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Friesland 1351: Schiffe zu bauen – das war schon immer der Traum des junge Zimmermanns Jann Wilken. Mit seinen genialen Ideen will er die Seefahrt revolutionieren und sich in den Häfen der Hanse einen Namen machen. Aber Jann hat es nicht leicht. Er ist der uneheliche Sohn des mächtigen Wilke Tammen Osinga, der den Bastard verabscheut und täglich erniedrigt. Der jähzornige Wilke führt eine Blutfehde gegen seinen Erzfeind Enne Rycken und zieht seine Söhne in den Konflikt hinein. Jann ist seit langem heimlich in seine Jugendfreundin Jorien verliebt. Doch als er ihr endlich seine Gefühle gestehen will, wird sein Dorf von Enne angegriffen, und es kommt zur Katastrophe ...
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Seitenzahl: 1483
Buch
Friesland 1351: Schiffe zu bauen – das war schon immer der Traum des jungen Zimmermanns Jann Wilken. Mit seinen genialen Ideen will er die Seefahrt revolutionieren und sich in den Häfen der Hanse einen Namen machen. Aber Jann hat es nicht leicht. Er ist der uneheliche Sohn des mächtigen Wilke Tammen, der den Bastard verabscheut und täglich erniedrigt. Der jähzornige Wilke führt eine Blutfehde gegen seinen Erzfeind Enne Rycken und zieht seine Söhne in den Konflikt hinein. Jann ist seit Langem heimlich in seine Jugendfreundin Jorien verliebt. Doch als er ihr endlich seine Gefühle gestehen will, wird sein Dorf von Enne angegriffen, und es kommt zur Katastrophe …
Informationen zu Daniel Wolf und den lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches
Daniel Wolf
Im Zeichen des Löwen
Historischer Roman
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Originalausgabe März 2020
Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Gestaltung des Covers: UNO Werbeagentur München
Coverfoto: Loading Goods on to a Ship, from the manuscript »Justiniano Institutiones Feodorum et Alia«, c.1300 (vellum), Bolognese School, (14th century) / Biblioteca Nazionale, Turin, Italy / Index Fototeca / Bridgeman Images
FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
BH · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22476-9V002
www.goldmann-verlag.de
Dramatis Personae
WARFSTEDE
Wilke Tammen, das Oberhaupt der Familie Osinga, der Redjeve zu Warfstede
Unicke Wilken, sein Erstgeborener
Here Wilken, sein Zweitgeborener
Abbe Wilken, sein Drittgeborener
Jann Wilken, sein Bastard
Ippe Tammen, Wilkes Bruder, der Vikar von Warfstede
Gela Reinken, Janns Mutter, eine Magd
Folkmar Peters, ein Schiffsbaumeister
Jorien Folkmars, seine Tochter
Tede Johannsen, ein Lotse
Bebbe Tygen, ein Krieger
Hedde Sassen, ein Krieger
Harke Clausen, ein Schiffszimmermann
DUVELSLOND
Enne Rycken, das Oberhaupt der Familie Hylkena, der Redjeve zu Duvelslond
Alke Rycken, seine Schwester, eine Alchemistin
HARLINGERLAND
Onneke Fossen, der Zunftmeister der Schiffsbauer
Ihmel Campen, ein Bauer
Herderic Campen, sein Bruder
FolefIken, ein Bauer
Ocke Gerts, ein Bauer
Uke Nannen, ein Schiffsbaumeister
Eggerik Beven, ein Schiffsbaumeister
Uptet Cyben Platinga, ein Redjeve
Kene Martins Reentzen, der Enunciator der Landsgemeinde
Hayke Kenen Reentzen, sein Sohn
Rikeld Aden, ein Redjeve
BREMEN
Theda Peters, die Meisterin der Beginen zu Sankt Katharinen, Folkmars Schwester
Alburg, eine Begine
Mechthildis, eine Begine
Clementia, eine Begine
Dina, eine Magd
Marquard, ein Kaufmann und Ratsherr, der Tutor der Beginen
Nikolaus, ein Domherr, der Beichtvater der Beginen
Johann, ein Pächter der Beginen
Gregorius, der Abt der Dominikaner
Margarethe Hemeling, eine betagte Patrizierin
LÜBECK
Hartmann, ein Handelsherr
Geseke, seine Gemahlin
Ricarda, seine Tochter
Wilbrand, ein Schiffsgeistlicher
Elver, ein Schiffer
Vito, ein Kaufmann
Luther, ein Schiffer
HISTORISCHE PERSONEN
Johann Wittenborg, ein Kaufmann und Ratsherr, Bürgermeister von Lübeck ab 1359
Brun Warendorp, ein Kaufmann und Ratsherr, Bürgermeister von Lübeck ab 1367
Albert II., Erzbischof von Bremen ab 1361
Waldemar IV. »Atterdag«, der König von Dänemark
Walter Kerlinger, ein Inquisitor
Hare Edzardsna, das Oberhaupt der Familie Cirksena, ein Redjeve und Häuptling
Matthias Overstolz, ein Schöffe und Bürgermeister von Köln
Bertram Wulflam und Johannes Rughe , die Ratssendeboten von Stralsund, Greifswald, Anklam und Stettin
Thomas Morkerke, ein Kaufmann, Mitglied der Zirkelgesellschaft zu Lübeck
SONSTIGE
Hylmer Lutets, ein westfriesischer Lotse
Pietro und Bernabò, Brüder, Kaufleute aus Genua
Gerold Eyken, ein Schiffer aus Rungholt
Humphrey Fitzhamon, ein englischer Soldritter
Doctor Albrondus, ein Medicus
Christian von Visby, ein hansischer Söldner
Ulrich, sein Diener
Im Anhang befindet sich ein Glossar der friesischen und maritimen Begriffe.
»Der Stamm der Friesen ist nach außen frei, keinem Herrn unterworfen. Lieber wählen sie den Tod, als dass sie sich mit dem Joch der Knechtschaft belasten ließen.«
Bartholomaeus Anglicus1240 nach Christus
Prolog
Das Schiff im Watt brachte den Hass nach Warfstede.
Jann stand auf dem Deich und beobachtete die Kogge, die draußen im Priel ankerte. Es war die Magnus, der ganze Stolz der Familie Osinga. Das Schiff war weit entfernt, doch Jann hätte es unter tausend anderen wiedererkannt. Erst vor zwei Wochen war es ausgelaufen. Niemand hatte schon so bald mit seiner Rückkehr gerechnet.
Es war ein friedlicher Sommermorgen. Wie jeden Tag war Jann zum Siel gegangen und hatte mit dem Stecken die Muscheln vom Schleusentor gekratzt. Die Sonne stand tief über dem Marschland, das Watt gleißte wie poliertes Silbergeschirr oder wie die Reliquienschreine in den Kirchen zu Köln und Lübeck, von denen er gehört hatte. Jann Wilken war siebzehn Jahre alt. Er hatte noch nicht viel gesehen von der Welt.
Frischer Wind kam vom Meer. Das Schiffsvolk hatte die Rah gefiert und nahm soeben das Segel ab. Drei Seeleute kletterten über die Reling, ließen sich in den Priel fallen und schwammen zum flachen Rand der wassergefüllten Rinne. Der Wind verstümmelte ihre Rufe, als sie mit vereinten Kräften einen Ballen aus Segeltuch auf das Watt zogen. Das Bündel war länglich und schwer, zwei Männer mussten es tragen. Janns Hand krampfte sich um den Stecken.
Er stieg den Deich an der Tidenseite hinab, die Schafe machten ihm blökend Platz. Neben ihm strömte der Fluss durch die Salzwiesen und vereinigte sich mit dem Priel, der sich in glitzernden Schleifen durch das Watt schlängelte. Janns Herz pochte wild. Er wollte rennen, aber der weiche Wattboden hielt ihn auf. Seine nackten Füße sanken darin ein. Schritt für Schritt kämpfte er sich voran.
Seine Halbbrüder Unicke und Here waren nach Rungholt gefahren, um Schlachtvieh und Schafswolle gegen lübisches Bier und schwedisches Eisenerz zu tauschen. Doch als Jann den Männern der Magnus entgegeneilte, erblickte er nur Here Wilken, der dem kleinen Trupp vorausschritt.
»Hol Vater!«, rief sein Halbbruder.
Jann blieb stehen, presste die Lippen aufeinander. Betrachtete das Bündel, das die Seeleute trugen.
»Geh!«, brüllte Here.
Jann hastete zu den Salzwiesen zurück, erklomm den Deich und rannte über das Marschland, vorbei an den Gerstenfeldern und blühenden Viehweiden. Folkmar Peters, der Schiffsbaumeister, trat gerade ins Freie und hob die Hand zum Gruß. Jann bemerkte ihn kaum. Er rannte weiter zum Dorf und zum Steinhaus der Familie, das erhöht auf der alten Warf stand und wie ein strenger Herr über Warfstede wachte. Hastig erklomm er die Leiter zum Eingang.
Sein Vater Wilke Tammen und sein dritter Halbbruder Abbe Wilken saßen beim Morgenbrot am kalten Kamin. Jann durchquerte die Halle, in der die Magd gerade gehackte Binsen ausstreute. Sein Vater schaute ihn nicht an. Er schaute ihn nie an, wenn er es vermeiden konnte.
»Here ist zurück«, sagte Jann atemlos. »Du sollst kommen.«
Wilkes Blick war nicht freundlich. »Wieso sind sie schon da? Waren sie nicht in Rungholt?«
»Ich weiß nicht.«
Wilke gab ein unwilliges Knurren von sich, ehe er sich schwerfällig wie ein sattgefressener Bär erhob. Der bucklige Abbe ging ihnen nach, doch er kam nur mit Mühe die Leiter hinunter und konnte nicht mit ihnen Schritt halten.
Sie sprachen kein Wort, während sie zum Siel schritten. Here und die beiden Seeleute standen auf dem Deich, der Wind zerrte an ihren Röcken. Folkmar und einige Bauern von den Feldern waren zu ihnen gegangen und betrachteten schweigend das Bündel im Gras.
»Wo ist Unicke?«, verlangte Wilke harsch zu wissen.
Jann konnte sich nicht erinnern, Here je so verzagt gesehen zu haben. Steif stand sein Halbbruder da, das Gesicht bleich, die Augen stumpf. »Er …« Seine Stimme versickerte. Here schluckte und begann von Neuem: »Er ist tot.«
Worte wie Eissplitter, die Jann scharf und kalt ins Herz stachen. Wilke starrte Here lange an. Der Wind peitschte sein langes Haar mal hierhin, mal dorthin, einzelne Strähnen verfingen sich im Vollbart. Die Seeleute hatten angefangen, das Bündel zu öffnen. Wilke bewegte sich so plötzlich, dass Jann zusammenzuckte und Here erschrocken einen Schritt zurückwich. Ihr Vater stieß die Matrosen zur Seite, zog das Messer und schnitt das Segeltuch auf.
Ein Schwall Verwesungsgestank quoll hervor, ein schwerer Brodem, der die Männer erbleichen ließ. Wilke zerriss das Tuch mit seinen Prankenhänden. Bald hatte er den Körper freigelegt. Unickes Gesicht, der Hals, die Arme waren grau wie das Watt. Zwischen Brustkorb und Bauch klaffte eine Stichwunde. Das Wollwams war schwarz von getrocknetem Blut.
Wilke kniete im Gras, über den Leichnam gebeugt. Seine breiten Schultern zitterten. Aus seiner Kehle drang ein tiefes, keuchendes Schluchzen, ein tierhafter Laut der Trauer. Auch Jann weinte. Er hatte Unicke geliebt. Unicke war sein Vorbild gewesen, sein Held.
Derweil erreichte auch Abbe den Deich. Jann half ihm die Böschung hinauf. Tränen schossen Abbe in die Augen, als er den Toten erblickte. Unicke war Wilkes Erstgeborener. Er hatte Jann und Abbe stets vor dessen Jähzorn beschützt, hatte Heres gefährliche Launen eingehegt und das düstere Steinhaus mit Lachen gefüllt. Der mutige, gerechte, fröhliche Unicke.
Wilke hob den Kopf. »Wer hat das getan?«
»Enne Rycken Hylkena.« Here spie den Namen aus wie einen Fluch. »Wir trafen ihn in Rungholt. Er war betrunken und suchte Streit. Plötzlich ging er auf Unicke los. Sie zogen die Schwerter und kämpften. Bevor ich eingreifen konnte, hatte Enne ihn erschlagen.«
Wilke stand langsam auf. Er ballte die Linke zur Faust. Harte Muskeln schwollen am Arm. »Hast du deinen Bruder gerächt?«
Here konnte den Vater nicht anschauen. »Enne ist geflohen.«
»Du verdammter Tölpel! Wieso hast du ihn nicht an Ort und Stelle niedergestreckt?«
»Es ging alles so schnell«, rechtfertigte sich Here. »Da lag Unicke, und ich dachte, ich könnte ihn retten. Als ich begriff, dass es zu spät war, war Enne längst fort.«
»Du hättest ihn jagen sollen!«
»Wir haben die ganze Stadt abgesucht. Er war spurlos verschwunden.«
Jann dachte, der Vater würde Here schlagen. Stattdessen wandte sich Wilke ab und stieg den Deich an der Landseite hinunter. Seine drei Söhne, der schweigsame Folkmar und die Bauern folgten ihm. Die Seeleute trugen Unicke.
»Holt eure Waffen!«, donnerte Wilke, nachdem sie die Leiche ins Steinhaus gebracht hatten.
Jann öffnete die Kiste mit seinen Habseligkeiten. Mit zitternden Händen gürtete er sich das Schwert um. Die Tränen flossen noch immer, wütend wischte er sie weg. Er würde später trauern. Jetzt galt es, Unicke zu rächen.
Währenddessen hatte man den Toten auf den großen Tisch am Kamin gelegt. Knechte, Mägde und Leute aus dem Dorf drängten sich um Unicke. Manche weinten, andere schüttelten die Fäuste und zischten gotteslästerliche Flüche, die dem Mörder galten. Janns Onkel Ippe Tammen, der Vikar von Warfstede, steckte in der Menschenmenge fest und verlangte schrill, man möge ihn zu dem Leichnam vorlassen.
Wilke hatte die Kriegsleute um sich geschart. Als er zu Unicke auf den Tisch stieg, in der Hand das blanke Schwert, verstummte das Geschrei. »Enne Rycken hat mir meinen Sohn genommen. Meinen Erstgeborenen.« Seine Stimme drang in jeden Winkel der Halle. »Dafür wird er büßen!«
Wer eine Waffe trug, reckte sie in die Höhe und brüllte. Auch Jann schrie aus vollem Hals.
»Wir werden ihn aus seiner Burg holen, ihn und seine verkommene Schwester!«, rief Wilke. »Sie werden vor mir im Staub liegen und mich um Gnade anflehen. Aber ich werde ihnen keine Gnade gewähren. Ihr Blut für Unickes Blut!«
»Ihr Blut für Unickes Blut!« Die Menge brüllte noch lauter als zuvor. Jann fühlte sich, als wäre er mit all den Menschen in der Halle zu einem einzigen Wesen verschmolzen. Es tat gut, gemeinsam den Schmerz hinauszuschreien.
Wilke sprang vom Tisch. Die Bewaffneten stiegen hinter ihm die Leiter hinab. Draußen bellte Here Befehle, man holte die Pferde aus den Ställen.
Kurz darauf saß Jann im Sattel und ritt an Wilkes und Heres Seite, als die bewaffnete Schar zum Dorfplatz marschierte, wo sich ihr weitere Männer anschlossen.
»Gerechtigkeit für Unicke!«
Die Familie Osinga zog in den Krieg.
ERSTES BUCH
DIE FEHDE
April bis Oktober 1351
Enne träumte von Geistern. Es war derselbe Albtraum, der ihn beinahe jede Nacht heimsuchte. Kaum war er eingeschlafen, erschienen ihre bleichen Gesichter in der Dunkelheit, vernahm er ihr Wehklagen, ihre gewisperten Gebete, die niemand erhörte.
Er erwachte mit rasendem Herzen. Still lag er da und wartete darauf, dass die Geister verschwanden. Als der Traum endlich verblasste, setzte er sich auf und rieb sich das stopplige Kinn. Das durchgeschwitzte Untergewand klebte ihm an der Brust. Sein Rachen war ganz ausgedörrt. Er tastete nach der Kanne und trank etwas Wasser.
Irgendwo schmatzte jemand, ein Strohsack raschelte. Enne und seine Leute hatten die Herberge für sich. Die Krieger, das Bauernpaar und der Vikar schliefen noch. Leise zog er sich an und suchte sich einen Weg zwischen den liegenden Körpern hindurch. Der Hof lag still. Das Tageslicht war noch derart schwach, dass er kaum den Ziehbrunnen und die Wagen vor dem Stall erkennen konnte. Enne atmete tief ein und aus. Die kalte Luft vertrieb die letzten Traumfetzen. Die Wut aber blieb. Er war mit ihr schlafen gegangen und mit ihr aufgewacht. Immerzu hockte sie in seiner Brust, umklammerte seine Rippen und bleckte die Zähne. Knurrend sprang sie jeden an, der sie reizte. Ungeschickte Diener. Faule Knechte. Gierige Zöllner. Ganz Duvelslond fürchtete Ennes Wut. Manchmal betäubte er sie mit Wein.
Esens verstand sich besonders darauf, seinen Zorn zu wecken. Hier gab es allerhand Diebsgesindel und unverschämtes Volk. Aber es war der größte Markt weit und breit. Nirgendwo sonst in Harlingerland fand er so leicht Abnehmer für seine Waren. In nur zwei Tagen hatte er eine Wagenladung Wolle, Torfsalz und Pökelfleisch sowie ein halbes Dutzend Kälber verkauft. Die Fehde hatte seine Schatullen geleert. Er brauchte dringend frisches Geld.
Er hörte leises Klappern und ging hinein. Der Wirt hatte Feuer gemacht, und während er gähnend im Kessel rührte, kam Leben in die Gaststube. Die Krieger kratzten sich schlaftrunken, verfluchten das Ungeziefer in den Strohsäcken und schlurften zum Wasserfass, wo sich der Vikar gerade wusch. Der Geistliche war ein zappliges Männlein, dessen viel zu großer Kopf auf dem dünnen Hals wackelte. Er wuselte den ganzen Tag umher und hielt einen nur auf mit seinem Geplapper. Enne bereute es, dass er dem Kerl erlaubt hatte, ihn nach Esens zu begleiten.
Er setzte sich ans Feuer und wärmte seine klammen Hände. Der Wirt reichte ihm einen Napf mit gesalzener Grütze. Enne stocherte eine Weile darin herum und stellte die halb volle Schale schließlich weg. Er war kein großer Esser – meist genügten ihm ein paar Bissen, um satt zu werden. Manchmal aß er fast den ganzen Tag nichts, weil er schlicht nicht daran dachte. Das sah man ihm an. »Du bist dürr wie der Schnitter«, pflegte seine Schwester zu spotten. Sie musste es wissen: Alke Rycken war mit unheimlichen Mächten im Bunde, womöglich gar mit dem Tod selbst.
Der Vikar setzte sich zu ihm und berichtete fröhlich von seinem Besuch im Kloster Esingfelde. »Wisst Ihr, wen ich gestern dort getroffen habe?«
»Wenn es nicht der heilige Magnus war, will ich es nicht hören.«
Eingeschüchtert klappte der Geistliche den Mund zu … nur um einen Augenblick später den Wirt in ein Gespräch zu verwickeln.
Enne rief die Fuhrknechte zu sich. »Wenn ihr gegessen habt, macht ihr den Wagen fertig.«
»Gewiss, Herr.«
Die Männer schlangen den warmen Brei hinunter. Enne gürtete sich einstweilen das Schwert um. Ohne die Waffe ging er nirgendwohin. Er war das Oberhaupt der Familie Hylkena und der Herr von Duvelslond: Das Schwert war das Symbol seiner Macht – und sein kostbarster Besitz.
Wenig später verließen sie die Herberge. Der Fuhrknecht lenkte den Wagen die Gasse entlang. Enne und die Krieger folgten ihm zu Fuß und gingen auf den Bohlen, die auf dem schlammigen Boden lagen. Das Bauernpaar begleitete sie. Die beiden hatten sich Enne angeschlossen, um Feldfrüchte in Esens zu verkaufen – der Markt in Duvelslond darbte wegen der Fehde und war für viele Marschbewohner nicht mehr rentabel. Ein stämmiges Pferd, das der Bauer am Zügel führte, zog den Ackerschlitten mit den Säcken und Körben.
Es war nicht weit bis zum Marktplatz. Enne schlug innerlich drei Kreuze, als der geschwätzige Vikar in der Kirche verschwand. Er suchte sich einen freien Platz und wies seine Leute an, die Fässer mit dem restlichen Torfsalz vom Wagen zu laden und die Pferde auszuspannen.
Trotz der Kälte war der Markt gut besucht. Enne verkaufte das Salz an die hiesige Gerberzunft und an mehrere reiche Bauern, die ihm gutes Geld für seine Ware zahlten. Gegen Mittag nahm er zwei Gulden aus der Kiste unter dem Wagenbock.
»Ich bin eine Weile fort«, sagte er zu seinen Leuten. »Passt gut auf das Geld auf.«
Er bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und gelangte zum Stand eines Waffenschmieds, der sich an einem qualmenden Torffeuer wärmte. Enne nahm eines der ausliegenden Schwerter in die Hand und prüfte die Schneide. Gute Qualität. Er musste seine Krieger dringend neu ausrüsten – nach fast zehn Monaten Kampf waren ihre Waffen in einem lausigen Zustand. Er verhandelte eine Weile mit dem Schmied und bekam für sein Gold jeweils ein Dutzend Schwerter, Speere und Schilde sowie vier Armbrüste mit vollen Bolzentaschen.
Sie besiegelten das Geschäft per Handschlag. »Mein Stand ist da drüben. Kannst du mir nachher alles liefern?«
»Wird gemacht.« Der Schmied deutete auf die Waffe an Ennes Gürtel. »Ein schönes Schwert. Darf ich es sehen?«
Enne zog es, gab es jedoch nicht aus der Hand. Er hielt das Schwert so, dass der Schmied es betrachten konnte.
»Eine friesische Arbeit ist das nicht.«
»Kastilisch.«
»Aus Toledo?«
Enne nickte, und der Schmied pfiff anerkennend.
»Wie kommst du an ein Schwert aus Toledostahl?«
»Ein Erbstück.« Ennes Großvater war ein gefürchteter Krieger gewesen, seine Raubzüge hatten ihn reich gemacht. Von dem erbeuteten Gold hatte er das Schwert gekauft, die Wasserburg in Duvelslond gebaut und seiner Sippe Macht und Ansehen verschafft.
»Was willst du dafür?«, fragte der Schmied mit leuchtenden Augen.
»Es ist nicht zu verkaufen.« Enne schob das Schwert in die mit Goldfäden und Perlen besetzte Scheide.
»Komm zu mir, wenn du deine Meinung änderst. Ich zahle gut!«, rief der Schmied ihm nach, als er sich abwandte.
In der Schenke neben der Zunftstube der Schiffsbauer trank er einen heißen Würzwein am Feuer. Obwohl er kaum Hunger hatte, zwang er sich, etwas Brot und Käse zu essen. Als eine Schar Händler hereinkam und mit fröhlichem Getöse die Bänke bevölkerte, verging ihm augenblicklich der Appetit. Lärm und Gedränge konnte er nicht ertragen. Er stürzte den Wein hinunter, knallte einen Pfennig auf den Tisch und wollte gehen. Just in diesem Moment sprang vor ihm ein junger Bursche auf und erzählte zur Erheiterung der anderen mit wilden Gesten eine Geschichte. Dabei schlug er Enne fast ins Gesicht.
»Pass auf, Mann!«
Der Kerl wandte sich zu ihm um, er war angetrunken und grinste frech. »Was willst du?«
»Geh zur Seite.«
»Ich erzähle gerade was. Hock dich hin, bis ich fertig bin.« Der Bursche schwenkte den Humpen, Bier schwappte heraus und spritzte Enne auf das Gewand.
Die Wut in seiner Brust hatte den ganzen Morgen friedlich gedöst. Jetzt fuhr sie fauchend die Krallen aus. Enne biss die Zähne zusammen, seine Hand schnellte vor und packte den Kerl am Kragen.
Am Tisch herrschte Stille.
»Beim heiligen Magnus! Das ist Enne Rycken Hylkena«, murmelte jemand.
»Tut mir leid«, stammelte der Bursche. »Ich wollte nicht … es war keine …«
Enne hatte große Lust, ihn nach draußen zu schleifen und sein pausbäckiges Gesicht in den Straßenschlamm zu drücken. Doch der Kerl trug feine Kleidung, vermutlich war er der Sohn eines reichen Marschbauern. Enne konnte es sich nicht leisten, eine weitere einflussreiche Familie gegen sich aufzubringen. Er ließ den Bauernsohn los und schob sich an den Händlern vorbei. Ihre Blicke verfolgten ihn bis zur Tür.
Draußen spuckte er aus. Wahrlich, es wurde Zeit, dass er heimkehrte. Das enge, wimmelnde, großspurige Esens machte über kurz oder lang selbst Heilige zu Mördern.
Auch nachmittags ließ sich die Sonne nicht blicken, und es blieb so kalt wie am Morgen. Enne verkaufte die restliche Ware und kehrte bei Einbruch der Dunkelheit zur Herberge zurück. Die Waffen ließen sie auf dem Wagen und deckten sie mit Segeltuch ab. Enne stellte einen Krieger als Wache ab, ehe er die Kiste hineintrug und sich daranmachte, die Gulden und Silberpfennige zu zählen. Er war zufrieden mit seinen Einnahmen. Selbst nach dem Kauf der Waffen war genug übrig geblieben, um seine Söldner zu bezahlen.
Der Bauer und sein Weib setzten sich zu ihm. »Geht es morgen zurück nach Duvelslond?«
»Wollt ihr mich begleiten?«
»Wenn Ihr erlaubt«, sagte der bärtige Mann. »Unsere Geschäfte hier sind erledigt.«
»Ich breche beim ersten Licht des Tages auf. Seid rechtzeitig fertig. Ich warte nicht auf euch.«
»Aber wir können noch nicht heimkehren.« Der Vikar stellte eine dampfende Schüssel auf den Tisch, wedelte mit den Händen und pustete auf seine heißen Finger. »Zuerst muss ich an der Reliquie des heiligen Magnus meine Gebete sprechen.«
»Du warst doch heute in der Kirche«, sagte Enne gereizt. »Was hast du denn die ganze Zeit dort getrieben?«
»Ich traf zufällig den Gesandten des Erzbischofs, der gerade in Esens weilt. Es gab viel zu besprechen. Beispielsweise soll es neue Regeln für die Sendkirchen …«
»Wir brechen morgen in aller Früh auf«, schnitt Enne ihm das Wort ab. »Wenn dir das nicht passt, bleibst du eben hier.«
»Aber dann muss ich ganz allein nach Hause gehen!«, stellte der Geistliche entsetzt fest.
»Du hast ja dann den Beistand des heiligen Magnus.«
»Ja, natürlich … Aber trotzdem! Was, wenn die Osinga mich erwischen …?«
Wenn Enne dem Vikar noch länger zuhörte, würde er ihn schlagen. Er verschloss die Kiste und stellte sie neben sein Schlaflager. Morgen würde er die Münzen in seine Geldkatze füllen. Es erschien ihm sicherer, sie am Leib zu tragen, während sie durch die einsame Heide ritten. Die Fuhrknechte hatten keine Kampferfahrung. Bei Gefahr wollte er sich nicht auf sie verlassen müssen.
»Geht schlafen«, sagte er in die Runde. »Morgen wird ein langer Tag.«
Die Männer leerten ihre Krüge und machten es sich auf den Strohsäcken bequem. Nur der Vikar gab keine Ruhe. Er hatte das Bauernpaar in Beschlag genommen und hörte erst auf zu plappern, als einer der Krieger durch die Gaststube brüllte. Der Vikar nannte ihn einen Rohling und murrte leise, während er seinen Umhang auf dem Boden ausbreitete und sich hinlegte. Endlich war es still.
Enne hatte sich mit dem Mantel zugedeckt. Mit halb geschlossenen Augen betrachtete er das Herdfeuer. Der letzte Torfbrocken zerfiel gerade zu weißer Asche. Als die Flammen erstarben, übermannte ihn der Schlaf.
Wenig später kamen die Geister.
Der Bach, wenngleich kaum zu sehen im hohen Gras, bildete die Grenze zwischen den Kirchspielen zu Warfstede und Duvelslond. Westlich des schmalen Wasserlaufs lagen weite Äcker und Viehweiden, durchzogen von wuchernden Brombeerhecken und windschiefen Holzzäunen: Feindesland.
Wilke hob die Hand, und die Männer zügelten die Pferde. »Jemand muss sich da drüben umsehen.«
»Ich mach das.« Here, natürlich. Sein Übereifer ging Jann auf die Nerven. Seit Unickes Tod wurde es immer schlimmer.
Here nahm den Rundschild vom Rücken, trieb sein Pferd durch den Bach und gab ihm die Sporen. Wenig später verschwand er zwischen den Wallhecken.
Jann zog sich den Umhang enger um die Schultern, während sie warteten. Obwohl bereits Mitte April, war es kalt wie an Lichtmess und windig wie an Allerheiligen. Steife Böen fegten über den Deich und zerzausten sein hellblondes Haar, Wolken hingen tief über dem Marschland wie dicht gewebtes Wolltuch. Zwei Krieger stiegen ab und füllten am Bach ihre Trinkflaschen. Niemand sprach. Wenn Jann sich umblickte, sah er nichts als Erschöpfung in den Gesichtern. Nach fast zehn Monaten Fehde waren die Männer kriegsmüde.
Seit dem letzten Sommer jagten sie Enne Rycken Hylkena, doch er war ihnen bisher jedes Mal entwischt. Er war stärker als gedacht, gerissen obendrein. Also hatten sie sich darauf verlegt, sein Land zu plündern und seine Felder zu brandschatzen. Damit fügten sie ihm zweifellos schweren Schaden zu, aber Enne ließ sich das natürlich nicht bieten. Auf jeden Angriff folgte ein Gegenschlag, bei dem ein Hof, eine Scheune, ein Kornspeicher der Familie Osinga in Flammen aufging. Die endlosen Kämpfe und Raubzüge laugten beide Kirchspiele aus. Die Bauern von Marsch und Geest flehten Wilke Tammen an, endlich Frieden mit den Hylkena zu schließen. Wilke aber dachte nicht daran. Sein Hass war unversöhnlich.
Heute unternahmen sie einen neuen Versuch, Unicke zu rächen. Was genau sein Vater vorhatte, wusste Jann nicht. Weder Wilke noch Here hatten ihn in die Planung einbezogen. Jann war ein Bastard. Ein Bastard wurde nicht gefragt.
Für den Angriff hatten sie zwanzig Krieger aufgeboten, ein jeder bewaffnet mit Schwert oder Lanze, manche mit Armbrüsten. Niemand trug einen Helm oder gar einen Harnisch wie die Ritter des Erzbischofs, die Jann in Bremen gesehen hatte. Die Friesen misstrauten Rüstungen und zogen stets mit leichter Bewaffnung in den Kampf. Zehn waren Söldlinge, die anderen zehn Bauern, Fischer und Torfstecher, die der Familie Osinga zur Heerfolge verpflichtet waren, allesamt zähe Männer mit breiten Schultern und kräftigen Händen. Janns Vater überragte selbst den größten von ihnen um einen halben Kopf, seine Beine wirkten wie Baumstämme, die Armmuskeln wie Schiffstaue. Wilke galt den Harlingern als mächtiger Krieger, der mehr Schmerz und Entbehrung aushalten konnte als die meisten anderen Menschen.
Über dem Deich kreischten die Möwen. Jann wünschte, er wäre genauso frei wie sie. Einfach fortfliegen und all das hinter sich lassen. Keine sinnlosen Kämpfe mehr. Keinen Vater, der ihn fortwährend ignorierte.
Here preschte durch den Bach, dass das Wasser aufspritzte, und brachte das Pferd zum Stehen, indem er hart am Zügel riss. »Keine Krieger weit und breit«, meldete er. »Auch der Hof ist unbewacht.«
Falls er sich Anerkennung für seinen Mut erhofft hatte, so wurde er enttäuscht. Ihr Vater war kein Mann, der verschwenderisch mit Lob umging. Wilke befahl den Männern aufzusitzen. Sie ritten durch den Bach und drangen einmal mehr ins Land der Hylkena ein.
Der Hof, von dem Here gesprochen hatte, kam wenig später in Sicht. Er stand am Deich und war umgeben von Gerstenfeldern und Gemüsegärten, in denen mehrere Menschen arbeiteten. Als sie die bewaffneten Reiter erblickten, rannten sie zum Haus. Eine Frau rief die spielenden Kinder zu sich und scheuchte sie hinein.
»Ergebt euch, und euch wird nichts geschehen!«, brüllte Wilke.
Die Tür fiel zu.
»Hol die Leute raus.«
Here wählte zehn Krieger aus. Sie stiegen ab und marschierten mit Schwertern, Lanzen und Schilden zu dem reetgedeckten Haus. Janns Halbbruder rüttelte an der Tür und trat sie schließlich ein. Die Männer verschwanden im Innern.
Jann ballte die Faust um den Zügel und kniff die Lippen zusammen. Er hörte kein Geschrei, keine Kampfgeräusche. Wenig später trieb Here die Bauern ins Freie, sie sagten kein Wort und hielten die Köpfe gesenkt. Es war eine große Familie: drei erwachsene Männer, ebenso viele Frauen, eine Greisin, ein halbes Dutzend Kinder, die verängstigt dreinblickten.
»Rüber zur Wiese mit euch«, befahl Here.
Keiner von ihnen leistete Widerstand. Jann atmete erleichtert aus. Hätte auch nur einer der Bauern zur Waffe gegriffen, um den Hof zu verteidigen, hätte sein Vater die Männer töten lassen.
»Pass auf die Pferde auf«, wies Wilke ihn an und befahl den Kriegern, die Scheune leer zu räumen und alles nach Schätzen abzusuchen.
Die Männer schwärmten aus. Jann stieg ab und spähte verstohlen zu den Bauern, die die Vernichtung ihrer Existenz klaglos hinnahmen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Gewiss, auch er wollte Rache für Unicke. Doch diese Leute hatten ihnen nicht das Geringste getan. Ihr einziges Verbrechen war es, dass sie ein Stück Marschland bewirtschafteten, das den Hylkena gehörte.
Sein Vater war entschlossen, ihnen alles zu nehmen. Die Krieger schoben einen Karren aus der Scheune, spannten den Ackergaul vor und warfen Rüben, Getreidesäcke und Werkzeug darauf. Im Haus fand Here etwas Silber, nagelneues Kochgeschirr und einen schönen Wollmantel, den er großspurig für sich beanspruchte. Auf einem brachliegenden Acker trieben zwei Männer die Rinder und Schafe zusammen. Wilkes Augen glitzerten zufrieden. Sie hatten reiche Beute gemacht.
»Vater!«, warnte Here.
Von Süden näherte sich ein Reiter in vollem Galopp. Wilke brüllte einen Befehl, und zwei Krieger spannten rasch die Armbrüste.
»Nicht schießen!« Der Reiter schwenkte den Arm. Jann sah, dass es einer ihrer Kundschafter war, die unablässig die Gegend durchstreiften, um sie vor Feinden zu warnen. Die Schützen ließen die Armbrüste sinken.
Vor Wilke zügelte der Späher das Pferd und glitt behände aus dem Sattel. Jann versuchte zu verstehen, was er sagte. Das war es, was ein Bastard tat: beobachten, wachsam sein, sich innerlich wappnen. Er konnte jedoch nur einzelne Wortfetzen aufschnappen – der Wind war zu laut. Irgendetwas mit einem Handelszug und dem Marktort Esens.
Wilke klopfte dem Kundschafter auf den Rücken. Dabei lachte er – zum ersten Mal seit ewigen Zeiten. »Die Söldner kommen mit mir«, wandte er sich an die Krieger. »Ihr anderen bringt die Beute nach Warfstede.«
»Was ist mit mir?«, wandte sich Jann an Here, der zu seinem Pferd schritt.
Sein Halbbruder grinste wölfisch. »Du kommst natürlich mit, Bruderherz. Was wären wir ohne einen tapferen Recken wie dich?«
Jann verzog den Mund und stieg auf. Bevor er dem Pferd die Sporen gab, blickte er sich noch einmal zu den Bauern um. Die Frauen weinten, die Männer hatten versteinerte Gesichter, als die Krieger Lampenöl ins Haus schütteten und Fackeln hineinwarfen.
Sie mieden Wege, Höfe und Weiler und ritten querfeldein durch die Marsch. Wilke trieb sie zur Eile an, sodass sie sich am späteren Nachmittag der südlichen Grenze des Kirchspiels näherten. Die Heide erstreckte sich bis zum Horizont. In der Ferne erblickte Jann eine Geestsiedlung, eine Ansammlung von ärmlichen Hütten.
Ein mit Bohlen befestigter Karrenpfad schlängelte sich durch das Land. Er gehörte zum Friesischen Heerweg, der die wichtigsten Marktflecken miteinander verband. Sie folgten dem Pfad in östlicher Richtung und ritten langsamer.
Jann schloss zu Here auf. »Der Späher hat Enne Rycken gesehen, richtig?«
Sein Halbbruder blickte stur geradeaus und ließ sich nicht zu einer Antwort herab.
»Verdammt noch mal! Du wolltest mich doch unbedingt dabeihaben. Wie soll ich euch helfen, wenn mir nie einer was erklärt?«
»Enne hat Esens heute Morgen verlassen«, sagte Here unwillig. »Mit zwei Frachtwagen und einem Pferdeschlitten. Wahrscheinlich war er auf dem Markt.«
»Und jetzt kehrt er heim?«
»Sieht so aus.«
Den Rest konnte Jann sich ausrechnen. Der kürzeste Weg von Esens nach Duvelslond führte mitten durch das Land der Osinga und kam für Enne daher nicht infrage. Er würde südwärts durch die Geest reisen und musste früher oder später hier entlangkommen. Die Heerstraße war der einzige Weg weit und breit, den schwerbeladene Wagen befahren konnten.
»Er hat doch gewiss Krieger mitgenommen.«
»Nur sechs«, sagte Here.
Das war leichtsinnig von Enne … oder ein notwendiges Risiko. Er hatte in den letzten Monaten viele Männer verloren. Vermutlich war es ihm sicherer erschienen, den Großteil der Krieger in Duvelslond zurückzulassen, damit sie sein Land und seine Schwester schützten, während er fort war. Aufregung erfasste Jann. Würden sie Unickes Mörder hier und heute stellen?
Bei einer verlassenen Windmühle am Wegesrand stiegen sie ab und brachten die Pferde in die Scheune, die wie das gedrungene Wohngebäude baufällig und halb zerfallen war. Wilke, Jann und die Krieger versteckten sich hinter dem Haus. Here kletterte an der Mühle empor. Der drehbare, auf einem Balkengestell stehende Holzkasten knarrte und wackelte bedenklich, als er sich aufs Dach hinaufzog.
Dein Eifer wird dich eines Tages umbringen, dachte Jann.
Doch die alte Windmühle trug wider Erwarten Heres Gewicht. Er setzte sich breitbeinig auf den First und spähte zwischen den löchrigen Flügeln hindurch, die ihn vor Blicken vom Karrenpfad aus verbargen.
Quälend langsam verging die Zeit. Wilke öffnete einen Sack und verteilte Wurst, Brot und andere Nahrung, die sie den Marschbauern abgenommen hatten. Während sie sich stärkten, kam ein einsamer Reiter des Weges. Eine muntere Melodie summend, ritt er an der Mühle vorbei, ohne die lauernden Krieger zu bemerken.
Der Reisende war bereits seit einer Weile verschwunden, als Here vom Mühlendach glitt, geschmeidig im Gras landete und zu ihnen rannte.
»Sie kommen!«, sagte er grinsend. »Sechs Krieger, zwei Fuhrknechte, ein paar Bauern … und Enne.«
»Zu den Pferden«, befahl Wilke.
Sie schlüpften durch ein Loch in der Scheunenrückwand und stiegen in die Sättel. Zwei Krieger blieben draußen, luden die Armbrüste und duckten sich hinter der Hausecke.
Janns Pferd stand in der vordersten Reihe. Wenn er durch das halb offene Scheunentor spähte, konnte er einen Teil des Karrenpfades sehen. Von links kam der Handelszug in sein Blickfeld.
Enne Rycken ritt ganz vorne.
Wie Gevatter Tod saß er auf seinem Ross: Der Rücken war gekrümmt, die knochigen Arme angewinkelt, die sehnigen Hände hielten den Zügel. Das dunkle, strähnige, genau in der Mitte gescheitelte Haar floss über Wangen und Kieferknochen und verhüllte den größten Teil seines Gesichts, nur die raubvogelartige Nase und das Kinn waren zu sehen. Anders als seine Männer trug der Herr von Duvelslond keinen Bart. Seine Haut erinnerte Jann an vergilbte Buchseiten. Am Gürtel hing Ennes berüchtigte Waffe, jene teuflisch scharfe Klinge, die schon so manchem Krieger von Warfstede den Tod gebracht hatte.
»Für Unicke!« Wilke zog sein Schwert. »Für die Familie Osinga!«
»Für Unicke!«, brüllten Jann und Here und die Männer. Sie trieben die Pferde an und jagten über die Wiese.
Die Armbrustschützen schossen. Der Reiter hinter Enne wurde in die Brust getroffen und rutschte mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sattel. Enne erholte sich blitzschnell von seiner Überraschung. Das Schwert flog aus der Scheide, sein Pferd tänzelte auf der Stelle, als er einen Befehl bellte.
Im nächsten Moment war Jann mitten im Kampfgetümmel. Männer brüllten. Pferde wieherten. Er riss den Schild hoch, eine Lanzenspitze schrammte über den Eisenbuckel.
»Für Unicke!«, schrie Jann und schwang sein Schwert. »Für Unicke!«
Enne hatte schon viele Schlachten geschlagen. Er ließ nicht zu, dass Panik seinen Verstand verwirrte. Anspannung schärfte seine Sinne. Blitzschnell erfasste er die Situation.
Die Angreifer waren ihnen zahlenmäßig überlegen.
Wilke Tammen führte sie an.
Hinter dem alten Osinga ritten sein Zweitgeborener und sein Bastard.
Es gab mindestens einen Armbrustschützen. Irgendwo kreischte der Vikar. Die Fuhrknechte griffen hektisch nach den Waffen.
Wenn er diesen Hinterhalt überleben wollte, musste er seine Söldner bei den Frachtwagen um sich scharen, damit die Osinga ihre Überlegenheit nicht ausnutzen konnten. Einen Krieger hatte er bereits verloren.
»Zu mir!«, rief er und zog sein Schwert.
Für die Handelsfahrt hatte er kampferfahrene Männer ausgewählt. Das zahlte sich nun aus. Eilends trieben sie ihre Pferde an und waren bei ihm, als die ersten Angreifer den Karrenpfad erreichten.
»Lasst ihn mir!«, brüllte Wilke.
Enne konnte den Schwerthieb zwar parieren, doch der Schlag war derart heftig, dass er beinahe aus dem Sattel geschleudert wurde. Wilke war ein Hüne von einem Mann, er bestand nur aus roher Kraft und rasendem Zorn. Gute Schwertkämpfer waren sie beide, aber Enne war schneller, wendiger, fünfzehn Jahre jünger. Er wehrte auch den nächsten Hieb ab und ging zum Angriff über.
Stahl traf klirrend auf Stahl.
»Du Teufel!« In Wilkes Augen glühte der Hass. »Du Mörder!«
Enne zielte auf seinen Kopf. Der alte Osinga hob den Schild. Die Klinge prallte dumpf dagegen, Holzsplitter flogen. Enne lenkte das Pferd mit den Schenkeln und ließ es zur Seite tänzeln. Auf diese Weise brachte er etwas Abstand zwischen sich und seinen Gegner.
»Weißt du, was Unicke gesagt hat, als er krepierte? Gar nichts hat er gesagt. Geflennt hat er und sich vollgepisst.«
Wilke knurrte wie ein wildes Tier. »Ich werde den Haken über meiner Tür mit deinem Kopf schmücken! Deinen Kadaver schleife ich durch Warfstede und werfe ihn den Hunden zum Fraß vor!«
Der Hohn zeigte Wirkung – sein Angriff war wild und unpräzise. Enne musste sich nicht anstrengen, die Streiche zu parieren. Er schlug Wilkes Schwert zur Seite, nutzte die Lücke in der Deckung und stieß zu. Sein Gegner reagierte schneller, als Enne es einem Mann mit dieser Statur zugetraut hätte. Er wich aus, sodass die Klinge lediglich sein Gewand aufschlitzte.
Wilke riss den Schild hoch. Die eisenverstärkte Kante traf Enne an der Schulter, er keuchte. Sein linker Fuß rutschte aus dem Steigbügel, er verlor für einen Wimpernschlag das Gleichgewicht.
Wilke schwang das Schwert in einem weiten Bogen. Die Klinge schoss heran wie ein stählerner Blitz. Enne schaffte es nicht, rechtzeitig die Waffe zu heben, um den Hieb zu parieren. Das Schwert grub sich dicht über dem Ellbogen in seinen linken Arm. Zerschnitt Tuch, Haut, Fleisch, Sehnen. Zerschmetterte den Knochen.
Da war kein Schmerz. Nur jähe, heiße Panik. Sein Arm! Wilke hatte ihm den Arm abgeschlagen! Nein, er war noch dran. Hing schlaff herunter wie ein abgestorbener Ast. Blut schoss hervor, als Wilke die Klinge aus der Wunde riss.
Der nächste Angriff zielte auf Ennes Hals.
Die Furcht und der Wille, um jeden Preis zu überleben, verliehen Enne neue Kraft. Er riss das Schwert hoch, wehrte die zuckende Klinge ab. Parierte auch den nächsten, den übernächsten Angriff.
Etwas stimmte nicht mit seinen Augen – er sah alles doppelt. Sein ganzer Körper fühlte sich seltsam leicht an, als wollte er davonschweben.
»Helft mir!«, krächzte er.
Der Krieger neben ihm hatte gerade seinen Gegner niedergestreckt. Er riss sein Pferd herum und trieb Wilke mit harten Schwerthieben zurück.
»Feigling!«, brüllte Wilke. »Kämpf mit mir, verdammt.«
Enne atmete tief ein und aus, die kalte Luft brannte in seiner Lunge. Mit der Rechten umklammerte er das Schwert. Er wurde immer schwächer. Konnte die Waffe kaum noch heben. Sein Blick zuckte umher. Zwei seiner Krieger waren gefallen. Ein Fuhrknecht lag reglos auf dem Wagenbock. Die Übrigen kämpften verzweifelt um ihr Leben, jeder focht gegen zwei Angreifer.
Here Wilken wütete wie ein tobender Dämon. Eben stieß er einem Söldner den Speer in die Brust.
Die Schlacht war verloren. Enne konnte nichts mehr tun, um seine Leute und die Frachtwagen zu retten. Wenn er es versuchte, würde er sein Leben fortwerfen. Zumal nun der Schmerz einsetzte. In heißen Wellen rollte er seinen Arm hinauf, schlimmer als alles, was er je erlebt hatte. Er spürte bereits, wie ihm die Sinne schwanden.
Er musste fliehen.
Er schlug dem Pferd die Sporen in die Flanken, befreite sich aus dem Getümmel. Jagte den Karrenpfad entlang, das Gesicht dicht am warmen Hals des Tieres.
»Erschießt ihn!«, rief Wilke.
Enne hörte ein Zischen. Der Armbrustbolzen verfehlte ihn knapp, flog dicht am Pferdekopf vorbei. Er ritt, als wären alle Teufel der Hölle hinter ihm her.
Ein scharfer Schmerz im Bein. Enne stöhnte auf. Ein gefiederter Schaft ragte aus dem Oberschenkel. Er konnte das Pferd nicht mehr kontrollieren. Es brach nach links aus und galoppierte über das Heideland.
Die Schmerzen wurden schlimmer. Der linke Arm war nutzlos, das Bein auch. Mit der Rechten versuchte er, nach dem Zügel zu greifen, doch er wagte nicht, das Schwert fallen zu lassen. Wenn sie ihn einholten, wäre es seine letzte Rettung. Irgendwie gelang es ihm, die Waffe zwischen Geldkatze und Beinen einzuklemmen und sich am Zügel festzuklammern. Er vergrub das Gesicht in der Mähne, sah nichts, hörte nichts außer dem Stampfen der Hufe, die den weichen Sandboden aufrissen.
Schwärze drängte in sein Bewusstsein. Er hob den Kopf, versuchte sich zu orientieren. Hohes Gras, Wacholder, Heidekraut, so weit das Auge reichte. Folgten sie ihm? Er konnte nichts erkennen. Die Umgebung verschwamm.
Er duckte sich wieder, machte sich so klein wie möglich. Unter seinem Gesäß, zwischen den Beinen hoben und senkten sich die Muskeln des Pferdes.
Trag mich fort. Trag mich weit fort, dachte er, ehe ihn die Schwärze einhüllte.
Jann war der letzte Reiter, der zur Windmühle zurückkehrte. Here und die anderen standen bereits bei seinem Vater.
»Nichts«, meldete er. »Tief im Heideland habe ich frische Hufspuren gefunden, aber sie verlieren sich nach einer Weile.«
Wilke fluchte gotteslästerlich. »Er kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!«
»Wahrscheinlich ist er zum Moor geritten.« Jann stieg ab. »Wenn er sich dort versteckt, finden wir ihn nie.«
»Enne ist schwer verletzt«, sagte Here, der seinen Speer in den Grasboden gerammt hatte. »Er hat viel Blut verloren. Dazu die Kälte. Wahrscheinlich wird er die Nacht nicht überstehen.«
Der Zorn strahlte wie Hitze von Wilke ab. »›Wahrscheinlich‹ genügt mir nicht. Ich will sehen, wie er verreckt. Ich will seinen Kopf!«
Niemand sagte etwas. Jann hielt das Pferd am Zügel und betrachtete zum ersten Mal das Schlachtfeld. Sie hatten Ennes Männer ohne große Mühe bezwungen. Alle sechs Krieger lagen mit schrecklichen Wunden im Gras, die beiden Fuhrknechte waren ebenfalls tot. Sie selbst hatten kaum Verluste erlitten. Einer ihrer Söldner war erschlagen worden, mehrere waren leicht verletzt und versorgten gerade ihre Blessuren.
Der Bauer und sein Weib standen bei dem Ackerschlitten. Obwohl sie sich aus dem Kampf herausgehalten hatten, blutete der Mann an der Stirn. Die Frau legte ihm einen Verband an. Der Vikar von Duvelslond war bei ihnen, bleich und zitternd, was ihn nicht davon abhielt, die ganze Zeit zu wettern.
»Reitet noch einmal los«, befahl Wilke. »Ich will, dass Enne gefunden wird.«
»Das hat doch keinen Sinn, Vater«, erwiderte Here. »Es wird bald dunkel. Lass uns lieber nachschauen, was auf den Wagen ist.« Er zog das Segeltuch vom vorderen Karren und grinste. »Seht her! Lauter Waffen. Nagelneu.«
»Das ist ungeheuerlich!«, machte der Vikar seiner Empörung Luft. »Eine Barbarei! Ich bin ein Mann Gottes – was erlaubt ihr euch, mich am helllichten Tage anzugreifen? Sind die Osinga neuerdings gemeine Straßenräuber?«
»Niemand hat dir ein Haar gekrümmt, Mann«, sagte Here.
»Ich habe Todesangst ausgestanden! Und was ist mit diesen armen Leuten? Ihmel Campen ist ein freier Bauer, er hat nichts mit eurer Fehde zu schaffen. Aber was kümmert das euch? Er ist im Weg – Pech für ihn. Schlagen wir ihm einfach den Schädel ein!«
Here breitete das Segeltuch über den Waffen aus und würdigte den Vikar keines Blickes. »Es ist nur ein Kratzer. Er wird es überleben.« Er wollte sich abwenden, doch der Geistliche hielt ihn am Arm fest. Du Narr, dachte Jann.
»Die Landsgemeinde wird von alldem erfahren! Ihr werdet Ihmel für sein Leid entschädigen.«
»Halt dein verdammtes Maul.«
»Bloß weil ihr reich seid, könnt ihr euch nicht aufführen wie gottlose Mordbrenner«, keifte der Vikar. »Das wird aufhören. Dafür sorge ich …«
Blut schoss Here in den Kopf, sein Gesicht verwandelte sich in eine Fratze. Er war für seinen Jähzorn berüchtigt, doch derart wütend hatte Jann ihn lange nicht gesehen. Here packte den Vikar mit einer Hand am dünnen Hals und schleuderte ihn herum.
»Hör auf!«, rief Jann.
Here schüttelte den Geistlichen und schlug seinen Kopf gegen die Kante der Wagenpritsche. Der dürre Mann schrie abgehackt und versuchte mit wedelnden Armen, sich aus dem Griff zu befreien. Here presste ihm die Hand auf die Stirn, um seinen Schädel erneut gegen den Wagen zu rammen. Diesmal aber war es der Nacken, der die Holzkante traf. Knochen knackten. Der Vikar erschlaffte. Here ließ ihn los, der Körper kippte um wie ein Sack und lag zuckend auf der Erde.
Jann lief hin, legte dem Vikar die Hände auf die Wangen. Das Zucken erstarb. Die Augen des Geistlichen brachen, starrten ins Nichts.
»Here, Herrgott! Warum hast du das gemacht?«
Sein Bruder stand da, die Fäuste geballt, die Lippen zusammengekniffen. »Er hätte nur sein Maul halten müssen.«
Nun packte auch Jann die Wut. »Du verdammter Narr! Weißt du, was es bedeutet, einen Mann der Kirche zu töten?« Er fuhr auf. »Kannst du nicht einmal nachdenken, bevor du zuschlägst?«
»Ich warne dich«, sagte Here. »Für einen Bastard nimmst du den Mund ganz schön voll.«
Wilke näherte sich mit schweren Schritten. »Hört auf, alle beide. Was geschehen ist, ist geschehen. Ihr«, sprach er die unverletzten Söldner an, »tötet die Bauern.«
»Was?«, schrie Jann. »Das darfst du nicht tun, Vater. Ich bitte dich! Lass sie gehen.«
»Wir können keine Zeugen gebrauchen.« Wilke gab den Männern einen Wink.
Jann konnte nur hilflos zusehen, wie Ihmel Campen und sein Weib um ihr Leben flehten, ehe die Schwerter sie durchbohrten. Sein Vater spuckte aus.
»Verscharrt die Leichen hinter der Mühle und fangt die Pferde ein«, sagte er. »Dann lasst uns nach Hause gehen und die Beute aufteilen.«
Enne wusste nicht, wo er war, wie lange er schon hier lag. Es war dunkel und kalt, alles war schlammig und klamm. Die Luft stank nach faulem Wasser, feuchtem Holz, vermoderten Pflanzen. Der Wind heulte.
Er lag auf dem Rücken. Er musste vom Pferd gefallen sein. Vermutlich hatte ihn allein der weiche Boden davor bewahrt, sich weitere Knochen zu brechen. Enne versuchte aufzustehen … ohne Erfolg. Er war schwach, benommen und derart durchgefroren, dass er große Teile seines Körpers nicht mehr spürte. Unter der Taubheit pochte dumpf der Schmerz im Arm, im Bein. Selbst das Atmen tat weh.
Ich werde sterben.
Seinen Feinden war er entkommen, doch was ihre Schwerter nicht vermocht hatten, würden Blutverlust und Kälte mit Leichtigkeit erledigen. Enne sah dem Tod gleichmütig entgegen. Das Leben bedeutete ihm schon lange nichts mehr. Wenn er ehrlich war, sehnte er das Ende geradezu herbei. Bald schon, so Gott wollte, würde er sie wiedersehen: sein Weib, seine geliebte Tochter. Er lächelte, als er sich vorstellte, wie er sie in die Arme schließen würde. Für einen Moment war er so glückselig, dass er die Schmerzen nicht mehr spürte.
Aber würde man die Himmelspforte überhaupt für ihn aufschließen? Er hatte Sünden auf sich geladen, hatte Männer im Kampf getötet, seine Bauern ausgebeutet, Gold und noch mehr Gold gerafft.
Und im Suff Unicke Wilken erschlagen.
Die Liste seiner Untaten war lang, aber der sinnlose Mord an Wilkes Erstgeborenem zweifellos sein schlimmstes Verbrechen. Nein, man würde ihn gewiss nicht in den Himmel lassen. Er würde unendlich lange im Fegefeuer brennen und seine Lieben niemals wiedersehen.
Er verspürte keine Verzweiflung – sogar dafür war er zu schwach. Er lag einfach da, ertrug stoisch den Schmerz und wartete auf den Tod. Vielleicht irrten die Priester und Vikare und Betschwestern ja allesamt, und es gab keinen Himmel und keine Hölle. Sondern nur ewige Schwärze, die die Seele verschlang, sowie sie den Körper verließ.
Alles vergessen. Sich im Nichts auflösen. Ein tröstlicher Gedanke.
Er musste eine Weile ohnmächtig gewesen sein, denn als er wieder zu sich kam, war es nicht mehr ganz so dunkel. Zu seiner Überraschung lebte er noch. Er wandte den Kopf nach rechts, nach links. Graues, einsames, stinkendes Moor, weit und breit niemand zu sehen. Das Pferd war fort. Seine ganze linke Seite tat höllisch weh, und er drehte sich etwas, um sie zu entlasten. Das kostete ihn derart viel Kraft, dass ihm übel wurde.
Als die Welt sich zu drehen aufhörte, vernahm er undeutliche Geräusche im säuselnden Wind. Hatten seine Häscher ihn gefunden? Der alte Osinga würde ihn nicht kampflos bekommen. Diese Genugtuung würde Enne ihm nicht gewähren. Er streckte den gesunden Arm nach seinem Schwert aus. Es lag vielleicht anderthalb Ellen entfernt im Schlamm. Unerreichbar, sosehr er sich auch anstrengte. Stöhnend ließ er den Arm sinken. Winzige Sterne explodierten hinter seinen Lidern.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er sein Pferd. Eine Gestalt führte es am Zügel durch den grauen Dunst. Sie bestand ganz aus Schmutz, Fellstücken und abstehenden Haaren. War das ein Mensch? Womöglich ein Moorgeist, der sich seine Seele holen wollte, bevor sie der sterblichen Welt enteilte? Enne beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Schlimmer konnte es kaum werden.
»Hilfe …«
Er brachte lediglich ein Krächzen zustande, kaum lauter als das Rascheln des Wollgrases, wenn der Wind darüberstrich. Er versuchte es noch einmal und kam nicht über die erste Silbe hinaus. Sein Mund war völlig ausgedörrt.
Der Moorbewohner zog weiter, verschwand. Enne lag reglos da, Zeit verstrich. Seine Hoffnung zu schüren, nur um sie kurz darauf zu enttäuschen: Das sah Gott ähnlich. Ein weiterer himmlischer Scherz auf seine Kosten.
Was auch geschieht, Herr, dachte Enne, ich bin fertig mit Dir.
Er fühlte sein Herz nicht mehr pochen. Hatte es aufgehört zu schlagen? Hoffentlich kam das Ende rasch. Schwärze schob sich von allen Seiten in sein Blickfeld, hüllte ihn ein wie dunkler Nebel.
Er erwachte blinzelnd. Ich lebe noch immer, dachte er verwundert. Warum ließ Gott ihn nicht einfach sterben?
Der Moorgeist stand neben ihm, hielt das Schwert in der Hand und betrachtete es von allen Seiten. Das Gesicht der Kreatur war derart schmutzig, dass sich keine Regung darin erkennen ließ. Wenigstens sah sie wie ein Mensch aus. Aber ganz sicher war Enne sich nicht.
Der Moorbewohner starrte ihn an. Kam vorsichtig näher, stieß ihn mit der Schwertspitze an. Als Enne zuckte, verzog der schmutzige Mann die Lippen zu einem Grinsen. Die wenigen Zähne in seinem Mund waren gelb wie trockenes Pergament.
Er rammte die Klinge in den Boden und fingerte an Enne herum. Auf der Geldkatze verharrten die Hände, betasteten die Münzen unter dem Stoff. Das Grinsen wuchs in die Breite. Der Moorbewohner stand auf und griff nach dem Schwert.
Enne schloss die Augen und wartete auf den erlösenden Schmerz.
In der Nacht nach dem Hinterhalt hatte Jann kaum ein Auge zugetan.
Was bei der alten Windmühle geschehen war, lastete schwer auf seinem Gewissen. Dabei hatte sich sein Gewissen in den vergangenen Monaten daran gewöhnt, so manche Bürde zu tragen. Seit dem Beginn der Fehde hatte er nicht wenige Grausamkeiten gesehen und bei den Kämpfen gegen die Hylkena Menschen getötet. Doch das waren Kriegsleute gewesen – Söldner oder bewaffnete Bauern, die Enne dienten. Unbeteiligte hatten sie stets geschont oder es wenigstens versucht. So verlangte es das Gesetz der Fehde, das jeder Friese achtete.
Die Hinrichtung der beiden Bauern aber war kaltblütiger Mord, durch nichts zu rechtfertigen. Wann immer Jann die Augen schloss, hörte er die Frau um ihr Leben flehen. Seit Unickes Tod wurde sein Vater von Monat zu Monat härter, grausamer, unerbittlicher. Er lebte nur noch für seine Rache. Ein Menschenleben galt ihm nichts mehr.
Jann konnte dieses Verbrechen nicht allein Wilke anlasten. Er hätte sich weigern können, bei dem Hinterhalt mitzumachen. Doch er war geblieben. Hatte gekämpft aus Angst, andernfalls als Feigling dazustehen. Das Blut dieser drei Menschen klebte auch an seinen Händen.
Draußen krähte der Hahn. Träge erwachte das Steinhaus. Jann, der im Gegensatz zu seinen Halbbrüdern keine eigene Kammer hatte, schlief beim Gesinde in der Halle. Eben öffnete ein Knecht die Eingangstür und ließ frische Luft herein. Die meisten Bediensteten drehten sich noch einmal herum und schliefen weiter. Jann aber hatte keine Lust mehr, in die Dunkelheit zu starren und zu grübeln. Er streckte die müden Glieder, zog das Gewand über den Unterrock und verstaute die Decke in seiner Kiste.
Währenddessen erwachte seine Mutter. Wie jeden Morgen begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Wange und strahlte ihn an. Sie war überglücklich, dass er den gestrigen Raubzug heil überstanden hatte.
»Hilfst du mir, die Halle fürs Morgenbrot herzurichten?«
»Gewiss, Mutter.«
Gela Reinken diente der Familie Osinga seit vielen Jahren. Unter dem schmutzigen Gesicht und dem löchrigen Wollkittel verbarg sich eine schöne Frau mit hohen Wangenknochen und einem schlanken Körper. Von ihr hatte Jann das hellblonde Haar geerbt, das ihn von seinen Halbbrüdern unterschied, die allesamt braunhaarig waren. Gela war ein gütiger Mensch und von scheuem Wesen. Nie forderte sie etwas für sich. Jann beschützte sie, so gut er konnte.
Gela weigerte sich beharrlich, ihm zu erzählen, unter welchen Umständen er gezeugt worden war. Jann vermutete, dass Wilke sie mit Gewalt genommen hatte. Seine bloße Existenz erinnerte Wilke jeden Tag an seine Sünde. Die Ehre verlangte von ihm, den Bastard zu versorgen. Ansonsten behandelte er Jann wie Luft.
Inzwischen waren die Bediensteten aufgestanden. Sie spritzten sich am Fass Wasser ins Gesicht, zogen Hauben und Mützen über die fettigen Haare und halfen Jann und Gela, die Bänke in die Mitte der Halle zu rücken. Man machte Feuer unter dem Kessel und kochte Hafergrütze mit Milch.
Wenig später erschien Abbe Wilken auf der Treppe und schlurfte, auf seine Krücke gestützt, durch den Raum. Er war neunzehn Jahre alt und – obwohl ein legitimes Kind Wilkes – noch schlimmer dran als Jann. Durch ein grausames Geschick war er mit verwachsenen Knochen und einer verformten Wirbelsäule zur Welt gekommen. Auf seinem Rücken wölbte sich ein Buckel, und seine Beine waren derart krumm, dass er nur unter Schmerzen gehen konnte. Wilke schämte sich so sehr für ihn, dass er seinen Drittgeborenen kaum anschauen konnte.
Abbe setzte sich auf die Bank und legte den Stock quer über die Knie. »Nimm dich heute Früh vor Vater in Acht. Er ist etwa so umgänglich wie ein Bär, den man mit Fußtritten aus dem Winterschlaf geweckt hat.«
Jann wischte gerade den Tisch ab. »Danke für die Warnung.« Wenn Wilke schlechte Laune hatte, ließ er es gern an ihnen beiden aus.
»Seit dem Aufstehen tut er nichts anderes, als Enne zu verfluchen«, fuhr Abbe fort. »Verrätst du mir, was gestern geschehen ist?«
Wilke hatte ihnen eingeschärft, niemandem vom Hinterhalt an der Mühle zu erzählen. Selbst Abbe, ihr Onkel Ippe und Janns Mutter wussten nur von dem Überfall auf den Bauernhof. Jann entschied, dass sein Bruder das Recht hatte, mehr zu erfahren. »Ein Kundschafter hat Enne gesehen«, erklärte er leise. »Wir haben ihm aufgelauert.«
Abbe machte große Augen. »Habt ihr ihn erwischt?«
»Würde Vater derart auf Enne schimpfen, wenn es so wäre?«
»Er konnte also entkommen.«
Jann nickte.
»Und weiter?«, fragte Abbe ungeduldig. »Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Vater hat Enne im Kampf schwer verletzt, und er hat sich einen Armbrustbolzen eingefangen. Er konnte zwar fliehen, aber die Chancen stehen gut, dass er später verblutet ist.«
»Bei Gott! Ich hoffe wirklich, der Kerl ist tot«, sprach Abbe Jann aus der Seele. »Dann wäre diese unselige Fehde endlich vorbei.«
Just in diesem Moment kam Wilke die Treppe herunter. Wie üblich folgte ihm Here wie ein Schatten. Die beiden Männer trugen Gewänder, die mit dem Löwen, dem Wappentier ihres Geschlechts, bestickt waren. Sie setzten sich an den Kamin und bekamen von einem Diener zwei Näpfe. Widerwillig stand Abbe auf, um zu ihnen zu gehen.
»Wieso isst du nicht mit uns?«, schlug Jann vor. »Die vermissen dich gewiss nicht.«
»Auch wieder wahr.« Abbe setzte sich wieder.
Gela brachte ihnen Grütze, und die drei plauderten über dies und das. Jann, der Abbe gegenübersaß, dachte wieder einmal, dass sein Bruder trotz der Behinderung ein gut aussehender Bursche war. Abbe hatte ein angenehm geformtes Gesicht, schönes volles Haar und ein sonniges Gemüt. Sogar Janns Mutter, die die anderen Mitglieder der Familie Osinga kaum anzusprechen wagte, fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
»Habt ihr schon gehört? Ippe hat sich ein Haustier zugelegt.«
»Einen Wachhund? Eine Katze, die die Mäuse in der Kirche fängt?«, mutmaßte Jann.
»Besser.« Abbes Augen glitzerten. Er liebte solche Geschichten. »Da kommt ihr nie drauf.«
»Spann uns nicht auf die Folter«, sagte Gela.
»Ein Ferkel!«
»Was will er denn mit einem Ferkel?« Jann kratzte den Napf aus.
»Er will ihm Kunststücke beibringen. Er behauptet, es sei klüger als andere Schweine.«
Gela schlug sich kichernd die Hand vor den Mund. Jann schüttelte den Kopf.
»Onkel Ippe ist schon ein komischer Kauz.«
»Ich gehe mir dieses Wunderschwein nachher ansehen«, verkündete Abbe. »Ich muss Ippe ohnehin ein Buch zurückgeben. Kommst du mit?«
»Folkmar braucht mich auf der Lastadie.«
Die Bediensteten wuschen ihr Essgeschirr und begannen mit dem Tagwerk. Gelas Aufgabe war es, die Schlafkammern der Familie zu reinigen.
»Hab einen schönen Tag.« Sie küsste Jann auf die Stirn, ehe sie davoneilte. Ihre ständigen Liebesbekundungen waren ihm peinlich. Er war ein erwachsener Mann von achtzehn Jahren, kein kleiner Junge mehr. Abbe wollte ihn eben dafür verspotten, als Wilke ihn herbefahl.
»Die Pflicht ruft. Wir sehen uns, Bruder.« Abbe stützte sich auf die Krücke und watschelte davon.
Jann kletterte die Leiter hinunter, die an der Außenmauer des Steinhauses lehnte. Hühner pickten im Gras und flatterten gackernd auseinander, als er die Warf hinabging. Die Dorfbewohner waren längst auf den Beinen – sie sahen nach dem Vieh, karrten Torfballen heran oder werkelten an ihren Häusern. Das Anwesen der Familie Osinga war neben der Wehrkirche das einzige Steingebäude in Warfstede, denn nur die führenden friesischen Geschlechter durften sich ein befestigtes Haus bauen. Die einfachen Bauern, Fischer und Handwerker wohnten in Hütten aus Holz, Lehm und Reet und lebten in ständiger Angst vor Sturmfluten.
Von der Geest kommend floss ein kleiner Fluss durch Warfstede und speiste nördlich des Dorfes einen See. Jann schlenderte am Hafen vorbei, wo die Magnus ankerte, und grüßte den Segelmacher, der auf einem Fischerboot arbeitete. Er ging am Ufer entlang und kam wenig später zum Deich. Es herrschte Ebbe, sodass das Siel offenstand und der Fluss ungehindert hinaus ins Watt strömen konnte. Bei Flut würde sich das Meerwasser von außen gegen das Tor pressen und es schließen, was den Fluss für einige Stunden staute. Janns Aufgabe war es, jeden Morgen zu prüfen, ob sich die Schleuse richtig öffnete und schloss. Er paddelte mit dem Floß zum Tor, schabte die Muscheln vom Holz und reinigte die Scharniere von Algen und Schmutz.
Wilkes Vorfahren hatten einst den Deich aufgeschüttet und dem Meer fruchtbares Marschland abgerungen. So war die Familie Osinga zu Reichtum gekommen – der längst nicht mehr nur auf Landbesitz gründete. Janns Großvater hatte den Hafen gebaut und so den Handel belebt. Zu diesem Zweck hatte man die Fahrrinne vertieft und das Siel vergrößert, sodass sogar eine Kogge durch das Tor passte. Es war die größte Deichschleuse von Harlingerland, vielleicht sogar von ganz Friesland. Alle anderen friesischen Häfen, die Jann kannte, lagen draußen vor dem Deich, wo die ankernden Schiffe den Launen des Meeres ausgeliefert waren.
Als er am Siel fertig war, schritt er den Deich ab und untersuchte ihn auf Schäden. Auch das gehörte zu seinen Aufgaben. Der Damm, der das Marschland von den Salzwiesen schied, war am Scheitel zwei bis drei Mannslängen hoch. Auf den grasbewachsenen Böschungen weideten Schafe. Ein mächtiges Bollwerk gegen die See, ohne das Friesland buchstäblich dem Untergang geweiht wäre. Kein Deich, kein Land, kein Leben, besagte ein altes Sprichwort.
Was Jann sah, gefiel ihm nicht. Die raue Brandung der vergangenen Wochen hatte den von Dauerregen und Frost angegriffenen Deich an vielen Stellen beschädigt. Kaninchen hatten Baue hineingegraben. Vermutlich würde er noch einige Jahre halten, doch es wäre sicherer, ihn so bald wie möglich auszubessern. Er beschloss, dies mit seinem Vater zu besprechen. Ob Wilke etwas würde ausrichten können, war fraglich. Die verheerende Seuche, die vor anderthalb Jahren wie der Zorn Gottes über die Christenheit gekommen war, hatte auch die Bevölkerung Frieslands ausgedünnt. Ein Drittel aller Bewohner des Kirchspiels war an der Pestilenz gestorben, unter ihnen Abbes, Heres und Unickes Mutter Sibbe. Jann erinnerte sich mit Schrecken an die von schwarzen Beulen entstellten Leichen, die manchmal tagelang in den Häusern gelegen hatten, bis sich jemand fand, der sie zum Massengrab karrte. Seitdem gab es nicht mehr genügend Arbeitskräfte für die Deichpflege. Die Marschleute taten nur noch das Nötigste, um den Damm zu erhalten.
Jann kehrte dem Deich den Rücken und schritt zur Lastadie.
Der Schiffsbauplatz bestand aus mehreren Hütten, hohen Stapeln aus Baumstämmen sowie einer mit dicken Bohlen verstärkten Helling, die in den See mündete. Folkmar Peters, seine Gesellen und Arbeiter waren seit dem Morgengrauen hier. Die Kogge, an der die neun Männer arbeiteten, hatte den Stapellauf bereits hinter sich und lag im Wasser. Der Rumpf war fertig aufgeplankt und vollständig mit Spanten ausgesteift. Auch der Mast stand. Gerade sägten die Zimmerleute das Holz für die Aufbauten zu.
»Guten Morgen!«, begrüßten sie Jann.
»Wo ist Folkmar?«
»Im Frachtraum, glaub ich«, antwortete ein Geselle.
Er trat auf den Anlegesteg und bewunderte einen Moment die halb fertige Kogge. Augenblicklich besserte sich seine Laune. Seit jeher faszinierten ihn Schiffe. Die See war gewaltig, zerstörerisch, unberechenbar, doch mit einem guten Schiff konnte man ihr trotzen und ferne Küsten bereisen. Jann wollte Koggen bauen, denen die Mannschaft blind vertraute. Die jedem Sturm widerstanden. Die ihre Passagiere in Windeseile bis nach Island und Venedig trugen. Davon träumte er, seit Folkmar ihm zum ersten Mal erlaubt hatte, ihm bei der Arbeit zu helfen.
Jann betrachtete die geklinkerten Planken, das sorgfältig verarbeitete Holz, die eleganten Formen. Sein Lehrmeister hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Nicht umsonst galt Folkmar als der beste Schiffsbauer von Harlingerland.
Jann stieg die Laufplanke hinauf. Wo das Achterkastell hinkommen würde, lagen noch keine Decksplanken, sodass er in den Frachtraum blicken konnte.
»Morgen, Junge«, brummte Folkmar.