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Friesland 1390: Der 21-jährige Folkmar Janns Osinga ist Schiffszimmermann mit Leib und Seele. Gemeinsam mit seinem Vater Jann baut er begehrte Koggen, das Unternehmen der Familie floriert. Als Folkmar die junge, kluge Almuth kennenlernt, scheint sein Leben perfekt. Doch dann wird er Opfer einer perfiden Intrige: Des Mordes bezichtigt, muss Folkmar fliehen, sowohl Almuth als auch seiner Heimatstadt den Rücken kehren. Verzweifelt versucht er, seine Unschuld zu beweisen. Seine Lage ist hoffnungslos – bis er den Vitalienbrüdern begegnet und sich den berüchtigten Piraten anschließt …
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Seitenzahl: 1570
Buch
Friesland 1390: Der einundzwanzigjährige Folkmar Janns Osinga ist Schiffszimmermann mit Leib und Seele. Gemeinsam mit seinem Vater Jann baut er begehrte Koggen, das Unternehmen der Familie floriert. Als Folkmar die junge, kluge Almuth kennenlernt, scheint sein Leben perfekt. Doch dann wird er Opfer einer perfiden Intrige: Des Mordes bezichtigt muss Folkmar fliehen, sowohl Almuth als auch seiner Heimatstadt den Rücken kehren. Verzweifelt versucht er, seine Unschuld zu beweisen. Seine Lage ist hoffnungslos – bis er den Vitalienbrüdern begegnet und sich den berüchtigten Piraten anschließt …
Autor
Daniel Wolf ist das Pseudonym von Christoph Lode. Der 1977 geborene Schriftsteller arbeitete zunächst u. a. als Musiklehrer, in einer Chemiefabrik und in einer psychiatrischen Klinik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit den historischen Romanen um die Händlerfamilie Fleury, »Das Salz der Erde«, »Das Licht der Welt«, »Das Gold des Meeres« und »Die Gabe des Himmels«, gelang ihm der Sprung auf die Bestsellerlisten. Der Beginn der Friesensaga, »Im Zeichen des Löwen«, erreichte Platz eins der Bestsellerliste. Der Autor lebt in Speyer.
Weitere Informationen zu Christoph Lode unter: https://www.facebook.com/DanielWolfAutor und https://twitter.com/ObiWan_Kelodi
Daniel Wolf
Im Bann des Adlers
Historischer Roman
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Originalausgabe August 2022
Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Schiff: © Miniatur aus der Aeneid von Virgil mit Kommentar von Servius, Manuskript 493, Folio 99, verso, Pergament, 1469 / De Agostini Picture Library / M. Seemuller / Bridgeman Images
Papierstruktur: FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
BH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-22474-5V001
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Dramatis Personae
Das * kennzeichnet eine historische Person.
WARFSTEDE
Folkmar Janns Osinga, ein Schiffszimmermann
Jann Wilken Osinga, Folkmars Vater
Jorien Folkmars, Folkmars Mutter
Abbe Wilken Osinga, Folkmars Onkel
Folkmar Peters, Folkmars Großvater
Etta Janns, Folkmars Schwester
Bent Olrichs, Ettas Gemahl
Gert Ulfferts, ein Händler
Almuth Gerts, seine Tochter
Yneke Egers, der Vogt
Cord Hanneken, ein Krieger
Bruder Erasmus, der Vikar
Marten Ruthers, ein Schiffszimmermann
Jeltke Tiden, ein Schiffszimmermann
Harke Clausen, ein Schiffszimmermann
Graleff Lubben, ein Bauer
MARIENHAFE
Ocko I.*, das Oberhaupt der Familie tom Brok, ein Häuptling
Foelke Kampana*, seine Gemahlin
Keno II.*, ihr Sohn
Widzelt*, Ockos Bastard
Almer*, der Kaplan der Familie tom Brok
Udolf, Kenos Diener
Meister Rabanus, ein Wundarzt und Marterknecht
Meister Bolt, ein Schiffszimmermann
Eme Gottfriedsen, ein Bogenschütze
Aelryck, ein gefangener Schieringer
Hayka, Widzelts Gemahlin
Maye, ihre Tochter
WESTERGO UND OSTERGO
Juw Juwinga*, ein Vetkoper
Jarges Coppen*, ein Schieringer
Heemstra Omken, ein Schieringer
Bruder Conradus, ein Zisterzienser
Bruder Winoldus, ein Klausner
Apke Sirks, ein Schieringer
Zweymer Nanken, ein Schieringer
Benken, ein Schieringer
SEERÄUBER UND SÖLDNER
Gödeke Michels*, ein Hauptmann der Likedeeler
Johann Störtebeker*, ein Hauptmann der Likedeeler
Hennig Wichmann*, ein Hauptmann der Likedeeler
Magister Wigbold*, ein Hauptmann der Likedeeler
Otto von Tyne*, ein Likedeeler
Klaus Scheld*, ein Likedeeler
Welpe, ein Likedeeler und der Schiffsjunge der Seetiger
Gernot, ein Likedeeler und Schiffszimmermann
DIVERSE MÄCHTIGE UND WÜRDENTRÄGER
Albrecht I. von Bayern*, Herzog von Bayern-Straubing und Graf von Holland
Volkmar Allena*, ein Häuptling
Hisko Abdena*, ein Häuptling
Edo Wiemken*, ein Häuptling
Kanke Kanken*, ein Häuptling
Hayo Erkesna*, ein Häuptling
Olde Reent*, ein Häuptling
Focko Ukena*, ein Vogt
SONSTIGE
Tiard Sibenga, ein Häuptling
Stirp Popken, ein Torfstecher
Ludgher Popken, ein Torfstecher, Stirps Bruder
Popke, ihr Vater
Pieter von Dordrecht, ein holländischer Ritter
Egghert Schoeff*, ein Danziger Kaufmann
Im Anhang befindet sich ein Glossar der friesischen und maritimen Begriffe.
Almuth reckte den Hals, doch der Bucklige war nirgends zu sehen.
Sie stand auf dem The, dem staubigen Platz vor dem Schankhaus, wo Händler in der Morgensonne Bier, Sommergemüse und Messerklingen feilboten. Sie spähte zum Steinhaus, dessen feuerrote Mauern die Reetdächer ringsum überragten. Es stank nach Fisch, Dung und Torfrauch. In jedem Marschdorf, das sie mit ihrem Vater besuchte, stank es nach Fisch, Dung und Torfrauch.
Almuth Gerts war erst vierzehn Jahre alt, doch sie hatte schon viele Missgestaltete gesehen. Sie kauerten in Kirchhöfen und finsteren Ecken – bemitleidenswerte Gestalten, die um Almosen betteln mussten, weil sie von ihren Familien fortgejagt worden waren. Wen Gott mit lahmen Gliedern, Zwergenwuchs oder Blindheit geschlagen hatte, der war kaum besser dran als ein Aussätziger und zu einem elenden Dasein in Schmutz und Einsamkeit verurteilt. Noch nie hatte Almuth von einem Verwachsenen gehört, der kostbare Kleider trug und in einer steinernen Burg wohnte.
Aber das war längst nicht alles, was man sich über den Buckligen von Warfstede erzählte. Abbe Wilken Osinga, so sagte man, sei trotz seiner Missbildungen ein reicher Mann und stehe dem Kirchspiel als Richter vor. Eine der vielen wundersamen Geschichten, die sie über die Familie Osinga gehört hatte.
All das kitzelte ihre Neugier. Sie wollte dieses ungewöhnliche Geschöpf unbedingt sehen.
»Hör auf zu träumen und hilf mir«, sagte ihr Vater.
Gert Ulfferts handelte mit Friesensalz und reiste im Sommer von Marktflecken zu Marktflecken, während Almuths Mutter zu Hause Hof und Vieh hegte. Die Familie lebte zwei Tagesmärsche entfernt in der Landsgemeinde Östringen. Eben mühte sich Gert mit einem Fass ab. Almuth half ihm, es vom Ackerschlitten zu heben. Ihr Vater war einigermaßen erfolgreich als Kaufmann, doch für einen Gehilfen reichte das Geld nicht, sodass Almuth mit anpacken musste.
Der Morgen verlief zäh. Gelegentlich verkaufte Gert etwas, aber die Kunden standen nicht gerade Schlange vor ihrem Tisch mit der Feinwaage und dem Rechenbrett. Er war nicht der Einzige, der Friesensalz anbot. Ein einheimischer Torfstecher hielt ebenfalls welches feil, und die meisten Dorfbewohner gaben ihm den Vorzug. Gert beklagte murrend sein Pech.
»Darf ich mich ein wenig umschauen?«, fragte Almuth, als sie die Langeweile nicht mehr ertrug.
Ihr Vater kniff die Augen gegen die blendende Sonne zusammen und beäugte neidvoll seinen Konkurrenten, der soeben ein ganzes Fass verkaufte und dafür einen Beutel Silber bekam. »Sieh zuerst nach dem Pferd. Und sei gegen Mittag wieder da.«
Lächelnd küsste sie ihn auf die Wange.
»Bring dich nicht wieder in Schwierigkeiten, hörst du?«, rief er ihr nach, als sie über den The eilte.
Immerzu machte er sich Sorgen um ihr Wohlergehen. Gleichwohl gewährte er ihr reichlich Freiheiten, gutmütig, wie er war, weshalb Almuth die Handelsfahrten mit ihm stets genoss.
Sie ging zum Schankhaus, wo sie am vergangenen Abend untergekommen waren, betrat den Stall und überzeugte sich davon, dass das Pferd sauberes Wasser und genügend Futter hatte. Als sie wieder ins Freie trat, sah sie, dass sich ein wohlhabender Marschbauer in einem feinen Rock für Gerts Salz interessierte. Sogleich scharwenzelte ihr Vater um den Mann herum und biederte sich unterwürfig an, wie immer, wenn er es mit reichen und wichtigen Personen zu tun bekam. Almuth seufzte in sich hinein. Sie liebte ihren Vater. Dieser Wesenszug jedoch ging ihr beträchtlich auf die Nerven.
Sie schlenderte zum Fluss, der irgendwo in der Geest entsprang, durch das Marschland mäanderte und bei Warfstede ins Meer strömte. Das plätschernde Wasser trieb eine Sägemühle an, in der soeben mehrere Männer einen Balken zuschnitten. Die Zimmerleute grüßten einen Schiffer, der seinen mit Torfballen beladenen Kahn gemächlich den Fluss entlangsteuerte.
Almuth folgte dem von vertrockneten Pferdeäpfeln bedeckten Weg und gelangte zum See, der zwischen dem Dorf und dem Deich in der Sonne glitzerte, gesäumt von blühendem Röhricht. Bei den Anlegestegen, wo eine Kogge und zwei Fischerboote vertäut waren, blieb sie stehen und ließ den Blick umherschweifen.
Warfstede war ein erstaunlicher Ort. Kleiner als Esens, der Hauptort der Landsgemeinde Harlingerland, aber fortschrittlicher. Sie kannte keinen anderen Hafen, der auf der Landseite des Deichs lag, wodurch die ankernden Schiffe vor den Launen der Westsee geschützt waren. Folglich war das Siel so breit, dass eine Kogge hindurchpasste. Gerade standen die mächtigen Schleusentore offen, denn es herrschte Ebbe, sodass der aufgestaute Fluss ins Watt abfließen konnte.
Am Seeufer lag die berühmte Lastadie, der größte Schiffsbauplatz von Harlingerland, möglicherweise von ganz Ostfriesland. Unter der Leitung von Abbe Wilkens Bruder Jann fertigte die Familie Osinga Koggen, Schniggen und andere Hochseeschiffe, die im Dienste der Hanse bis nach Bergen und Gotland segelten. Dutzende Männer verrichteten zwischen den Werkhütten ihr Tagwerk. Lehrknechte krümmten Bretter über den rauchenden Feuergruben. In den Spantenskeletten, die wie die Rippenkäfige gestrandeter Wale auf den Hellingen lagen, arbeiteten Zimmerleute und schlugen Planken an.
All das war zweifellos interessant. Nicht so interessant jedoch wie der mysteriöse Bucklige. Almuth wandte sich um und betrachtete abermals das Steinhaus.
Das Heim der Familie Osinga stand auf einer lang gezogenen Warf, einem Erdhügel, den man einst zum Schutz vor Sturmfluten aufgeschüttet hatte. Neben der benachbarten Kirche war es das einzige Steingebäude weit und breit. Ein Hirte, der ihnen am Vortag den Weg nach Warfstede gewiesen hatte, hatte es mit einem Leuchtfeuer verglichen. Das war nicht übertrieben, fand Almuth. Die roten Ziegel, aus denen die mächtigen Außenwände bestanden, leuchteten derart kräftig im eintönigen Marschland, dass man das turmhohe Steinhaus gewiss vom Meer aus sehen konnte.
Hier also wohnte der Bucklige, wenn die Geschichten der Wahrheit entsprachen.
Sie hatte gehört, der Redjeve zu Warfstede werde noch immer von den freien Männern gewählt – was sie beinahe so bemerkenswert fand wie den Umstand, dass ein Verwachsener über andere zu Gericht saß. In ihrer Heimat hatten die reichsten Familien dieses hohe Amt in ihren jeweiligen Kirchspielen schon vor Generationen an sich gerissen, und stets vererbte es der Vater an den erstgeborenen Sohn. Außerdem nannte man sich schon lange nicht mehr Redjeve – die führenden Männer in den Bauernschaften bevorzugten den glanzvolleren Titel »Häuptling«, und sie gebärdeten sich wie deutsche Edelleute. Der mächtigste von ihnen war Edo Wiemken, der über ganz Östringen sowie über das benachbarte Rüstringen herrschte. Die geringeren Häuptlinge schuldeten ihm Gehorsam, und wer sich seinen Zorn zuzog, wurde grausam bestraft. Almuth hatte gehört, er habe einen seiner Feinde mit einem dünnen Hanfseil durchsägen lassen. Ein Schauder überlief sie, wenn sie sich diese schreckliche Art zu sterben vorstellte.
Edo Wiemken war freilich nicht so mächtig wie Ocko tom Brok, der Häuptling der Landsgemeinde Brokmerland, der bereits das Auricherland unterworfen hatte und in weiteren Landsgemeinden nach der Herrschaft griff. Ganz Ostfriesland fürchtete die Machtgier der Familie tom Brok. Almuths Vater sagte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis es zwischen Ocko und Edo Wiemken zum Krieg komme. Almuth sorgte sich deswegen nicht sonderlich. Seit sie denken konnte, bekämpften die verschiedenen Häuptlinge einander. Sie kannte nichts anderes als Zwist und Fehde.
Warfstede schien die endlosen Rivalitäten zwischen den Mächtigen bisher unbeschadet überstanden zu haben. Nirgends sah sie abgebrannte Höfe oder verwüstete Felder. Erdwälle mit Palisaden und Wachtürmen schützten das Dorf, die Menschen gingen unbeschwert ihrer Arbeit nach. Almuth fragte sich, ob dies Abbe Wilkens Verdienst war. Es hieß, er sei ein weiser Mann, dessen ganzes Streben dem Gedeihen des Kirchspiels gelte. War es ihm gelungen, Warfstede aus den Kämpfen um die Vorherrschaft in Ostfriesland herauszuhalten?
Wenn er nur endlich auftauchen würde! Doch auf der Leiter, die am höher gelegenen Eingang des Steinhauses lehnte, zeigte sich lediglich eine Magd, die mit einem Korb in der Hand hinunterkletterte und der gackernden Hühnerschar eine Handvoll Körner hinwarf.
»Kann ich dir helfen?«
Almuth fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand einer der größten Männer, die sie je gesehen hatte. Er überragte sie um mehr als eine Haupteslänge und war breit gebaut, besonders an den Schultern. Dabei schien er nur wenige Jahre älter zu sein als sie, siebzehn vielleicht.
»Ich bin Folkmar Janns«, stellte er sich lächelnd vor. »Du bist nicht von hier, richtig?«
»Ich komme aus Jever. Ich bin mit meinem Vater auf dem Markt.« Sie konnte nicht anders, als den jungen Mann ausgiebig zu mustern. Er hatte warme Augen und dichtes blondes Haar, das viele Wirbel bildete. Ein Beitel und anderes Zimmermannswerkzeug hingen an seinem abgewetzten Ledergürtel.
Er schaute sie abwartend an.
»Ich heiße Almuth Gerts«, beeilte sie sich zu sagen. Sie spürte, dass ihr Gesicht heiß wurde. Bei Gott, manchmal war sie schrecklich langsam.
»Almuth«, wiederholte er, als hätte er diesen Namen noch nie gehört. »Suchst du jemanden?«
»Stimmt es, dass ein Buckliger im Steinhaus wohnt?«
»Oh ja. Aber er ist nicht mehr der Jüngste. Er kommt nur noch selten heraus – die Leiter macht ihm zu schaffen.«
»Ist er wirklich Redjeve?«
Folkmar nickte. »An Ostern ist er von einer großen Mehrheit wiedergewählt worden.«
»Wie kommt es, dass so viele ihn akzeptieren?«
»Obwohl er ein Krüppel ist?«, ergänzte der junge Mann.
Almuth verspürte einen Anflug von Verlegenheit. »Verwachsenen ist es doch eigentlich nicht erlaubt, Richter zu werden.«
Das Lächeln verschwand aus den braunen Augen. »Das ist eine unheimliche Geschichte …«
»Erzähl sie mir«, bat Almuth.
»Nun, ihm werden Zauberkräfte nachgesagt. Es heißt, der Bucklige praktiziere schwarze Magie und verfluche jeden, der sich seinen Wünschen verweigert.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Schwer zu sagen. Ich bin nur ein Zimmermann – ich verstehe nichts von solchen Dingen. Aber es ist wohl am besten, auf der Hut zu sein.«
Sie wusste nicht, was sie von alldem halten sollte. Konnte ein Mann weise und gerecht und zugleich mit bösen Mächten im Bunde sein? Andererseits hatte sie gehört, körperliche Missbildungen wären Gottes Strafe für schwere Sünden. Und schädliche Hexerei gegen andere zu gebrauchen war zweifellos sündhaft. Sie betrachtete das Steinhaus, das ihr auf einmal düster und bedrohlich erschien.
Das Lächeln kehrte zurück. »Wenn du möchtest, führe ich dich herum und zeige dir alles«, schlug Folkmar vor.
Die Lust, den unheimlichen Buckligen zu sehen, war ihr gründlich vergangen. »Gern«, sagte sie erleichtert. Ihr gefiel die Aussicht, Zeit mit diesem freundlichen jungen Mann zu verbringen. »Aber ich will dich nicht von der Arbeit abhalten.«
»Tust du nicht. Ich bin seit dem Morgengrauen auf den Beinen und wollte ohnehin gerade eine Pause machen.«
Sie gingen am See entlang. Wind kam auf und trieb seinen Schabernack mit Almuths Haar, das sie offen trug, wie es sich für eine Jungfrau geziemte. Es war üppig und leuchtend wie das Herdfeuer. Kupferfarbene und kastanienbraune Strähnen fielen ihr wild auf Wangen, Hals und Schultern, kitzelten ihr das Gesicht, wenn die Böen damit spielten. Nicht nur ihre Augen waren dunkel, auch die Lider waren es. Überhaupt hatte ihre Haut einen kräftigen olivfarbenen Ton, sodass manche Leute dachten, sie käme aus einem fernen Land. Dabei war sie Friesin durch und durch. Mitunter ärgerte sie sich über ihre Nase, die sie für zu groß geraten hielt.
Vielfältige Gerüche bestürmten eben diese Nase, als Almuth und Folkmar die Lastadie erreichten: nach Pech, Rauch und Kiefernharz, und die warme Luft summte vom emsigen Lärm der Hämmer und Sägen. Ein Zimmermann stand auf einem aufgebockten Baumstamm und spaltete das Holz der Länge nach, indem er es präzise mit der Axt bearbeitete. Folkmar winkte den Männern, sie riefen ihm fröhliche Grüße und Scherzworte zu. Offenbar war er bei Gesellen und Lehrknechten gleichermaßen beliebt.
»Arbeitest du schon lange hier?«, erkundigte sich Almuth.
»Ich glaube, ich war sechs oder sieben, als mir mein Vater beigebracht hat, wie man einen Nagel einschlägt. In ein paar Jahren werde ich meinen Meister machen, so Gott will.«
»Die Familie Osinga muss sehr reich sein, wenn sie sich all das leisten kann«, sagte sie mit Blick auf die riesigen Holzstapel, die Schuppen voller Baumaterial und die Werkhütten, die ein kleines Dorf bildeten.
»Es ist umgekehrt«, erklärte Folkmar. »Die Lastadie hat die Familie Osinga reich gemacht. Nimm zum Beispiel diese beiden Schiffe.«
Sie blieben an einem Steg stehen. Die Kogge, die im Wasser lag, wirkte nahezu fertig, soweit Almuth das beurteilen konnte. Zwei Männer saßen mit gespreizten Beinen auf der Rah, befestigten ein Tau an dem ausladenden Rundholz und warfen das Seilende hinunter auf das fünfzehn Klafter tiefer gelegene Deck, wo andere Zimmerleute es aufnahmen und an der Reling festzurrten.
»Sie ist für den Lübecker Kaufmann Thomas Morkerke von der angesehenen Zirkelgesellschaft bestimmt«, fuhr Folkmar fort. »Er hat sechs Koggen bei uns bestellt und zahlt für jede tausend Mark.«
Almuth schwieg beeindruckt. Insgesamt sechstausend Mark – eine unvorstellbare Menge Geld. Nun verstand sie, warum sich die Familie Osinga eine moderne Sägemühle, ein gewaltiges Siel und imposante Befestigungsanlagen leisten konnte.
»Weißt du, wie viel Material man braucht, um solch eine Kogge zu bauen?«
»Ich verstehe nicht viel von Schiffen«, gestand Almuth.
»Zwölfhundert Holznägel, zweitausend Eisennägel und viertausend Kalfatklammern. Das Holz zu beschaffen, ist am schwierigsten. In Friesland wächst nicht genug, es muss aus den Bergen an der Weser hergebracht werden und dann erst einmal lange ablagern, bevor es verarbeitet werden kann.«
Folkmar deutete auf die verschiedenen Teile der Kogge und sprach über Klinker- und Kraweelbeplankung, über Mast und Wegerung, über Schoten und Wanten. Almuth verstand allenfalls die Hälfte seiner Ausführungen, doch das machte nichts. Er sprach derart begeistert über seine Arbeit, dass sie ihm gern zuhörte.
»Du liebst Schiffe, richtig?«, stellte sie fest.
»Schiffe zu bauen, ist mein Leben«, antwortete er mit einem Ernst, der sie anrührte. »Ich möchte nichts anderes machen. Komm. Ich zeig dir das Siel.«
Wenig später standen sie auf dem Deich, der das Land vom Meer schied. Schafe weideten auf den grasbewachsenen Hängen um den hölzernen Wachturm, auf dem ein Krieger stand. Almuth blickte hinaus aufs glitzernde Watt jenseits der Salzwiesen. Die See war beinahe bis zu den Inseln zurückgewichen. Nur der Priel, die Verlängerung des Flusses, führte noch Wasser und schlängelte sich gleißend wie eine Spur aus Gemmen durch den silbrigen Schlick. Almuth fühlte sich klein angesichts dieser Weiten. Wie alle Friesen liebte sie das Meer und fürchtete es zugleich. Es hatte ihrem Volk Reichtum und fruchtbare Böden, aber auch Sturmfluten und Verwüstung gebracht. Ohne den Goldenen Ring – das Bollwerk aus Deichen, das ganz Friesland abschirmte – wäre Leben im Marschland kaum möglich. Gott schuf das Meer, der Mensch die Küste, lautete eine alte Redensart.
»Ein solches Siel habe ich noch nie gesehen«, sagte sie beeindruckt.
»In Westfriesland und Holland gibt es ähnlich große Siele, aber in Ostfriesland dürfte unseres einzigartig sein«, erklärte Folkmar nicht ohne Stolz. »Mein Urgroßvater hat es gebaut. Sein Vorbild war das legendäre Schlicker Siel, dessen Tore angeblich aus Kupfer waren.«
»Dein Urgroßvater?« Almuth runzelte die Stirn. Hatte sie etwas nicht mitbekommen?
Folkmar war plötzlich verstummt, er starrte aufs Meer hinaus. Schiffe erschienen im dunstigen Seegatt zwischen den Inseln Langeoog und Baltrum. Erst zwei, dann vier, dann eine ganze Flotte, die vor dem Nordwestwind segelte.
Wenig später erreichten die Koggen und Schniggen, nunmehr zwanzig an der Zahl, die flachen Gewässer südlich der Inseln. Das Flaggschiff trug ein Zeichen auf dem Rahsegel. Almuth konnte erkennen, dass es sich um einen Adler handelte.
Das Wappen der Familie tom Brok.
»Herr, steh uns bei«, flüsterte Folkmar.
Sie waren nicht mehr allein auf dem Deich. Die Zimmerleute hatten die Flotte ebenfalls erblickt und erklommen in Scharen die Böschung. Bewaffnete eilten zum Turm, stiegen die Leiter hinauf und drängten sich an der Brüstung. Dutzende Blicke waren auf die Schiffe gerichtet, deren Mannschaften gerade die Segel fierten und die Anker ausbrachten. Kaum jemand sprach.
Auch Almuth verspürte Beklemmung in sich aufsteigen. Sie wusste, sie sollte zu ihrem Vater gehen, so schnell wie möglich. Die Neugier war jedoch stärker als die Angst. Sie wollte erfahren, was hier vor sich ging.
Von den Schiffen wurden Boote zu Wasser gelassen. Krieger stiegen hinein und ruderten zum Watt. Es mussten Hunderte sein – eine furchteinflößende Streitmacht.
»Platz dem Redjeve!«, rief jemand.
Da sah Almuth den Buckligen.
Abbe Wilken Osinga kam den Weg entlang, und tatsächlich: Er trug ein feines Gewand und ein vornehmes Barett. Zwischen den Schulterblättern wölbte sich ein Buckel, Beine und Rücken waren krumm, und das Gehen bereitete ihm sichtlich Mühe, weshalb er sich auf einen Krückstock stützte. Bei ihm waren mehrere Bewaffnete, die das Löwenwappen der Familie Osinga auf den Röcken trugen, sowie sein Bruder Jann Wilken, den Almuth am vergangenen Abend mit anderen Schiffszimmerleuten im Schankhaus gesehen hatte.
Dieser Mann war kein böser Zauberer, das erkannte sie auf einen Blick. Die Menschen von Warfstede folgten ihm, weil er eine natürliche Autorität ausstrahlte. Jeder in seiner Nähe, vom Kriegsknecht bis zum Meister, behandelte ihn voller Ehrerbietung.
»Lass mich dir helfen, Onkel.« Folkmar ging ihm entgegen und reichte ihm die Hand.
Onkel? Almuth durchfuhr es heiß und kalt. Natürlich, Folkmars Vatername lautete »Janns«. Er war Jann Wilkens Sohn – und ebenfalls ein Osinga. Mit seiner Geschichte, Abbe Wilken sei ein Hexer, hatte er sie auf den Arm genommen, um ihr die dummen Fragen heimzuzahlen. Sie schämte sich in Grund und Boden. Sie hatte sich kräftig blamiert. Alles wegen ihrer siebenmal verfluchten Neugier!
Dank Folkmars Hilfe gelang es Abbe, den Deich zu erklimmen. Die Männer machten ihm Platz, sodass er das Geschehen auf dem Watt beobachten konnte. Almuth wollte sich bei Folkmar entschuldigen, dass sie seinen Onkel einen Buckligen genannt hatte. Doch seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Kriegsvolk, das sich um die Banner mit dem schwarzen Adlerwappen scharte und zur Küste marschierte.
Abbe kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Er war ein alter Mann, um sein Sehvermögen stand es offenbar nicht mehr allzu gut, denn er erkundigte sich bei seinem Bruder: »Ist er dabei?«
»Ganz vorn«, antwortete Jann.
Er deutete auf einen Krieger, der nach der Art der deutschen Ritter einen Plattenharnisch trug und seinen Mannen vorausschritt. Almuth vermutete, dass der Gerüstete kein Geringerer als der gefürchtete Eroberer Ocko tom Brok war.
»Alle Krieger zu mir! Bemannt den Deich!«, rief Abbe mit donnernder Stimme.
»Das ist ein Kampf, den wir nicht gewinnen können«, sagte Jann, und das war das Letzte, was Almuth hörte, ehe das Chaos losbrach.
Männer brüllten und rempelten einander an, als sie die landseitige Böschung hinabeilten und dort auf Scharen von Dorfbewohnern trafen, die nicht verstanden, was vor sich ging. Almuth fühlte Panik in sich aufsteigen, bis sie plötzlich eine kräftige Hand auf dem Rücken spürte.
»Ich bringe dich zum Dorf zurück«, sagte Folkmar Janns Osinga.
Dank seiner Statur war es ihm ein Leichtes, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, sodass Almuth wohlbehalten zur Lastadie gelangte. Weitere Dorfbewohner kamen ihnen entgegen, und die Kriegsknechte der Familie Osinga hatten alle Hände voll zu tun, die Leute davon abzuhalten, auf den Deich zu steigen.
»Almuth!«, hörte sie Gert rufen.
Er stand auf dem Weg, das Gesicht rot und verschwitzt, Panik in den Augen.
»Vater!«
Er stürzte zu ihr, ergriff ihre Hände. »Stimmt es, dass Ocko tom Brok hier ist?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, keuchte er atemlos: »Die Osinga sind ihm nicht gewachsen, das gibt ein Blutbad. Wir müssen fort von hier.«
Sie schaute Folkmar an, der bei ihnen stand und ratlos wirkte. Bevor sie ihm danken oder sich wenigstens von ihm verabschieden konnte, zerrte ihr Vater sie fort. Folkmar runzelte die Stirn, dann wandte er sich ab und verschwand zwischen den Werkhütten.
Der The wirkte seltsam verwaist, weil das ganze Dorfvolk, so schien es, zum Deich eilte. Almuth holte rasch das Pferd aus dem Stall, spannte es vor den Ackerschlitten und half ihrem Vater, die Handelsware aufzuladen.
Wenig später zogen sie durch das Tor. Oben auf dem Geestrücken blickte sich Almuth ein letztes Mal nach Warfstede um und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, während Windböen ihr Haar peitschten.
Herr, bitte schütze Folkmar Janns.
Sie glaubte, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.
Sie irrte sich.
ERSTES BUCH
TOM BROK
November 1390 bis Oktober 1391
Folkmar Janns erwachte in seiner Kammer. Wie war er hierhergekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Ihm dröhnte der Schädel, als würde man den Knochen beharrlich mit der stumpfen Seite eines Zimmermannsbeils bearbeiten.
Er rieb sich das teigige Gesicht und schälte sich umständlich aus der Daunendecke. Als er einen Fuß auf den Boden stellte und aufstehen wollte, drehte sich alles. Brechreiz stieg ihm die Kehle hinauf. Stöhnend sank er zurück ins Kissen.
Nach und nach kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück, wie die Planken eines Schiffswracks, die stückweise ans Ufer trieben. Sie hatten gefeiert, er und sein Vater und die anderen Zimmerleute. Seine Ernennung zum Meister war der freudige Anlass gewesen, und sie hatten ihn mit reichlich Bier begossen. Bier aus Hamburg, würzig, süffig und stärker als die dünne Gerstenbrühe, die es gewöhnlich in Warfstede gab. Normalerweise vertrug Folkmar einiges, doch bei Gott und allen Märtyrern, die an Kopf und Magen scheußliche Qualen erlitten hatten: Diesmal hatte er es gründlich übertrieben.
Er blieb eine Weile mit geschlossenen Augen liegen, ehe er einen neuen Versuch unternahm aufzustehen. Mühsam quälte er sich aus dem Bett und schwankte zur Schüssel, um sich etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen. Nachdem er sich angezogen hatte – eine Aufgabe, die heldenhafte Überwindung und eine halbe Ewigkeit erforderte –, verließ er die Wohnkammer im Obergeschoss des Steinhauses und stieg die Treppe hinab zur Halle.
Es war fast Mittag. Man hatte ihn gnädigerweise ausschlafen lassen. Sein Onkel Abbe Wilken, das Oberhaupt der Sippe, war nicht anwesend. Offenbar hatte er das Haus verlassen, was er nur noch höchst selten tat. Dafür weilten einige andere Mitglieder der Familie Osinga in dem Gewölbesaal. Folkmar überragte sie alle, ebenso die nicht gerade schmächtige Wache an der Tür. Er war der größte Mann des Dorfes. Er kam nach Wilke Tammen, seinem Großvater väterlicherseits, der Jahre vor Folkmars Geburt bei einer Sturmflut ertrunken war. Die Familie sprach nicht oft über Wilke – er musste ein grausamer und herrischer Mann gewesen sein. Glücklicherweise hatte Folkmar nur seine Statur geerbt, nicht das Temperament. Gelassenheit zeichnete sein Wesen aus. Kaum je brachte ihn etwas aus der Ruhe. Nicht einmal ein scheußlicher Kater.
Seine Mutter Jorien und seine jüngere Schwester Etta kümmerten sich gerade um Folkmar Peters, seinen anderen Großvater. Sie versuchten, ihn dazu zu bringen, seine Buttermilch zu trinken.
»Ich bin nicht durstig«, verkündete er mit einer Stimme, die wie knarrende Takelage klang.
»Du trinkst zu wenig«, sagte Jorien. »Das ist nicht gut für dich.«
»Wann öffnen endlich die Häfen?«
»Du musst dich noch etwas gedulden. Man hat sie gerade erst geschlossen«, erklärte Etta.
Der Greis runzelte die Stirn. »Das kann nicht stimmen.«
»Wir haben vergangene Woche Martini gefeiert, weißt du nicht mehr? Die Häfen öffnen erst Ende Februar wieder. Nun trink deine Buttermilch.«
Der alte Folkmar rührte den Becher nicht an. Er hatte seinen Enkel erblickt. »Geht’s zur Arbeit?«
Der junge Folkmar bejahte einsilbig.
»Du solltest endlich deinen Meister machen. Es wäre höchste Zeit.«
»Ich hab ihn schon gemacht. Gestern war die letzte Prüfung. Du hast mir sogar zugeschaut.«
Der alte Folkmar nickte, obwohl er sich vermutlich nicht erinnerte. »Gut, gut«, brummte er zufrieden. »Das werden wir feiern.«
Etta musste grinsen. Sie sah aus wie ein jüngeres Ebenbild ihrer Mutter. Die gleichen grünbraunen Augen, die gleichen dichten Brauen, das gleiche glatte Haar, das sie züchtig unter einer Haube verbarg. »Ich schätze, einige von uns haben vom Feiern erst mal genug. Nicht wahr, Bruderherz?«
Grunzend griff Folkmar nach der Kanne und goss Buttermilch in einen Becher. Er hatte einen höllischen Durst und leerte das Trinkgefäß auf einen Zug.
»Du warst so betrunken, dass Bent und drei andere dich tragen mussten«, sagte Jorien halb verärgert, halb belustigt. »Sie haben dich kaum die Leiter raufgekriegt. Dabei haben sie einen Höllenlärm veranstaltet, von dem das ganze Haus aufgewacht ist.«
»Nur einer hat friedlich weitergeschlafen – du«, feixte Etta.
Er ließ den Spott über sich ergehen und zog die große Schale zu sich. Es machte ihm nichts aus, dass die restliche Hafergrütze vom Morgenbrot längst kalt war. Hauptsache, er bekam etwas in den Magen, der sich anfühlte, als würde ein ätzendes alchemistisches Gebräu darin herumschwappen.
»Wann öffnen die Häfen?«, fragte sein Großvater.
»Deine Milch. Bitte.« Jorien schob ihm abermals den Becher hin. Folkmar sah ihr an, dass sie kurz davor war, die Geduld zu verlieren.
»Ich kümmere mich um ihn«, bot er kauend an.
»Du bist ein Engel«, seufzte Etta. »Eine Pause täte uns gut. Zumal wir Arbeit zu tun haben.«
Die beiden Frauen zogen sich ans andere Ende des Tisches zurück und widmeten sich der Kladde, in der die Einnahmen der Familie aus Handel und Pacht vermerkt wurden. Sowohl Jorien als auch Etta waren fähige Kauffrauen, die Geschäfte waren bei ihnen in guten Händen. Folkmar bewunderte sie dafür, wie selbstverständlich sie Bücher, Listen und Schreibwerkzeug handhabten. Die Welt der Schrift war seine nicht. Er konnte lediglich simple Texte in friesischer Sprache lesen und schreiben. Das Lateinische, in dem Urkunden und andere wichtige Dokumente abgefasst waren, verstand er gar nicht. Ein Schiffszimmermann kam ohne derartige Kenntnisse aus. Alles, was er für seine Arbeit wissen musste, hatte er im Kopf.
Folkmar nahm sich Zeit für seinen Großvater und brachte ihn schließlich dazu, die Buttermilch zu trinken. Es stand nicht gut um den alten Mann. Folkmar Peters hatte fast achtzig Sommer erlebt, mehr als jeder andere Mensch in Warfstede. Das Alter trübte seinen Verstand. Oft wusste er nicht, welches Jahr gerade war, geschweige denn, welcher Monat und welcher Wochentag. Meist fiel das nicht auf. Folkmar Peters war eine schweigsame Natur, mitunter sprach er stundenlang kaum ein Wort. Wenn er sich doch einmal an einem Gespräch beteiligte, fragte er immerzu dasselbe, was die Geduld seiner Angehörigen strapazierte.
Heute war er für seine Verhältnisse geradezu redselig. Als er ausgetrunken hatte, fragte er: »Geht’s zur Arbeit?«
»Es wird Zeit. Ist immerhin schon Mittag«, antwortete Folkmar.
»Ich komme mit.«
»Das geht leider nicht.«
»Aber wir müssen die Schiffe fertigstellen. Die Hanse braucht sie, um den Dänenkönig zu bezwingen.«
Die Hanse hatte Dänemark bereits vor zwanzig Jahren bezwungen. Doch Folkmar hatte es aufgegeben, ihm dies zu erklären. Sein Großvater lebte in der Vergangenheit, als er ein angesehener Meister gewesen war und begehrte Koggen gebaut hatte. Das war freilich nicht mehr möglich. Er war derart verwirrt, dass er sich auf der Lastadie bereits mehrfach in Gefahr gebracht hatte. Man musste ihn von Werkzeug, Taljen und schwerem Baumaterial fernhalten.
Es brach Folkmar das Herz, mit anzusehen, wie sein großes Vorbild geistig verfiel. Aber tun konnte man nichts. Gegen dieses Leiden gab es kein Heilmittel. So hoffte die Familie, Gott werde dem alten Mann alsbald einen sanften und würdevollen Tod gewähren.
»Wir haben genug Leute, um die Kriegsschiffe zu bauen«, sagte Folkmar. »Bleib du lieber hier und ruh dich aus. Das hast du dir verdient. Kann ich mich darauf verlassen, dass du tun wirst, was Jorien und Etta sagen?«
Sein Großvater versprach, auf die Frauen zu hören.
Folkmar stürzte die restliche Buttermilch hinunter und stand auf. »Wo steckt eigentlich Abbe?«
»Er sieht im Dorf nach dem Rechten«, antwortete seine Mutter. »Heute früh war ein Bote aus Marienhafe da und hat den neuen Vogt angekündigt.«
Folkmar horchte auf. »Also ist es endlich so weit?«
»Er will vor Einbruch der Nacht da sein.«
»Wer ist es?«
»Ein Yneke Egers aus Brokmerland.«
Der Name sagte ihm nichts. Jorien und Etta offenbar auch nicht.
Nun, man würde sehen. Folkmar zog einen dicken Wollumhang an, öffnete die Tür und stieg die Leiter hinab.
Der kalte Wind half Folkmar, einen klaren Kopf zu bekommen. Dank seiner robusten Natur schüttelte er Schmerz und Übelkeit rasch ab. Auf dem Weg zur Lastadie dachte er darüber nach, was die Ankunft des neuen Vogtes für Warfstede bedeuten mochte.
Seit jenem Sommertag vor gut vier Jahren, als Ockos übermächtige Streitmacht an der Küste gelandet war und Warfstede sich dem Eroberer kampflos gebeugt hatte, waren die Osinga nicht mehr die Herren des Kirchspiels. Sie mochten noch immer die reichste Sippe sein, die politische Macht aber gehörte nunmehr den tom Brok. Die Landsgemeinde, deren Aufgabe es eigentlich war, Angriffe auf Harlingerland abzuwehren, hatte sie weiland im Stich gelassen. Die anderen Redjeven und Häuptlinge waren untereinander zerstritten und unfähig, sich einem äußeren Feind geschlossen entgegenzustellen. Damals hatte Folkmar jegliches Vertrauen in die Landsgemeinde verloren. Die Friesische Freiheit, das verheißungsvolle Ideal der Sieben Seelande, existierte nur noch auf dem Pergament verstaubter Urkunden. In Wahrheit lag sie endgültig am Boden. Jede Familie war auf sich gestellt und musste zusehen, wie sie sich in dem von Fehden zerrissenen Ostfriesland behauptete.
Wenigstens hatten sich die tom Brok bislang als maßvolle Herren erwiesen. Ocko war es hauptsächlich darum gegangen, den geschützten Hafen und die Lastadie an sich zu bringen – beides nutzte er seitdem regelmäßig. Darüber hinaus musste Warfstede einige Bewaffnete stellen, wenn er in den Krieg zog, und die Bauern mussten den zehnten Teil ihrer Erzeugnisse abgeben. Im Gegenzug schützte Ocko sie vor Feinden. Der Vogt, der das Kirchspiel in seinem Namen verwaltet hatte, war ein vernünftiger Mann gewesen, der sich darauf beschränkt hatte, die Abgaben einzutreiben und Recht zu sprechen. Darüber hinaus hatte er die Bauernschaft in Ruhe gelassen.
Leider war er vor einigen Wochen gestorben. Was für ein Mann war sein Nachfolger? Würde dieser Yneke Egers ebenso moderat und umgänglich sein? Oder würde er Warfstedes Eigenständigkeit weiter beschneiden? Abwarten, entschied Folkmar. Es war nicht seine Art, sich verrückt zu machen. Heute Abend würde er Yneke Egers kennenlernen und in Erfahrung bringen, mit wem sie es zu tun hatten.
Die Böen bliesen ihm scharf ins Gesicht, als er sich den Werkhütten näherte. Soeben ruderten mehrere Zimmerleute ein neues Schiff durch das offene Siel. Es war eine Schnigge, ein leichter Küstenfahrer mit Schratsegel, Stagfock und schlankem Rumpf, der schneller war als die hochbordigen und rahgetakelten Koggen, da er höher am Wind fahren konnte. Folkmar hatte mit Hand angelegt, als sie die Schnigge vor einigen Tagen fertiggestellt hatten. Nun, da günstiges Wetter herrschte, konnten sie den Segler auf dem offenen Meer gründlich trimmen.
Auf der Lastadie arbeiteten fünfundsiebzig Zimmerleute, Lehrknechte und Tagelöhner an neuen Schiffen. In der kalten Novemberluft vermaßen sie Holz, fertigten Planken und richteten Spanten auf. Folkmar fand seinen Vater an einer Helling, wo eine Kogge gebaut wurde. Obwohl Jann Wilken ein alter Mann von siebenundfünfzig Jahren war, dachte er nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Jeden Tag weilte er von früh bis spät auf der Lastadie, plante neue Aufträge und gab sein immenses Wissen geduldig an die Gesellen weiter, die ihn wie einen Propheten der Handwerkskunst verehrten. Mitunter griff er selbst zum Werkzeug, denn er liebte es, Holz zu formen und das Beste aus einem Schiff herauszuholen.
Heute begnügte Jann sich damit, neben der Erdrampe zu stehen und die Arbeit zu beaufsichtigen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, den Blick konzentriert auf den Rumpf gerichtet. Der war fast fertig, mehrere Zimmerleute befestigten soeben eine der letzten Planken am Spantenskelett. Die Kogge wurde kraweelbeplankt. Dabei setzte man die Bretter Kante auf Kante statt überlappend wie bei der herkömmlichen Klinkerbeplankung. Ein auf diese Weise konstruierter Schiffskörper war elastisch und überaus stabil, sodass die Zimmerleute größere und seetüchtigere Koggen bauen konnten. Holz sparten sie außerdem.
Folkmars Vater hatte die Vollkraweelbauweise vor vielen Jahren eingeführt. Dieser Neuerung verdankte die Lastadie ihren Ruhm und die Familie ihren Reichtum.
»Auferstanden von den Toten?«, begrüßte Jann seinen Sohn. Unter der Gugel, die das wettergegerbte Gesicht mit der schiefen Nase einrahmte, lugte graues Haar hervor.
»Kann ich noch nicht sagen«, brummte Folkmar. »Fühl mich eher wie ein Wiedergänger, der vorübergehend dem Grab entstiegen ist.«
Sein Vater klopfte ihm lachend auf den Rücken. »Ich hoffe, wir müssen dir keinen Pflock ins Herz stoßen.«
»Jede Stunde ein großer Krug mit kaltem Wasser und erfrischenden Kräutern dürfte fürs Erste genügen.«
»Das sollte sich machen lassen. Kannst du arbeiten?«
»Haben mich ein paar Humpen Bier je davon abgehalten?«
Bent Olrichs streckte den Kopf über die Plankenwand, kletterte flink aus der Rumpfschale und kam grinsend auf sie zu. »Na, du Trunkenbold, wie fühlt man sich als frischgebackener Meister?«
»Frag mich das noch mal, wenn mein Schädel zu dröhnen aufgehört hat«, erwiderte Folkmar.
»Geschieht dir recht. Beim Klabautermann, hast du gestern zugelangt!«
»Ihr zwei habt euch auch nicht gerade zurückgehalten.«
»Da sprichst du ein wahres Wort.« Jann verzog den Mund und rieb sich die von Falten zerfurchte Stirn.
Bent waren die Nachwirkungen des nächtlichen Zechgelages ebenfalls anzusehen. Tatsächlich wirkten sämtliche Gesellen und Meister, die Folkmar bislang gesehen hatte, müde und verkatert, weshalb die Arbeit auf der Lastadie heute recht gemächlich vonstattenging.
»Halb so schlimm«, sagte Jann, als hätte er Folkmars Gedanken gelesen. »Wir liegen gut in der Zeit und können es uns leisten, mal einen Tag kürzerzutreten.«
Folkmar betrachtete die Kogge, an deren Planung er mitgewirkt hatte. Spätestens nächste Woche würden sie das Schiff vom Stapel lassen und alsbald den Mast setzen. Es war für Ocko tom Brok bestimmt. Dessen Expansionsdrang kannte keine Grenzen. In den letzten Jahren hatte er sich in ganz Ostfriesland weitere Gebiete angeeignet – mit Politik, mit Gold, mit Waffengewalt. Er bekämpfte seine Rivalen zu Lande und zu Wasser, sodass er ständig neue Kriegsschiffe brauchte. Die Familie Osinga musste sie ihm bauen. Damit war niemand glücklich, aber wenigstens zahlte Ocko gut für ihre Arbeit.
Die Zimmerleute hatten Schwierigkeiten, die schwere Planke anzubringen. Als Bent dies nicht von sich aus bemerkte, weil er lieber mit Folkmar scherzen wollte, wies Jann ihn mit einer Handbewegung darauf hin. Leichte Ungeduld lag in der Geste. Folkmars Vater schätzte es nicht, wenn die Zimmerleute Eigeninitiative vermissen ließen.
Das Lächeln verschwand aus Bents Gesicht. Beflissen kletterte er an der Rumpfwand empor und ging den anderen zur Hand.
»Ein liebenswerter Bursche und ein brauchbarer Geselle«, murmelte Jann, »aber ein Meister steckt nicht in ihm.«
»Das wird. Gib ihm Zeit«, sagte Folkmar. Der neunzehnjährige Bent war Ettas Gefährte aus Kindertagen, die beiden hatten voriges Jahr geheiratet. Ein großer Denker und ein ambitionierter Handwerker war er gewiss nicht, doch er machte Etta glücklich, und das war für Folkmar Grund genug, ihn in Schutz zu nehmen.
Er wies mit einem Nicken auf zwei lange Bretter, die im feuchten Gras lagen. »Was ist mit diesen Planken?«
»Sie sind unbrauchbar – die Tagelöhner haben sie zu stark gekrümmt«, erklärte sein Vater. »Vielleicht können wir sie zusägen und für die Aufbauten verwenden.« Er dachte kurz nach. »Mit dem restlichen Holz sollten wir über den Winter kommen, aber spätestens im März, April brauchen wir neues.«
»Mutter will im Frühjahr nach Bremen fahren.«
»Sie soll das endlich Etta machen lassen«, murrte Jann. »Sie ist nicht mehr die Jüngste und verträgt Schiffsreisen schlecht.«
Folkmar verkniff sich ein Lächeln. Schiffsreisen machten seiner Mutter nicht das Geringste aus. In Wahrheit ertrug sein Vater es nicht, länger als ein, zwei Tage von ihr getrennt zu sein. »Die beiden sollen das untereinander regeln. Wir tun gut daran, uns da nicht einzumischen.«
»Das würde uns schlecht bekommen, nicht wahr?« Sein Vater rieb sich lächelnd die Nase.
»Ich muss etwas mit dir bereden«, sagte Folkmar. »Gehen wir ein paar Schritte.«
Sie ließen den Lärm der Lastadie hinter sich und stiegen am Siel auf den Deich. Die Schnigge hatte längst die Segel gesetzt und fuhr mit raumem Wind den Inseln entgegen. Folkmar dachte daran, wie er vor fast viereinhalb Jahren hier gestanden und die Landeflotte der tom Brok beobachtet hatte. Dieses Mädchen mit dem unglaublichen Haar war bei ihm gewesen, wie war gleich ihr Name? Almuth, erinnerte er sich. Sie hatten in der heißen Sonne geschwitzt und den gleißenden Priel betrachtet, daneben die flatternden Adlerbanner über den Lanzenspitzen des Kriegsvolks, das Warfstede die Freiheit nehmen würde.
Heute sah das Meer gänzlich anders aus. Das Watt, die See, der Horizont, alles war ein Einerlei aus Grautönen, als hätte die winterliche Kälte jegliche Farben abgetötet. Bald würde die Flut kommen, und Folkmar betete flüchtig, dass der Wind nicht gleichzeitig stärker würde oder gar auf Nordwest drehte, sodass eine Sturmflut die Folge wäre. Folkmar war erst einundzwanzig Jahre alt, doch er hatte bereits mehrere Flutkatastrophen miterlebt. Keine so verheerend wie die Grote Mandrenke von 1362, als der Deich gebrochen und sein Großvater in den eindringenden Wassermassen ertrunken war wie viele, viele andere – aber alle furchteinflößend und zerstörerisch für Land, Mensch und Tier.
»Wir müssen über die Lastadie sprechen. Über ihre Zukunft«, begann er. »Ich denke, wir müssen einiges verändern.«
Jann nickte nur, eine stumme Aufforderung an Folkmar weiterzusprechen. Er war kein kleiner Mann, doch während er neben seinem Sohn auf dem Deich entlangging, wirkte er so. Neben Folkmar wirkte jeder normale Mann klein.
»Seit ein, zwei Jahren sehe ich immer öfter Holke vor unserer Küste. Offenbar schaffen sich mehr und mehr hansische Kaufherren welche an. Verständlich, die Holk ist größer als die Kogge und kann mehr Fracht aufnehmen. Besser geeignet für Langfahrten ist sie obendrein. Sie ist das Schiff der Zukunft. Wir müssen uns alsbald darauf einstellen, Holke zu bauen, wenn wir nicht den Anschluss verlieren wollen.«
»Wir können keine Holk bauen«, wandte Jann ein. »Sie passt nicht …«
»… durchs Siel, ich weiß. Darauf will ich hinaus. Wir müssen die Lastadie umbauen.«
»Was schwebt dir vor?«
»Wir verlegen den Schiffsbauplatz ins Deichvorland, wenigstens teilweise«, führte Folkmar seine Überlegungen aus. »Am Siel schütten wir eine neue Warf auf und statten sie mit mehreren hoch gelegenen Hellingen aus. Wenn wir die Rumpfschalen dort bauen, wären sie beim Aufplanken vor der Brandung geschützt. Beim Stapellauf können sie direkt in den Priel gleiten. Den verbreitern wir, damit die ankernden Holke die Hafenzufahrt nicht versperren.«
»Sie würden jeweils ein bis zwei Jahre im Priel liegen, bis sie fertiggestellt sind«, gab sein Vater zu bedenken. »Währenddessen wären sie der stürmischen See schutzlos ausgeliefert.«
»Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Alle anderen Lastadien in Ostfriesland leben damit. Vielleicht können wir es verringern, indem wir den Mast vor dem Stapellauf setzen, sodass sich die Liegezeit im Wasser verkürzt.«
»Du willst den Mast setzen, während das Schiff noch auf der Helling liegt? Das haben wir noch nie so gemacht.«
»›Das haben wir noch nie so gemacht‹?«, wiederholte Folkmar spöttisch. »Ich hoffe, das ist nicht dein Ernst. Du hast dich stets für den Fortschritt starkgemacht und gegen Beharrungskräfte gekämpft. Dieser Einwand ist deiner unwürdig.«
Sein Vater nahm die Kritik mit Humor, er lachte kurz und trocken auf. »Das muss das Alter sein. Das Neue wirkt furchteinflößend, die Tradition dagegen beruhigend. Aber das ist es nicht allein. Ich habe tatsächlich Zweifel, ob das umsetzbar wäre. Durch den Mast wird das Schiff um einiges schwerer – vielleicht zu schwer für den Stapellauf.«
»Das Problem sollten wir in den Griff bekommen, wenn wir die Hellingen etwas steiler anlegen.«
Jann dachte darüber nach. Dabei rieb er sich den Unterarm. Unter dem Ärmel des Wollgewands verbarg sich eine sternförmige Narbe, die manchmal juckte. Sie stammte von einer Säureverätzung, die er vor vielen Jahren erlitten hatte. Er behauptete steif und fest, wenn sie zu kribbeln anfing, stehe ein Wetterumschwung bevor.
»Wird’s einen Sturm geben?«, fragte Folkmar.
»Wie?« Jann starrte ihn verwirrt an. Dann begriff er die Frage. »Nein, keine Angst. Wahrscheinlich wird’s in der Nacht nur weiter abkühlen.« Er ließ die Hände sinken. »Mit steileren Hellingen könnte es gehen. Gleichwohl erscheint mir das Vorhaben sehr aufwendig. Wäre es nicht einfacher, das Siel zu verbreitern, sodass eine Holk hindurchpasst? Dann könnte die Lastadie bleiben, wo sie ist.«
Diese Möglichkeit hatte Folkmar bereits in Erwägung gezogen. »Das Siel ist bereits sehr breit und dadurch eine Schwachstelle im Deich. Wenn wir es noch breiter machen, riskieren wir, dass es bei einer Sturmflut bricht. Eine neue Warf im Deichvorland ist sicherer. Den Aufwand dürfen wir nicht scheuen. Die Kosten auch nicht«, fügte er hinzu.
»Die Kosten«, wiederholte sein Vater. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen.« Seine Augen blitzten. Dieses Gespräch bereitete ihm einiges Vergnügen. »Du weißt, dass ich das tun muss. Es ist das Vorrecht der Alten, immerzu mit Bedenken um sich zu werfen.«
»Nur zu«, sagte Folkmar mit schmalem Lächeln.
»Viele Männer müssten viele Wagenladungen Klei aus der Marsch für deine Warf heranschaffen. Das ist teuer«, sagte Jann. »Und langwierig, da sie nur bei Niedrigwasser arbeiten könnten.«
»Dann dauert es eben mehrere Monate, bis der neue Bauplatz fertig ist. Das macht nichts. Und was die Kosten angeht – wenn unsere Familie eines im Überfluss hat, dann ist es Gold. In einem neuen Bauplatz für Holke wäre es gut angelegt.«
Jann blieb stehen. Sie waren so weit gegangen, dass das Dorf kaum noch zu sehen war. Nur das Steinhaus lag klar erkennbar wie ein roter Klotz auf der Linie zwischen grauem Himmel und blassgrünem Land. »Gehen wir zurück. Wenn ich die Gesellen zu lange unbeaufsichtigt lasse, stellen sie Unfug an.«
»Also – was sagst du?«, fragte Folkmar nach einer Weile.
»Du hast dir das gründlich überlegt, was?«, stellte sein Vater fest.
Er nickte. »Aber ich wollte mit meinem Vorschlag warten, bis ich Meister bin.«
Jann runzelte fragend die Stirn.
»Einem Gesellen steht es nicht zu, den Meistern zu sagen, wie sie die Lastadie zu führen haben«, erklärte Folkmar.
»Du bist ein Osinga. Eines Tages wirst du die Lastadie erben. Es ist dein gutes Recht, uns zu sagen, wie du dir die Zukunft des Unternehmens vorstellst.«
Dessen war Folkmar sich bewusst. Er wollte jedoch keine Privilegien in Anspruch nehmen, die anderen Gesellen – die nicht das Glück hatten, im Steinhaus geboren zu sein – verwehrt waren. Die Schiffszimmerleute sollten ihn wegen seines Talents respektieren, nicht wegen seines Namens. »Ist das ein Ja?«
»Mich hast du überzeugt«, antwortete sein Vater. »Aber ich entscheide das nicht allein. Dein Onkel und deine Mutter haben ein Wort mitzureden. Ich bespreche es alsbald mit ihnen, einverstanden?«
Folkmar lächelte. Die Unterredung der drei Familienoberhäupter war lediglich eine Formalität, die Sache so gut wie entschieden. Abbe und Jorien ließen Jann stets freie Hand, wenn es darum ging, die Lastadie auszubauen.
Vielleicht, dachte er, bauen wir schon nächsten Sommer eine Holk.
In Christi Namen heißen wir dich willkommen in unserem Haus, ehrenwerter Yneke«, begrüßte Abbe den neuen Vogt von Warfstede.
»Habt Dank für die Gastfreundschaft«, sagte Yneke Egers, während vier seiner Kriegsleute die Leiter erklommen. Die Männer – allesamt erfahrene Recken, wie Folkmar anhand der vernarbten Gesichter erkannte – reichten ihre Wehrgehenke dem Wächter, der die Eingangstür des Steinhauses schloss und den frostigen Wind aussperrte.
Einer der Kämpfer war auf auffällige Weise gezeichnet. Ein Feuermal umgab sein rechtes Auge. Der handtellergroße Fleck war rot und grob sternförmig. Die Form erinnerte Folkmar an eine Nesselqualle, die von der Brandung angespült worden war und tot am Strand lag. Das derart missgestaltete Antlitz zog nicht wenige erschrockene Blicke auf sich, die der Mann mit grimmiger Miene von sich abprallen ließ.
Yneke selbst wirkte nicht wie ein Krieger. Er war ein kleiner Mann von schlankem Wuchs, mit ranken Schultern und feingliedrigen Händen, die gut zu einem Buchmaler oder Musiker gepasst hätten. Seine Körperhaltung war gerade, beinahe steif, doch er bewegte sich geschmeidig, als er den Männern der Familie Osinga der Reihe nach die Hand reichte und sie mit eigentümlich sonorer Stimme begrüßte. Das schmale und bartlose Gesicht lief am Kinn spitz zu, die Nase dagegen war gerundet. Das dunkle, in der Mitte gescheitelte Haar hatte er sich hinter die Ohren gestrichen, sodass es glatt wie eine Haube am Schädel anlag.
Ein Diener nahm ihm den Mantel aus Otterfell und das teure Samtbarett ab, ehe Yneke sich am flackernden Kamin niederließ. Abbe, Jann, Jorien, Etta und Bent setzten sich zu ihm. Folkmar half seinem Großvater auf die Bank.
»Ist das Enne Rycken Hylkena?«, fragte der alte Mann misstrauisch.
»Enne ist seit dreißig Jahren tot. Das ist Yneke Egers, der neue Vogt.«
»Wir brauchen keinen Vogt. Warfstede kommt allein zurecht.«
»Die Zeiten haben sich geändert, Großvater.«
Währenddessen kredenzte Abbe den Willkommenstrunk. Dabei blickte er zum Krieger mit dem Feuermal, der im Gegensatz zu seinen Waffenbrüdern nicht zum Tisch der Dienstboten gegangen war, sondern hinter Yneke an der Wand stand, halb im Schatten verborgen.
»Möchte sich dein Mann nicht zum Gesinde setzen?«
»Cord zieht es vor, stets in meiner Nähe zu weilen«, erklärte Yneke.
»Du hast in unserem Haus nichts zu befürchten.«
»Das mag sein, aber ich fühle mich wohler so.«
Unbehagliche Stille folgte den Worten.
»Bring Cord einen Humpen Bier«, wies Abbe die Magd an und befahl den Dienern, das Essen aufzutragen.
Der Haushalt hatte am Vortag geschlachtet. Es gab gebratenes Schwein mit gedünstetem Wurzelgemüse für die Familie und ihren hohen Gast sowie Schwarzsauer – eine dicke Suppe aus Schweineblut, Fleischresten und Essig – für Gesinde und Kriegsvolk, dazu reichlich Bier aus Hamburg und Wein aus Köln. Folkmar mied den Alkohol und trank stattdessen Brunnenwasser, in das er getrocknete Minze rieb.
»Hattest du eine angenehme Reise?«, erkundigte sich seine Mutter bei Yneke.
»Wir sind zügig geritten und haben uns kaum eine Rast gegönnt. Die Straßen sind unsicher in diesen Zeiten. Ockos Feinde lauern überall.«
Anders als seine Krieger, die die Suppe verschlangen, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen, speiste der Vogt mit Genuss. Bedächtig löste er ein Stück Fleisch vom Knochen, schob es sich in den Mund und kaute lange, ehe er es mit einem Schluck Wein hinunterspülte.
»Ich hörte, dass neuer Zwist mit Volkmar Allena droht«, sagte Abbe.
»Allena ist zweifellos Ockos mächtigster Feind«, entgegnete Yneke, »doch er ist nicht der einzige. Da wären außerdem die Abdena aus Emden. Die Kankena zu Wittmund. Und natürlich Edo Wiemken im Osten. Noch verhalten sie sich ruhig, aber das wird nicht so bleiben. Sie sind machtgierig und blicken neidvoll auf Ockos Erfolge. Früher oder später wird er sie in die Schranken weisen müssen.«
»Steht zu befürchten, dass sich Hisko Abdena, Kanke Kanken und Edo Wiemken mit Volkmar Allena zusammentun und ein Bündnis gegen die tom Brok schmieden?«, fragte Jann.
»Vielleicht. Aber das sollte uns nicht beunruhigen. Ocko ist der Einzige, der führungsstark genug ist, um die zerstrittenen Häuptlinge zu einen – zumal er die Unterstützung des Grafen von Holland genießt. Andere Allianzen sind stets kurzlebig und brüchig, da die Beteiligten nur das eigene Wohl im Sinn haben. An Ostfriesland und an die leidgeprüften Menschen in Marsch und Geest verschwenden Allena und die anderen Emporkömmlinge keinen Gedanken.«
Abbe hob den Weinkelch. »Auf Ocko. Möge es ihm gelingen, den Frieden zu wahren.«
Ein unbeteiligter Beobachter hätte diese Worte womöglich für unterwürfige Schmeichelei gehalten. Folkmar aber kannte seinen Onkel besser. Es war Abbe damals nicht leichtgefallen, sich Ocko zu unterwerfen. Doch um Warfstede eine sichere militärische Niederlage und viel Blutvergießen zu ersparen, hatte er die Zähne zusammengebissen, seinen Stolz geschluckt und mit einem Federstrich all seine politische Macht an Ocko abgetreten.
In den viereinhalb Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte Abbe die tom Brok genau beobachtet. Dabei war er zu dem Schluss gekommen, dass sie von allen Sippen, die nach der Macht strebten, das kleinste Übel waren. »Allein Ocko hat die Kraft, die Familienfehden zu beenden«, pflegte er zu sagen. »Der Preis dafür wäre freilich ein geeintes Ostfriesland unter seiner Herrschaft, aber vielleicht sollten wir ihn zahlen. Tot ist die Friesische Freiheit so oder so.«
Was das betraf, war Folkmar zwiegespalten. Einerseits wünschte er sich, dass Warfstede seine Unabhängigkeit zurückerlangen würde, damit die Bewohner des Kirchspiels keinen Tribut mehr zahlen und für fremde Herren in den Krieg ziehen mussten. Andererseits war ihm bewusst, dass dies schwerlich umzusetzen wäre. Warfstede war umgeben von machtgierigen Häuptlingen, die Jahr für Jahr ihr Kriegsvolk aussandten, um neues Land zu erobern. Würden die tom Brok das Kirchspiel freigeben, stünden sogleich andere parat, um es an sich zu reißen. Schlimmere, so wie Edo Wiemken.
Bei einer weiteren Kanne Wein sprach man über Politik, Handel, den Aufstieg der Hanse, die von Lübeck und Hamburg aus zunehmend Einfluss nahm auf die Königreiche des Nordens. Folkmar hielt sich bei der Unterhaltung zurück, damit er Yneke Egers beobachten konnte. Der war ein ganz anderer Mann als sein Vorgänger. Folkmar konnte nicht behaupten, dass Yneke ihm sonderlich sympathisch wäre. Zu kühl, zu misstrauisch gab sich der neue Vogt am Tisch der Familie. Gleichwohl konnte Folkmar dieses Verhalten nachvollziehen. Yneke wusste, dass er nicht unter Freunden weilte, mochten seine Gastgeber ihn noch so respektvoll behandeln. Die Osinga waren Vasallen Ockos, und er die rechte Hand ihres Herrn.
Davon abgesehen wirkte Yneke Egers höflich und vernünftig. Im Gespräch deutete er an, er werde sein Amt in der gewohnten Weise fortführen und nur wenig verändern.
»Und was wirst du verändern?«, hakte Jann nach. Er ließ sich nie mit Floskeln und vagen Auskünften abspeisen.
Bevor Yneke antworten konnte, knarzte der alte Folkmar: »Ist das Enne Rycken Hylkena?«
Yneke starrte ihn an. »Wieso hält er mich für einen anderen? Ist der Tattergreis schwachsinnig?«
Diese Bemerkung missfiel dem jungen Folkmar beträchtlich. »Das Alter hat sein Gedächtnis getrübt«, erklärte er kühl. »Mitunter verwechselt er Menschen.«
»Er soll damit aufhören«, verlangte Yneke.
Der alte Folkmar dachte nicht daran. »Wieso habt ihr Enne Rycken ins Steinhaus eingeladen? Das ist doch ein übler Geselle.«
Ynekes Lippen schmolzen zu einer dünnen Linie zusammen. Abbe wechselte einen Blick mit Jorien. Sie stand auf und legte ihrem Vater die Hände auf die Schultern.
»Du bist müde. Bringen wir dich ins Bett.«
Der Alte warf Yneke einen letzten argwöhnischen Blick zu, ehe Jorien ihn nach oben führte.
Abbe brach das unangenehme Schweigen. »Noch etwas Wein?«, fragte er den hohen Gast.
»Danke«, lehnte Yneke ab. »Ich werde ebenfalls zu Bett gehen – es war ein langer Tag. Habt Dank für die Gastfreundschaft«, sagte er in die Runde und erhob sich.
Unaufgefordert verließ Cord Hanneken seinen Posten am Kamin. Der Krieger erschien Folkmar wie ein Hund, der seinem Herrn in den Tod folgen würde. Ein riesiger, bissiger, fanatischer Hund.
»Wir haben das Haus deines Vorgängers für dich vorbereitet«, sagte Jann. »Ich bringe dich hin.«
»Es ist das neben der Schänke, richtig?«, meinte Yneke in einem seltsamen Tonfall.
Jann runzelte die Stirn. »Stimmt damit etwas nicht?«
»Es ist zu klein für meine Bedürfnisse. Aber für die Übergangszeit wird es ausreichen.«
»Was meinst du mit Übergangszeit?«, fragte Abbe.
»Bis ich mit meinen Dienern und Kriegsleuten ins Steinhaus ziehe«, erklärte der Vogt.
Schockiertes Schweigen erfüllte die Halle.
Folkmar war der Erste, der die Fassung zurückerlangte. »Und was ist mit uns?«
»Ihr werdet ausziehen«, erwiderte Yneke ungerührt.
»Das muss ein Irrtum sein«, mischte sich Abbe ein. »Wir Osinga haben das Steinhaus erbaut und leben seit Generationen darin. Niemand hat das Recht, uns zu vertreiben. Ist das mit Ocko abgesprochen?«
»Ich habe freie Hand, was die Auslegung meines Amtes betrifft.«
»Du hast versprochen, nur wenig zu verändern« – Folkmar wurde mit jedem Wort lauter – »und deine erste Amtshandlung ist, uns das Dach über dem Kopf wegzunehmen?«
»Ihr könnt Gott danken, dass Ocko euch das Steinhaus gelassen hat, als er weiland Warfstede besetzte«, hielt Yneke dagegen. »Ich an seiner Stelle hätte es niedergerissen.«
Es dauerte lange, bis Folkmar wütend wurde. Aber wenn es geschah, dann jäh und ungestüm. »Willst du uns demütigen? Geht es dir darum?« Unwillkürlich ballte er die Rechte zur Faust. »Ich rate dir, das noch einmal zu überdenken!«
Yneke wich einen Schritt zurück. Sofort war Cord zur Stelle und baute sich neben ihm auf. Sein Blick war drohend, das Feuermal schien zu glühen.
Abbe, Jann, Etta und Bent, sie alle redeten auf Yneke ein, versuchten, ihn umzustimmen. Vergeblich. Mit einer herrischen Geste brachte er sie zum Schweigen.
»Ich bin der Vogt von Warfstede – euer Herr und Meister«, sagte Yneke schneidend. »Mir und niemandem sonst steht das Steinhaus zu. Und ich allein darf Kriegsvolk befehligen. Ihr werdet sämtliche Söldlinge entlassen.«
»Du nimmst uns jeglichen Schutz?«, fragte Abbe, dessen Stimme vor Empörung zitterte. »Mit welchem Recht?«
»Das Privileg, Krieger in den Dienst zu nehmen, haftet am Steinhaus. Nur der Bewohner darf es in Anspruch nehmen.«
»Unsinn! Viele reiche Marschleute beschäftigen Kämpfer zum Schutz von Haus und Hof, selbst wenn sie nur …«
»Kein Steinhaus, kein Kriegsvolk«, schnitt Yneke Abbe das Wort ab. »Fügt euch, oder ihr werdet Ockos Kerker kennenlernen.«
»Das wagst du nicht!«
»Ich rate dir, mich nicht herauszufordern, Missgeburt. Ein Wort von mir, und übermorgen habe ich zweihundert Mann, die euch zermalmen und die Überlebenden in Ketten nach Marienhafe schleifen. Wie lange wirst du in einem feuchten und kalten Kellerloch überstehen, bevor Fieber und Schmerzen deinen verkrüppelten Leib zugrunde richten? Eine Woche? Zwei?«
Abbe sagte nichts mehr. Folkmar ertrug es kaum, die Furcht in seinen Augen zu sehen.
Yneke blickte die schweigenden Familienmitglieder der Reihe nach an, und seine Mundwinkel zuckten vor Genugtuung. »Morgen fangt ihr an, das Steinhaus zu räumen. Ihr habt drei Tage.«
Almuth strich sich eine Locke aus dem Gesicht und blickte zum Steinhaus hinüber. Als sie das letzte Mal hier gestanden hatte, war sie ein vierzehnjähriges Mädchen gewesen, den Kopf voller kindischer Ideen und törichter Gedanken. Wie einfach das Leben damals doch gewesen war …
Sie nahm einen tiefen Atemzug und hob die Kiste mit ihren Habseligkeiten vom Ackerschlitten.
Es war ein windiger Morgen wenige Tage vor dem ersten Advent. Böen pfiffen um das Schankhaus, kalte Luft drang durch die Ritzen in Holz und Reet. Drinnen traf sie ihren Vater, der sich die Hände rieb.
»Ich habe mit dem Wirt gesprochen«, sagte Gert Ulfferts. »Er hat eine Kammer für uns, in der wir wohnen können, bis wir eine Bleibe gefunden haben.«
Almuth folgte ihm durch den Schankraum, in dem so früh am Tag niemand saß. Ein junges Mädchen streute gerade frische Binsen aus und beachtete die beiden Neuankömmlinge nicht. Almuth wurde schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich über ein freundliches Wort oder ein Lächeln gefreut hätte. Es war lange her, dass man sie angelächelt hatte.
Nach dem Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren war Gert einer bleischweren, lähmenden Trauer anheimgefallen. In jener Zeit hatte er einige ungünstige geschäftliche Entscheidungen getroffen und nicht nur viel Geld verloren, sondern obendrein mächtige Männer gegen sich aufgebracht – darunter keinen Geringeren als Edo Wiemken, den Häuptling von Östringen. Diesmal hatte ihn alles Schmeicheln und Buckeln nicht retten können. Es war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als den kläglichen Rest ihres Besitzes zu verkaufen und Jever Hals über Kopf zu verlassen.
Almuth blieb in der Tür stehen und betrachtete die enge und finstere Kammer. Stroh verstopfte den einzigen Fensterschlitz. Trotzdem zog es. »Haben wir richtig entschieden, Vater?«, fragte sie leise.
Gert verzog das rote Gesicht zu einem Lächeln. Seine aufgesetzte Zuversicht zerrte an ihren Nerven. »Warfstede ist der richtige Ort für einen Neuanfang, du wirst sehen.«
»Die tom Brok beherrschen das Kirchspiel. Wäre es nicht klüger gewesen, in einen Ort zu ziehen, der frei ist?«
»Papperlapapp! Früher oder später werden die tom Brok ganz Ostfriesland beherrschen. Wir tun gut daran, uns mit ihnen zu arrangieren. In Warfstede mit seinem Sielhafen und der Lastadie kann ein Mann gutes Geld verdienen.«
»Wir kennen hier niemanden.«
»Das wird nicht so bleiben. Wenn Gert Ulfferts eines kann, dann, Freunde zu gewinnen«, verkündete ihr Vater.
Wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, sich neue Feinde zu schaffen, dachte Almuth bedrückt. »Holen wir die restlichen Sachen.«
Sie öffnete die Eingangstür, die eine kräftige Bö ihr beinahe aus den Händen riss, und trat auf den The. Der Wind bauschte ihr Haar auf, während sie den Blick über die Hütten, die Viehgatter, die fremden Gesichter schweifen ließ.
Dies also war ihre neue Heimat.
Würde sie sich in Warfstede je zu Hause fühlen?
»Wie war gleich dein Name?«
Der Vogt von Warfstede, der in der Halle des Steinhauses saß, schaute sie nicht an. Er war in ein gesiegeltes Dokument vertieft. Bei ihm hockte der Krieger, der sie am Morgen einbestellt hatte. Cord Hanneken hieß der Mann. Er löffelte Milchbrei. Es war schwer, ihn nicht anzustarren. Das Feuermal in dem zerknautschten Gesicht erinnerte Almuth an eine eingetrocknete Blutlache.
»Gert Ulfferts«, stellte sich ihr Vater vor. »Ihr wolltet mich kennenlernen.«
»Ah richtig. Der Händler.« Yneke Egers legte das Pergament auf den Tisch und hob den Kopf. »Das ist dein Weib?«
»Aber keineswegs. Sie wäre viel zu jung für mich. Und viel zu hübsch für einen solch hässlichen Kerl, nicht wahr?« Gert lachte gekünstelt. »Meine Tochter Almuth.«
Ynekes Blick blieb länger an ihr haften, als ihr lieb war. Endlich wandte er sich wieder ihrem Vater zu.
»Du willst dich also in Warfstede niederlassen.«
»Wenn Ihr erlaubt.«
»Womit handelst du?«
»Werkzeug, Friesensalz, Goldschmuck aus Emden – eben alles, was die Menschen begehren.«
»Woher kommst du?«
»Aus Jever im Östringerland.«
»Also war Edo Wiemken dein Häuptling«, stellte der Vogt fest.
»Das ist richtig«, entgegnete Gert nervös.
»Wieso habt ihr Östringen verlassen?«