Die Gabe des Himmels - Daniel Wolf - E-Book
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Die Gabe des Himmels E-Book

Daniel Wolf

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Beschreibung

Anno Domini 1346. Der junge Kaufmannssohn Adrien Fleury studiert in Montpellier Medizin und träumt von einer Laufbahn als Arzt. Als er nach Varennes-Saint-Jacques zurückkehrt, erkennt er seine Heimatstadt kaum wieder. Reiche Patrizier regieren Varennes rücksichtslos. Das einfache Volk rebelliert gegen Unterdrückung und niedrige Löhne. Die Juden leiden unter Hass und Ausgrenzung. Als Adrien eine Stelle als Wundarzt antritt, lernt er die jüdische Heilerin Léa kennen. Sie verlieben sich und bringen sich damit in höchste Gefahr. Doch dann wütet der Schwarze Tod in Varennes, und Adriens Fähigkeiten werden auf eine harte Probe gestellt ...

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Buch

Anno Domini 1346. Der junge Kaufmannssohn Adrien Fleury studiert in Montpellier Medizin und träumt von einer Laufbahn als Arzt. Als er nach Varennes-Saint-Jacques zurückkehrt, erkennt er seine Heimatstadt kaum wieder. Reiche Patrizier regieren Varennes rücksichtslos. Das einfache Volk rebelliert gegen Unterdrückung und niedrige Löhne. Die Juden leiden unter Hass und Ausgrenzung. Als Adrien eine Stelle als Wundarzt antritt, lernt er die jüdische Heilerin Léa kennen. Sie verlieben sich und bringen sich damit in höchste Gefahr. Doch dann wütet der Schwarze Tod in Varennes, und Adriens Fähigkeiten werden auf eine harte Probe gestellt …

Informationen zu Daniel Wolfsowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.

Daniel Wolf

Die Gabe des Himmels

Historischer Roman

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Copyright © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv FinePic®, München, Getty Images, Javier Piña, photography from Barranquilla Colombia

Seated crowned figure surrounded by musicians playing the lute, bagpipes, triangle, horn, viola and drums (manuscript), Czech School, (14th century) / Private Collection / Bridgeman Images Add 16997 f.57 Nativity, from the Chevalier Hourse, c.1420 (vellum), French School, (15th century) / British Library, London, UK / © British Library Board. Bridgeman Images; Male figure with a drop capital letter, illuminated page, France 14th Century. / De Agostini Picture Library / M. Seemuller / Bridgeman Images

Redaktion: Eva Wagner

BH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16048-7V007

www.goldmann-verlag.de

Dramatis Personae

DIE FAMILIE FLEURY

Adrianus, ein angehender Medicus

César, sein Bruder, ein Kaufmann

Josselin, ihr Vater

Hélène, Césars Weib

Michel, Césars und Hélènes Sohn

Sybil, ihre Tochter

VARENNES-SAINT-JACQUES

Bénédicte Marcel, der Bürgermeister

Louise Marcel, seine Tochter

Luc Duchamp, der Zunftmeister der Knochenhauer und Kürschner

Edmé, der Zunftmeister der Weber, Walker und Tuchfärber

Laurent, der Zunftmeister der Bader, Bartscherer und Wundärzte

Philibert Leblanc, der Stadtarzt

Jacques, ein alter Wundarzt

Fernand, ein Webergeselle

Théoger Le Roux, ein Ratsherr

Amédée Travère, ein Ratsherr

Everard Deforest, der Stadtkämmerer

Thierry de Châtenois, der königliche Vogt

Gosselin, ein Bäckergeselle

Deniselle, eine alte Kräuterfrau

Vater Severinus, ein Priester

Pierre, ein Webergeselle und Flagellant

Jean, ein blinder Zimmermann

DAS JUDENVIERTEL

Léa, eine Heilerin

Baruch ben Abraham, ihr Vater; Rabbiner und Apotecarius

Solomon ben Abraham, sein Bruder, ein Kaufmann

Judith, Solomons Frau

Esra und Zacharie, ihre Söhne

Aaron ben Josué, ein Geldverleiher und Kaufmann

Haïm, der Fleischer

Malka, eine junge Frau

Eli, ein Bäckergehilfe

Alisa, ein hübsches Mädchen

David Levi, ihr Vater, ein Edelsteinhändler

Moser Fyvelmann, ein Talmudschüler aus Straßburg

Ruth, eine alte Frau

Uriel und Gershom, zwei alte Männer

MONTPELLIER

Hervé Laxart, ein Wundarzt

Madeleine, Hervés Weib

Jacobus, ein Student der Medizin

Hermanus, ein Student der Medizin

Doctor Girardus, ein Lehrer an der Medizinschule zu Montpellier

SONSTIGE

Meir ben Jitzchak, ein jüdischer Kaufmann aus Erfurt

Matthias, ein Flagellant

Bruder Aldus, ein Mönch des Antoniusordens

Tommaso Accorsi, ein Florentiner Bankier

HISTORISCHE PERSONEN

Philippe VI., König von Frankreich

Edward III., König von England

Clemens VI., Papst

Gérard de Saint-Dizier, Dekan der Medizinischen Fakultät zu Paris

Pierre Gas de Saint-Flour, ein Pariser Magister und Arzt

Karl IV., König des Heiligen Römischen Reiches

Prolog

AUGUST 1331

Heiliges Römisches Reich

Der Mörder kauerte in der Finsternis und lauschte dem Heulen der Dämonen.

Es mussten Dämonen sein: Keine menschliche Kehle wäre imstande, solche Laute hervorzubringen. Schrilles Geschrei drang in das Kellerverlies, kehliges Kichern, schnaufendes Stöhnen. Zweifellos, draußen in der Nacht tanzten Luzifers Horden.

Sind sie gekommen, mich zu holen?

Gott hätte allen Grund, seine Seele in die Hölle zu schleudern. Der Mörder hatte ein Verbrechen begangen und den Himmel erzürnt. Noch aber weilte er unter den Lebenden. Er hätte erwartet, den Teufel erst kennenzulernen, wenn sein Kadaver mit gebrochenem Genick vom Galgen baumelte. War Satan ungeduldig und wollte nicht auf den Henker warten?

Der Mörder biss die Zähne zusammen und robbte durch das faulige Stroh. Das Verlies war modrig und feucht und so niedrig, dass ein Mann darin nur gebückt gehen konnte. Bei jeder Bewegung schmerzte sein Rücken von den Malen der Folter, unter der er alles gestanden hatte: seine tatsächlichen Verbrechen und ein paar erfundene, damit die Tortur endlich aufhörte. Die Wunden verheilten schlecht. Außerdem war er schwach. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Er konnte sich nicht erinnern. Wegen der Hungersnot im vergangenen Winter verschwendete man kein kostbares Getreide an einen Todgeweihten. Nur etwas Wasser gab man ihm gelegentlich. Wobei es lange her war, dass der Wächter den Eimer gefüllt hatte. Der Mörder war so durstig, dass jeder Atemzug seinen Rachen brennen ließ.

Er kroch zur einzigen Stelle, an der man aufrecht stehen konnte. Ein Schacht befand sich über seinem Kopf, eine breite Spalte im Fels, die zwei Klafter steil nach oben führte und an einem rostigen Eisengitter endete, das auf den Burghof wies. Bei Tag ließ der Schacht spärliches Licht in den Kerker … und nicht nur Licht. Manchmal pissten die Kinder des Gesindes durch das Gitter, wie der Mörder am ersten Tag leidvoll erfahren hatte. Seitdem schlief er auf der anderen Seite der Zelle.

Er hielt sich an der Mauerkante fest und zog sich ächzend hoch. Der Burghof war in Fackelschein getaucht. Das Heulen und Wimmern wurde immer lauter. Ganz in der Nähe des Gitters wisperte eine Stimme.

»Unrein. Sie sind unrein, nicht wahr, mein Küken?«, krächzte ein Dämon. »Ja, das sind sie. Das haben wir gleich gemerkt, du und ich. Uns entgeht nichts. Mein Küken, mein liebes kleines Küken. Wir sind so klug, so klug. Nicht wie diese Bauerntrampel. Diese stinkenden, ungebildeten Tölpel. Unrein sind sie, unrein …« Der Dämon kicherte meckernd.

Der Mörder schluckte. Als sich ein Schatten im Fackellicht bewegte, duckte er sich hastig. Vielleicht, wenn er sich still verhielt, fanden ihn die Dämonen nicht.

Ein törichter Gedanke. Satan sah alles, hörte alles, wusste alles. Er würde ihn aufspüren und seine Seele mitnehmen in die Hölle.

Der Mörder sank zu Boden, saß mit dem Rücken an der feuchten Felswand, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen.

Irgendwann vernahm er stolpernde Schritte. Jemand ging, nein, torkelte die Treppe hinab und prallte gegen die Kerkertür. Der Mörder widerstand dem Drang, den Kopf einzuziehen und wie ein kleiner Junge die Knie mit den Armen zu umschlingen. Ungeschickt wurde der Schlüssel ins Schloss geschoben, und die Tür öffnete sich. Der Wächter stand da, in einer Hand eine Fackel, in der anderen den Wassereimer. Er stierte den Mörder an, als sähe er ihn zum ersten Mal, reglos wie ein Altarbild, bis plötzlich seine Wange zu zucken anfing. Der Wächter rammte die Fackel in die Wandhalterung, tat einen Schritt in die Zelle und zischte einen unverständlichen Fluch. Dann ließ er den Eimer fallen und kratzte sich an Armen und Beinen. Er begann zu stöhnen, erst leise und beinahe lustvoll, dann laut und voller Pein, während er sich immer hektischer kratzte. Schließlich brach er in die Knie, kippte zur Seite und wand sich in Krämpfen im Stroh.

Der Mörder starrte den Besessenen an. Der Wächter krümmte sich, strampelte mit den Beinen und schlug keuchend mit den Fäusten auf den Boden. Endlich kam er zur Ruhe. Speichel troff aus seinem offenen Mund, er atmete flach.

Hilf mir, flehte sein trüber Blick.

Der Mörder schloss die Augen, öffnete sie wieder und schaute zur offenen Zellentür.

Da begriff er.

Satan war nicht hier, um ihn zu holen.

Er wollte ihn retten.

Der Mörder richtete sich auf und hielt sich so weit wie möglich von dem Besessenen fern, als er aus der Zelle schlüpfte. Schritt für Schritt quälte er seinen zerschundenen Leib die Stufen hinauf, beide Hände an der Wand. Er kam in einen finsteren Raum; hier hatten sie ihn gefoltert, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte. So schnell er konnte, taumelte er weiter, die Treppe hinauf zu einer Tür, die er einen Spalt öffnete.

Vor ihm lag die Halle. Wappenschilde und Hirschgeweihe schmückten die Wände. Wenige Schritte vor ihm lag ein Knecht und gebärdete sich wie der Besessene im Kellerverlies, nur dass seine Krämpfe noch viel schlimmer waren. Grunzend und schnaufend wälzte er sich auf dem Boden, jeder Muskel in seinem Leib schien unkontrolliert zu zucken.

Der Burgherr hockte mitten auf der Tafel, mit seinem gekrümmten Rücken und den seitlich weggespreizten Knien erinnerte er den Mörder an einen grotesken Wasserspeier. Der Mann klaubte Brot, Gemüse und Fleisch von den Platten, stopfte sich die Speisen in den Mund und schluckte sie, ohne zu kauen. Fett triefte auf sein Gewand, Essensreste klebten ihm im Bart. Sein Weib saß breitbeinig auf der Bank und hatte sich das Kleid zerrissen, sodass der Mörder ihre nackten Brüste sehen konnte. Sie kratzte sich Arme und Schultern blutig und weinte dabei.

Der Mörder huschte geduckt in die Halle und hielt sich im Schatten, bis er begriff, dass niemand Notiz von ihm nahm. Der Burgherr starrte ihn sogar geradewegs an, während er mit den Zähnen das Fleisch von einer Gänsekeule riss. Vorsichtig trat der Mörder zur Tafel und fand einen gefüllten Bierkrug, den er auf einen Zug leerte.

Er seufzte. Hatte er je etwas Erquickenderes getrunken?

Sogleich fühlte er sich kräftiger. Er nahm eine Wurst an sich und biss davon ab, während er zum Ausgang der Halle schlurfte.

Der Burghof war erfüllt von Geschrei und zuckenden Schatten.

Der Wächter auf dem Wehrgang zerrte an seinem Panzerhemd, als er versuchte, die juckenden Arme freizulegen. Schließlich gab er auf und scheuerte sich wie ein Wildtier an der Zinne, das Gesicht eine Grimasse der Qual. Eine junge Magd taumelte aus der Küche, brach zusammen und wand sich in Krämpfen. Neben dem Brunnen kniete der Pferdeknecht, tauchte immer wieder den Kopf in den Wassereimer und schrie: »Es brennt, es brennt so sehr! Hilf mir, Herr! Mach, dass es aufhört.«

Kauend stieg der Mörder die Stufen hinab und spähte zu dem Turm hinüber, in dem er gefangen gewesen war. Eine Gestalt saß am Rande des Fackelscheins auf der nackten Erde – war das der Kaplan? Der Mann hielt ein totes Huhn auf dem Schoß und strich dem Tier zärtlich über das Gefieder.

»Unrein sind sie, allesamt«, brabbelte er. »Scheußlich, einfach scheußlich. Wir sollten gehen, mein Küken. Verschwinden sollten wir, bevor sie uns noch beschmutzen.«

Der Mörder schleppte sich über den Hof. Seine Beine waren kaum imstande, sein Gewicht zu tragen. Beim Stall fand er eine Heugabel, die er als Krücke benutzte. So ging es besser. Er schlurfte zum Torhaus und aß die restliche Wurst. Er begegnete mehreren Besessenen, die kicherten und schrien und weinten, die sich die Haut blutig kratzten, in wilden Krämpfen zuckten oder Unsinn faselten. Doch keiner hielt ihn auf, keiner schien ihn auch nur zu bemerken.

Obwohl tiefste Nacht, hatte niemand die Zugbrücke heraufgezogen und das Gitter herabgelassen: Das Burgtor stand offen.

Der Mörder lächelte. Er stützte sich auf die Heugabel, setzte langsam einen Fuß vor den anderen und trat hinaus in die Freiheit.

Erstes BuchDer Wundarzt

»Alles, was die Heilmittel nicht heilen, heilt das Eisen; alles, was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer; was aber das Feuer nicht heilt, das muss als unheilbar gelten.«

Hippokrates von Kos

Kapitel eins

JUNI 1346

Montpellier, Königreich Mallorca

Als der letzte Student Platz genommen hatte, trat Doctor Girardus von der ehrwürdigen Medizinischen Fakultät Montpellier an den Katheder und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Was er sah, erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Vorne saßen die Studenten aus den Mönchsorden, in der Mitte die Adelssöhne, dahinter jene aus bürgerlichen Verhältnissen; ganz hinten die Armen, die auf mildtätige Stiftungen angewiesen waren. Die Sitzordnung entsprach exakt der von Gott eingerichteten ständischen Gesellschaft. Girardus schätzte es, wenn alles ordentlich war.

Es gab sogar einige Juden und Muslime unter seinen Zuhörern. Die Universität von Montpellier rühmte sich besonderer Offenheit und gestattete auch Nichtchristen ein Studium. Frauen waren selbstredend keine zugegen. Weibliche Studenten – allein der Gedanke ließ den Doctor schmunzeln. Chaos und Verwirrung wären die Folgen solcherart falsch verstandener Toleranz.

Girardus gab dem Pedell ein Zeichen, woraufhin der Hilfslehrer mit dem Stab aufstampfte. Sogleich kehrte Ruhe ein. Girardus öffnete sein Buch.

»Wir hören einen Abschnitt aus ›Über die Natur des Menschen‹ des Hippokrates von Kos«, verkündete der Doctor und begann seinen gelehrten Vortrag in lateinischer Sprache. Girardus hatte sich entschieden, über die Vier-Säfte-Lehre zu referieren, jene Theorie, auf der jegliches medizinisches Wissen basierte, verbreitet von Hippokrates und verfeinert von Galen, den beiden antiken Patriarchen des Arztberufes. Wer die Vier-Säfte-Lehre beherrschte, war gewappnet für die Krankenpflege und konnte es mit jedem Leiden aufnehmen.

»Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, sie stellen die Natur seines Körpers dar, und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund«, trug Girardus vor. »Gesund ist er nun besonders dann, wenn diese Substanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind; Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allen genannten gemischt ist.«

Die Studenten schrieben eifrig mit. Girardus beschloss, spontan ein wenig von dem autoritativen Text abzuweichen. Die Vorlesung vertrug etwas akademische Kühnheit. Er hatte nämlich eigene Überlegungen zur Vier-Säfte-Lehre angestellt und einen Kommentar verfasst, der Hippokrates’ Theorie klug, aber respektvoll ergänzte. Ja, man konnte durchaus sagen, dass der Kommentar die erhabene Symbiose aus Hippokrates’ Weisheit und seiner eigenen Genialität darstellte.

Als Girardus gerade mit seinen Ausführungen beginnen wollte, rief jemand: »Bei allem Respekt, Doctor, aber ich kann es nicht mehr hören!«

Stirnrunzelnd hob Girardus den Kopf. Dies war eine Vorlesung, keine Disputation – Lautäußerungen der Zuhörer waren weder üblich noch erwünscht. Was einige Studenten nicht davon abhielt zu kichern.

»Ich meine, schon wieder die Vier-Säfte-Lehre«, fuhr der Zwischenrufer fort. »Es vergeht keine Woche, ohne dass einer der Doctoren über die vier Säfte, die vier Temperamente oder die vier Elemente referiert. Ich bin sicher, jeder hier kann die Theorie im Schlaf aufsagen. Lernen wir auch einmal etwas anderes?«

Girardus war ein alter Mann; seine Augen und Ohren waren nicht mehr die besten, und er brauchte einen Moment, bis er den Störenfried ausgemacht hatte. Adrianus, natürlich. Ein Medizinstudent im letzten Jahr. Fraglos ein kluger Kopf. Leider auch ein Unruhestifter, dessen Überschuss an Blut und gelber Galle ihn dazu trieb, ständig zu widersprechen.

»Seit fünf Jahren sitze ich hier und höre Euch Doctoren zu, wie Ihr Galen und die anderen antiken Autoritäten zitiert«, fuhr Adrianus fort. »Wenn wir wenigstens einmal Hippokrates’ ›Über das Einrenken der Gelenke‹ hören würden. Aber nein, immer sind es die vier Säfte. Nachts träume ich schon davon, in einem Meer aus Schleim zu ertrinken. Wenn ich ein Bier genießen will, sehe ich einen Humpen mit gelber Galle vor mir. Und wenn ich ein Mädchen betrachte, kann ich mich nicht an ihren Rundungen erfreuen, weil ich mich immerzu frage, ob ihr Blut und ihre schwarze Galle im Gleichgewicht sind.«

Die Studenten johlten. Der Pedell sah sich gezwungen, mit dem Stab aufzustampfen und scharf Ruhe einzufordern.

Girardus’ Stimme knarzte vor Empörung. »Magister Adrianus, ich darf dich daran erinnern, dass wir alle nur Zwerge sind, die auf den Schultern von Riesen stehen. Nicht umsonst lautet das Motto der Medizinischen Fakultät: ›Olim Cous nunc Monspeliensis Hippocrates – In früherer Zeit war Hippokrates von Kos, heute ist er von Montpellier.‹ Wir tun gut daran, die antiken Autoritäten zu respektieren. Sie gründlich zu studieren ist die einzig nutzbringende Art des Lernens. Das gilt auch und besonders für dich.«

»Ich habe nichts gegen die antiken Meister.« Adrianus stand auf. »Aber würde es schaden, gelegentlich auch einmal etwas Neues zu lehren? Womöglich etwas, das uns beim Dienst am Kranken tatsächlich nützt?«

»Die Vier-Säfte-Lehre ist überaus nützlich«, entgegnete Girardus schneidend. »Wer dies bestreitet, ist hier fehl am Platz. Außerdem studiert ihr die Schriften des Constantinus Africanus und des Nicolas von Salerno und bekommt eine profunde Ausbildung in Astrologie!«

»Astrologie ist nicht eben das, was Roger Bacon unter pragmatischer Medizin versteht. Er rät den Ärzten, sich mehr auf die eigene Beobachtung statt auf die Sterne zu verlassen.«

Stille herrschte im Saal, als die Studenten gefesselt dem Wortgefecht lauschten. Girardus war entschlossen, den frechen Magister mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, ihn mit gelehrten Argumenten zu vernichten. »Roger Bacon glaubt auch, dass es eines Tages Wagen geben wird, die ohne jegliches Zugtier fahren, und dass die Menschen mit Fluggeräten zum Himmel aufsteigen werden. Der Mann ist ein Fantast!«

»Mag sein«, sagte Adrianus. »Aber wenigstens hatte er den Mut, überkommene Ansichten infrage zu stellen.«

»Ah.« Der Doctor lächelte dünn. »Und du hältst dich zweifellos für genauso mutig. Dann verrate uns doch, Magister Adrianus – was sollte die Medizinische Fakultät deiner Meinung nach lehren?«

»Wie wäre es mit Chirurgie?«

»Chirurgie ist das Feld des handwerklich ausgebildeten Wundarztes. Der akademische Physicus ist gehalten, den menschlichen Körper unversehrt zu lassen und daher von solch brachialen Methoden Abstand zu nehmen. Fünf Jahre Studium, und ich muss dir tatsächlich solche Selbstverständlichkeiten erklären!« In seinem Zorn nahm Girardus das Lehrbuch in beide Hände und schlug es dröhnend auf das Lesepult.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Chirurgie dem gelehrten Medicus verboten ist«, erwiderte Adrianus. »Aber vielleicht ist diese Regelung unzeitgemäß und töricht und sollte aufgegeben werden.«

»Der Papst selbst hat dies verfügt. Und du nennst es töricht?« Der Doctor schrie nun. »Seit zweiundzwanzig Jahren lehre ich an dieser Universität, aber so eine Frechheit ist mir noch nie untergekommen! Ich sollte dich vor deinen Kommilitonen vom Pedell züchtigen lassen!«

»Ich werde Euch schwerlich daran hindern können.« Adrianus besaß tatsächlich die Unverschämtheit, ihn anzugrinsen. »Zum Glück kenne ich einen guten Wundarzt, der nachher meine Blessuren kurieren wird.«

Das Gelächter der Studenten dröhnte Girardus in den Ohren. Der Doctor richtete einen zitternden Finger auf die Tür.

»Raus«, ächzte er mit erstickter Stimme. »Melde dich sofort beim Rektor.«

»Setz dich«, befahl der Pedell und verschwand in der Amtsstube des Rektors.

Man ließ ihn lange warten. Das war Teil der Strafe und sollte ihn Demut lehren. Adrianus machte das Beste daraus, indem er seine Gedanken treiben ließ und die Studenten beobachtete, die in dem steinernen Wohnhaus ein und aus gingen. Viele von ihnen waren Mönche; besonders an der Theologischen Fakultät waren sie stark vertreten. Auch Adrianus hätte man für einen Ordensbruder halten können, denn wie alle Studenten und Lehrer trug er eine Tonsur und ein schlichtes Gewand. Sämtliche Mitglieder der universitas, der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, gehörten dem Klerus an und unterstanden dem Papst.

Adrianus aber war kein Mönch. Er war der Zweitgeborene des Kaufmanns Josselin Fleury und kam aus der Freien Stadt Varennes-Saint-Jacques im Herzogtum Lothringen. Sein richtiger Name war Adrien, aber da man an der Universität ausschließlich Latein sprach, hatte er ihn entsprechend angepasst. Vor nunmehr acht Jahren war er nach Montpellier gegangen, um zu studieren – zuerst die Sieben Freien Künste an der Artistenfakultät, anschließend die Heilkunst an der renommierten Medizinschule. Denn sein sehnlichster Wunsch war es, Arzt zu werden.

Wobei er sich, was das betraf, schon lange nicht mehr sicher war. Die staubtrockenen Ausführungen eines Girardus, die endlosen Vorlesungen über Astrologie, die kritiklose Verehrung von Galen und Hippokrates seitens der Doctoren – all das erschien ihm inzwischen wie Zeitverschwendung. Wollte er wirklich sein restliches Leben damit verbringen, die Säfte seiner Patienten mit Diäten und fragwürdigen Trünken ins Gleichgewicht zu bringen, obwohl es so viel bessere Methoden gab, ihre Leiden zu lindern?

Er seufzte. Nun, er war es seiner Familie schuldig, zumindest das Studium zu beenden. Nur noch wenige Monate bis zur letzten Prüfung. So lange würde er noch durchhalten. Und danach würde man sehen.

Der Pedell öffnete die Tür und forderte ihn mit strengem Blick auf hereinzukommen. Adrianus trat an den Tisch, hinter dem der Rektor thronte, der gemeinsam mit dem Kanzler die vier Fakultäten leitete und die Gerichtsgewalt über die universitas ausübte. Ein eigentümlich dünner Mann und ein unangenehmer Charakter, der für Adrianus’ Geschmack seine Macht zu sehr genoss.

Der Rektor blickte ihn stechend an und sagte: »Als du dich vor acht Jahren an der Artistenfakultät eingeschrieben hast, hast du einen Eid geleistet. Du erinnerst dich?«

»Gewiss.«

»Du hast damals geschworen, die Oberen der Universität zu achten und dich ihnen in Demut unterzuordnen, richtig?«

Adrianus nickte knapp.

»Und trotzdem hast du Doctor Girardus, einen geachteten Lehrer und Arzt, in seiner Lectura attackiert und ihn lächerlich gemacht – und das nicht zum ersten Mal. Was ist nur in dich gefahren?«

»Ich wollte Doctor Girardus nicht attackieren«, verteidigte sich Adrianus. »Ich habe lediglich die Frage aufgeworfen, warum wir immerzu die Vier-Säfte-Lehre hören müssen und kaum je etwas anderes.«

»Es steht dir nicht zu, deine Lehrer zu kritisieren!« Der Rektor schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du bist nur ein Magister. Du kannst nicht beurteilen, welches Wissen angehende Ärzte für ihren Beruf benötigen. Deine Aufgabe ist es, schweigend der Lectura zu folgen. Hast du mich verstanden?«

Adrianus zwang sich, den Blick zu senken. »Gewiss.«

»Der Pedell berichtet außerdem, du hättest den Heiligen Vater verhöhnt. Ich warne dich, Adrianus. Ein weniger nachsichtiger Mann als ich könnte das für Blasphemie halten.«

Der Rektor ließ seinen Worten Schweigen folgen.

»Kommen wir also zu deiner Strafe«, erklärte er schließlich. »Da die Vergangenheit gezeigt hat, dass dich die üblichen Sanktionen nicht beeindrucken, ist es an der Zeit, dich da zu treffen, wo es schmerzt: an der Geldkatze. Für deine Impertinenz wirst du eine Buße von zwanzig Sous zahlen.«

Ein ganzes Pfund Silber – eine Menge Geld, selbst für einen Kaufmannssohn. Adrianus wäre es fast lieber gewesen, der Pedell hätte ihn gezüchtigt. Mit zusammengekniffenen Lippen zählte er dem Rektor die Münzen in die Hand.

»Ich erwarte, dass du dich besserst – das ist meine letzte Warnung«, sagte der Rektor. »Jetzt geh mir aus den Augen.«

Draußen wurde Adrianus von seinen beiden besten Freunden erwartet. Jacobus und Hermanus waren wie er dreiundzwanzig Jahre alt und studierten ebenfalls im letzten Jahr Medizin. Adrianus ging ihnen grinsend entgegen.

»Karzer? Stockhiebe? Latrinenputzen? Was ist es diesmal?«, fragte Hermanus, der lässig an einer Mauer lehnte.

»Der Mistsack hat mir eine Geldbuße aufgebrummt.«

»Wie viel?«

»Zwanzig Sous«, antwortete Adrianus.

Sein Freund machte eine wegwerfende Handbewegung. Hermann von Plankenfels, wie er eigentlich hieß, entstammte einer steinreichen Familie des deutschen Ritterstandes – Geld bedeutete ihm nichts. Tatsächlich studierte er nur, weil er nicht wusste, was er sonst mit seinem Leben anfangen sollte. Bei seiner Aufnahme in die Artistenfakultät hatte sein Vater der Universität tausend Florins gespendet, weshalb die Oberen Hermanus alles durchgehen ließen. Hermanus nutzte diese Freiheit schamlos aus. Er war für jeden Unfug zu haben und scherte sich nicht um Verbote. Jetzt trug er beispielsweise ein protziges Gewand in auffälligen Farben, auf dem Kopf einen kecken Hut und am Gürtel einen juwelenbesetzten Dolch, obwohl all dies gegen die Statuten der universitas verstieß.

»Vergiss das Geld. Dein Vater wird dir schon neues schicken«, sagte Hermanus munter. »Hauptsache, du hast dich wieder einmal ins Gespräch gebracht. Von Girardus’ Wutanfall wird man noch in zehn Jahren reden.« Er klopfte Adrianus auf den Rücken. »Das war ein großartiger Spaß und genau das, was diese sterbenslangweilige Lectura gebraucht hat. Meinen Glückwunsch.«

»Das war kein Spaß, sondern eine ausgemachte Torheit«, widersprach Jacobus, »und du solltest ihn nicht auch noch dafür loben. Wie oft wurdest du schon zum Rektor zitiert? Fünfmal? Sechsmal?«, wandte er sich an Adrianus. »Seine Geduld ist gewiss bald erschöpft. Willst du so kurz vor der Prüfung der Universität verwiesen werden?«

Der kleine, quirlige Jude – sein Geburtsname lautete Jacob ben Amos – war in vielerlei Hinsicht das exakte Gegenteil von Hermanus. Immerzu machte er sich Sorgen. Hermanus und er gerieten deswegen oft aneinander. Aber wenn es darauf ankam, hielten die beiden zusammen.

»Sie werden mich schon nicht hinauswerfen. So schlimm war die Sache auch wieder nicht«, sagte Adrianus und dachte unwillkürlich an die letzte Warnung des Rektors.

»Eben«, stimmte Hermanus ihm zu. »Außerdem werden sie sich hüten, ihren besten Studenten und die Zierde der Medizinischen Fakultät vor die Tür zu setzen.«

Adrianus klatschte in die Hände. »Jetzt genug davon. Genießen wir lieber das herrliche Wetter.«

Hermanus nickte. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Gehen wir in die Taverne. Du kannst gewiss einen Schluck vertragen.«

»Ich habe kein Geld mehr.«

»Kein Problem. Unser jüdischer Freund gibt einen aus.«

»Wieso weiß der jüdische Freund davon nichts?«, entgegnete Jacobus.

»Nimm doch nicht immer alles so ernst, was ich sage. Wir trinken selbstverständlich auf Kosten der ebenso vornehmen wie freigiebigen Familie von Plankenfels – der Herr segne meinen Vater und seine überquellenden Schatullen, möge mir beides noch lange erhalten bleiben«, erklärte Hermanus und tätschelte seine prallvolle Geldkatze.

»Eigentlich beginnt gleich die Astrologie-Lectura«, gab Jacobus zu bedenken.

»Nichts, was wir nicht schon tausendmal gehört haben, oder?«, sagte Adrianus.

»Auch wieder wahr.«

Sie schlenderten los. Montpellier lag auf zwei Hügeln, ein gewaltiges Mosaik aus leuchtend roten Ziegeldächern und sandfarbenen Mauern, die in der salzigen Luft verwitterten und auf Adrianus ungeheuer alt wirkten. Labyrinthische Gassen schlängelten sich durch das Häusergewirr und führten vorbei an engen Treppchen, bröckelnden Torbogen und efeuüberwucherten Hofmauern. Der Boden unter ihren Füßen war gepflastert. Abwasser aus den Wohnhäusern und den Werkstätten der Tuchfärber sammelte sich in einer Rinne und spülte allerlei Unrat fort. Die Mittagssonne schien heiß herab und drängte die Schatten in Ecken und Winkel zurück, doch vom Meer kam ein frischer Wind, der nach Fisch und Algen roch, nach Bilgewasser und dem salzverkrusteten Holz der Handelsschiffe in den Häfen. Eine Art Fernweh ergriff Adrianus. Er verspürte den Wunsch, alles hinter sich zu lassen und anderswo ganz neu anzufangen.

»Eins nehme ich dir nicht ab«, meinte Hermanus.

»Was denn?«

»Dass du dich wegen Girardus’ Lieblingsthema nicht mehr an Mädchen erfreuen kannst. Ich fürchte, dafür bedarf es keiner Vier-Säfte-Lehre, alter Freund. Es muss nur ein halbwegs ansehnliches Weibsstück des Weges kommen, schon läufst du knallrot an und kriegst kein vernünftiges Wort mehr heraus.«

Adrianus brummte unwillig. Seine Unsicherheit gegenüber dem anderen Geschlecht war Hermanus und Jacobus nicht verborgen geblieben. Sie kannten ihn einfach zu gut.

»Deswegen müssen wir dringend etwas unternehmen. Das kann so nicht weitergehen.«

»Danke, aber ich komme zurecht.«

»Schüchternheit, Einzelgängertum, ein Hang zum Grübeln – schuld daran ist natürlich ein Übermaß an schwarzer Galle«, erklärte Hermanus.

»Natürlich«, grunzte Adrianus.

Am späteren Nachmittag begab sich Adrianus zu einer kleinen Kirche, in der die Artistenfakultät Vorlesungen abhielt. Während die Studenten hereinströmten und auf dem Boden Platz nahmen, stieg Adrianus auf die Kanzel und breitete seine Bücher aus.

Die Artes liberales, die Freien Künste, galten als sieben Stufen, die zur Weisheit führten, denn sie dienten der Vorbereitung auf ein höheres Studium an der theologischen, der juristischen oder der medizinischen Fakultät. Adrianus hatte sie erfolgreich erklommen, aber ob er dadurch weise geworden war, bezweifelte er bisweilen. Zumindest hatte er den akademischen Titel des Magister artium erworben, mit dem die Verpflichtung einherging, die jüngeren Studenten zu unterrichten.

Seine Schüler kamen aus Frankreich, Aragon, Italien, England und den deutschen Ländern; sie waren zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt und hatten im vergangenen Herbst an der Artistenfakultät angefangen. Adrianus betrachtete die verschüchterten Gesichter. Diese Jungen fühlten sich verloren in der fremden Stadt. Manch einer lag gewiss nächtelang wach und fragte sich, ob er dem schwierigen Unterricht je gewachsen sein würde. Denn die Rats- oder Domschule in der Heimat hatte sie bestenfalls oberflächlich auf das Studium vorbereitet.

Genau wie ich damals. Adrianus erinnerte sich noch gut an sein erstes Jahr an der Artistenfakultät. Große Träume, aber schmerzliches Heimweh und die ständige Furcht vor den Magistern, die schnell mit der Zuchtrute bei der Hand waren. Adrianus hingegen hatte noch nie einen seiner Studenten geschlagen. Was diese Jungen brauchten, waren Respekt und Freundlichkeit, keine übergroße Strenge.

Er unterrichtete das Trivium, das aus den Fächern lateinische Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestand. Er schlug sein Ars medicinae auf, einen Sammelband mit übersetzten Schriften von Galen, Hippokrates und anderen antiken Heilkundigen. Gestern hatte er überlegt, daraus vorzutragen, damit seine Studenten anhand der alten Texte ihr Latein verfeinern und zugleich etwas medizinisches Wissen erwerben konnten. Aber wegen des Vorfalls heute Morgen erschien ihm diese Idee unsinnig. Falls die Jungen später Medizin studierten, würde man sie noch oft genug mit Galen traktieren. Außerdem war bei den meisten das Latein noch nicht gefestigt genug für einen derart komplexen Text. Er beschloss daher, weiter an den Grundlagen zu arbeiten, öffnete das Ars minor des römischen Grammatiklehrers Donatus und begann einen Vortrag über die verschiedenen Wortarten. Wichtige Passagen ließ er die Studenten wiederholen, bis sie das Wissen verinnerlicht hatten.

Er beendete die Vorlesung zum Angelusläuten und ging nach Hause. Die Sonne versank soeben hinter den Dächern und überzog die Stadt mit blutrotem Licht. In den Höfen und Torwegen sammelten sich Schatten wie Besucher mit schlechten Neuigkeiten. Adrianus durchquerte das Stadtzentrum, wo die Kaufleute gerade die Arbeit einstellten und aus der Markthalle strömten. Montpellier war berühmt für sein Tuchgewerbe und lockte Händler aus der ganzen Christenheit an, aber auch Juden aus Palästina und dem Sultanat der Mamelucken, die im Frühjahr mit ihren Schiffen die beiden Seehäfen der Stadt anliefen und auf den hiesigen Märkten duftende Gewürze, kostbare Farbstoffe und funkelnde Juwelen anpriesen. Die Herbergen teilten sich die Kaufleute mit Pilgern, die unterwegs waren nach Santiago de Compostela.

Adrianus ließ den Trubel hinter sich und bog in die Gasse der Wundärzte und Steinschneider ein, wo er ein Haus betrat, das zurückgesetzt hinter einem blühenden Kräutergarten stand. Anders als viele seiner Kommilitonen, die in schmutzigen Absteigen oder bei den Doctoren in winzigen Mietquartieren hausten, genoss Adrianus dank des Wohlstands seiner Familie ein komfortables Leben. Er hätte sich eine eigene Unterkunft leisten können, doch er zog es vor, bei dem Wundarzt Hervé Laxart zu wohnen, dem er als Gehilfe zur Hand ging.

Im Eingangsraum begegnete ihm Madeleine, die gerade den Boden fegte. Hervé und sie hatten vor einigen Monaten geheiratet, und Adrianus hatte sich noch immer nicht an die Anwesenheit einer Frau in diesem Haus gewöhnt.

»Ich habe Suppe gekocht. Es ist noch welche da, wenn du magst.«

»Hab Dank«, antwortete er einsilbig und mied ihren Blick. »Wo ist Hervé?«

»Nebenan. Er arbeitet noch.«

Ohne ein weiteres Wort stieg er die Treppe hinauf. Es lag nicht an Madeleine, dass er sich derart linkisch benahm. Sie gab sich redlich Mühe und behandelte ihn überaus freundlich. Schuld war die verfluchte Schüchternheit, mit der er geschlagen war. Dass Madeleine sehr schön war, machte es nicht eben leichter. Manchmal fragte er sich, ob seine Befangenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht nicht der wahre Grund war, warum er ein Studium aufgenommen hatte: In der abgeschotteten Männerwelt der Universität lief man kaum je Gefahr, Frauen zu begegnen.

In der Küche aß er hastig etwas Suppe und Brot. Den letzten Bissen kauend ging er hinunter zum Behandlungsraum, wo Hervé gerade einen Verletzten versorgte. Während der akademische Physicus allzu engen Kontakt mit seinen Patienten vermied und Krankheiten vor allem mit gelehrten Ratschlägen behandelte, bestand der Alltag des handwerklich ausgebildeten Wundarztes buchstäblich aus spritzendem Blut, aufgeschlitzten Gedärmen und gesplitterten Knochen. Er machte all das, wofür sich ein studierter Medicus zu fein war: Er richtete gebrochene Gliedmaßen, nähte Wunden und entfernte Geschwüre. Zweifellos eine schmutzige und mitunter grausige Arbeit, aber in Adrianus’ Augen eine, die größte Bewunderung verdiente.

Die Kammer war vollgestopft mit medizinischen Utensilien; es gab ein Regal für Schröpfköpfe und Urinbecher, ein zweites für chirurgische Instrumente und Verbandsmaterial, ein drittes für heilkundliche Schriften. Kräuter hingen zum Trocknen an der Decke, mehrere Truhen enthielten Phiolen und Tiegel mit den verschiedensten Arzneien, Salben und Tinkturen. Auf dem Fenstersims standen zwei kleine Figuren von Cosme und Damien, den Schutzheiligen der Wundärzte.

Neben dem Behandlungsstuhl lag das Operationsbesteck bereit: verschiedene Skalpelle, die Knochensäge, der Schädelbohrer, der Pelikan zum Zahnziehen. Momentan brauchte Hervé keines davon. Der Verletzte, ein Zimmermann, hatte eine klaffende Wunde am Oberarm; im Fleisch steckten Holzsplitter, die Hervé mit der Pinzette entfernte. Der Zimmermann biss vor Schmerz die Zähne zusammen.

»Was ist passiert?«, fragte Adrianus.

»Der arme Kerl hat sich an einem morschen Balken den Arm aufgerissen.«

»Soll ich Euch zur Hand gehen, Meister?«

»Nicht nötig, ich bin fast fertig. Aber du könntest Schlafschwämme herstellen. Wir haben fast keine mehr.«

Hervé war ein gutaussehender Mann von dreißig Jahren mit nachtschwarzem Haar und aristokratischen Gesichtszügen, die darüber hinwegtäuschten, dass er einfachen Verhältnissen entstammte und sich mit Fleiß und Können zu einem geachteten Mitglied der wundärztlichen Zunft hochgearbeitet hatte. Der durchdringende Blick seiner waldgrünen Augen hatte Adrianus anfangs irritiert, doch schon bald hatte er gemerkt, dass sein Lohnherr von freundlichem Wesen war. Hervé hatte die Gabe, sich voll und ganz auf sein Gegenüber einzulassen und höchst konzentriert zuzuhören, wodurch der Eindruck entstehen konnte, er starre einen an.

Adrianus ging in seine Kammer, die neben dem Behandlungsraum lag. Er setzte sich an den Tisch, verrührte Opium, Nachtschatten, Bilsenkraut und Mandragora mit Wasser und tränkte mit dem Gemisch mehrere Schwämme. Mit Schlafschwämmen konnte man Kranke betäuben, um ihnen die Schmerzen einer Amputation oder eines anderen schweren Eingriffs zu ersparen. Die Methode war nicht ohne Risiko. Dosierte man die verschiedenen Ingredienzen falsch, erwachte der Patient womöglich nicht aus der Ohnmacht. Deshalb arbeitete Adrianus mit größter Sorgfalt.

Hervé verband derweil den Zimmermann und bat ihn, in zwei Tagen wiederzukommen. Für seine Dienste verlangte er kein Honorar. Hervé war ein amtlich bestellter Wundarzt und erhielt seinen Lohn von den Stadtherren.

Adrianus trug die Schale mit den Schlafschwämmen in den Behandlungsraum. Sein Lohnherr machte sich nicht die Mühe, sie zu kontrollieren. Er hatte schon vor Jahren gelernt, dass er sich auf seinen Gehilfen verlassen konnte. Als sie gemeinsam das Blut vom Behandlungsstuhl wuschen, unterdrückte Hervé ein Gähnen.

»Ich kann das machen«, sagte Adrianus. »Geht ruhig schon zu Bett, Meister.«

»Ich sollte wirklich schlafen – es war ein harter Tag. Hab Dank.« Der Chirurgus wünschte ihm eine gute Nacht.

Adrianus reinigte die Instrumente und räumte die Werkstatt auf, bevor auch er ins Bett kroch.

Es war längst dunkel, doch er fand keinen Schlaf. Immerzu dachte er an seine Auseinandersetzung mit Girardus und das Stelldichein mit dem Rektor. Er hatte einst bei Hervé angefangen, um sich ein Zubrot zu verdienen. Doch um das Geld ging es ihm schon lange nicht mehr. Er arbeitete hier, weil er von Hervé mehr lernte als von allen Doctoren der Medizinischen Fakultät zusammen.

Das war die triste Wahrheit.

Weit nach Mitternacht schlief er endlich ein. Er träumte von Frauen, die alle so schön waren wie Madeleine, und er konnte sogar mit ihnen sprechen, ohne rot zu werden.

Kapitel zwei

Am nächsten Morgen traf Adrianus die anderen Studenten vor dem Anatomieraum. Die jungen Männer diskutierten aufgeregt.

»Hast du schon gehört?«, fragte Jacobus. »Sie haben endlich den Schwarzen Louis gefasst.«

Adrianus runzelte die Stirn. »Sollte ich den kennen?«

»Ich wusste nicht, dass du dein halbes Leben in einer Höhle verbracht hast«, spottete Hermanus. »Der Papst residiert übrigens seit vierzig Jahren in Avignon.«

»Der Schwarze Louis ist der schlimmste Räuber der Gegend«, erklärte Jacobus. »In den letzten Jahren hat er draußen vor der Stadt Dutzende Menschen ausgeraubt und nicht wenige erschlagen. Wie kann es sein, dass du das nicht weißt?«

»Meine Aufmerksamkeit gilt eben mehr den gelehrten Ausführungen unserer Doctoren statt dem Tavernentratsch«, sagte Adrianus. »Aber jetzt ist der Schwarze Louis hinter Gittern, sagst du?«

»Man hat ihn gestern aufgespürt und überwältigt. Die Konsuln wollen kurzen Prozess mit ihm machen und ihn schon heute Abend hängen.«

»Ich werd mir das anschauen«, sagte Hermanus. »Seid ihr dabei?«

»Danke, ich verzichte«, meinte Adrianus.

»Ich auch.« Jacobus blickte den Deutschen missbilligend an. »Ich werde nie verstehen, wie du Gefallen an so etwas Scheußlichem wie einer Hinrichtung finden kannst.«

»In diesem öden Nest muss man jedes bisschen Unterhaltung nehmen, das man kriegen kann«, erklärte Hermanus ohne jede Scham.

Doctor Girardus erschien. Er würdigte Adrianus keines Blickes, als er den Anatomieraum aufschloss.

»Da ist jemand nachtragend«, murmelte Hermanus grinsend.

Die Studenten nahmen ihre Plätze auf den Bänken ein. Girardus trat an das Lesepult an der Stirnseite und öffnete ein Buch. Seine Gehilfen, ein fülliger Wundarzt und zwei jüngere Studenten, wuchteten einen Sack auf den Tisch in der Mitte des Saales und schnitten den Stoff auf. Zum Vorschein kam ein totes Schwein.

»Wir hören nun Galens Ausführungen zur Lage und Beschaffenheit der menschlichen Organe«, verkündete Girardus.

Die Gehilfen drehten das Schwein auf den Rücken. Der Wundarzt zückte ein Skalpell, schnitt die Bauchdecke auf und begann, in dem Kadaver herumzuwühlen, während Girardus über das menschliche Herz, die Leber und die Lunge referierte. Der Wundarzt deutete mit einem Zeigestock auf das jeweilige Organ, um den autoritativen Text zu veranschaulichen.

»Ich ertrage diesen Unsinn nicht länger«, stöhnte Adrianus leise.

»Sei still«, mahnte Jacobus. »Oder willst du wieder zum Rektor?«

Adrianus verkniff sich kritische Bemerkungen. Es wäre ohnehin sinnlos, mit Doctor Girardus zu streiten. Er wusste schon jetzt, wie der Disput ausgehen würde:

Adrianus: Wäre es nicht lehrreicher, mit einer menschlichen Leiche zu arbeiten?

Girardus: Die Fakultät untersagt das Sezieren von Menschen, wie du sehr wohl weißt.

Adrianus: An der Universität zu Bologna ist es erlaubt. Sollte die angesehene Medizinschule von Montpellier nicht ebenso fortschrittlich sein?

Girardus: Die Methoden anderer Universitäten gehen uns nichts an. Die Entscheidung der Fakultät steht fest.

Adrianus: Aber wie sollen wir lernen, wie die menschlichen Organe arbeiten, wenn wir nur das Innere eines Schweins zu sehen bekommen?

Girardus: Auch der große Galen sezierte ausschließlich Tiere, und was für ihn gut und richtig war, kann für uns kaum falsch sein.

Adrianus: Galen hatte leicht reden. Er war Gladiatorenarzt und konnte die menschliche Anatomie jeden Tag an zerstückelten Körpern studieren.

Girardus: Raus! Raus!

Nein, mit dem Doctor über den Nutzen von Tiersektionen zu diskutieren wäre reine Zeitverschwendung. Adrianus ließ die Lectura über sich ergehen und kritzelte auf seiner Wachstafel herum.

Ihr Lehrer sprach inzwischen über die Niere. Der Wundarzt, der dem Vortrag etwas nachhinkte und sich deswegen strafende Blicke von Girardus einhandelte, versuchte hektisch, das Organ freizulegen, indem er in dem Kadaver herumstocherte. Schließlich fluchte er vernehmlich und schöpfte die Gedärme mit beiden Händen aus der Bauchhöhle. Schmatzend plumpste der schleimige Klumpen in den Eimer, und der Wundarzt deutete strahlend auf die Niere.

»Schweinebraten«, sagte Jacobus angewidert. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Die Anatomiestunde hat mich eben hungrig gemacht.« Gierig spießte Hermanus ein Stück Fleisch mit dem Messer auf und stopfte es sich in den Mund.

»Wie könnt ihr Christen nur so etwas essen?« Jacobus bat den Wirt um eine Schüssel Rübensuppe. Adrianus tat es ihm gleich. Er musste sparen.

Sie saßen in ihrer bevorzugten Taverne und genossen die Sonne, die in den ummauerten Hof schien. Balken verliefen über ihren Köpfen, alt und von der Sonne ausgebleicht; wilder Wein umrankte das silbrige Holz wie die Natter den Stab des Äskulap. Lärmend strömte eine Schar Studenten herein, allesamt Mitglieder der Juristischen Fakultät. Sogleich verfinsterte sich Hermanus’ Miene. Er hatte einmal einen Studenten der Rechte beleidigt und ihm solch klangvolle Namen wie »Eselschänder« und »Dirnenpreller« verliehen, ohne zu ahnen, dass der junge Mann einem lombardischen Fürstenhaus entstammte. Das war das erste und einzige Mal in seiner akademischen Laufbahn gewesen, dass der Rektor nicht beide Augen zudrückte, sondern ihn für seine Verfehlung bestrafte. Seitdem hasste Hermanus alle Juristen.

Adrianus aß seine Suppe und beobachtete eine schwarze Katze, die auf der Hofmauer hockte. Das Tier starrte konzentriert eine Taube auf dem Tavernendach an. Als sich ein zweiter Vogel hinzugesellte, fing es an, sich zu putzen.

Katzen können immer nur über eine Sache nachdenken, kam es ihm in den Sinn. Ihr Köpfchen ist zu klein für einen zweiten Gedanken. Wenn sie an zwei Dinge gleichzeitig denken müssen, sind sie verwirrt.

Galen hätte dazu gewiss eine Meinung gehabt. Der alte Mistsack hatte bestimmt auch Katzen seziert.

Adrianus schob den leeren Napf von sich. »Wisst ihr, was wir tun werden?«, wandte er sich an seine Freunde.

»Wir scheißen in einen Eimer und stellen ihn den Juristen in ihre Bibliothek?«, knurrte Hermanus.

»Nicht so laut«, murmelte Jacobus nervös. »Willst du, dass wir Prügel beziehen?«

»Sie sollen ruhig kommen.« Der Deutsche spielte provokant mit seinem Dolch. »Dem Ersten spieße ich die Niere auf, ich weiß ja jetzt, wo sie liegt.«

»Die Sache mit dem Eimer heben wir uns für morgen auf«, sagte Adrianus. »Heute Nacht stehlen wir die Leiche vom Schwarzen Jacques.«

»Louis«, sagte Hermanus kauend. »Er heißt Louis.«

»Der Kerl ist ein Schwerverbrecher, sie werden die Leiche also zur Abschreckung hängen lassen. Es sollte ein Leichtes sein, sie zu holen.«

»Wozu soll das gut sein?«, fragte Jacobus.

»Na, um sie zu sezieren!«, antwortete Adrianus.

Der Jude starrte ihn an. »Bist du jetzt verrückt geworden?«

»Wann haben wir schon einmal die Gelegenheit, ohne großen Aufwand an eine frische Leiche zu kommen? Überleg doch, was wir alles lernen können. Du findest die Tiersektionen doch auch töricht.«

»Schon, aber Leichen zu sezieren ist verboten – nach christlichem und jüdischem Gesetz! Außerdem können wir uns nicht einfach an einem Gehenkten vergehen.«

»Wieso denn nicht?«, entgegnete Adrianus, dem Jacobus allmählich auf die Nerven ging. »Der Schwarze Louis würde der medizinischen Wissenschaft einen Dienst erweisen. Nach all den Verbrechen und Morden würde er zu guter Letzt etwas Sinnvolles tun.«

»Aber wenn wir erwischt werden! Und wie willst du überhaupt in den Anatomieraum hineinkommen?«

»Lass das meine Sorge sein«, erklärte Hermanus mit leuchtenden Augen. Adrianus hatte gewusst, dass es nicht nötig sein würde, den Deutschen zu überreden. Das Vorhaben war ein Abenteuer nach Hermanus’ Geschmack.

»Nein, nein und nochmals nein – bei solch einer Torheit mache ich nicht mit«, rief Jacobus entschieden. »Auch ihr solltet die Sache schleunigst vergessen.«

»Komm schon, Jacobus, wir brauchen dich«, sagte Adrianus. »Wie sollen wir zu zweit die Leiche vom Galgen bekommen?«

»Das ist mir egal. Sucht euch einen anderen.«

»Verdammt noch eins, du bist ein jüdischer Sturkopf und ein Hasenfuß dazu, weißt du das?«

»Und du – du bist ein leichtsinniger Tunichtgut und keinen Deut besser als Hermanus. Immerzu bringst du andere in Schwierigkeiten!«

Sie stritten so lange, dass sie darüber die Vorlesung zu Plinius’ Lehre von den Gestirnen versäumten.

Adrianus spähte um die Ecke, bis die Laterne des Nachtwächters zwischen den Häusern verschwand.

»Er ist weg. Weiter!«

Die drei Studenten eilten durch die dunklen Gassen, Jacobus schob den Handkarren. Nach langer Diskussion hatte sich ihr jüdischer Freund schließlich bereit erklärt mitzukommen – »Aber nur, um euch von Dummheiten abzuhalten«, wie er ständig bekräftigte.

Bei Nacht verwandelte sich Montpellier. Die engen Gassen und Treppenfluchten, durch die am Tag das Sonnenlicht flutete, glichen nun düsteren Gewölben, in denen alles Mögliche lauern mochte. Die braven Bürger lagen freilich längst in den Betten. Außer dem Nachtwächter und einigen grölenden Zechern trafen die drei Freunde keine Menschenseele, als sie das Stadtzentrum verließen. Mit über dreißigtausend Einwohnern war Montpellier viermal so groß wie Adrianus’ Heimat Varennes-Saint-Jacques, und die ausgedehnte Stadtbefestigung umschloss ein weitläufiges Gebiet, dessen Außenbezirke geradezu ländlich wirkten: Bauernhöfe mit Gärten, Feldern und Obstwiesen bildeten einen grünen Gürtel um die Altstadt.

Sie hielten auf eine der drei städtischen Burgen zu, deren Mauern schwarz aufragten wie von Riesenhand aus purer Finsternis geschnitzt. Bald erblickten sie die Richtstätte, die am Fuß der Festung lag. Auf einer langen Stange steckte das Rad. Daneben stand der Galgen, eine ebenso plumpe wie effektive Konstruktion aus zwei Holzpfeilern, die mit einem Querbalken verbunden waren: ein Tor zur Hölle, das man an einem Strick schwingend durchquerte.

»Unheimlich hier draußen«, raunte Jacobus.

»Seht ihr irgendwelche Wachen?«, fragte Adrianus leise.

»Das haben wir gleich. Wartet hier.« Hermanus schlich die Anhöhe hinauf und verschwand in der Finsternis.

Adrianus verhielt sich ruhig, doch selbst sein eigener Atem kam ihm dröhnend laut vor. Wie viele Verfemte und Verdammte haben da oben wohl ihr Leben ausgehaucht? Die Richtstätte sei ein verfluchter Ort, sagte man. Im Lauf der Jahrhunderte habe man hier so viele Hingerichtete begraben, dass die Erde unter dem Galgen größtenteils aus Gebeinen und Schädeln bestehe. Möglicherweise spukten hier verlorene Seelen, die so böse waren, dass sogar Satan sie zurückgewiesen hatte.

Plötzlich erschien ihm das Vorhaben ausgesprochen töricht.

»Hermanus lässt sich ganz schön Zeit«, murmelte Jacobus, der von einem Fuß auf den anderen trat.

Ein Schemen schnellte aus der Finsternis auf sie zu. Sie keuchten vor Schreck. Hermanus kicherte.

»Muss das sein?«, fuhr Jacobus ihn an. »Ich hätte mich fast nass gemacht!«

»Es gibt einen Wächter«, erklärte der Deutsche. »Aber er will eine Weile wegsehen. Erstaunlich, was ein Silberschilling alles bewirken kann.«

»Für dich ist das ein Fliegenschiss, aber für einen lausig bezahlten Büttel ein kleines Vermögen«, sagte Adrianus.

»Ein Hoch auf die Stadtväter und ihren Geiz. Jetzt kommt. Wenn wir herumtrödeln, verlangt der Kerl womöglich einen Aufpreis.«

Sie schoben den Karren die Anhöhe hinauf. Der Wächter war nicht zu sehen. In der Finsternis plätscherte es leise; offenbar ließ er gerade Wasser.

Als Adrianus den Gehenkten erblickte, blieb er mit einem flauen Gefühl im Magen stehen. Der Schwarze Louis war ein bulliger Mann gewesen, dessen physische Präsenz genügt haben musste, einsame Reisende einzuschüchtern. Jetzt hing er schlaff da, stinkend nach Urin und Kot, den kantigen Schädel grotesk zur Seite geknickt. Trotz der Dunkelheit konnte Adrianus die Zunge erkennen, die der Leiche wie ein Fremdkörper aus dem Mund ragte.

»Eins sag ich euch: Ich fass den nicht an«, murmelte Jacobus. »Leichen anzufassen bringt Unglück.«

»Dann kletterst du hoch und schneidest ihn los«, sagte Adrianus.

Der Jude murrte ein wenig, bis er endlich einwilligte. Hermanus machte eine Räuberleiter, sodass sich Jacobus am Querbalken hochziehen konnte. Obwohl von schmächtiger Statur, war er erstaunlich kräftig und ein vorzüglicher Kletterer. Bald saß er breitbeinig auf dem Balken und säbelte mit Hermanus’ Dolch an dem Galgenstrick herum. Als das Seil nachgab, hielten die anderen die Leiche fest und ächzten unter dem Gewicht. Behutsam ließen sie den Körper zu Boden gleiten, hievten ihn auf den Karren und deckten ihn mit Lumpen zu.

»Nichts wie weg«, sagte Adrianus.

Gott war mit ihnen, als sie zum Stadtzentrum eilten: Niemand hielt sie auf, niemand machte ihnen Scherereien. Hermanus ging voraus und sah sich beim Anatomieraum um. Nach langer Diskussion hatten sie entschieden, die Leiche dort zu sezieren. Das Haus stand fernab der übrigen Universitätsgebäude, sodass sie kaum fürchten mussten, entdeckt zu werden.

»Die Luft ist rein«, meldete Hermanus.

Sie schoben den Karren bis zur Tür, an der sich ihr adliger Freund mit einem Stück Draht zu schaffen machte. Dank seiner Vorliebe für zwielichtige Abenteuer hatte er Erfahrung im Schlösserknacken und derlei dubiosen Künsten. Die Pforte schwang auf, sie schleiften die Leiche hinein und wuchteten sie auf den Tisch. Adrianus steckte mehrere Kienspäne in die Wandhalterungen und zündete sie an.

Endlich konnte er sich die Leiche genauer anschauen. Sie sah scheußlich aus mit dem gebrochenen Genick, den aufgerissenen Augen, den geplatzten Äderchen im Gesicht und den Kotflecken am Kittel. Wenigstens hatten die Krähen noch nicht angefangen, sich an dem Fleisch gütlich zu tun. Adrianus bekreuzigte sich und nahm das Chirurgenbesteck aus der Tasche.

»Wenn wir fertig sind, sollten wir die Leiche zerstückeln und die Einzelteile verkaufen«, empfahl Hermanus. »Wunderheiler und Quacksalber zahlen gutes Geld für die Körperteile von Hingerichteten.«

»Du bist ja krank«, sagte Jacobus.

»Ich will nur helfen. Ich bin nicht derjenige von uns, der ständig über eine leere Geldkatze jammert.« Hermanus grinste. Man wusste nie, ob es ihm ernst war mit solchen Ideen.

»Seid still. Ich muss mich konzentrieren.« Adrianus griff zur Schere, befreite die Leiche von den stinkenden Lumpen und zückte sein schärfstes Messer.

»Halte dich am besten genau an das Verfahren, das Galen empfiehlt«, riet Jacobus.

Adrianus nickte stumm. Obwohl Galen angeblich nur Affen und Schweine seziert hatte, hatte er eine erstaunlich präzise Anleitung zum Sezieren menschlicher Leichen verfasst. Adrianus hatte sie am Abend genau studiert. Er setzte das Messer an und führte einen geraden Schnitt vom Schambein bis zum Brustbein. Zähflüssiges Blut quoll hervor. Hermanus entfernte es mit einem Schwamm. Anschließend brachte Adrianus zwei schräge Schnitte hinauf zum Schlüsselbein an. Vorsichtig löste er das Fleisch vom Knochen, klappte es auf wie die Seiten eines Buches und legte den Brustkorb frei.

Stumm betrachteten die drei Freunde die Rippen und die darunterliegenden Organe. Obwohl Adrianus seinem Lohnherrn schon oft beim Operieren geholfen und so manche klaffende Wunde gesehen hatte, war dies das erste Mal, dass er einen derart genauen Einblick in das Innere des menschlichen Rumpfes erhielt. Auch seine Freunde waren fasziniert. Sogar der ewig nervöse Jacobus hatte aufgehört, ihn zu kritisieren, so sehr hatte ihn der Anblick in den Bann geschlagen.

»Wie vollkommen der Herr uns geschaffen hat«, hauchte er. Nun war plötzlich keine Rede mehr von Verboten und dem jüdischen Gesetz.

Adrianus nickte. »Wir hätten das schon viel früher tun sollen.«

»Jetzt die Knochensäge«, sagte Hermanus.

Adrianus nahm das Werkzeug und trennte die Rippen vom Brustbein. »Soll ich sie einfach aufbiegen?«

»Galen empfiehlt rohe Gewalt«, meinte Jacobus.

»Na dann.« Adrianus schob beide Hände in den Schnitt.

»Nicht so zögerlich«, drängte Hermanus. »Laut Galen ist es ganz normal, wenn dabei einige Knochen brechen.«

»Hermanus, ich bin erschüttert. Sag bloß, du hast das Verfahren auch studiert?«

»Selbstredend. Ich bin ein gewissenhafter Student der Medizin!«

»Aber dafür muss man ein Buch lesen. Ein Buch! Führt das bei dir nicht zu heftigen Schlafattacken oder dem Drang, die nächste Schänke aufzusuchen?«

»He! Beleidige nicht meine Ehre als Mann der Wissenschaft und Sucher der Wahrheit.«

»Du meinst: Mann der Dirnen und Sucher der Weinkrüge«, bemerkte Jacobus.

Adrianus begann zu kichern. Er stand da mit den Händen im Brustkasten eines Gehenkten, und sie hatten nichts Besseres zu tun, als alberne Scherze zu reißen. Auch seine Freunde grinsten, und plötzlich entlud sich ihre Anspannung in dröhnendem Gelächter.

Es dauerte einige Minuten, bis Adrianus wieder sprechen konnte. »Mehr Ernsthaftigkeit, meine Herren! Dies ist immerhin ein erhabener Moment der abendländischen Heilkunst.«

Er nahm all seine Kraft zusammen und bog die Rippen auf. Knochen und Knorpel knackten, und die Brusthöhle war offen. Die verschiedenen Organe lagen klar erkennbar vor ihnen.

Hier war der Herzbeutel.

Da die Lunge.

Dort das Zwerchfell.

»Zeichne alles auf!«

»Schon dabei.« Hermanus hatte Papier und Stift gezückt und fertigte mit gekonnten Strichen eine Skizze an.

Adrianus interessierte sich vor allem für die Blutgefäße. Er entdeckte die Aorta, die mächtigste Arterie, und die Vene, die von der Leber heraufführte. Galen vertrat die Theorie, im lebenden Körper bewege sich das Blut den Gezeiten des Meeres folgend. Das hätte er zu gern gesehen.

Die Tür flog auf. Mehrere Männer stürmten in den Raum: Doctor Girardus, der Pedell und weitere Hilfskräfte.

»Was für eine gottlose Schweinerei! Und wer steckt mittendrin? Mein besonderer Freund Adrianus.« Girardus wirkte sichtlich zufrieden. »Sofort mitkommen! Ich kann es kaum erwarten, euch dem Rektor vorzuführen.«

Der Pedell packte Adrianus am Arm und zerrte ihn von der Leiche weg.

»Das ist das Ende«, erklärte Jacobus mit Grabesstimme. »Wenn mein Vater das erfährt, wird er mich enterben. Die Schande wird meine Mutter umbringen. Verstoßen und fortjagen werden sie mich!« Er vergrub das Gesicht in den Händen.

Der Morgen dämmerte, als sie vor der Amtsstube des Rektors saßen. Durch die geschlossene Tür drangen gedämpfte Stimmen. Es war nicht zu überhören, dass die Doctoren aufgebracht debattierten.

»Ich weiß, wem wir das zu verdanken haben«, meinte Hermanus. »Den verdammten Juristen! Sie haben unser Gespräch in der Taverne belauscht und uns verpfiffen. So eine Niedertracht sieht dem Advokatenpack ähnlich! Ich schlage vor, dass wir den Scheißeeimer überspringen und gleich härtere Vergeltungsmaßnahmen einleiten.«

»Sei still, Hermanus«, sagte Adrianus. »Das ist nicht der richtige Moment.«

Sie schwiegen.

Irgendwann öffnete der Pedell die Tür. »Magister Adrianus.«

Adrianus trat ein. Hinter dem Tisch des Rektors hatten sich sämtliche Lehrer und Amtsträger der Universität versammelt, das gesamte collegium doctorum. Der Rektor war bleich vor Wut.

»Ihr Herren«, sagte Adrianus, »bitte lasst mich erklären …«

»Kein Wort!«, zischte der Rektor. »Ich will deine Ausflüchte nicht hören. Was heute Nacht geschehen ist, ist eine Ungeheuerlichkeit und in der Geschichte der Medizinischen Fakultät ohne Beispiel. Noch nie zuvor wurde das Vertrauen der Doctoren in die Studenten derart schändlich mit Füßen getreten. Ein Verbrechen ist das, ein Frevel, eine Verhöhnung all unserer christlichen Werte! Ich weiß schon lange, dass du ein notorischer Unruhestifter bist, Magister Adrianus, aber das schlägt dem Fass den Boden aus!«

Mit jedem Wort sprach der Rektor lauter, bis er schließlich aus voller Kehle schrie und mit der Faust auf den Tisch hämmerte. Adrianus ließ den Zornesausbruch mit gesenktem Kopf über sich ergehen.

»… Unwürdig! … Niedertracht! … Schande der universitas! …«

Girardus trat vor und legte dem Rektor die Hand auf die Schulter. »Dein Zorn ist nur zu verständlich. Aber wir sollten diese unerfreuliche Angelegenheit zügig zum Abschluss bringen.« Der Doctor schaute Adrianus voller Genugtuung an. »Lasst uns daher eine angemessene Strafe finden.«

Adrianus verließ die Kammer und schloss die Tür hinter sich. Hermanus hob gespielt gleichgültig den Kopf. Jacobus hingegen sprang auf.

»Wie haben sie entschieden?«

Adrianus tat einen tiefen Atemzug. »Ich habe alle Schuld auf mich genommen und dem collegium versichert, der Leichenraub sei meine Idee gewesen, und ich hätte euch dazu angestiftet. Sie haben mir geglaubt.«

»Wie das?« Hermanus runzelte die Stirn.

»Nun, ich schätze, sie hatten es von vornherein nur auf mich abgesehen. Euch wollen sie nicht ernstlich schaden.«

»Und das heißt …?«, fragte Jacobus.

»Ihr werdet verwarnt und kommt mit einer Geldbuße davon. Zwei Florins für jeden.«

»Puh!«, sagte Jacobus. »Das ist viel Geld, aber zu verschmerzen. Ich schätze, wir haben noch einmal Glück gehabt.«

»Abwarten.« Hermanus blickte Adrianus an. »Was ist mit dir?«

»Sie haben mich mit sofortiger Wirkung der Universität verwiesen.« Adrianus lächelte schief. »Tja, Freunde. So ist es. Von nun an bin ich kein Student mehr.«

Vormittags war in der Taverne kaum etwas los. Zwei Kaufleute aus dem Algarvenland stapelten Silbermünzen auf ihrem Tisch und unterhielten sich in ihrer kehligen Sprache. Der schwarze Kater war wieder da. Er räkelte sich schläfrig in einem Fleckchen Sonnenlicht, leckte sich die Pfote und ignorierte die Menschen mit gleichgültiger Arroganz, wie es nur Katzen vermochten.

Der Wirt stieg über ihn hinweg und stellte die Weinkanne auf den Tisch. Hermanus füllte ihre Becher und goss etwas Brunnenwasser nach.

»Kannst du die Entscheidung des collegiums anfechten?«, fragte er, nachdem sie getrunken hatten.

»Sie ist unumstößlich. Das hat mir Girardus klargemacht, glaub mir«, antwortete Adrianus.

»Dieser nachtragende alte Geißbock. Er soll an seiner Missgunst ersticken.«

»Mir tut das unendlich leid«, sagte Jacobus, der sichtlich mitgenommen war. »Gewiss, was wir getan haben, ist verboten. Aber diese Strafe ist übertrieben hart. Sie müssen doch wissen, dass sie damit deine ganze Existenz vernichten.«

»Nun, ich habe es darauf angelegt, oder?«, entgegnete Adrianus.

»Wie meinst du das?«

»Ich fühle mich schon lange nicht mehr wohl an der Universität. Von morgens bis abends staubtrockene Vorträge von Männern, die seit zwanzig Jahren keinen Kranken mehr aus der Nähe gesehen haben. Das ist nicht meine Welt. So ist es für alle Beteiligten am besten.«

»Aber du bist der Fähigste von uns!«, widersprach Jacobus. »Niemand versteht das Leid der Kranken besser als du.«

»Mag sein. Aber in mir steckt kein Physicus. Das habe ich endlich erkannt. Sei’s drum.«

Adrianus trank. Die anderen taten es ihm gleich, schweigend. Sogar Hermanus war die Lust an albernen Späßen vergangen.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte der Deutsche.

»Das wird sich finden. Zuallererst genieße ich meine neu gewonnene Freiheit.« Adrianus lächelte. »Und dann – mal sehen. Vielleicht frage ich Hervé, ob er mich zum Wundarzt ausbildet. Das liegt mir viel mehr als die akademische Medizin.«

Jacobus blickte ihn besorgt an. »Ein Handwerksberuf – was wird deine Familie dazu sagen?«

»Mein Vater wird nicht begeistert sein, so viel steht fest.« Und mein Bruder noch weniger, fügte Adrianus in Gedanken hinzu.

»O Herr, sei uns gnädig!« Hermanus ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken.

»Was ist denn?«

»Mir ist gerade klar geworden, was dein Hinauswurf bedeutet: Wir dürfen allein weiterstudieren. Wie sollen wir Girardus’ Vorlesungen ohne dich ertragen? Ich muss mir wohl auch eine neue Beschäftigung suchen, ehe ich vor Langeweile sterbe.«

»Ist nicht gerade ein Posten als Straßenräuber freigeworden?«, meinte Adrianus.

»Naa. Der Beruf hat keine Zukunft. Da endet man nur auf dem Seziertisch von irgendwelchen Verrückten.«

Kapitel drei

AUGUST 1346

Die Frau war aschfahl im Gesicht. Vorsichtig schob sie den Ärmel hoch. Adrianus sah auf einen Blick, was sie quälte: Die linke Schulter war verrenkt.

»Wie ist das passiert?« Wie es seine Art war, starrte Hervé sie durchdringend an.

»Bin von der Leiter gefallen«, antwortete die Frau.

Sie war jung und recht hübsch. Adrianus musste sich zwingen, nicht scheu den Blick abzuwenden. Zwar hatte er seine Schüchternheit bei der Arbeit einigermaßen im Griff, da er genau wusste, was er zu tun hatte, und niemand geistreiche Bemerkungen von ihm erwartete. Gleichwohl war er froh, dass Hervé das Reden übernahm und er sich im Hintergrund halten konnte.

»Wir müssen die Schulter einrenken«, erklärte sein Lohnherr. »Das geht schnell, wird aber wehtun. Wir geben dir einen Trunk aus Mohnsamen gegen die Schmerzen.«

Adrianus zerstieß die Samen im Mörser und mischte sie mit Wein. Während sie darauf warteten, dass der Trunk zu wirken begann, bereiteten sie die Behandlung vor. Hervé führte die Patientin zu einem Stuhl mit hoher Lehne. Adrianus nahm ein spezielles Brett, das an einem Ende abgerundet und mit einer Binde gepolstert war, bat die junge Frau knapp, den Arm daraufzulegen, und schob ihr das Brett mit dem weichen Ende in die Achselhöhle. Er hatte seit jeher ein ausgeprägtes Gespür für die Leiden anderer und konnte genau spüren, wo der Schmerz sie plagte. Diese Gabe versetzte ihn in die Lage, behutsam und präzise zu arbeiten und ihnen unnötiges Leid zu ersparen. Mit geübten Handbewegungen band er das Brett am Arm fest, indem er jeweils einen Riemen um den Oberarm, den Unterarm und die Handwurzel schlang.

Inzwischen tat der Mohnsaft seine Wirkung. Ihre Augen wurden trüb.

Nun legte Hervé ihr die Hände auf die Schultern und drückte ihren Körper auf den Stuhl, während Adrianus das Brett mit dem Arm nach unten zwang. Er konnte spüren, dass sie trotz des Trunks Schmerzen litt. Tapfer biss sie die Zähne zusammen.

Glücklicherweise war es bald vorbei. Adrianus musste nur wenige Hebelbewegungen ausführen, bis der Oberarmkopf sauber in die Gelenkpfanne glitt.

»Du hast es überstanden«, sagte Hervé lächelnd.

»Habt Dank, Meister.« Auf ihrer Stirn glitzerten Schweißtropfen.

»Leg dich am besten hin, bis die Wirkung des Mohnsafts abgeklungen ist.«

»Ich möchte lieber nach Hause gehen.«

»Gut. Aber sei vorsichtig – du bist nicht ganz bei dir. Hier hast du etwas Salbe. Reib damit die Schulter ein. In einigen Tagen sollte der Schmerz verschwunden sein.«

Es war bereits Abend, als die junge Frau ging. Draußen warteten keine weiteren Patienten. Hervé und Adrianus räumten das Behandlungszimmer auf.

»Ich muss etwas mit dir besprechen«, sagte der Wundarzt unvermittelt.

»Worum geht es?«, fragte Adrianus, obwohl er es sich denken konnte. Es war nun einige Wochen her, dass man ihn der Universität verwiesen hatte. Bisher hatte er es vermieden, mit Hervé darüber zu sprechen – zum einen aus Scham, zum anderen, weil er nach wie vor nicht recht wusste, was er nun mit seinem Leben anfangen sollte. Wollte er wirklich Wundarzt werden? Konnte er das seiner Familie antun? Hervé für seinen Teil konnte sich gewiss ausrechnen, was geschehen war. Schließlich half Adrianus seit über einem Monat von früh bis spät in der Werkstatt aus und besuchte keine Vorlesungen mehr.

Hervé aber wollte nicht über Adrianus’ Zukunft sprechen. »Es wird Zeit für meine Wallfahrt«, erklärte er. »Übermorgen werde ich aufbrechen. Die Konsuln haben mir heute die Erlaubnis erteilt.«

»Geht es wieder nach Luzarches zum Reliquienschrein von Cosme und Damien?«