagte: »Germanische Religion? Darüber wissen wir doch kaum etwas. Wir haben Tacitus und die Wochentage, aber das ist auch so ziemlich alles …«

Ich sah mich von einer Sekunde auf die andere mit fachlichen Spitzfindigkeiten konfrontiert, und damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war davon ausgegangen, bei dem Beisammensein nach dem Begräbnis als einziger Fachkollege am Tisch zu sitzen. Worauf sich diese Annahme gründete, wusste ich nicht, und es war noch zu früh, um sich zurückzuziehen. Oder vielleicht auch zu spät.

»Ihr Großvater war noch von der alten Schule«, sagte ich. »Oder, wie der Pastor richtig sagte: Er hatte das Erbe Magnus Olsens angetreten, so wie Magnus Olsen ein halbes Jahrhundert früher Sophus Bugge nachgefolgt war.«

Ylva nickte, was Zustimmung bedeuten konnte, aber auch die Aufforderung weiterzureden.

Alle am Tisch hörten jetzt aufmerksam zu.

Ich sagte: »Ich habe versucht, Erik die Augen für Georges Dumézils großen Durchbruch zu öffnen. In Übereinstimmung mit Dumézils Forschungen habe ich versucht, Eriks Aufmerksamkeit auf die indogermanische Perspektive zu lenken, wobei das indogermanische Pantheon als Widerspiegelung der drei Klassen oder Stände in der Gesellschaft zu verstehen ist. Dumézil sah eine Parallele zwischen Odin und Tyr – als Herrschergöttern – und Varuna und Mitra aus der vedischen Tradition, Thor mit dem Hammer als Kriegsgott wäre analog zum vedischen Donnergott Indra und seinem vajra oder Donnerkeil zu sehen, und die Wanen Njörd, Frey und Freya als Gottheiten des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit ließen sich analog zu den vedischen Zwillingsgottheiten, den Nasatyas oder Ashvinen, deuten. Solche Parallelen findet Dumézil überall im indogermanischen Raum, in der alten iranischen Religion, bei den Griechen, Römern, Germanen …«

Ylva machte ein nachdenkliches, fast verärgertes Gesicht und erinnerte mich an Renée Zellweger in einem Film, den ich erst kürzlich im Sara-Kino gesehen hatte. Noch kurz zuvor hatte sie gelächelt und mit leuchtenden Augen genickt, als ich ihren Großvater in eine große fachhistorische Perspektive gestellt hatte. Jetzt aber wandte sie ein:

»Dumézil hat die religionsgeschichtliche Forschung zweifellos bereichert. Aber heute repräsentiert doch wohl eher er die alte Schule. Er war ja auch eigentlich kein Religionswissenschaftler. Er war Philologe, Sprachhistoriker …«

Ich nickte.

»Wie Erik Lundin und Magnus Olsen«, sagte ich. »Denn wie Sie ja andeuten, kann gerade die Philologie eine von vielen Quellen der Religionswissenschaft sein. Dort, wo sich die schriftlichen Quellen verlieren und die Archäologie nicht weiterhilft, kann die Vergleichende Sprachwissenschaft uns in vielen Fällen einen Schritt weiterbringen. Erik, Ihr Großvater, und ich haben jedenfalls über viele Jahre beide von unseren informellen Kolloquien profitiert. Auch als ich schon längst unterrichtet habe, trafen wir uns weiter, und wenn es nur zu einem Mittagessen war. Viele Jahre lang habe ich ihn immer wieder in seinem Büro an der Universität aufgesucht, wo wir uns nicht zuletzt in Dumézils Deutung der altnordischen Texte vertieft haben. Manchmal sind wir auch zusammen um das Sognsvann gewandert und haben unsere Gespräche im Grünen fortgesetzt. Ich war am Ende ja Lehrer am Gymnasium geworden. Ich schäme mich zwar nicht, es auf der akademischen Leiter nicht weiter gebracht zu haben, aber im Herzen habe ich die Hoffnung auf eine Forscherlaufbahn nie ganz aufgegeben. Damals fingen Ihr Großvater und ich mehr aus Spaß an, ein wenig Sanskrit zu lernen. Wir lasen im Rigveda und beugten uns über eine zweisprachige Ausgabe der ›Bhagavad Gita‹. Altnordisch und Vedisch sind ja wie zwei Seiten derselben Medaille, oder jedenfalls wie zwei Zweige desselben Baumes, jeder an einem anderen Ast natürlich, aber am selben Baum.«

Ich dachte, das müsse reichen. Ylva schaute mich offen an, und sie nickte, wenn auch eher abwartend. Zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht bekannt, dass sie bei ihrem Großvater studiert hatte.

Sie sagte: »Sie haben den Ausdruck ›germanische Religion‹ benutzt. Können Sie noch ein wenig genauer erzählen, worüber Sie und mein Großvater gesprochen haben? Er hat Dumézil mir gegenüber nämlich nie erwähnt. Wir haben nur oft über Magnus Olsen diskutiert und sind dabei natürlich auch auf Anne Holtsmarks Vorlesungen über die ›Völuspá‹ und ihre vielen inspirierenden Fußnoten zu P. A. Munchs Götter- und Heldensagen gekommen – sie bezieht sich ja auch einige Male auf den französischen Guru, den Sie so zu schätzen scheinen.«

Einige am Tisch hörten inzwischen nicht mehr zu. Fredrik und Joakim unterhielten sich mit ihrer Kusine Mia, und sicher fanden sie alle, dieser ehemalige Student, dem man den einzigen freien Platz an einem der Familientische angeboten hatte, spiele sich dort höchst unpassend in den Vordergrund.

Ich setzte mich gerade, schaute Ylva fest in die Augen und sagte: »Wir sprachen vor allem über Odin, weil ich ernsthaft über eine Doktorarbeit über Odin in einer germanischen und womöglich sogar indogermanischen Perspektive nachdachte. Es besteht schließlich Grund zu der Annahme, dass Odin – oder Wotan/Wodan – ebenso gemeingermanisch gewesen sein könnte wie die Runen und außerdem mindestens ebenso alt.«

»Schön«, sagte Ylva. »Odin ist in der Tat eine spannende Gestalt, jedenfalls wenn man ihn in dem altnordischen Kontext belässt, der nachweislich auch der historische ist. So gesehen könnte sicher noch allerlei über ihn geschrieben werden. – Und warum haben Sie Ihren Plan aufgegeben?«

»Wie gesagt, Dumézil hat diese germanische Gottheit analog zum vedischen Gott Varuna gesehen und darüber hinaus auf die etymologische Verwandtschaft zwischen Varuna und dem griechischen Gott Uranos hingewiesen.«

Ylva nickte. »Das ist bekannt, aber auch reichlich weit hergeholt …«

Jetzt war ich endgültig nicht mehr zu bremsen. Ich sagte: »Dazu bringt er auch Odins Runen mit Varuna und Uranos in Verbindung.«

Ylva lachte. »Ich weiß. Und das ist Bullshit. – Bitte entschuldigen Sie die Hindu-Metapher, aber ich bin nun mal dafür, die Dinge beim Namen zu nennen.«

Sie schenkte sich Bier nach, schaute einmal in die Runde und lachte wieder, herzlich, aber auch herablassend.

Liv-Berit hatte offenbar gesehen, dass ich mich an meinem Platz nicht mehr wohlfühlte. Was dachte sie wohl über den Studenten, der nach fast dreißig Jahren bei der Beerdigung seines Professors auftauchte? Vielleicht hat sie dir ja davon erzählt. Jedenfalls wandte sie sich mir jetzt zu und sagte belustigt und mit versöhnlichem Blick: »Ylva ist immer so. Schon in der Schule ist sie keinem Streit aus dem Weg gegangen.«

Ylva selbst stellte sich taub. Sie lachte einfach nur weiter.

Mir missfiel die Rolle als alternder Lehrer, der von einer blutjungen Akademikerin in seine Schranken gewiesen wird, und es machte die Sache nicht besser, dass ich sie als ebenbürtige Gesprächspartnerin erlebte, im Gegenteil. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Um meine Blicke nicht allzu hektisch umherschweifen zu lassen, meiner Widersacherin aber auch nicht in die Augen sehen zu müssen, konzentrierte ich mich auf den saphirblauen Anhänger in ihrer Halsgrube. Doch dieses dritte Auge schaute mindestens so kritisch wie die beiden anderen, weshalb ich mich umso mehr gedemütigt fühlte. Es hätte das eine Auge sein können, das Odin in Mimirs Brunnen zurückließ.

Varuna und der Runengott Odin! Wie idiotisch! Von dieser Theorie hatte ich im Grunde selbst nie viel gehalten. Es war fast vierzig Jahre her, dass ich mir als Schüler am Gymnasium von Hallingdal eine dänische Übersetzung von Dumézils »Les Dieux des Germains« von meinem Norwegischlehrer ausgeliehen hatte. Schon damals war mir aufgefallen, dass es sich der gute Monsieur mit manchen Etymologien gar zu leicht machte.

»Hättest du geschwiegen!«, war der alte Spruch, der mir dazu einfiel.

Hätte ich geschwiegen, wäre ich vielleicht als guter Sprachwissenschaftler durchgegangen.

Stattdessen saß ich da und wusste als Einziger, dass ich sehr wohl ein guter Sprachwissenschaftler war, sogar ein sehr guter, wenn es um indogermanische Etymologien ging; das Studium der Herkunft der Wörter hatte ich schon als Teenager zu meinem Hobby gemacht. Dumézil und die Mythenforschung hatten mich nur für eine kurze Zeit in den siebziger Jahren interessiert. Mir hätte doch klar sein müssen, dass die Vergleichende Religionswissenschaft längst neue Wege ging. Ich kam mir vor wie ein alternder Baumeister Solness, und Ylva war die junge Hilde Wangel, die das Herz auf der Zunge trug.

Ich merkte, dass mir Skrindo fehlte. Du bist ihm ja begegnet, Agnes. Peder Ellingsen Skrindo hätte sich von der jungen Akademikerin mit den drei Augen nicht so leicht aus der Fassung bringen lassen, selbst wenn das eine Auge tatsächlich das Odin’sche gewesen wäre. Pelle ist bei dem Thema Experte und hätte uns beide an die Wand geredet. Aber er war nicht in der Nähe und konnte mir also auch nicht beispringen.

Der gute Skrindo war mein bester Freund, um nicht zu sagen, mein einziger Freund, aber zu einem solchen Anlass hätte ich ihn nicht mitnehmen können. Dazu war er zu undiszipliniert. Er hätte sich garantiert nicht angemessen benehmen können, und die Konsequenz war, dass ich mich in diesen Fällen auf mich selbst verlassen musste. Ich sagte mir, dass sich irgendwie schon die Gelegenheit für eine kleine Revanche fände.

Sigrid klopfte an ihr Glas, und ich bemerkte, dass die links von mir am Tischende sitzende Tuva unauffällig einen kleinen Schminkspiegel und einen knallroten Lippenstift hervorholte.

Sigrid schaute einmal in die Runde, ehe sie sich Ingeborg zuwandte und sagte: »Oma, du warst die tragende Säule in Opas Leben. Opa hat dich geliebt. Ich glaube, er hat dich als das eigentliche Urbild desNorwegischenbetrachtet, dem er ja ohnehin sein Leben gewidmet hatte. Wir, die wir euch nahestanden, wissen, dass er zwei Namen für dich hatte. Ingeborg war nur der eine, der andere war der Kosename Veslemøy, nach Arne Garborgs ›Haugtussa‹. Manchmal hat er dir übers Haar gestrichen oder, wenn du irgendwo anders im Zimmer warst, die Hand nach dir ausgestreckt, und man hörte ihn die bekannten Verse sagen:

Unter der Stirn, wie in der Tiefe

Leuchten Augen gleichsam verstohlen

Es ist, als ob dies Auge riefe

um in ein anderes Gemüt uns zu holen.

Tuva, du willst etwas aus ›Haugtussa‹ für uns singen. – Bitte!«

Tuva trat auf das Podium, das sich vorne im Raum befand, und sang drei Lieder aus Garborgs von Edvard Grieg vertontem Gedichtzyklus. Sie begann mit »Veslemøy«, aus dem Sigrid ja zitiert hatte, dann folgten das muntere »Blaubeerlied« und der »Zickleintanz«. Es war beeindruckend und schön.

Nach dieser künstlerischen Einlage wurde an unserem Tisch über alles Mögliche geredet. Fredrik und Joakim begannen, mit Liv-Berit und Truls über Politik zu diskutieren, und ich hatte den Eindruck, dass es hier um Schwarz gegen Rot ging. Ich selbst sprach auf etwas lehrerhafte Weise mit Tuva über »Haugtussa« und das spätere Visionsgedicht »In Helheim«, in dem uns Veslemøy noch einmal begegnet.

In »Haugtussa« besitzt Veslemøy hellseherische Fähigkeiten und sieht Wichtel und Huldren, während sie in dem Visionsgedicht durch Helheim, das Totenreich, reist. Ich wies Tuva auf die Wörter Huldra und Hel hin. Hel hießen sowohl das altnordische Totenreich als auch die dort herrschende Göttin, und das Wort geht zurück auf das indogermanische Wort für verstecken, von dem sich auch Wörter wie verhüllen, Hülle und einhüllen ableiten.

Auch Ylva hörte aufmerksam zu, und in der Tat waren meine Ausführungen nicht zuletzt für ihre Ohren gedacht. Unterschwellig arbeitete ich wohl schon an der Revanche. Ich redete mit Tuva und wusste, dass mich über den Tisch hinweg drei saphirblaue Augen anstarrten.

»Das Wort Huldra finden wir in europäischen Märchen und Sagen als Mutter Hulda oder Frau Holle, nach der ja ein in ganz Europa bekanntes Grimm’sches Märchen benannt ist. Verwandt sind übrigens auch Wörter wie Hehler, also jemand, der Diebesgut versteckt oder weiterreicht, und Helm und Hülse. Solche Wörter gibt es im gesamten germanischen Sprachraum …«

Ylva hatte den jungen Mann mit dem Aquavit herbeigewinkt, und kurz darauf saßen sie und ich zum zweiten Mal vor bis an den Rand gefüllten Gläsern. Der erste Schnaps hatte meinen Magen bereits beruhigt. Ich merkte zudem, dass er auf mein Gedächtnis wie eine Vitaminspritze wirkte.

Tuva war ganz Ohr, aber jetzt wollte auch Ylva mitreden. Sie war dabei nicht unfreundlich, nur ein wenig angriffslustig.

»Und jetzt wollen Sie uns wohl erzählen, dass es die Huldra auch in der altvedischen Religion gibt?«

Sie lachte, und ich lachte mit, obwohl mein Blick noch immer auf Tuva gerichtet war.

Ich sagte, das sei nicht unvorstellbar. Die indogermanische Wurzel sei *kel-, und die fänden wir in dem lateinischen Wort celare in der Bedeutung von etwas verbergen oder verschweigen. Dazu gebe es das englische conceal, verwandt mit Zelle und Keller, und aus derselben indogermanischen Wurzel stammten germanische Wörter wie das altnordische holl, das norwegische und englische hall und das deutsche Halle. Dieselbe Wurzel gebe es in okkult und Okkultismus, womit man etwas Geheimes oder Verborgenes bezeichne, und durch das griechische Verb kalúptein – bedecken oder verbergen – auch in Apokalypse, dort in der Bedeutung von Entlarvung oder Offenbarung.