1,99 €
Die abenteuerliche Geschichte des Balian Fleury aus "Das Licht der Welt".
Varennes-Saint-Jacques, 13. Jahrhundert: Balian Fleury hadert mit seinem Leben. Die Arbeit im traditionsreichen Kaufmannsgeschäft der Familie liegt ihm nicht; immerzu steht er im Schatten seines Bruders Michel. Als Wilhelm von Holland, der junge König des Heiligen Römischen Reiches, gegen die aufständischen Friesen in den Krieg ziehen will, wittert Balian seine Chance, dem tristen Dasein zu entkommen. Gegen den Willen seiner Familie schließt er sich dem königlichen Heer an. Anfangs ist Wilhelm siegreich, und Balian genießt das abenteuerliche Leben. Doch dann entwickelt sich der Feldzug zur Katastrophe …
Die Abenteuer der Familie Fleury gehen weiter – erfahren Sie mehr über Balians weiteres Leben in „Das Gold des Meeres“.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Buch
Varennes-Saint-Jacques, 13. Jahrhundert: Balian Fleury hadert mit seinem Leben. Die Arbeit im traditionsreichen Kaufmannsgeschäft der Familie liegt ihm nicht; immerzu steht er im Schatten seines Bruders Michel. Als Wilhelm von Holland, der junge König des Heiligen Römischen Reiches, gegen die aufständischen Friesen in den Krieg ziehen will, wittert Balian seine Chance, dem tristen Dasein zu entkommen. Gegen den Willen seiner Familie schließt er sich dem königlichen Heer an. Anfangs ist Wilhelm siegreich, und Balian genießt das abenteuerliche Leben. Doch dann entwickelt sich der Feldzug zur Katastrophe …
Daniel Wolf, geboren 1977, arbeitete u.a. als Musiklehrer, in einer Chemiefabrik und im Öffentlichen Dienst, bevor er freier Schriftsteller wurde. Schon als Kind begeisterte er sich für alte Ruinen, Sagen und Ritterrüstungen; seine Leidenschaft für Geschichte und das Mittelalter führte ihn schließlich zum historischen Roman. Er lebt mit seiner Frau und zwei Katzen in einer der ältesten Städte Deutschlands.
Mehr von Daniel Wolf:
Das Salz der Erde. Historischer Roman
Das Licht der Welt. Historischer Roman
Daniel Wolf
Der Vasall des Königs
Eine historische E-Only-Kurzgeschichte
Der Vasall des Königs
Kapitel I
Juli 1255
Balian hätte ihn mühelos töten können.
Schon, wie der Angreifer das Schwert hielt. Den Arm zu weit ausgestreckt, die Klinge zu tief. Weder offensiv genug noch richtig verteidigungsbereit. Seine ganze Körperhaltung sagte: Ich will nicht kämpfen. Als er einen ungeschickten Sprung nach vorn machte, musste Balian nur zurückweichen, den Hieb parieren und mit seinem Schwert eine kreiselnde Bewegung ausführen, sodass sein Gegner gezwungen war, die Waffe fallen zu lassen. Hätte er seine Klinge nun schräg nach oben gezogen, wäre der Angreifer mit gespaltener Kehle ins feuchte Gras gesunken und verblutet. Niemand hätte ihn retten können.
Und Balian würde wenig später am Galgen zappeln. Ganz davon abgesehen, dass Martin sein Freund war.
Also verzichtete er auf den tödlichen Streich und versetzte seinem Gegner stattdessen mit der flachen Schwertseite einen Schlag auf den Oberarm. Als Martin aufheulte und die Hand auf die schmerzende Stelle presste, trat Balian ihm die Füße weg, sodass der junge Knochenhauer rückwärts in die Farne am Flussufer fiel und stöhnend liegen blieb. Ein Flößer, der alles gesehen hatte, lachte meckernd, während er sein Gefährt aus zusammengebundenen Baumstämmen zu den Anlegestegen am Viehmarkt stakte.
Balian richtete die Schwertspitze auf Martins Adamsapfel. »Ich fürchte, du bist tot. Schon wieder.«
»Ja, ja, schon kapiert«, murrte der Knochenhauer. »Nimm das Schwert weg, gottverdammt!«
»Wenn du Gott lästerst, macht er ganz bestimmt keinen Kämpfer aus dir«, bemerkte Bénédicte, ein Steinmetzgeselle mit wuscheligem blonden Haar, der unter der Gerichtslinde saß und auf einem Halm kaute.
Balian genoss den Sieg, doch er behielt seine Freude für sich. Es bereitete ihm kein Vergnügen, einen Verlierer zu demütigen. Er half Martin beim Aufstehen und reichte ihm seine Waffe. »Das war doch schon ganz gut«, log er.
»War es nicht. Ich werde nie so gut sein wie du. Und wenn ich noch hundert Jahre übe.«
»Nun ja, ich trainiere an den Waffen, seit ich sieben bin. Natürlich habe ich dir einiges voraus. Aber für einen Kerl, der gerade erst angefangen hat, bist du nicht schlecht. In ein paar Monaten kannst du es gewiss mit mir aufnehmen.«
»Meinst du?«, fragte Martin zweifelnd.
»Ganz bestimmt. Du darfst nur nicht aufgeben.«
Sie setzten sich zu Bénédicte ins Gras und reichten den Schlauch mit dem Quellwasser herum. Obwohl früh am Morgen, war es bereits warm. Seit einigen Tagen lastete schwüle Hitze wie eine feuchte Decke über Varennes-Saint-Jacques und dem Moseltal. In den vergangenen Nächten hatten Balian, sein Bruder und die Hausbedienten im Warenkeller geschlafen, denn oben in den Wohnkammern war es kaum auszuhalten. Ganz zu schweigen von den Stechmücken, die einen unentwegt plagten. Balian spritzte sich das restliche Wasser ins Gesicht und genoss die kühlen Tropfen auf der Haut.
»Ich bin verliebt«, verkündete Bénédicte.
»Ach ja?« Balian grinste. »Wer ist diesmal die Glückliche?«
»Ich weiß nicht, wie sie heißt. Die Rothaarige, die immer am Salztor herumsteht.«
»Das ist Rebekka«, sagte Martin.
»Du kennst sie?« Bénédicte beugte sich vor. »Kannst du mich ihr vorstellen?«
»Sie ist Jüdin, du Dummkopf. Wenn man dich mit ihr sieht, stecken sie dich schneller in den Hungerturm, als du dein Ding einpacken kannst.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine Jüdin ist«, meinte Bénédicte.
»Natürlich ist sie eine. Rebekka – so heißt keine Christin. Außerdem bist du gar nicht richtig in sie verliebt.«
»Oh, das glaube ich schon«, widersprach Balian. »Zumindest liebt er Teile von ihr.« Mit den Händen deutete er zwei pralle Brüste an, und seine Freunde brachen in Gelächter aus.
Raue Kampfspiele, freundschaftliche Neckereien, Gespräche über Mädchen, das war Balians Welt. Bei Martin und Bénédicte und den anderen Handwerksburschen fühlte er sich wohl. Michels Freunde hingegen, die jungen Patrizier und Kaufleute, die ihn belächelten und als lästiges Anhängsel seines Bruders betrachteten – sie konnten ihm gestohlen bleiben.
Er federte hoch und zückte sein Schwert. Die Klinge beschrieb eine auf der Seite liegende Acht, als er sie durch die Luft pfeifen ließ. »Noch eine Runde?«
»Ich hab genug für heute«, erklärte Martin verdrießlich und betastete seinen Arm, auf dem ein prächtiger Bluterguss erblühte.
»Dann lasst uns schwimmen gehen. Einmal durch den Fluss und wieder zurück. Der Langsamste gibt den anderen einen aus.«
Bénédicte schüttelte den Kopf. »Ich muss allmählich zurück.«
»Ich auch«, sagte Martin. »Der Meister wartet gewiss schon auf mich.«
Balian ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. In der Stadt warteten auch auf ihn Pflichten, die er gern noch eine Weile vor sich hergeschoben hätte. Doch er wollte keinen Ärger mit Michel – nicht schon wieder –, also folgte er Martin und Bénédicte lustlos über den Viehmarkt.
Sie hatten Varennes im Morgengrauen verlassen, damit sie sich an den Waffen üben konnten, bevor es zu warm wurde. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und schimmerte über den dunstigen Hügeln wie ein frisch geschlagener Silberpfennig. Auf den Feldern brachten Bauern das Heu ein und tränkten das Vieh. Ein Trupp Tagelöhner schlurfte mit geschulterten Schaufeln und Hacken die alte Römerstraße entlang. Die Männer würden den ganzen Tag Erdwälle für die neue Landwehr aufschütten, draußen bei der Richtstätte, wo es weit und breit keinen Schatten gab. Die armen Teufel taten Balian leid.
Varennes war längst erwacht und summte vor Geschäftigkeit.
»Verdammt«, murmelte Martin und ging schneller. »Der Meister wird mir die Ohren lang ziehen.«
Bénédicte hingegen schlenderte gelassen über die Wiese und pfiff durch die Zähne, als er die Mädchen vor dem städtischen Hurenhaus erblickte. Die jungen Dirnen, eine schöner als die andere, holten gerade Wasser vom Brunnen, ließen dabei aufreizend die Hüften schwingen und füllten kichernd einen Waschzuber.
Am Salztor herrschte das übliche Gedränge aus Händlern, die auf den Märkten ihre Waren verkaufen wollten und die prüfenden Blicke des Zöllners über sich ergehen lassen mussten. Balian und seine Freunde drängten sich an den Ochsenwagen, Handkarren und Bauersfrauen mit Huckelkörben vorbei, der Torwächter streifte sie mit einem gelangweilten Blick.
»Ich warte hier auf Rebekka«, erklärte Bénédicte und blieb stehen.
»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Martin aufgebracht, was dem Steinmetzgesellen ein Grinsen entlockte.
»Ich will ja nur schauen. Mich an ihren Reizen erfreuen.«
»Sprich sie bloß nicht an.«
»Mach ich schon nicht. Wir sehen uns!«
Balian verabschiedete sich von seinen Freunden und ging zum Domplatz, wo sich zu seiner Überraschung eine Menschenmenge eingefunden hatte. Dabei hatte der Markt noch gar nicht angefangen; Krämer und Kaufleute bestückten eben erst ihre Stände und wurden vom städtischen Aufseher ermahnt, die vorgeschriebenen Maße einzuhalten und den Marktfrieden zu achten.
Irgendetwas war geschehen. So früh am Morgen? Balian blickte sich stirnrunzelnd um und entdeckte seinen Bruder.
Michel stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben dem Marktkreuz und plauderte mit zwei anderen Kaufleuten. Jeder, der des Weges kam, grüßte ihn freundlich. Er war eben ein angesehener Mann, sein Bruder. Von Balian hingegen nahm niemand Notiz, als er zu Michel schritt.
»Was ist da los?«, fragte er mit Blick auf das Rathaus.
»Wo hast du dich denn wieder herumgetrieben?«, fuhr sein älterer Bruder ihn an. »Ich habe dich gesucht!«
»Was ist so wichtig, dass es nicht warten kann, bis die Sonne aufgegangen ist?«
Michel gab keine Antwort. Er blickte an Balian herunter und entdeckte das Schwert an seinem Gürtel. »Du hast wieder mit Martin und dem anderen Kerl Ritter gespielt.«
»Der andere Kerl heißt Bénédicte. Und wir haben nicht gespielt, wir haben an den Waffen geübt. Wie es die Pflicht eines jeden Bürgers ist, wenn du dich erinnerst.«
Sein Bruder schnaubte verächtlich.
»Was?«, fragte Balian gereizt.
»Du willst dich vor der Arbeit drücken. Dafür ist dir jede Ausrede recht.«
»Das ist keine Ausrede. Wenn Varennes angegriffen wird, müssen wir bereit sein.«
»Varennes wurde seit zwanzig Jahren nicht mehr angegriffen.«
»Das kann sich jederzeit ändern.« Balian merkte selbst, wie lahm das klang.
Sie schwiegen. Michel hatte es wieder einmal geschafft, dass er ein schlechtes Gewissen bekam. Doch Balian sah nicht ein, zu Kreuze zu kriechen. Nach einer Weile fragte er: »Was machen die ganzen Leute hier?«
»Eben kam eine Gesandtschaft von König Wilhelm. Sie sprechen gerade mit dem Rat.«
Unwillkürlich reckte Balian den Kopf und spähte zum Rathaus, aber natürlich war dort nichts zu sehen, außer dass die Rundbogenfenster des großen Saales erleuchtet waren und Stadtknechte vor der Pforte Wache standen. »Was will der König?«
»Anscheinend gibt es Krieg.«
»Hab ich’s nicht gesagt?«, meinte Balian triumphierend.
»Nicht hier – weit im Norden«, entgegnete Michel. »Es heißt, der König will die rebellischen Friesen unterwerfen und fordert Soldaten von uns.«
Krieg. Prickelnde Aufregung erfasste Balian. Endlich geschah einmal etwas im beschaulichen Varennes. »Weiß man schon, wie der Rat entscheiden wird?«
»Bis jetzt nicht. Deswegen warte ich ja hier.«
In diesem Moment brüllte jemand: »Geh zurück nach Holland, Wilhelm! Wir wollen dich hier nicht!«
Der Mann sprach aus, was viele auf dem Domplatz dachten. In der Menge machte sich Unmut breit. »Ja, verschwinde!«, riefen die Leute und schüttelten die Fäuste in Richtung Rathaus. Man verspottete Wilhelm als »Wasserkönig« und »Hanswurst von einem Herrscher«.
»Die Söhne Varennes’ haben Besseres zu tun, als in deinem törichten Krieg zu kämpfen!«, schrie eine Patrizierin.
Balian selbst hatte keine Vorbehalte gegen Wilhelm, aber er konnte verstehen, warum viele Bürger Varennes’ ihn ablehnten. Nachdem der große Stauferkönig Friedrich II. vom Papst gebannt und abgesetzt worden war, hatte die päpstliche Partei zunächst Heinrich Raspe und nach dessen Tod Wilhelm von Holland zum Gegenkönig gewählt. Das staufertreue Varennes hatte jedoch weiter zu Friedrich gehalten und seinen Widerstand gegen Wilhelm auch dann nicht aufgegeben, als Friedrich im Jahre 1250 starb und Wilhelm fortan als alleiniger Herrscher des Heiligen Römischen Reiches galt. Tatsächlich konnte der Holländer seine Macht nur im Norden und Nordosten festigen, im Süden des Reiches hatte er sich nie recht behaupten können. Auf dem Hoftag in Hagenau im März hatte er versucht, Varennes für sich zu gewinnen, indem er die alten staufischen Privilegien der Bürgerschaft bestätigte und versprach, ihre Freiheit nicht anzutasten. Damit hätte er gewiss Erfolg gehabt, wenn er nicht einen Monat zuvor in Worms den elsässisch-lothringischen Städtebund aufgelöst und dessen Mitglieder, darunter Varennes, gezwungen hätte, dem ungleich größeren Rheinischen Städtebund beizutreten. Ein Schlag ins Gesicht für die stolzen Bürger, denn im Rheinischen Städtebund war Varennes nur eine Stadt unter vielen, und das Sagen hatten andere, nämlich mächtige Metropolen wie Köln und Basel. Das verzieh man Wilhelm nicht, und daran änderte auch sein wohlwollendes Auftreten in Hagenau nichts.
Gleichwohl sehnte man sich in Varennes nach einem Herrscher, der nach den politischen Wirren der letzten Jahre für Ordnung und Stabilität sorgte. Aber Wilhelm – da war man sich einig in der Stadt – war nicht dieser König.
Als die Leute immer lauter wurden, erschien der Schultheiß mit seinen Bütteln und befahl ihnen halbherzig, damit aufzuhören, den König zu schmähen. Der Zorn der Menge flaute ab, manch einer hatte keine Lust mehr zu warten und ging seines Weges.
Kurz darauf verließ Arnoul Deforest das Rathaus und schritt über den Platz. Sofort bestürmten die Leute ihn mit Fragen, doch der Ratsherr verweigerte ihnen jede Auskunft und forderte sie herrisch auf, ihn durchzulassen.
»Zur Terz werden die Ausrufer verkünden, was wir entschieden haben«, erklärte er. »So lange müsst ihr euch noch gedulden.«
Als die Menge von ihm abließ, nutzte Michel die Gelegenheit und sprach den Ratsherrn an.
»Gott zum Gruße, ehrenwerter Arnoul. Sagt – ist es wahr, dass im Norden Krieg droht?«
Arnouls abweisende Miene wich einem Lächeln. Er hielt große Stücke auf Michel; außerdem waren ihre Familien seit Langem befreundet. Der Ratsherr nickte kaum merklich und senkte die Stimme. »Die Friesen haben sich gegen den König erhoben und fordern ihre Freiheit«, antwortete er, während sie den Platz überquerten. »Das kann Wilhelm nicht zulassen. In Utrecht versammelt er ein Heer, um den Aufstand niederzuschlagen. Alle Fürsten und Städte sind aufgerufen, ihm Krieger zu schicken. Wir sollen zehn schwere Reiter und dreißig Fußknechte bereitstellen.«
»Werdet Ihr dem Folge leisten?«, fragte Balian.
»Unter uns gesagt – nein. Unsere jungen Männer sollen nicht in der Fremde kämpfen und sterben für einen König, den sie nicht achten. Wir haben mit der Gesandtschaft ausgehandelt, dass wir Wilhelm stattdessen Geld schicken. Vierzig Mark Silber. Eine Mark für jeden Bewaffneten, den wir ihm nach dem Gesetz schuldig sind.«
»Eine weise Entscheidung«, lobte Michel.
»Und ganz im Sinne Eures Großvaters, hoffe ich, der Herr hab ihn selig.« Arnoul lächelte. »Ich muss jetzt gehen. Die Geschäfte warten. Besucht mein Weib und mich doch wieder einmal«, sagte der Ratsherr, bevor er von dannen schritt.
Balian blickte ihm nach, die Hand auf dem Schwertknauf. Der Krieg fand also ohne Varennes statt. Das war gut, oder? Trotzdem verspürte er ein eigentümliches Gefühl der Enttäuschung.
»Für uns wird es auch höchste Zeit«, sagte Michel, wie immer die Tatkraft in Person. »Wir haben heute viel zu tun.«
Sie gingen zu ihrem Haus in der Rue de l’Épicier, wo ihre Knechte im Hof gerade Fässer und Kisten auf einen Wagen luden, Handelsware aus Metz, die Michel verschiedenen Kunden ins Haus liefern würde. Beaufsichtigt wurden die Männer von Clément, dem Gemahl ihrer Schwester Blanche, der Michel half, das Familiengeschäft zu führen. Ein sanftmütiger und stiller Geselle, aber ein fähiger Händler.
»Was hat es mit der Gesandtschaft auf sich?«, fragte er, woraufhin Michel ihm in knappen Worten berichtete, was sie von Arnoul Deforest erfahren hatten.
Balian legte derweil sein Schwert ab und ging den Knechten zur Hand.
»Lass das die Männer machen«, sagte sein Bruder. »Geh lieber nach oben und trag die letzten Geschäfte im Hauptbuch nach. Aber sorgfältig, wenn ich bitten darf.«
Das Hauptbuch. Balian hatte es befürchtet. Er unterdrückte ein Seufzen und ging ins Haus.
Salz. Kerzenwachs. Eisenerz. Wolle aus England und Färberkrapp aus Speyer. Schier endlose Aufstellungen aller Waren, mit denen die Familie handelte. Daneben Angaben zu Preisen, erzielten Gewinnen und entrichteten Zöllen. Zahlen, Zahlen und noch mehr Zahlen. Balian tauchte den Gänsekiel in die Tinte und wollte die Geldbeträge addieren, doch alles verschwamm vor seinen Augen. Stöhnend lehnte er sich zurück und starrte zur Decke empor.
Zwar beherrschte er die metodo italiano, die fortschrittliche lombardische Buchführung, die seine Familie seit jeher benutzte. Trotzdem machte er immer wieder Fehler, denn er war nicht imstande, sich auf die Listen im Hauptbuch zu konzentrieren. Diese Arbeit war so entsetzlich langweilig. Dass es in der Schreibstube immer heißer wurde, machte es nicht eben leichter.
Balian war erst zweiundzwanzig Jahre alt, konnte jedoch bereits auf eine beachtliche Chronik des Scheiterns zurückblicken. Als Kind hatte er einige Jahre die Ratsschule besucht. Da Gott ihn mit einer ungewöhnlichen Begabung für Fremdsprachen gesegnet hatte, lernte er Latein viel schneller als die anderen Kinder, was zur Folge hatte, dass er sich bald langweilte. Er fing an, Unsinn anzustellen, bis es Magister Will zu bunt wurde und er sich weigerte, ihn weiter zu unterrichten. Anschließend hatte er sich als Buchmaler versucht, denn es war der sehnlichste Wunsch seines Vaters gewesen, dass Balian in seine Fußstapfen trat. Leider besaß er im Gegensatz zu seiner Zwillingsschwester Blanche nicht die erforderliche Geduld, den ganzen Tag am Schreibpult zu sitzen, Texte zu kopieren und winzige Miniaturen zu zeichnen. Lieber trieb er sich draußen mit seinen Freunden herum, ritt durch die Wälder und übte sich im Schwertkampf. Leider dauerte es ganze drei Jahre, bis auch sein Vater begriff, dass kein Buchmaler in Balian steckte – drei Jahre voller Streit, Tränen und Enttäuschungen. Schweren Herzens beendete Rémy Balians Lehre und entschied, er solle seinem älteren Bruder im Handelsgeschäft helfen.
Seitdem war er also eine Art Kaufmann. Allerdings kein besonders guter. Obwohl dieser Beruf durchaus seine interessanten Seiten hatte – die abenteuerlichen Kauffahrten etwa –, war ihm die Arbeit größtenteils ein Graus. Das Feilschen, die Buchführung, die ganze Pfennigfuchserei, es ermüdete ihn. Wie es schien, hatte Michel die gesamte kaufmännische Begabung ihrer Vorfahren geerbt und nichts für ihn übrig gelassen.