Die Frauen vom Nordstrand - Jahre des Wandels - Marie Sanders - E-Book
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Die Frauen vom Nordstrand - Jahre des Wandels E-Book

Marie Sanders

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Beschreibung

Mitreißend und emotional – der fulminante Abschluss der Seebad-Trilogie.

St. Peter, 1958: Anni hat dem Hotel »Seeperle« eine neue Bestimmung gegeben, die nicht überall auf Zustimmung stößt – die lokale Presse reagiert sehr verhalten. Ihre Freundinnen unterstützen sie weiterhin, so gut sie können, doch die Ärztin Helena hat mit eigenen Problemen zu kämpfen, und Edith scheint von ihrem größten Geheimnis eingeholt zu werden. Nun muss sie kämpfen – um ihre Zukunft genauso wie um ihre Liebsten. Und dann bekommt auch noch Anni unerwarteten Besuch, der ihr Leben auf den Kopf zu stellen droht ...

Drei Freundinnen in den fünfziger Jahren zwischen Hoffnung, Emanzipation und Freiheit.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über das Buch

Nachdem Anni aus Hamburg wieder zurückgekehrt ist, hat sie aus dem Hotel ihrer Familie zu einem Zufluchtsort für misshandelte Frauen gemacht. Aus dem ganzen Land reisen Frauen mit ihren Kindern an, um sich zu erholen und ihr Leben neu zu ordnen – zum großen Missfallen der lokalen Presse. Mit viel Geschick muss Anni um finanzielle Unterstützung für das gemeinnützige Unternehmen kämpfen. Ihre Freundinnen unterstützen sie, wo sie nur können, doch dann scheint Ediths Ehe mit Robert in Gefahr, und Helena macht unverhofft die Bekanntschaft eines Mannes, der ihr bisheriges Leben in Frage stellt.

Über Marie Sanders

Hinter Marie Sanders verbirgt sich Bestsellerautorin Steffi von Wolff. Die 1966 bei Frankfurt geborene Journalistin arbeitete jahrelang für verschiedene Radiosender und hat zahlreiche Romane veröffentlicht. Schon immer wollte sie über die fünfziger Jahre schreiben, ein Jahrzehnt, das sie seit jeher fasziniert hat. Steffi von Wolff lebt in Hamburg, die Sommer verbringt sie zum Schreiben auf einem Boot in Dänemark. Im Aufbau Taschenbuch liegen bereits Band 1 und 2 der Seebad-Saga vor.

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Marie Sanders

Die Frauen vom Nordstrand - Jahre des Wandels

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

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Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

••• Kapitel 1 — St. Peter, im Juli 1958

Für Christa Strohmaier! Danke für deine Tochter Miriam, meine Freundin.

•••Kapitel 1

St. Peter, im Juli 1958

»Ha!« Edith strich ihre rotbraunen Locken zurück und wedelte ihren beiden Freundinnen mit der Zeitung vor den Gesichtern herum. »Hab ich es nicht gesagt?«

»Was denn?«, fragte Anni und auch Helena schaute die Freundin fragend an.

»Ja, was denn wohl?« Edith stand auf, nahm ihre Kaffeetasse und setzte sich auf das Geländer der kleinen Holzveranda, die zu ihrem Ferienhaus, der Villa Nielsen, im Stadtteil Böhl gehörte.

»Hört mal! Das Gleichberechtigungsgesetz ist am ersten Juli offiziell in Kraft getreten und in den Tageszeitungen werden die Reaktionen der Bevölkerung abgedruckt. Ihr könnt euch nicht vorstellen … Also, passt auf. Wo stand das …«

Helena nahm sich noch ein Brötchen und verdrehte die Augen. Anni musste kichern. Edith war mit Feuereifer bei der Sache, was die Gleichberechtigung anging, und betätigte sich schon seit Jahren gegen diese »frauenunwürdigen Zustände«. Man hatte ihr nach der Geburt das Sorgerecht für ihre Tochter Pauline entzogen, weil man als alleinstehende Frau natürlich kein Kind großziehen konnte, so hatte Edith es stets sarkastisch formuliert. Erst nachdem sie ihren guten Freund Robert geheiratet hatte, durfte sie Pauline, die bis dahin in einem Kinderheim oder bei Pflegeeltern lebte, zu sich holen. Edith war so glücklich gewesen wie nie zuvor. Mit Robert hatte sie einen wunderbaren Mann an ihrer Seite, der Pauline liebte und keinen Unterschied zwischen ihr und dem, mittlerweile zweijährigen, Carl Robert machte, seinem und Ediths Sohn. Sie waren eine glückliche Familie, ein sonniges Kleeblatt, wie Anni immer sagte. Wann immer es ging, kam Edith aus Frankfurt nach St. Peter, hier hatten sie vor einigen Jahren im Stadtteil Böhl ein altes Ferienhaus gekauft und Edith hatte es wunderbar hergerichtet. Ein richtiges Wohlfühlnest, wie Isa, Annis Haushälterin und die gute Seele von St. Peter, es nannte. Sie kümmerte sich um die »Villa Nielsen«, wie sie das kleine Haus nannte, und richtete es stets her, bevor Edith mit ihrer Familie anreiste.

In Hessen waren nun Sommerferien und Edith würde mit den Kindern die ganzen Wochen hierbleiben. Sie liebte ihre Freundinnen, sie liebte St. Peter und sie liebte die Nordsee.

Anni hatte das Hotel ihrer Familie, die Seeperle, zu einem Erholungsheim umgebaut, hier fanden Frauen und deren Kinder, solange es nötig war, Zuflucht vor ihren gewalttätigen und übergriffigen Ehemännern.

In diesem Frühjahr waren die Umbauarbeiten abgeschlossen worden, und Anni hatte sich an die Presse gewandt, die das alles mit gemischten Reaktionen aufgenommen hatte.

»Brauchen wir das wirklich?«, war eine der Überschriften gewesen, oder »Hier hat KEIN Mann das Sagen!«

Lediglich zwei Redakteurinnen hatten sich gegen ihre männlichen Kollegen durchgesetzt und sich die Mühe gemacht, extra nach St. Peter in die Seeperle zu kommen, um ein Interview mit Anni zu führen und sich ein Bild von der Einrichtung und den Bewohnerinnen und den Kindern zu machen.

Diese beiden schrieben positiv über die Einrichtung, sie sahen nur ein Problem – wie konnte man die gewaltbereiten Ehemänner und Väter davon abhalten, hierherzukommen und ihre Frauen und Kinder zurückzuholen? Darüber hatte Anni mit Isa und ihrem Mann und vor allen Dingen gutem Freund Hinnerk oft gesprochen und nachgedacht.

Zunächst wurde der junge Bruno angeschafft, ein riesiger Mischlingshund aus dem Tierheim, der das Haus bewachen sollte. Aber Bruno dachte gar nicht daran, er ließ sich lieber den ganzen Tag lang streicheln und mit Leckereien füttern, auf den Befehl »Pass auf!« reagierte er höchstens mit einem müden Schwanzwedeln, um dann zu gähnen. Am liebsten lag Bruno lang ausgestreckt genau an der engsten Stelle eines Raums, so dass man ihn ständig beiseiteschieben oder über ihn drüberklettern musste.

»Frag doch mal einen der Herren aus deiner Hamburger Zeit«, hatte die Ärztin Helena vorgeschlagen. »Immerhin hast du doch dort direkt an der Quelle gesessen.«

Das stimmte. Anni hatte vor einigen Jahren St. Peter Hals über Kopf verlassen, aus Sorge, man könnte ihr nach der Trennung von ihrem Mann Hinnerk ihre neugeborene Tochter Lisbeth wegnehmen. Sie war nach Hamburg gegangen, um dort ihre beste Freundin Rena zu suchen, die aus Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann Gerhard dort untergetaucht war und in dem Bordell Chérie gearbeitet hatte.

Anni hatte sich während ihrer Hamburger Zeit auf dem Kiez wohlgefühlt wie ein Fisch im Wasser und für den Nachtclub die Buchhaltung gemacht. Und natürlich hatte sie viele Bekanntschaften gemacht, angefangen von Bubi, dem hünenhaften Türsteher des Etablissements und Mädchen für alles, oder Ronny, von dem man nicht so genau wusste, was er so alles machte – und was auch keiner so genau wissen wollte. Ronny jedenfalls war ein Mann, den man wahlweise im Dunkeln an seiner Seite haben oder dem man nachts nicht begegnen wollte. Er war noch größer als Bubi, hatte die breitesten Schultern, die man je gesehen hatte, und war grundsätzlich zu jeder Tages- und Nachtzeit in schwarzes Leder gekleidet. Und er hatte einen Narren an der kleinen Lisbeth gefressen.

Bubi und Ronny waren tatsächlich auf Annis Bitte hin nach St. Peter gekommen und eine Zeit lang geblieben. Sie bezogen ein Doppelzimmer mit Rosentapeten und Rosenbettwäsche und Rosenwaschbecken – was Ronny mit Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm – im Erdgeschoss der Seeperle und tatsächlich, als zwei Ehemänner ihre Frauen und Kinder mit Gewalt zurückholen wollten, traten Bubi und Ronny in Erscheinung, und man machte den Männern unmissverständlich und mit viel Nachdruck klar, dass sie sich umdrehen, gehen und nie wiederkommen sollten.

Von da an reisten sie regelmäßig aus Hamburg an und blieben immer ein paar Tage, aber man wusste nie, wann sie da waren und wann nicht, sie meldeten sich nicht an und nicht ab. Außerdem war Hinnerk ja auch noch da. Der war ruckzuck aus dem Haus Ragnhild, der Pension seiner Eltern, in der Seeperle.

Vor allem die männlichen Dorfbewohner betrachteten die umgemodelte Seeperle argwöhnisch und mit Skepsis. Was machte die kleine Anni Janssen denn da, was waren denn das für neue Sitten? Frauen weg von ihren Männern, wo gab’s das denn? Aber die meisten, denen Anni und auch die Ärztin und Annis Freundin Helena es erklärten, kapierten es, auch wenn es dauerte. Steine in den Weg legte ihnen niemand, da hielt man in St. Peter schon zusammen.

In Annis Büro bei den Fotos stand im silbernen Rahmen eine Fotografie von Bubi und Ronny, wie sie friedlich aneinander gekuschelt in dem großen Rosenzimmerdoppelbett lagen und schliefen; ein Bild für die Götter – Anni hatte sie heimlich aufgenommen, und die beiden wussten nichts davon, sicher würden sie Anni die Hölle heiß machen, wenn dieses Foto an die Kiezbewohner gelangte.

Jedenfalls schien es sich wie auch immer herumzusprechen, dass es Ronny und Bubi gab und mit ihnen, wenn’s drauf ankam, nicht gut Kirschen essen war.

Man hatte hier in der Seeperle also seine Beschützer.

Von einer Bezahlung wollten die beiden Hünen nichts wissen.

»Die gute Luft hier und das wundervolle Essen von eurer Isa sind Bezahlung genug!«, hatte Ronny gesagt. »Außerdem sehen wir so regelmäßig unser Herzblättchen.«

Lisbeth konnte eins perfekt: Alle Menschen und vor allen Dingen aber Bubi und Ronny um den Finger wickeln. Es genügte ein Blick aus ihren großen, glänzenden blauen Augen, dazu ein Lächeln und ein »Buuubi, Rooooonny« und die beiden schmolzen dahin. Natürlich wurden aus Hamburg immer Geschenke mitgebracht, letztens kamen sie mit einem Puppenwagen an, und Mutti, die Besitzerin des Chérie, hatte rosa und lila Haarschleifchen für die Kleine mitgegeben und ein kleines Kaleidoskop, das Lisbeth liebte.

Helena schnitt ihr Brötchen auf und gab Butter auf die eine Hälfte, dann einen von Isas selbst gemachten Gelees.

»Also wollt ihr es nun hören oder nicht?«, fragte Edith, die stirnrunzelnd die Texte überflog.

»Ja gern«, sagte Anni freundlich, obwohl sie Ediths Lamentiererei über die Gleichberechtigung schon zu oft gehört hatte. Aber was machte man nicht alles aus Freundschaft? Davon abgesehen hatte Edith ja mit ihrer Einstellung mehr als recht.

»Nun erzähl schon«, sagte jetzt auch Helena.

»Gut.« Edith blätterte zurück. »Fangen wir mit dem Grundsätzlichen an. Also um euch das alles noch mal zu verdeutlichen, geht es um die zentralen Punkte des Gesetzes über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das am ersten Juli 1958 in Kraft trat. Habt ihr das so weit verstanden?«

Die beiden nickten ernst. »Ja, Edith«, sagten sie gleichzeitig. »Gut. Fangen wir an.«

»Ja, Edith«, sagte Anni. »Fangen wir doch einfach an.«

Edith blitzte sie an. »Also, das Letztentscheidungsrecht des Ehemanns in allen Eheangelegenheiten wird ersatzlos gestrichen. Das ist so großartig! Endlich ist das durch, endlich! Wir haben so lange dafür gekämpft, und endlich hat ein Mann nicht mehr diese Alleinherrschaft in der Ehe. Ich könnte jubeln vor Freude, wisst ihr das? Dass das tatsächlich endlich durchgesetzt wurde.«

Anni und Helena freuten sich natürlich auch.

»Du hörst dich an, als hätten wir einen Krieg gewonnen«, lächelte Helena.

»So ungefähr ist es doch auch«, sagte Edith. »Was ich im Übrigen auch wunderbar finde, ist, dass die Versorgungspflicht des Ehemannes für die Familie bestehen bleibt. Sonst könnten die es sich ja einfach machen. Ja, ihr lacht über mich.«

»Wir lachen dich an«, stellte Anni klar. »Weil du so übereifrig bist und dich so freust. Möchtest du noch eins von Isas Hörnchen?«

»Gleich. So. Die Zugewinngemeinschaft löste die Nutzverwaltung als gesetzlichen Güterstand ab. Soll heißen, dass in die Ehe eingebrachtes Vermögen von den Frauen selbst verwaltet werden kann. Bis dahin durften die Männer über das Vermögen der Frauen verfügen. Ganz ehrlich, wenn ich das nur schon lese, kommt mir wieder die Galle hoch. Wie in der Steinzeit! Wenn ich mir vorstelle, dass mein Mann das Recht hat, meine Arbeitsstelle einfach fristlos zu kündigen, ohne mir das überhaupt nur mitzuteilen, könnte ich verrückt werden, aber so war es. Gut, eine Frau kann jetzt auch nur dann berufstätig sein, wenn sie ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter nachkommt und das hinkriegt. Ich wette mit euch, das wird man auch noch abändern, das Gesetz. Was ich dafür tun kann, werde ich tun. Auch ihren Geburtsnamen kann die Ehefrau nach der Heirat als Zusatznamen verwenden. Und der Vater hat in einigen Punkten nicht das alleinige Vorrecht bei der Kindererziehung. Aber das war’s? Dieses Gesetz gehört zugunsten der Frauen noch weiter geändert, wenn man mich fragt. Aber immerhin geht es voran!«

Zufrieden nickte sie und überflog eine weitere Seite.

»Wie finden die Schöpfer des Universums denn das neue Gesetz?«, fragte Anni, goss sich noch einen Kaffee ein, lehnte sich zurück und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Es war ein herrlicher, warmer, wundervoller Tag.

»Na was wohl?« Edith lachte. »Hier, Stimmen aus der Bevölkerung. Was sagen die Männer zu dem neuen Gesetz? Wir haben einige Aussagen für Sie, verehrte Leserschaft, eingefangen. ›Ich bin entrüstet. Dass man einer Frau zugesteht, wichtige Entscheidungen allein zu treffen, halte ich für gefährlich. Man weiß doch, dass das Gehirn von Frauen für so was gar nicht gemacht ist.‹ Oder hier: ›Das ist ein Schlag ins Gesicht für uns Männer. Was wollen die Frauen denn noch? Sie sollten doch zufrieden sein mit dem, was sie haben und sich um Kinder und Haushalt kümmern, so wie die Natur das vorgesehen hat.‹ Und: ›Meine Frau muss mir gar nicht mit dem neuen Gesetz kommen, bei uns bleibt alles beim Alten. Das wäre ja noch schöner, wenn mir meine Frau plötzlich Widerworte gibt, oder alleine Entscheidungen treffen will. Da lernt sie mich aber mal kennen, lernt sie mich dann!‹ Man will diese Männer schütteln, oder?« Edith las weiter. »Wisst ihr, was am schlimmsten ist?« Sie wartete eine Antwort gar nicht erst ab. »Dass viele Frauen das ebenso sehen. Da sagt eine: ›Ich wüsste gar nicht, warum ich was ändern sollte, es ist doch schön, wenn der Mann sich um alles kümmert. Mir wäre das alles zu viel.‹ Das muss man sich mal vorstellen.« Sie schüttelte den Kopf. »Da muss man sich ja schämen. Hier: ›Ich will gar kein eigenes Geld verdienen, ich hab genug mit Haushalt und Kindern.‹«

»Ich glaube, dass viele Frauen mit diesem neuen Gesetz erst mal überfordert sind«, überlegte Helena. »In der Praxis bei mir war das auch schon Thema. Gerade die Frauen, die jahrzehntelang – vom Krieg mal abgesehen – immer nur gehorcht und nie etwas auch nur ansatzweise entschieden haben, sollen plötzlich neue Rechte bekommen und auch danach handeln. Das funktioniert in den alten Ehen eher nicht. Bei den jüngeren Frauen merke ich aber schon etwas. Die tun sich zusammen und diskutieren über alles Neue und geben sich Ratschläge, wie man sich und seine Rechte und auch Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen kann. Das kommt ja auch noch hinzu, dass die Frauen gar keinen eigenen Bereich hatten. Immer ging es nur um den Mann und die Kinder. Aber ich glaube, das braucht einfach noch ein wenig Zeit.«

Helena war Ärztin und hatte ihre Praxis in St. Peter. Fast das ganze Dorf ging zu ihr und sie genoss einen sehr guten Ruf, weil sie fachlich kompetent, nie arrogant wie viele ihrer männlichen Kollegen, und auch niemals überheblich war oder in Fremdworten sprach, die kein Mensch außer Medizinern verstand. Die Menschen schätzten Helena und legten viel Wert auf ihr Urteil. Außerdem setzte Helena sich zusätzlich für unverheiratete Schwangere ein, half ihnen beim Umgang mit den Behörden – diese Ratschläge hatte sie sich wiederum bei Anni geholt, die in Hamburg auch mit dem Amt für Fürsorge zu tun gehabt hatte – und erstellte mit ihnen einen Lebensplan.

Seitdem Helena vor längerer Zeit von einem Dorfbewohner beschuldigt worden war, Abtreibungen vorzunehmen, war sie vorsichtiger geworden mit dem, was sie getan hatte und hin und wieder tat, ohne jemandem davon zu erzählen, um niemanden mit in Gefahr zu bringen. Dass Sigrun, die Tochter dieses Dorfbewohners, dann schwanger geworden und daraufhin in die See gegangen war, hatte St. Peter lange nachgehangen.

Noch heute machte Helena sich deswegen manchmal Vorwürfe.

Jedenfalls hatte Sigruns Vater Knut Broders seine Anschuldigungen zurückgezogen, war noch während der Beerdigung seiner Tochter auf Nimmerwiedersehen verschwunden, und keiner schien ihn zu vermissen.

Helena war weiterhin sehr geachtet in St. Peter, aber sie war dennoch auf der Hut. Man konnte nie wissen, wer es ehrlich meinte und wer nicht. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Sie stand jedoch häufig und gern beratend zur Seite, auch bevor eine Frau schwanger wurde. Die meisten waren ja überhaupt nicht aufgeklärt worden. Deswegen sprach Helena auch mit vielen Müttern. Man musste den Töchtern sagen, was Sache war. Mit der anderen Sache, den Abbrüchen also, hielt Helena sich zurück. Seitdem sie Aufklärungsarbeit betrieb, waren die ungewollten Schwangerschaften auch zurückgegangen, was sie sehr freute. Es war ja immer schöner, wenn eine Frau sich auf ihr Kind freuen konnte.

Edith kam zurück an den Tisch und setzte sich wieder in ihren bequemen Korbsessel. Diese Hörnchen! Sie liebte Isas Backkünste, und eben diese Hörnchen, sie schienen nur aus Butter zu bestehen und wenn sie nicht aufpasste, würde sie nach Ablauf der Sommerwochen hier drei Kleidergrößen mehr brauchen. Nur ein einziges noch. Dazu Apfelgelee mit Zitrone, eine Isa-Spezialität. Isa würde nie auf die Idee kommen, Gelee oder Marmelade zu kaufen, Brot und Brötchen schon mal gar nicht, auch sonst wurde alles selbst hergestellt.

»Wann kommt Robert eigentlich hoch?«, wollte Anni wissen.

»Sobald es geht«, erzählte Edith kauend. »Sie arbeiten noch mit Hochdruck an einer neuen Kampagne fürs Radio und fürs Fernsehen.«

»Bist du wieder dabei?«, fragte Anni.

Edith, die in den letzten Kampagnen in den Werbefilmen für die Produkte ihres Mannes die Rolle der emanzipierten Hausfrau verkörpert hatte, was eingeschlagen war wie eine Bombe, schüttelte nun den Kopf.

»Die Werbeabteilung hat sich was anderes ausgedacht«, sagte sie. »In der neuen Fernsehwerbung sind fast nur Männer mit ihren Kindern oder mit Freunden zu sehen. Zwei gute Freunde kochen für die Familie gemeinsam mit ihren Kindern und benutzen zum Beispiel für Gulasch unsere neuen Würzprodukte. Die gibt es in verschiedenen Sorten, auch für Schnitzeltopf oder Hackfleischsoße. Es wird einfach eingerührt und fertig, man muss nicht groß würzen, und es geht schnell. Aber es ist eben kein Fertiggericht, sondern die Grundzutaten sind frisch, es ist nur ein Zusatz. Ich habe es probiert und es schmeckt richtig gut.«

»Ihr geht wirklich immer interessante neue Wege«, sagte Helena anerkennend. »Ich bin gespannt, wie das ankommt. Bislang war die Küche doch immer das alleinige Reich der Frau.«

»Ja, das stimmt.« Edith nickte. »Aber wir hatten in den letzten Kampagnen ja auch Männer engagiert. Erinnert ihr euch an den einen Film, in dem der Mann der Frau beim Kochen und Abspülen hilft? Der Film mit Robert, mir und Pauline? Der hatte eine sehr gute Resonanz. Viele Frauen haben geschrieben, dass sie das wunderbar finden, und der Absatz der Produkte hat sich in kurzer Zeit mehr als verdreifacht. Unsere Werbeabteilung, und vor allem Bernd, machen das sehr gut! Wir sind wirklich froh, dass wir ihn haben.«

Anni und Helena nickten. Sie wussten Bescheid.

»Ich finde es so schrecklich, dass man die Beziehung zwischen Bernd und Robert geheim halten muss«, sagte Anni. »Meine Güte, kann nicht jeder so leben, wie er will?«

»Bis sich da für sie was ändert, das dauert«, sagte Edith. »Allein, dass sie so genannt werden, ist menschenverachtend.«

Helena und Anni nickten. Der Paragraph 175, der seit 1872 existierte und sexuelle Handlungen zwischen Männern verbot, wurde von einigen Leuten verächtlich benutzt. »Der ist ein 175er«, hieß es da oft abwertend.

Edith und Robert waren zwar verheiratet, aber Robert hatte ihr früh und lange vor der Hochzeit von seiner Neigung zu Männern erzählt; auch, dass er mit Bernd aus seiner Firma eine Liaison unterhielt. Edith und Robert waren eine Vernunftehe eingegangen, was beiden nicht schwergefallen war. Sie mochten und schätzten sich sehr, liebten sich sogar auf eine besondere Weise, und waren beste Freunde. Nach der Hochzeit, die pompös in einem Schloss im Taunus gefeiert worden war, wurde Edith mithilfe von Insemination schon bald schwanger, und sie und Robert freuten sich über den gemeinsamen Sohn Carl Robert, der von allen nur Carlchen genannt wurde.

»Ihr seid aber wirklich das perfekte Vorzeigepaar, du und Robert«, sagte Helena.

»Das liegt daran, dass wir einfach beste Freunde sind und ich seine Neigung voll und ganz akzeptiere«, erklärte Edith gelassen. »Was haben wir für einen Spaß zusammen, wenn wir ausgehen oder am Wochenende mit Pauline und Carlchen Rad fahren oder spazieren gehen. Und ich habe natürlich überhaupt nichts dagegen, wenn Robert sich mit Bernd trifft. Zwischen uns ist alles geklärt und wir sind offen und ehrlich zueinander. Da haben wir es vielleicht besser als so manches Ehepaar.«

»Das stimmt. Aber wie sieht es eigentlich bei dir aus, Edith, hast du jemanden, mit dem du dich triffst?«, wollte Anni wissen.

»Du meinst, für Sex?«, fragte Edith ein wenig provokativ und grinsend zurück.

»Ja, genau.« Die blonde, hübsche Anni war manchmal erstaunt darüber, wie offenherzig und freizügig Edith mit den sogenannten Tabuthemen umging. Dabei war es eigentlich ganz einfach. Man konnte die Dinge auch beim Namen nennen, dachte Anni. Herrje, sie hatte monatelang in einem Bordell gearbeitet, wenn auch fast nur in Muttis Büro – nur manchmal hatte sie an der Bar ausgeholfen. Da hatte man auch kein Gewese um das Thema gemacht. Es war so herrlich ehrlich gewesen.

»Ja«, sagte Edith gleichmütig. »Seit einiger Zeit treffe ich mich regelmäßig mit einem Mann, den ich auf einer Vernissage in Bad Homburg kennengelernt habe. Er heißt Patrick, kommt aus der Bretagne, ist Künstler und derzeit für ein paar Monate in Deutschland, genauer gesagt in Frankfurt.«

»Oh, aus der Bretagne«, sagte Anni ehrfürchtig. »Und dein Patrick aus der Bretagne, sieht er auch so aus wie ein Bretone?«

Edith lachte. »Du meinst, hochgekrempelte Ärmel, breite Schultern, sonnengegerbtes Gesicht? Na ja, fast. Er sieht toll aus. Mir gefällt er. Robert und er mögen sich. Patrick ist eingeweiht. Wir haben schon lustige und sehr schöne Abende zu viert verbracht. Ich, Robert, Patrick und Bernd.«

»Und Robert hat damit kein Problem oder Patrick?«, fragte Helena.

»Wieso denn? Robert liebt mich auf eine brüderliche Art und Weise oder so sehr, wie man seine beste Freundin liebt. Und Patrick stört es kein bisschen. Er ist wunderbar, ein perfekter Liebhaber, dazu witzig und intelligent. Oh, der Sex mit ihm ist himmlisch …«

Tatsächlich wurde Helena etwas rot und strich sich verlegen eine imaginäre schwarze Haarsträhne hinters Ohr.

»Hallo!«, rief Edith belustigt. »Schöne Helena, bist du etwa schinant geworden?«

Helena schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht, es ist nur sehr ungewohnt, das zu hören. Du kannst dir sicher vorstellen, dass die Leute in St. Peter so nicht reden. Aber alles gut. Ich gewöhne mich schon dran. Du bist ja noch einige Zeit hier.«

»Sehr gut.« Edith trank ihren Kaffee aus. »Wenn ich wieder fahre, kannst du das Wort Sex aussprechen, ohne rot zu werden. Wollen wir’s schon mal versuchen? Sag mal Sex!«

»Nein«, sagte Helena.

»Komm schon …« Edith sah sie auffordernd an.

»Nun lass sie doch, Edith, dass du immer so brüsk sein musst.« Anni konnte Helena verstehen.

»Es ist doch nur ein Wort, das wird sie doch hinkriegen«, sagte Edith verwundert.

»Wir werden sehen«, sagte Helena.

Anni stand auf und hielt ihre Nase in den sanften Wind. »Was haltet ihr von einem schönen Bad in der Nordsee?«, fragte sie die Freundinnen dann. »Noch hab ich Zeit, ich muss erst mittags wieder in der Seeperle sein. Was sagt ihr?«

»O bitte, Anni«, sagte Edith. »Ich bin doch eine solche Friereule. Mir ist die Nordsee immer zu kalt.«

»I wo, es kommt auf die Einstellung an«, sagte Anni. »Stellt euch nicht so an.«

Helena seufzte. »Ich predige meinen Patienten immer Abhärtung und dass es noch nie jemandem geschadet hat, im Winter oder Frühjahr kurz zu baden, aber ich selbst bevorzuge ungefähr fünfundzwanzig Grad Wassertemperatur.«

»Wir sind hier nun mal nicht in Italien oder Spanien«, stellte Anni fest und band ihre blonden Locken rasch zu einem Zopf. »Fünfundzwanzig Grad im Wasser haben wir hier in der See noch nie gehabt, soweit ich zurückdenken kann. Also los.«

»Stopp«, rief Helena erleichtert. »Ich hab keinen Badeanzug hier. Und du auch nicht, Anni!«

»Ich hab meinen drunter und so, wie ich Edith kenne, hat sie ungefähr fünf ganz moderne aus Frankfurt mitgebracht.«

»Sechs«, nickte Edith. »Ich leihe dir selbstverständlich gern einen.«

Helena seufzte. Da musste sie nun durch.

Die drei Freundinnen hatten sich an den Händen gefasst und warteten auf die nächste Welle, die mit großer Wucht angerollt kam.

Helena schrie auf, als sie ihr entgegenliefen und direkt hineinsprangen.

»Oh, ist das kalt, aber auch herrlich!«, rief Edith. Sie tauchten unter den Brechern durch und ließen sich dann auf dem Rücken im etwas stilleren Wasser treiben.

Anni blickte blinzelnd in die Sonne. Sie war so glücklich, dass Edith mit Carlchen und Pauline nun ein paar Wochen hierbleiben würden, die ganzen Ferien über! Und sie war froh, dass sie Helena immer bei sich hatte. Auch wenn die beiden sich nicht täglich sahen, weil beide viel zu tun hatten – Helena mit der Praxis und Anni mit der Seeperle, die stets bis zum letzten Zimmer belegt war – sie hatten sogar eine Warteliste, so groß war die Nachfrage, was Anni natürlich einerseits freute, andererseits war sie fassungslos darüber, wie viele Frauen und Kinder von ihren Ehemännern oder Vätern schlecht behandelt oder auch misshandelt wurden. Und alles war jahrelang totgeschwiegen worden.

Anni schloss nun die Augen und dachte an Friedrich …

Friedrich Brunner war der Vater ihrer Tochter Lisbeth. Er war während eines Aufenthalts in St. Peter, zu dem er seinen kranken Bruder begleitet hatte, Annis Liebhaber geworden, Anni hatte sich unsäglich in ihn verliebt. Aber er war pflichtschuldig nach Bayern zurückgekehrt, um eine Vernunftehe mit der freundlichen, schönen Manon einzugehen, die er zwar schätzte, aber nie geliebt hatte. Von Annis Schwangerschaft hatte er nichts gewusst.

Irgendwann dann hatte er es nicht mehr ausgehalten, Manon alles gebeichtet

Und dann kam die Katastrophe – Friedrich war mit einem Flugzeug abgestürzt und galt seitdem als verschollen.

›Wie es Manon wohl geht?‹, fragte sich Anni. Seitdem Manon ihr von dem Unglück berichtet hatte, standen die beiden Frauen im engen Austausch und Manon war schon einige Male mit ihrem Sohn in St. Peter gewesen. Von Friedrich gab es nach wie vor keine Spur, man musste wohl davon ausgehen, dass er bei dem Absturz umgekommen war.

Anni öffnete die Augen wieder und blickte in den Himmel. ›Wo bist du?‹, fragte sie sich stumm. ›Was ist passiert, was ist aus dir geworden?‹

Manchmal hatte sie das merkwürdige Gefühl, dass Friedrich gerade in diesem bestimmten Moment an sie dachte. Es war ein merkwürdiges Gefühl und nicht greifbar, aber es brachte ihr eine sonderbare Gewissheit darüber, dass Friedrich doch nicht tot war.

Andererseits sprach alles dafür, dass er nie wiederkommen würde – denn sonst hätte er es doch längst getan.

›Pass auf dich auf‹, bat sie Friedrich stumm und hoffte, er würde es tun, wenn er lebte.

»Anni, träumst du?« Helena kam angeschwommen. »Du hast ja ganz blaue Lippen, meine Güte, raus aus dem Wasser, du bist ja schlimmer als Lisbeth, die muss man auch immer zwingen, aus der See zu kommen.«

Das stimmte. Annis Tochter Lisbeth war eine unverbesserliche Wasserratte. Sie konnte nicht genug von der Nordsee bekommen. Mit ihren mittlerweile fünf Jahren würde sie bald einen Schwimmkurs besuchen können und dann wäre Anni beruhigt. Die hatte nämlich keine ruhige Minute, wenn Lisbeth in der Brandung herumhüpfte oder sich mit ihrem Gummikavalier in die Wellen warf.

Gerade war Lisbeth im Kindergarten, sie liebte es, dorthin zu gehen, und so hatte Anni morgens Zeit, sich um die Seeperle und ihre Bewohner und die ganze Bürokratie zu kümmern. Die Seeperle wurde noch nicht staatlich unterstützt, Anträge liefen, aber man kannte ja die Mühlen der Justiz. Demnächst würden zwei Herren aus Kiel vorbeikommen, um sich einen Einblick in die Einrichtung zu verschaffen. Vorher waren zwar schon etliche Gutachter da gewesen, aber eine Entscheidung war nicht getroffen worden. Manchmal dachte Anni, dass die Verwaltungsverantwortlichen das alles extra in die Länge zogen. Ohne die finanzielle Unterstützung von Ediths Mann Robert und weiteren Spenden von rar gesäten Gönnern hätte sie nicht gewusst, wie sie das alles stemmen sollte.

Obwohl Anni alle Hände voll zu tun hatte, nahm sie zusätzlich zu der täglichen Arbeit fast immer an der wöchentlichen Zusammenkunft teil, der alle Bewohnerinnen ohne Kinder beiwohnten – die wurden dann anderweitig betreut. Diese Zusammenkunft diente dem Austausch der Bewohnerinnen, Neue stellten sich vor, andere, die mithilfe von Freunden oder Verwandten eine Wohnung gefunden hatten, verabschiedeten sich. Vor allem aber diente das Treffen dazu, dass den Frauen klar wurde, dass sie nicht allein waren mit ihrem Kummer, und dass sie keine Schuld an der Situation hatten.

Einer der noch rar gesäten Psychologen, in diesem Fall sogar eine Psychologin, die mit Helena befreundet war, kam zu diesem Termin aus Flensburg hergefahren und leitete die Gruppe, die regen Zuspruch fand. Alle Bewohnerinnen waren voll des Lobes für dieses Angebot, endlich kümmerte sich jemand um die seelischen Belange, das war ja höchste Zeit.

»Es ist gut, dass du mich aus dem Wasser geholt hast, Helena.« Anni schaute auf ihre Armbanduhr, die sie aus ihrem Strandbeutel holte. »Wir haben ja heute Gruppe und davor muss ich fürs Mittagessen eindecken.«

»Ich helfe dir«, sagte Edith. »Und darf ich mal teilnehmen?«

Anni nickte. »Ich frage anfangs nach, aber ich denke, niemand hat was dagegen. Warum willst du dabei sein?«

Nun, sie kannte die Antwort bereits.

»Ich möchte mal hören, was die Frauen so erzählen und ich würde gern ein bisschen vom Gleichberechtigungsgesetz berichten, falls ihr das wollt.«

Anni nickte. »Das werden sie sicher gern hören. Die einzelnen Schicksale sind teilweise allerdings sehr hart, willst du dir das wirklich antun?«

Edith zog die Augenbrauen hoch. »Na hör mal. Ich kämpfe seit Jahren für die Sache und dann soll ich die Ohren vor der Wahrheit verschließen? Ganz bestimmt nicht. Also, ich helfe und höre und rede! Auf geht’s!«

»Na, Edith, ich wusste gar nicht, dass Anni Sie mitbringt zum Essen, ein Glück hab ich genug in den Töpfen.« Isa strahlte die beiden Frauen an.

»Es gibt falschen Hasen, Kartoffeln und Erbsen. Das lieben ja alle!«

»Dein Hackbraten ist auch ein Gedicht, Isa«, sagte Anni.

»Es gibt Hackbraten?« Edith freute sich wie eine Schneekönigin. »Den hab ich Ewigkeiten nicht mehr gegessen.«

»Als hätt ich’s geahnt.« Isa freute sich immer, wenn jemand sich über ihr Essen freute, was eigentlich ständig jemand tat, und wenn die Meute satt war, konnte sie wiederum sich am Lob nicht satthören.

»Ihr Hackbraten ist bestimmt unvergleichlich, Isa«, schwärmte Edith nun. »Danke, dass Sie mir ein Stückchen abgeben. Übrigens waren Ihre Hörnchen heute Morgen wieder so delikat, ich nehme hier jeden Tag zu.«

»Och, Sie können das ab, Edith. Sie sind doch nach der Geburt vom Carlchen ganz schnell wieder schlank in der Mitte geworden.«

Edith lachte. »Ich war sehr diszipliniert.«

»Sind Sie und der Herr Gemahl denn nun durch mit der Familienplanung?« Isa war immer neugierig. »Oder gibt’s noch ein Geschwisterchen für den Kleenen und das Paulinchen?«

Edith lachte. »Och, wenn’s nach meinen Mann ginge, könnte ich ein Kind nach dem anderen bekommen«, erklärte sie. »Aber ich habe ja auch noch meine Arbeit für die Frauenrechte, und die beiden Kinder wollen ja auch versorgt werden. Ich bin nicht dafür, alles einem Kindermädchen zu überlassen, obwohl ich unsere Birgit sehr schätze, ich möchte sie aber auch selbst aufwachsen sehen, und gerade bei Pauline habe ich ja viel verpasst, dadurch, dass sie erst so spät wieder zu mir kam. Aber ich denke, ein Kind werde ich noch bekommen.«

»Wenn ich mir Ihre Kinder anschaue, so find ich das eine gute Entscheidung. Sind ja beide bildhübsch und zuckersüß, grad der Kleene weiß ja wohl genau, wie er was bekommt. Nicht wahr, Carlchen?«

Carl Robert saß in der Küche im uralten, hölzernen Kinderstuhl der Familie Janssen und war bester Laune. Er strahlte fröhlich vor sich hin und schien sich äußerst wohlzufühlen, was in der gemütlich eingerichteten Küche auch kein Wunder war. Außerdem steckte Isa ihm immer was zu, und Carlchen gehörte zu den Kindern, die mit frischem Obst und Gemüse aufwuchsen. Er liebte es, an einer Möhre herumzunuckeln und aß für sein Leben gern Kartoffelbrei.

»Man wird sehen, Isa. Wo ist denn Pauline?«

»Sie füttert mit Hinnerk die Hühner«, sagte Isa. »Den ganzen Vormittag hat sie mit den anderen Kindern gespielt, aber zum Füttern war sie pünktlich wieder da.«

Seit einiger Zeit hatten sie eigene Hühner und zwei Schafe, ein Kälbchen und zwei Ponys, was für die Kinder natürlich das Schönste war. Max und Moritz, beide kohlrabenschwarz, wurden vor eine kleine, offene Kutsche gespannt und zogen die mit den Kindern gutmütig durch St. Peter. Auch reiten konnte man die beiden, und jeden Tag wurde ausgelost, welche Kinder heute als erste dran waren.

St. Peter war ein Paradies für Kinder und jedes Mal, wenn eine Abreise ins Haus stand, war das Drama groß, es gab Geweine und Gezeter. In solchen Momenten war Anni einfach froh, dass sie hier, wo andere sich erholten, wohnte und kein Heimweh haben musste. Während ihrer Zeit in Hamburg hatte sie St. Peter vermisst, aber glücklicherweise waren ihre Tage so ausgefüllt gewesen, dass sie schnell abgelenkt war. Sie war froh, wieder hier zu sein, zu Hause, wo sie hingehörte.

»Wir decken die Tische ein, Isa«, sagte Anni nun und gemeinsam mit Edith holte sie Geschirr und Bestecke aus den Schränken, dann stapelten sie alles auf einen Servierwagen und schoben ihn in den Essbereich, in dem auch gefrühstückt wurde.

»Wie kommt ihr finanziell eigentlich mittlerweile klar?«, fragte Edith, während sie Teller verteilte.

»Ach, es geht, aber ein bisschen was von meinem privaten Geld buttere ich jeden Monat dazu. Wir haben ja keine Hoteleinnahmen mehr«, sagte Anni.

»Hoffentlich sind diese Entscheidungen über die Hilfen bald durch, und ihr bekommt die monatliche Unterstützung, die euch mehr als allen anderen zusteht«, sagte Edith, die schon wieder auf Krawall gebürstet war.

»Wir haben ja das Haus Ragnhild erweitert und renoviert«, erzählte Anni. »Hinnerks Eltern haben es ihm kürzlich überschrieben, arbeiten aber noch mit, und wir sind komplett ausgebucht bis zum Oktober, bei fünfzehn Zimmern ist das natürlich dufte. So haben wir diese Einnahmen wenigstens sicher. Aber das andere wird auch, ich bin fest überzeugt.«

»Wenn diese hohen Herren aus Kiel kommen, könnte ich doch dabei sein«, schlug Edith eifrig vor, während sie Besteck auf den Tischen verteilte. »Und denen mal erzählen, um was es uns eigentlich geht. Dann kriechen die aber auf dem Zahnfleisch!« Sie ballte die Hand zur Faust. »Denen werde ich …«

»Edith!« Anni legte Besteck auf die Tische. »Ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn du dabei bist.«

»Wieso? Ich weiß ja wenigstens Bescheid und kann mit Fakten punkten«, sagte Edith aufgebracht. »Ich bin quasi ein wandelndes Lexikon, was unsere Sache betrifft.«

»Wenn du loslegst, wächst aber kein Gras mehr«, sagte Anni beschwichtigend. »Du wirst diese armen Menschen in Grund und Boden reden und schon aus Angst, mit dir noch mal was zu tun zu haben, werden die so schnell wie möglich das Weite suchen und nie mehr wiederkommen!«

»Mpf«, machte Edith und deckte weiter.

»Nun sei nicht beleidigt.« Anni knuffte sie in die Seite. »Du weißt, dass du dich nicht im Zaum halten kannst.«

»Das will ich doch auch gar nicht, sollen doch alle wissen, was ich denke.«

»Das ist ja auch grundsätzlich richtig«, stellte Anni klar. »Nur in meinem Fall mit den Herren aus Kiel ist möglicherweise ein wenig Fingerspitzengefühl vonnöten.«

»Na gut«, meinte Edith und verteilte Gläser. »Oh Himmel, duftet das gut nach dem Hackbraten. Wie schaffst du es nur, mit eurer Isa im Haus dünn wie ein Streichholz zu bleiben?« Neidvoll schaute sie Anni an, die gertenschlank war. Das hellblaue Leinenkleid, das sie heute trug, war schlicht geschnitten und stand ihr ganz hervorragend. Ihre blonden Locken waren zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Vielleicht hab ich einfach Glück. Aber ich spring ja auch den ganzen Tag rum«, sagte Anni. »So, fertig.« Sie sah auf ihre Uhr. »Genau pünktlich.«

Edith und sie sahen sich zufrieden in dem großzügigen Raum um. Er war hell und freundlich eingerichtet, mit unterschiedlich alten Holztischen, Eckbänken und diversen Stühlen. Auf den Tischen lagen Wachstuchtischdecken in Hellblau, Rosa, Vanille und Pistaziengrün, und auf den Fensterbänken standen große Übertöpfe mit den unterschiedlichsten Pflanzen, dominiert wurden sie von einem riesigen Gummibaum. An den Wänden, die in einem hellen Gelbton gestrichen worden waren, hingen hier und da einige Aquarelle oder Stillleben. Der ganze Raum verströmte eine gemütliche und geborgene Atmosphäre.

Und da kamen auch schon die ersten Frauen und Kinder und wurden von Anni freundlich begrüßt … Bald war das Speisezimmer bis auf den letzten Platz besetzt. Wenn man nicht wüsste, warum diese Frauen und Kinder hier waren, würde man annehmen, sie seien im Urlaub.

Aber Anni wusste, was jede Einzelne von ihnen durchgemacht hatten. Und sie war stolz darauf, die Möglichkeit zu haben, diesen Frauen und ihren Söhnen und Töchtern zu helfen.

•••Kapitel 2

Marie-Louise Overdiek war Anfang vierzig, trug heute eine legere zitronenfarbene Siebenachtelhose und eine weiße ärmellose Bluse. Sie sah keineswegs so aus, wie man sich eine Psychologin gemeinhin vorstellen mochte, sondern wie eine von der Sonne gebräunte, gut gelaunte Urlauberin. Um ihr braunes, halblanges Haar hatte sie ein helles Seidenband geschlungen und an ihren Handgelenken klirrten leise aneinandergereihte bunte Steine. Ihre Fingernägel waren in einem Roséton lackiert.

»Schön, dass jetzt alle da sind, und ich sehe auch ein paar neue Gesichter. Herzlich willkommen in der Seeperle.« Marie-Louise lächelte in die Runde. Sie saßen in einem Raum, der sich hinter dem Speisezimmer befand. Hier standen außer zwei breiten Sofas nur Stühle, und einige ruhige Landschaftsbilder hingen an den Wänden, nichts störte oder brachte Unruhe herein. Nur einige Farne waren hier aufgestellt worden.

Außer für die wöchentlichen Treffen wurde dieser Raum auch für Einzelgespräche genutzt, oder diente als Rückzugsort. Für die Kinder war dieses Zimmer tabu. Es gehörte nur den Müttern und Helfern.

»Eine Frage vorneweg«, sagte Anni. »Meine Freundin Edith Nielsen aus Frankfurt ist momentan hier bei uns, und ich möchte fragen, ob Sie etwas dagegen haben, wenn sie heute bei uns bleibt und zuhört. Edith ist Frauenrechtlerin und steht im Anschluss auch mit Rat und Informationen zur Seite, falls es Fragen gibt. Für die rechtlichen Angelegenheiten können Sie ja bei dem Rechtsanwalt Hajo Gätjes einen Termin vereinbaren. Er steht nach wie vor zur Verfügung, und ich kann es nur empfehlen, ihn aufzusuchen, allein um sich erstmal einen grundsätzlichen Rat zu holen.«

Der gute Hajo Gätjes aus dem Ort war Rechtsanwalt im Ruhestand und praktizierte nur noch dann, wenn er Lust hatte. Als Helena vor einiger Zeit angezeigt worden war, weil sie angeblich Abtreibungen illegal vornahm, war Hajo zur Stelle gewesen und hatte sich als gewitzter Rechtsbeistand entpuppt. Man war froh, dass man ihn hatte, denn er hatte sich sofort bereit erklärt, den Frauen bei Bedarf zur Seite zu stehen. Viele hatten schon bei ihm gesessen und waren im Anschluss an das Gespräch gestärkt hinausgegangen. Endlich war da jemand, der in klaren Worten die Rechte erklärte und durch den man Kraft tankte, um den letzten, endgültigen Schritt der Trennung zu gehen. Leider aber kehrten immer noch viele Frauen zu ihren Männern zurück, um die Familie aufrechtzuerhalten, wegen der Kinder und aus Angst.

»Hat jemand was dagegen?«, fragte Marie-Louise nun und alle Frauen schüttelten die Köpfe.

»Gut, vielen Dank. Dann würde ich die beiden Neuankömmlinge bitten, sich vorzustellen.« Sie schaute in ihre Unterlagen. »Gitti, bitte, fangen Sie doch an.«

Gitti zuckte etwas ängstlich zusammen. Sie war eine kleine, zierliche Person mit hellblonden Locken und großen dunklen Augen, und sie saß etwas verloren da und schien sich unwohl zu fühlen, weil alle sie ansahen.

»Also ich bin Margrit, ich bin zweiundzwanzig, habe zwei Kinder und komme aus Heide. Ich hab in der Zeitung von der Seeperle gelesen und dann … also es war so, dass Alfred, also Alfred ist mein Mann, also dass er viel trinkt und dann manchmal, also eigentlich immer, durchdreht und böse wird. Er ist seit zwei Jahren arbeitslos und findet nichts Neues, wenn ich ihm sage, dass das an seiner Trinkerei liegt, dann sieht er rot und …« Sie hob beide Hände hilflos nach oben und fing an, lautlos zu weinen. Annis Herz zog sich vor Mitleid zusammen, wenn sie die kleine, junge Frau anschaute, die dasaß wie ein Häufchen Elend.

»Alfred schlägt mich und die Kinder dann immer und ich sag, lass doch die Kinder in Ruhe, die haben dir doch nichts getan, schlag mich dafür.«

Edith sah wütend aus und musste sich beherrschen, um nicht loszubrüllen. Anni sah ihr an, dass sie am liebsten aufgestanden und auf direktem Weg nach Heide gefahren wäre, um diesem Alfred mal zu zeigen, wie sich Schläge anfühlten.

»Und dann sind Sie hergekommen, nachdem Sie den Artikel in der Zeitung gelesen haben?«, fragte Marie-Louise, während eine andere Frau der kleinen Gitti ein Taschentuch reichte.

Gitti schnäuzte sich und nickte dann. »Ich wusste nicht mehr weiter«, sagte sie kläglich. »Ich war auch bei unserem Hausarzt, aber der hat nichts unternommen, obwohl man sehr wohl gesehen hat, dass und wo Alfred mich geschlagen hat. Die Kinder auch. Aber der Doktor hat gesagt, das sei nun mal so in einer Ehe, und ich solle meinem Mann mal sein Lieblingsessen kochen, dann würde der sich auch wieder beruhigen.«

Anni sah verstohlen zu Edith hinüber. Die war rot vor Zorn.

»Was möchten Sie denn ändern?«, fragte Marie-Louise.

Gitti sah sie mit großen Augen an. »Ich möchte nie mehr geschlagen werden und vor allen Dingen sollen meine Kinder keine Gewalt mehr ertragen müssen. Die beiden sind drei und vier Jahre alt.«

Edith schüttelte wütend den Kopf. Drei und vier!

»Alfred gibt mir die Schuld, dass ich nach Elli so schnell wieder schwanger geworden bin. Er wollte so rasch kein zweites Kind.«

»Nun, an der Entstehung eines Kindes sind immer zwei Personen beteiligt«, erklärte Marie-Louise. »Wir wollen versuchen, Ihnen die Schuldgefühle zu nehmen.« Auffordernd blickte sie Gitti an. »Was sind Ihre Ziele, Gitti?«

Gitti erwiderte den Blick. »Ich möchte die Scheidung einreichen und ich will unsere Wohnung behalten. Ich werde mir eine Arbeit suchen und für mich und meine Kinder selbst sorgen. Ob ich noch einmal einen Mann in mein Leben lasse, das weiß ich noch nicht. Das wird die Zeit zeigen. Aber im Moment kann ich es mir schwer vorstellen. Am wichtigsten ist, dass ich die Kinder behalten kann. Alfred soll sich schuldig bekennen.«

Anni nickte. Die meisten Frauen, die hier waren, wollten sich in jedem Fall von ihren Männern trennen, aber dann, auf einmal, zeigten die Männer plötzlich ihre weichen Züge, sie schrieben herzzerreißende Briefe und gelobten Besserung. Nie wieder würden sie trinken, sich nie wieder von ihren Freunden in der Kneipe aufstacheln lassen, nie wieder würden sie die Hand gegen Frau und Kinder erheben, auf Ehre, ich schwöre! Anni hatte das schon oft mitbekommen.

Und kaum waren die Frauen wieder zu Hause, ging es von vorne los. Einige waren schon zum zweiten Mal in der Seeperle, sie hatten den Absprung nicht geschafft, und Anni hoffte, dass es bei einem neuen Anlauf klappen könnte.

»Gut, Gitti. Ich schlage vor, dass wir uns nachher mal alleine zusammensetzen«, sagte Marie-Louise freundlich und Gitti nickte dankbar.

»Dann haben wir noch jemanden zu begrüßen. Elsa aus Rendsburg, hallo. Möchten Sie sich kurz vorstellen?«

Elsa war groß, schlank und hatte lange, fast schwarze Haare. Ein wenig erinnerte sie Anni an eine geschmeidige Katze, die immer auf der Hut war.

Elsa nickte. »Mein Mann hat mich eingesperrt«, sagte sie nur und schaute dann auf den Boden.

»Was genau heißt das?«, hakte Marie-Louise freundlich nach und machte sich Notizen.

»Jeden Tag«, sagte Elsa und Anni sah, dass sie zitterte. »Wenn er zur Arbeit gegangen ist, hat er die Türe abgeschlossen von der Wohnung und ich war den ganzen Tag allein. Telefonieren konnte ich auch nicht, weil der Apparat in seinem Arbeitszimmer steht und das auch abgeschlossen war. Und wenn er abends nach Hause kam, musste ich so tun, als würde ich schon auf ihn warten und mich freuen, dass er da ist. Jeden Abend, jede Nacht … nun ja.« Sie knetete ihre Hände und musste gar nicht mehr sagen. »Ich wollte es nicht, aber er hat …«, brachte sie noch hervor und schaute dann in die Runde.

»An den Wochenenden sind wir gemeinsam auf den Markt gegangen und haben Bekannte getroffen und ich musste so tun, als sei alles in Ordnung. Noch nicht mal als ich schwanger wurde, hat er mir erlaubt, tagsüber die Wohnung zu verlassen«, erzählte Elsa weiter. »Eines Tages bekam ich schreckliche Krämpfe und verlor Blut und konnte niemanden anrufen und ich bin zusammengesackt und habe es nicht geschafft, ein Fenster zu öffnen, um Hilfe zu holen, und dann habe ich im Badezimmer mein Kind verloren.«

»Hat er Sie denn später ins Krankenhaus gebracht?«, wollte Marie-Louise besorgt wissen, und Elsa schüttelte den Kopf.

»Nein. Im Gegenteil, er war wütend, weil das Badezimmer so verschmutzt war, und ich musste alles aufwischen, während er im Wohnzimmer saß und Pfeife rauchte.«

Sie stand nun auf und ging hin und her.

»Ich gehe nie wieder zu ihm zurück. Er weiß nicht, wo ich bin, und ich hoffe, er findet es auch nicht heraus, aber wenn … ich glaube, ich bringe ihn um.«

»Nun, so weit muss es hoffentlich nicht kommen«, sagte Marie-Louise mit sanfter Stimme.

»Wir werden Hajo Gätjes aufsuchen und uns rechtlichen Beistand holen«, schlug Anni vor. »Er weiß, was da zu machen ist. Das ist ja mehr als seelische Grausamkeit und unterlassene Hilfeleistung. Was hätte da alles passieren können!«

Marie-Louise nickte und machte sich wieder Notizen.

Elsa schaute auf den Boden und dann die anderen Frauen an. Ihre Augen waren fast schwarz, Tränen schimmerten.

»Danke«, sagte sie. »Danke, dass ich hier sein darf.«

In solchen Momenten wusste Anni, dass sie alles richtig machte.

Mit Wohlwollen nahm sie wahr, dass sich nach der Runde zwei Frauen an Edith wandten, die drei blieben in dem Raum sitzen und unterhielten sich lange. Das war gut. Information ging doch über alles.

Etwas später saß Anni im Kontor und ging die Ausgaben durch. Weil die Frauen hier unentgeltlich wohnen konnten, hatte sie mit der Seeperle keine Einnahmen mehr. Wenn das so weiterginge, würden sie bald schon rote Zahlen schreiben. Anni hoffte sehr, dass sie bald mit staatlicher Unterstützung rechnen konnte. Sie würde den Herren aus Kiel die Dringlichkeit schon klarmachen!

Es klopfte und Hinnerk steckte den Kopf durch die Tür. »Störe ich?«

»Nein, komm rein. Ich bin froh über ein bisschen Abwechslung. Und du hast hoffentlich gute Nachrichten aus dem Krankenhaus mitgebracht.«

Hinnerk, der vor einiger Zeit an Krebs erkrankt war, hatte bereits zwei Operationen hinter sich, und nun hieß es hoffen und warten.

Anni sah nun die beiden Tassen in seinen Händen, aus denen es dampfte.

»Ein Kaffee ist genau das, was ich jetzt brauche. Herrlich.«

Sie nahm Hinnerk eine der Tassen ab, und er setzte sich zu ihr und lächelte sie an.

»Mit schönen Grüßen von Isa. Sie hat gefragt, ob Liesel mit den anderen Kindern und deren Müttern zum Strand darf, ich hab jetzt einfach mal vermutet, dass du nichts dagegen hast und Ja gesagt.«

Anni nickte. »Sicher. Ist Pauline auch dabei?«

Ende der Leseprobe