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Dieses eBook: "Die Geierwally - Der einsame Kampf einer Frau" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Wilhelmine von Hillern (1836-1916) war eine deutsche Schriftstellerin. Wilhelmine von Hillerns größter Erfolg wurde 1875 ihr Roman Die Geier-Wally, der von einer Anekdote aus der Jugend der Anna Stainer-Knittel ausgeht, die Wilhelmine von Hillern 1870 in Innsbruck kennengelernt hatte. Mit 17 Jahren hatte Anna Steiner-Knittel an einem Seil hängend einen Adlerhorst an einer Felswand ausgenommen, was zum Schutz von Schafherden zwar üblich, jedoch eine Arbeit der Männer war. Wilhelmine von Hillern schuf aus dem tatsächlichen Ereignis einen dramatischen Heimatroman, in der die weibliche Hauptfigur Walburga sich den Konventionen der Weiblichkeit verweigert und als Wildfang in raue Natur verstoßen ihre Jugend verlebt. Der Roman wurde schon kurz nach Erscheinen in Buchform in acht Sprachen übersetzt und war nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) der erste deutsche Roman, der in Frankreich in der Revue des Deux Mondes im Auszug und später bei Hachette übersetzt erschien.
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Seitenzahl: 289
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Eine Geschichte aus den Tiroler Alpen
»Schaust du verträumt vom Turme nieder, Du hochlandwilde scheue Maid Im knappgeschnürten Purpurmieder, In keuscher Herzensherrlichkeit, So denk' ich einer Alpenrose, Die einsam auf der Klippe steht,
Tief unten durchs Ötztal zog ein fremder Wanderer. Oben in Adlershöhe über ihm am schwindelnden Abhang stand eine Mädchengestalt, von der Tiefe heraufgesehen nicht größer als eine Alpenrose, aber doch scharf sich abzeichnend vom lichtblauen Himmel und den leuchtenden Eisspitzen der Ferner. Fest und ruhig stand sie da, wie auch der Höhenwind an ihr riß und zerrte, und schaute nieder schwindellos in die Tiefe, wo die Ache brausend durch die Schlucht stürzte und ein schräger Sonnenstrahl in ihrem feinen Sprühregen schimmernde Prismen an die Felswand malte. Auch sie sah winzig klein den Wanderer und seinen Führer dahinziehen über den schmalen Steg, der in Turmeshöhe über die Ache führte und von da oben einem Strohhalm glich. Sie hörte nicht, was die beiden sprachen, denn aus der Tiefe drang kein Laut herauf als das donnernde Brausen des Wassers. Sie wurde nicht gewahr, daß der Führer, ein schmucker Gemsjäger, drohend den Arm erhob, zu ihr hinauf deutete und zu dem Fremden sagte: »Das is g'wiß die Geier-Wally, die dort oben steht, denn auf den schmalen Vorsprung, so nah an n' Abgrund, traut sich kei andres Madel; schauen's, ma meint, der Wind müßt' sie 'runterwehen, aber die tut immer's Gegenteil von dem, was jeder vernünftige Christenmensch tut.«
Jetzt traten sie in einen dunkeln, feuchtkalten Fichtenwald ein. Noch einmal blieb der Führer stehen und schaute hinauf mit Falkenblick, wo das Mädchen stand und das Dörfchen sich lieblich hinbreitete auf der schmalen Bergplatte im vollen Glanz der Morgensonne, die noch kaum verstohlen hereinschielen durfte in die enge, grabesdüstre Schlucht da unten. »Schau nur nit so trotzig 'runter, da 'nauf gibt's a noch'n Weg!« murmelte er und verschwand mit dem Fremden. Wie zum Hohn auf die Drohung stieß das Mädchen einen Juchzer aus, so gellend von allen Wänden widerhallend, daß ein beflügeltes Echo den Ton bis in die tiefe Stille des Fichtenwaldes hineintrug, geisterhaft verklingend wie der herausfordernde Ruf der den Gemsjäger feindlichen Feen des Ötztals.
»Ja, schrei nur – i will dir's scho austreiben!« drohte er wieder, und sich stark hintenüberlegend, das Genick mit beiden Händen stemmend, schmetterte er hell und grell wie ein Posthorn ein Spott- und Trutzlied an der Bergwand empor.
»Ob sie's hört?«
»Warum nennst du das Mädchen dort oben die Geier-Wally?« fragte der Fremde unten im dunkeln, feuchtrauschenden Wald.
»Herr, weil sie als Kind scho a Geiernest ausg'nommen und mit dem alten Geier g'hakelt hat«, sagte der Tiroler, »'s is das schönste und stärkste Mädel in ganz Tirol und furchtbar reich, und die Buab'n lassen sich von ihr heimjagen, daß a wahre Schand is. Keiner hat die Schneid, daß er ihr amal 'n Meister zeigen tät! Spröd sei sie wie a wilde Katz und so stark, daß die Buab'n behaupten, 's könn' sie keiner zwinge – wenn ihr einer z' nah kommt, schlagt s' ihn nieder. No – wann i emal 'nauf käm, i wollt' sie zwinge, oder i riß mer selber 'n Gamsbart und d' Feder vom Huat!«
»Warum hast du nicht schon dein Glück bei ihr versucht, wenn sie doch so reich ist und schön?« fragte der Fremde.
»Ach wissen S' i mag so Madeln nit – die halbe Buab'n sind. Freili kann sie nix dafür: der Alte – Stromminger heißt er – ist gar a schiecher, böser Mensch. Er war vorzeiten der beste Hackler und Robler im Gebirg, und des geht ihm heut noch nach. Das Madel hat er lasterhaft viel g'schlagen und aufzog'n wie 'n Buab'n; kei Muater hat's nit g'habt, weil's so a groß's stark's Kind war, daß es die Frau kaum auf d' Welt bringen könnt hat und glei g'storben is. Da is das Madel halt au so wild und g'walttätig word'n.« – So erzählte der Tiroler unten in der Schlucht dem Fremden, und er hatte sich nicht getäuscht. Die Mädchengestalt, die dort oben über dem Abgrund ragte, war die Walburga Strommingerin, des gewaltigen »Höchstbauern« Kind, auch Geier-Wally genannt, und er sprach wahr, sie verdiente diesen Namen. Schrankenlos war ihr Mut und ihre Kraft, als hätte sie Adlersfittiche, schroff und unzugänglich ihr Sinn, wie die scharfkantigen Felsspitzen, an denen die Geier nisten und die Wolken des Himmels zerreißen.
Wo es was Gefährliches zu vollbringen gab, da war von Kindheit auf die Wally dabei gewesen und hatte die Buben beschämt. Schon als Kind war sie wild und ungestüm wie die jungen Stiere des Vaters, die sie bändigte. Als sie kaum vierzehn Jahre alt war, hatte ein Bauer an einer schroffen Felswand das Nest eines Lämmergeiers mit einem Jungen entdeckt, aber keiner im Dorfe mochte es wagen, das Nest auszunehmen. Da erklärte der Höchstbauer zum Hohn für die mannhafte Jugend des Orts, er werde es seine Walburga tun lassen. Und richtig, die Wally war dazu bereit, zum Entsetzen der Weiber und zum Verdruß der »Buab'n«. »Höchstbauer, das heißt Gott versuchen«, sagten die Männer. Aber der Stromminger mußte seinen Spaß haben, alle Welt mußte es erfahren, daß das Strommingersche Geschlecht bis auf Kind und Kindeskind herab seinesgleichen suche.
»Ihr sollt's sehen, daß ein Madel vom Stromminger mehr is, als zehn Buab'n von euch!« rief er lachend den Bauern zu, die zusammenströmten, um das Unglaubliche mit anzusehen. Viele dauerte das schöne, stattliche junge Blut, das einer boshaften Prahlerei des Vaters vielleicht zum Opfer fallen würde. Aber sehen wollten sie's doch alle. Da die Felsenwand fast lotrecht gerade war, an der das Nest hing, und kein menschlicher Fuß sie betreten konnte, wurde Wally ein Strick um den Leib gebunden. Vier Männer, zuvörderst ihr Vater, hielten ihn zwar, aber den Zuschauern war es doch grausig zu sehen, wie das beherzte Kind, nur mit einem Messer bewaffnet, bis an den Rand des Plateaus vortrat und sich nun mit einem raschen Sprung in die Tiefe hinabließ. Wenn der Knoten des Seiles aufging, wenn der Geier sie zerfleischte, oder wenn sie sich beim Heraufziehen an einem unbemerkten Vorsprung den Schädel einstieß? Es war ein gottsträfliches Beginnen vom Stromminger, so das Leben des eigenen Kindes auszusetzen. Indessen durchschiffte die Wally unerschrocken das Luftmeer bis zur Mitte des Abgrundes, wo sie mit Jubel den kleinen Geier begrüßte, der dem fremdartigen Besuch die flaumigen Federn entgegensträubte und piepsend den unförmigen Schnabel gegen sie aufriß. Ohne langes Besinnen packte sie mit der Linken den jungen Vogel, der nun ein jämmerliches Geschrei anhob, und nahm ihn unter den Arm. Da rauschte es durch die Lüfte, und in demselben Augenblick war es dunkel um sie her und wie in Sturm und Hagelwetter schlug und brauste es ihr um den Kopf. Ihr einziger Gedanke war: »Die Augen, rette die Augen!« und das Gesicht dicht an die Felswand drückend, focht sie mit dem Messer in ihrer Rechten blindlings gegen das wütende Tier, das mit dem scharfen Schnabel, mit Klauen und Fittichen auf sie eindrang. Indessen zogen oben die Männer rasch an. Noch eine Weile dauerte während der Auffahrt der Kampf in der Luft – da plötzlich neigte sich der Geier und schoß in die Tiefe; Wallys Messer mußte ihn verwundet haben. Wally aber kam mit dem Kleinen im Arm, das sie um keinen Preis losgelassen hätte, blutend und mit vom Fels zerschundenem Gesicht oben an.
»Aber Wally«, schrien ihr die Leute entgegen, »warum hast denn das Junge nit fahren g'lass't, dann wärst ja den Geier losg'west!« »Oh«, sagte sie einfach, »das arm' Dierl kann ja noch nit fliegen, wenn i's losg'lass't hätt', wär's in den Abgrund g'stürzt und hätt' sich zu Tod g'fallen.«
Hier war es zum ersten und einzige Male in ihrem ganzen Leben, daß der Vater ihr einen Kuß gab; nicht weil ihn das großmütige Mitleid Wallys mit dem hilflosen Tier gerührt hätte, sondern weil sie ein Heldenstück verübt hatte, das dem erlauchten Roblergeschlecht der Stromminger Ehre machte.
Das war das Mädchen, das da draußen stand auf dem kaum fußbreiten Felsvorsprung und träumerisch hinabsah in den Abgrund, über dem sie schwebte, denn es kam manchmal wundersam über sie bei all ihrem Ungestüm, daß es stille in ihr ward und sie wehmütig vor sich hinschaute, als sähe sie etwas, wonach sie sich sehnte und was sie doch nicht erreichen konnte. Es war ein Bild, das sich immer gleichblieb, sie mochte es sehen in grauer Morgendämmerung oder in goldener Mittagsglut, im Abendrot oder im bleichen Mondlicht, und es ging mit ihr seit einem Jahr überall, wo sie ging und stand, hinab ins Tal und hinauf auf die Berge, und wenn sie so allein draußen war, und ihre großen, wildscheuen Gemsenaugen hinüberschweiften zu dem weißleuchtenden Gletschermeer, oder hinunter in die schattige Schlucht, wo die Ache donnerte, dann suchten sie den, welchem das Bild glich, und wenn dann und wann ein Wanderer da unten winzig klein vorüberglitt, so dachte sie, das könnte er sein, und eine seltsame Freude kam über sie bei dem Gedanken, daß sie ihn gesehen, wenn sie auch nichts erkennen konnte als eine menschliche Gestalt, nicht größer als ein bewegliches Figürchen im Guckkasten. Und als jetzt die beiden Wanderer vorüberzogen, von denen der Fremde sie bewunderte, der Tiroler ihr drohte, da dachte sie wieder, er sei's. Da ward ihr's so eng in der Brust, sie öffnete die Lippen, und wie eine befreite Lerche schwang sich die Freude in einem schmetternden Jodler daraus empor. Und wie der Jäger unten im stillen Wald ein verschwindendes Echo davon gehört, so erreichte auch sie ein Widerhall seiner Antwort, und sie lauschte dem verwehten Klang mit trunkenem Ohr – es konnte ja seine Stimme sein! Und über das wilde, trotzige Gesicht verbreitete sich der rosige Widerschein eines warm aufwallenden Gefühls. Sie hatte ja nicht gehört, daß das Lied ein Spott- und Trutzlied war. Hätte sie's gehört, sie hätte wohl die nervige Faust geballt und die Kraft ihres Armes geprüft, und über ihr Gesicht wären finstere Schatten gezogen, daß es erbleicht wäre wie die Gletscher nach Sonnenuntergang. Und sie setzte sich nieder auf den Stein, der sie trug, und schaukelte mit den Füßen, die nun frei über dem Abgrund hingen, stützte den schlanken Kopf in die Hände und ließ alles an ihrer Seele vorüberziehen, wie das so wunderbar gewesen, als sie ihn zum erstenmal gesehen.
Es war um Pfingsten, gerade vor einem Jahr, da führte sie ihr Vater zur Firmelung nach Sölden; dorthin kam der Bischof alle zwei Jahre, weil bis Sölden ein Fahrweg ging. Sie schämte sich ein wenig, weil sie schon sechzehn Jahre und so groß war. Der Vater hatte sie nicht früher firmeln lassen wollen, er hatte gemeint, dann ginge gleich das Liebeln und Brautwerben los – und dazu wär's noch lang' Zeit! Nun hatte sie Angst, die andern würden sie auslachen. Aber niemand achtete auf sie. Das ganze Dorf war in Aufregung, als sie hinkamen, denn es hieß, der Joseph Hagenbach von Sölden habe den Bären erlegt, der sich drüben im Vintschgau gezeigt und dem die Buben aus allen Ortschaften vergebens nachgestellt. Da sei denn der Joseph aufgebrochen und hinübergegangen, und letzten Freitag habe er ihn schon gehabt. Der Schnalserbot hatte früh die Nachricht gebracht, und der Joseph werde ihm bald nachkommen. Die Söldener Bauern, die vor der Kirche warteten, waren gar stolz, daß es ein Söldener war, der das Wagstück vollbracht, und sprachen von nichts anderem als von dem Joseph, der ganz unstreitig der stärkste und sauberste Bua im ganzen Gebirg war und ein Schütz, wie's keinen zweiten gab. Die Madeln hörten bewunderungsvoll zu, was für Heldenstücke von dem Joseph erzählt wurden, wie ihm kein Berg zu steil und kein Weg zu weit, keine Kluft zu breit und keine Gefahr zu groß sei. Und als eine bleiche, kränklich aussehende Frau über den Rasen daherschritt, stürzten alle auf sie zu und wünschten ihr Glück, daß ihr Sohn soviel Ehre eingelegt habe.
»Des is einer, dei Joseph«, sagten die Männer wohlmeinend, »an dem kann sich jeder a Beispiel nehme!« »Wenn es dei Mann seliger noch erlebt hätt', wie hätt' der sich g'freut!« sagten die Weiber.
»Nein, ma sollt's nit glauben«, rief einer artig, »ma sollt's nit glauben, daß der Prachtkerl dei Sohn is – wenn man dich so anschaut.«
Die Frau lächelte geschmeichelt: »Ja, 's is a stattlicher Bursch und a braver Sohn, wie's kein'n bessern geben kann. Aber ös könnt's glauben, i komm schon gar aus die Ängsten um den Waghals nit 'raus, 's is kei Tag, wo i nit denk, heut bringen s' mir'n mit zerschlagene Glieder heim! Des is a Kreuz!«
Jetzt erschien die hohe Geistlichkeit auf dem Platz und machte dem Gespräch ein Ende. Die Leute drängten mit den weißbeschürzten, buntbekränzten Firmelkindern in die kleine Kirche, und die heilige Handlung begann.
Aber Wally konnte die ganze Zeit an nichts anderes als an den Bärentöter Joseph denken und an alle Wunderdinge, die er sollte verrichtet haben – und wie prächtig das sei, wenn einer so stark und beherzt sei und in so großem Ansehen bei allen Leuten stehe, daß ihm keiner was anhaben könnte. – Wenn er nur noch kam, solange sie in Sölden war, daß sie ihn doch auch sehen könnte; sie brannte ordentlich darauf!
Endlich war die heilige Handlung vorüber, und die Kinder empfingen den Segen; da erscholl draußen auf dem Platze vor der Kirche wildes Hurrageschrei. »Er hat ihn, er hat den Bären!« Kaum daß der Geistliche noch den Segensspruch beenden konnte, stürzte alles hinaus und umringte jubelnd einen jungen Gemsjäger, der, geleitet von einer Schar stattlicher Burschen aus dem Schnalsertal und dem Vintschgau, über den Rasen schritt. Aber wie stattlich auch die Schnalser und Vintschgauer waren, keiner kam ihm gleich. Er überragte sie alle an Größe, und so sauber war er, so bildsauber! Es war fast, als leuchte er schon von weitem. Er sah aus wie der Sankt Georg in der Kirche. Über der Schulter trug er ein Bärenfell, dessen grimme Tatzen auf seiner breiten Brust herumbaumelten. Er ging so stolz einher wie der Kaiser und tat immer nur einen Schritt, bis die andern zwei taten, aber er war ihnen doch voraus. Und sie machten ein Aufhebens mit ihm, als wäre er wirklich der Kaiser, der sich in einen Gemsjäger verkleidet habe. Der eine trug ihm die Flinte, der andere die Joppe, und alle hatten Räusche und schrien und johlten, nur er war nüchtern und ruhig. Er ging gar bescheiden auf die Geistlichen zu, die aus der Kirche ihm entgegentraten, und zog den bekränzten Hut vor ihnen ab. Der fremde Bischof machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und sagte: »Der Herr war stark in dir, mein Sohn! Du hast mit seiner Hilfe vollbracht, was keinem gelungen. Die Menschen müssen dir danken – du aber danke dem Herrn!«
Alle Weiber weinten vor Rührung, und auch Wally wurden die Augen naß; es war, als käme jetzt erst die Andacht über sie, die sie in der Kirche versäumt, als sie den stattlichen Jäger das stolze Haupt unter der segnenden Hand des Priesters beugen sah. Darauf zog sich die Geistlichkeit zurück. Josephs erste Frage war aber nun: »Wo is denn mei Muater? Is sie nit da?«
»Doch!« antwortete diese und fiel dem Sohn in die Arme: »Da bin i scho!«
Joseph drückte sie fest an sich und sagte: »Schau, Müaterl, um dich hätt' mir's leid 'tan, wenn i nimmer wiederkommen wär' – du lieb's Müaterl, du hätt'st ja nit g'wußt, was d' anfangen sollst ohne mich, und i wär au nit gern g'storben, ohne daß dir noch a Busserl geb'n hätt'!«
Ah, das war so schön, wie er das sagte; Wally hatte ein ganz eigenes Gefühl, ein Gefühl, als beneide sie die Mutter, die so gut in der liebevollen Umarmung des Sohnes ruhte und sich so zärtlich an die mächtige Gestalt schmiegte. Aller Augen ruhten mit Wohlgefallen auf der Gruppe – Wally war es dabei ganz unbeschreiblich ums Herz!
»Aber jetzt erzähl, wie's gangen is!« drangen die Bauern in ihn.
»Ja, ja, i will's erzählen«, lachte er und warf das Bärenfell zur Erde, daß alle es besehen konnten. Und sie bildeten einen Kreis um ihn, und der Wirt ließ ein Faß vom Besten auf den Platz schleppen und anzapfen, denn nach der Kirche mußte getrunken werden und bei so einer Extragelegenheit erst recht, und die kleine Wirtsstube hätte ja nicht die ungewöhnliche Zahl Menschen alle gefaßt. Die Männer und Weiber drängten sich natürlich um den Erzähler, und die G'firmten stiegen auf Bänke und Bäume, um über sie hinwegzusehen. Wally war die allererste auf einer Fichte und konnte ihm gerade ins Gesicht sehen, die andern aber neideten ihr den Platz, und weil sie sich ihn nicht nehmen ließ, gab es Streit und Lärm. Da schaute der Sankt Georg herauf zu ihnen, und seine funkelnden Augen trafen gerade Wallys Gesicht und blieben eine Weile lächelnd darauf haften. Da war es Wally, als stiege ihr alles Blut zu Kopf, und sie erschrak so heftig, daß sie ihr Herz schlagen hörte bis in die Ohren hinein. In ihrem ganzen Leben war sie nicht so erschrocken, und sie wußte nicht einmal warum! Sie hörte nur halb, was Joseph erzählte, es sauste ihr in den Ohren, sie konnte nichts denken als: »Wenn er wieder heraufschaute?!« Und sie wußte nicht, wünschte sie's oder fürchtete sie's? Als es aber während des Erzählens doch noch einmal geschah – da blickte sie schnell weg und schämte sich, als sei sie auf etwas Unrechtem ertappt worden. War es denn ein Unrecht, daß sie ihn so angesehen hatte? Es mußte wohl so sein. Und sie konnte es doch nicht lassen, obgleich sie beständig zitterte, er könnte es merken. Aber er merkte es nicht, was kümmerte ihn das »Firmelkind« da oben auf dem Baume. Er hatte es ein paarmal angeschaut, wie man auch nach einem Eichkätzchen sieht, weiter nichts. Das sagte sie sich selbst, und ein wunderliches Weh beschlich sie dabei. So, wie heute, war ihr noch nie zumute gewesen – sie war nur froh, daß sie unterwegs keinen Wein getrunken; sie hätte sonst gemeint, sie sei berauscht. Sie spielte in ihrer Bangigkeit mit ihrem Rosenkranz. Es war ein schöner neuer, mit roten Korallen, mit einem echt silbernen Kreuz von getriebener Arbeit. Sie hatte ihn zur Firmelung von ihrem Vater bekommen. Da plötzlich, wie sie ihn so drehte und wickelte, zerriß die Schnur, und wie Blutstropfen rieselten die roten Perlen vom Baume nieder. »Des is a schlechtes Zeichen«, raunte ihr eine innere Stimme zu; »die Luckard hat's nit gern, wenn was reißt, während ma an was denkt!«
»An was denkt!« – Ja, an was dachte sie denn? Sie sann darüber nach – sie konnte es nicht finden. Sie hatte eigentlich an nichts Bestimmtes gedacht. Warum tat es ihr nur so leid, daß gerade in dem Augenblicke die Schnur zerriß? Es war ihr, als wäre plötzlich die Sonne bleich geworden, und ein kalter Wind striche über sie hin. Aber doch regte sich kein Halm, und die eisstarrende Welt in der Runde glänzte in strahlendem Licht.
Ein Wolkenschatten war vorübergezogen – ob in ihr – außer ihr? Was wußte sie? Joseph hatte indessen sein Abenteuer mit dem Bären auserzählt und den Beutel mit den vierzig Gulden herumgezeigt, die von der Tiroler Regierung als Schußgeld für einen Bären ausbezahlt werden, und es war des Lobens und Händeschüttelns kein Ende. Nur Wallys Vater hielt sich mürrisch fern. Es ärgerte ihn, wenn einer ein großes Heldenstück vollbrachte; es sollte niemand stark sein in der Welt, als er und seine Tochter. Durch dreißig Jahre hatte er unbestritten für den stärksten Mann im Gebirg gegolten, und nun konnte er es nicht ertragen, daß er alt wurde und dem jungen Nachwuchs den Platz räumen mußte. Als aber gar einer in seiner Freude zu Joseph sagte, es sei ja kein Wunder, daß er so ein G'waltskerl geworden – er habe das von seinem Vater, der sei auch der beste Schütz und der beste Raufer in der ganzen Gegend gewesen –, da hielt sich der Alte nicht mehr und fuhr mit einem donnernden »Oho – begrabt's ein'n nur nit scho, ehvor ma tot is!« dazwischen.
Alle wichen auseinander vor der drohenden Stimme und sagten fast erschrocken: »Der Stromminger!«
»Ja, der Stromminger is au noch da und hat nie nix davon g'wußt, daß der Hagenbach der beste Raufer war! Mit 'm Maul ja – aber mit sonst nix!«
Da drehte sich Joseph um wie eine angeschossene Wildkatze und schaute Stromminger mit funkelnden Augen an: »Wer sagt, daß mei Vater a Maulheld war?«
»I sag's, der Höchstbauer von der Sonneplatten, und i weiß, was i red', denn i hab ihn maler zehne hing'legt, wie 'n Sack.«
»Des is nit wahr!« schrie Joseph. »I lass' mir mein' Vater nit anschwärzen!«
»Joseph, sei staad, 's is der Höchstbauer, mit dem mußt nit anbinden«, flüsterten ihm die Leute zu.
»Was, Höchstbauer hin und Höchstbauer her – und wann unser Herrgott vom Himmel runter käm' und wollt' mir mein' Vater schlecht machen – i tät's nit leiden. Ich weiß scho, der Stromminger und mei Vater hab'n 's immer mitanand' g'habt, weil mei Vater der einzige war, der's mit 'm Stromminger aufnehme könnt hat. Und er hat den Stromminger g'rad so oft g'worfen, wie der ihn!«
»Nit wahr is 's!« schrie Stromminger. »Dei Vater war a Tropf gegen mich. Wenn einer von euch Alten Ehr im Leib hat, soll er's sagen – und wenn du's nachher noch nit glaubst, so will i dir's einbleuen!« Joseph war bei dem Wort »Tropf« wie rasend auf Stromminger zugesprungen: »Du, nimm das Wort z'ruck oder –«
»Jesus Maria«, kreischten die Weiber; »laß ab, Joseph«, begütigte die Mutter, »'s is an alter Mann, an dem darfst dich nit vergreifen!«
»Oho!« schrie Stromminger, rot vor Zorn. »Wollt 's mich zu'n alten Troddel machen? So altersschwach is der Stromminger noch nit, daß er's nit noch aufnehmen könnt' mit so 'n Gelbschnabel! Geh nur her – i will dir's scho zeigen, daß i noch Mark in die Knochen hab, dich fürcht i noch lang nit, und wenn d' noch zehn Bären g'jagt hätt'st.«
Und wie ein wütender Stier drang der stämmige Mann auf den jungen Jäger ein, daß dieser unwillkürlich zurückwich unter dem wuchtigen Anprall. Aber nur einen Augenblick währte das Schwanken, denn Josephs schlanke Gestalt war so muskelzähe, so elastisch biegsam – und wenn gebogen – wieder aufschnellend wie die hohen Fichten jener Gegend, die wie mit Eisendrähten in dem nackten Gestein wurzeln, sich von den vier Winden zausen lassen und gegen Bergeslasten von Schnee stemmen müssen. Stromminger hätte ebensogut einen Baum ausreißen, als Joseph vom Boden aufbringen können. Und nach einem kurzen Ringen schlangen sich Josephs Arme fest um Stromminger und schnürten sich zu, immer fester bis zum Ersticken, daß ein lautes Stöhnen aus Strommingers gepreßter Brust drang und er keine Hand mehr frei machen konnte. Und nun begann der junge Riese an dem alten Mann zu rütteln und zu lüpfen, herüber, hinüber, langsam, mählich, aber gründlich, ihm bald den einen, bald den andern Fuß unter dem Leibe wegdrängend, als wollte er ihn ruckweise lockern. Die Umstehenden wagten kaum zu atmen ob des seltenen Schauspiels, es war ihnen fast, als dürften sie nicht hinsehen, wenn so ein alter Baum zum Sturz käme. Jetzt – jetzt hatte Stromminger den Boden unter den Füßen verloren – jetzt mußte er stürzen – aber nein – Joseph hielt ihn auf, schleppte ihn in seinen starken Armen zur nächsten Bank und setzte ihn darauf nieder. Dann zog er ruhig sein Tuch und trocknete Stromminger den perlenden Schweiß von der Stirn: »Seht, Höchstbauer, i hab Euch 'zwunge, i hätt Euch könne werfen, aber da sei Gott davor, daß i a 'm alten Mann die Schand antät! Und jetzt woll'n wir wieder gut Freund sein – nix für ungut, Stromminger!«
Er hielt gutmütig lachend dem Stromminger die Hand hin – aber dieser schlug sie mit einem bitterbösen Blick zurück: »Der Teufel soll dir's eintränken, du Schandbub!« schrie er ihn an. »Und ös alle, ös Söldener, die a Freud d'ran g'habt habt's, wie der Stromminger zum Kinderspott word'n is, ös sollt's scho noch erfahren, wer der Stromminger is. Jetzt wird kei G'schäft mehr mit euch g'macht und nix mehr g'stundet, und wenn halb Sölden verhungern müßt'!« Er ging zu dem Baum, auf dem Wally noch wie in einem Fiebertraum saß, und riß sie am Kleid: »Komm runter du! 's wird nimmer da Mittag g'macht. Von mir soll kei Söldener mehr 'n Kreuzer sehen.« Aber Wally, die mehr vom Baume gefallen als gestiegen war, stand da wie gebannt, und ihre Augen hafteten fast bittend auf Joseph. Sie meinte, er müsse es spüren, wie leid es ihr tat, daß sie fort solle; ihr war, als müsse er ihre Hand fassen und sagen: »Bleib nur bei mir – du gehörst ja zu mir und i zu dir und zu niemand sonst!« Aber er stand mitten in einem Knäuel von Männern, die verblüfft zusammen flüsterten, denn viele im Dorfe waren dem Stromminger verschuldet, dessen Reichtum in den Lebensadern der ganzen Gegend kreiste.
»No – wird's?« stieß Stromminger das Mädchen an, und sie mußte wohl oder übel folgen, aber ihre Lippen zuckten, ihre Brust arbeitete krampfhaft, ein Blitz ohnmächtigen Zornes traf ihren Vater. Wie ein Kalb trieb er sie vor sich her. So gingen sie ein paar Schritte, da kamen Leute ihnen nach, und als sie sich umsahen, da stand der Joseph mit noch ein paar Bauern hinter ihnen und sagte: »Höchstbauer, seid's doch nit so grandig! Ös könnt's doch nit mit dem Dirndl un'gessen den weiten Weg auf die Sonneplatten laufen.«
Und er stand dicht neben Wally, und sein Atem umwehte sie, wie er so sprach, und sein Auge ruhte auf ihr – seine Hand legte sich mitleidig auf ihre Schulter, sie wußte nicht, wie ihr geschah – er war so gut, so lieb, und dennoch war ihr zumute wie damals, als ihr beim Ausnehmen des Geiernestes plötzlich die Fittiche des Geiers um die Ohren rauschten, daß ihr Hören und Sehen verging! So etwas Übermächtiges lag für das junge Herz in seiner Nähe, seiner Berührung. Sie hatte nicht gezittert, als das mächtige Tier auf sie niederstieß und ihr mit den breiten Schwingen die Sonne verdunkelte, sie hatte sich tapfer und besonnen gewehrt, aber jetzt zitterte sie am ganzen Leibe und stand verwirrt und verlegen da.
»Hebt's Euch weg!« schrie der Höchstbauer und ballte die Faust gegen Joseph. »I schlag dir ins G'sicht, wenn d' mi nit auslaß't, und wann's mi mei Leb'n kost'!«
»No, wenn ös nit wollt's – so laßt's bleib'n – ös seid's a Narr, Höchstbauer!« sagte Joseph gelassen, drehte sich um und ging mit den andern wieder zurück. Nun hielt sie niemand mehr auf, sie schritten unbehelligt weiter – immer weiter von Joseph weg. Wally sah sich um, sie sah noch eine Weile seinen Kopf über die andern hervorragen, sie hörte die vielerlei Stimmen und das Lachen auf dem Platz vor der Kirche. Sie konnte es immer noch nicht glauben, daß sie wirklich fort sollte und den Joseph nicht mehr sehen – vielleicht nie mehr. Jetzt bogen sie um eine Felsenecke, und jetzt war alles verschwunden, der Platz mit den vielen Menschen und der Joseph – und alles, alles vorbei. Und nun plötzlich kam es über sie wie eine Ahnung eines großen Glücks, das ihr gewinkt und das ihr nun unwiederbringlich verloren sei. Sie schaute sich um, wie um Hilfe flehend in ihrer Herzensnot, in dem neuen, nie gekannten Weh. Aber da war keiner, der ihr gesagt hätte: »Sei ruhig – es wird schon besser werden.«
Tot und starr das Geklüft und Gestein ringsumher, tot und starr schauten die Ferner sie an; was kümmerte sie, die Welten kommen und vergehen gesehen, dies arme, kleine zuckende Menschenherz? Ihr Vater ging so stumm neben ihr her, als wäre er ein wandelnder Felsblock. Und er war ja an allem schuld. Er war ein böser, harter, erbarmungsloser Mann, sie hatte keinen Menschen auf der Welt, der sich ihrer annahm. Und während sie so dachte und mit sich selbst rang, schritt sie mechanisch weiter, immer weiter dem Vater voraus, bergauf – bergab, als wollte sie sich ihren Schmerz verlaufen. Die Sonne stach und brütete auf der kahlen Felswand, ihre Brust rang nach Atem, die Zunge klebte ihr am Gaumen, alle Adern schlugen ihr. Plötzlich vergingen ihr die Sinne, sie warf sich zur Erde und brach in ein lautes Schluchzen aus.
»Oho, was stellt denn dös vor?« sagte Stromminger aufs höchste überrascht, denn er hatte seine Tochter seit ihrer Kindheit nicht mehr weinen sehen. »Bist närrisch?«
Wally antwortete nicht, sie überließ sich ganz dem wilden Ausbruch ihres Herzeleids.
»Jetzt red!« herrschte Stromminger sie an: »Was soll das Getu's heißen? Tu's Maul auf – oder –!« Da brach sie heraus aus dem ungestümen pochenden Herzen, wie der Bergstrom aus dem gelockerten Geklüft hervorbricht, die ganze volle Wahrheit, und überschüttete den Alten mit dem brausenden Gischt ihres Zornes. Sie sagte alles, denn sie war immer wahrhaftig gewesen und nicht geübt, zu lügen. Sie sagte, daß ihr der Joseph gefallen und sie ihn liebgewonnen habe, so lieb wie keinen Menschen auf der Welt, und daß sie sich so darauf gefreut, mit dem Joseph zu reden, und wenn der Joseph gehört hätte, daß sie so ein starkes Mädel sei und auch schon allerlei Kraftstücke verübt hätt', da hätt' er nachher auch gewiß mit ihr getanzt, und dann hätt' er sie gewiß auch liebgewonnen, und um das alles habe ihr Vater sie nun gebracht, da er wie ein Unsinniger über den Joseph hergefallen sei und sie dann von der Firmelung habe weglaufen müssen mit Spott und Schand, daß der Joseph sie sein Lebtag nicht mehr anschauen werd'! Aber so sei der Vater immer, bös und wild gegen alle Leute, deshalb heiße er auch überall der schieche Stromminger, und sie müsse das nun büßen.
Da plötzlich schrie der Stromminger: »Jetzt hab i's g'nug!« Es sauste über ihr durch die Luft, und ein Streich schmetterte von des Vaters Stock auf sie nieder, daß sie meinte, das Rückgrat sei ihr abgebrochen und sie erbleichend das Haupt neigte. Es war Hagel, der auf die kaum erschlossene Blüte der Seele fiel. Einen Augenblick war ihr so übel, daß sie sich nicht regen konnte. Schwere Tropfen quollen aus den geschwollenen Lidern hervor wie der Saft aus dem gebrochenen Zweig, sonst war alles tot und stumm in ihr. Stromminger stand leise fluchend neben ihr und wartete, wie der Treiber bei einem Stück Vieh wartet, das unter seinen Schlägen zusammengefallen ist und nicht weiterkann.
Ringsumher war alles so still und einsam. Keines Vogels Stimme, kein Rauschen in den Bäumen unterbrach das Schweigen. Auf dem schmalen Felssteig, der Vater und Tochter trug, grünte kein Baum, nistete kein Vogel. Vor Jahrtausenden mochte es hier getost haben im furchtbaren Kampf der Elemente, und soweit das Auge reichte, sah es nur die Riesentrümmer einer wilden Umwälzung. Aber jetzt waren die Feuer ausgebrannt, die den Boden gesprengt hatten, und die Wasser verlaufen, die im rasenden Schwall die Festen der Erde mit sich fortgerissen. Da lagen sie übereinander hingeschleudert, die regungslosen Kolosse; die Gewalten, die sie zu bewegen vermochten, waren entschlummert, Kirchhofsruhe nistete dazwischen, wie zwischen Grabdenkmälern – und keusch und starr wie der himmelanstrebende Gedanke ragten die weißen Gletscherfirnen hoch darüber hinaus. Nur der Mensch, der ewig ruhelose, setzte auch hier den nie rastenden Kampf fort und störte den erhabenen Frieden der Natur mit seiner Qual!
Endlich schlug Wally die Augen auf und sammelte ihre Kraft, um weiterzugehen. Keine Klage kam mehr über ihre Lippen, sie schaute den Vater so fremd an, als habe sie ihn nie gesehen; ihre Tränen waren versiegt.
»Du hast's jetzt g'spürt, wie's dir geht, wenn du dir noch amal 'n Gedanken an den Schandbuab'n beikommen laß't, der den Stromminger zum Kinderspott g'macht hat«, sagte er und hielt sie am Arm, »denn daß du's nur weißt, eher werf i dich von der Sonneplatten 'nunter, eh dich der Joseph kriegen soll!«
»'s is recht!« sagte Wally mit einem Ausdruck, der selbst den Stromminger stutzen machte, ein so unbeugsamer Trotz lag in dem einen Wort, in dem Ton, mit dem sie's sagte, in dem Blick unversöhnlicher Feindschaft, mit dem sie ihren Vater dabei ansah.
»Du bist a böses, böses Ding, du!« murmelte er zwischen den Zähnen.
»I hab's nit g'stohlen!« erwiderte sie ebenso.
»Aber wart nur, i will dir's austreiben!« knirschte er.
»Ja, ja!« nickte sie, als wollte sie sagen: »versuch's nur.«
Dann sprachen sie nichts mehr miteinander auf dem ganzen Heimweg.
Als sie heimkamen und Wally in ihre Kammer ging, um ihren Feiertagsstaat abzulegen, steckte die alte Luckard, die schon bei ihrer Mutter und Großmutter gewesen und Wally an Mutterstatt aufgezogen, den Kopf zur Tür herein und flüsterte: »Wally, hast d' geweint?«
»Warum?« fragte das Mädchen mit ungewöhnlich herbem Tone.
»In die Karten stehen Tränen! I hab dir heut an dein'm Firmeltag die Karten g'legt; du bist zwischen zwei Buab'n g'fallen und der Schrecken dazu: und so nah war alles, als wär's heut passiert und alles übern klein'n Weg.«
»So?« sagte das Mädchen gleichgültig und packte den schönen Rock ihrer seligen Mutter in die große Holztruhe.
»Is dir was, Kind?« fragte die Luckard, »du schaust so schlecht aus und bist auch so fruah heimkomme. Hast nit 'tanzt?«
»'tanzt?« Das Mädchen schlug eine Lache auf, hart und gellend, wie wenn man mit einem Hammer auf eine Laute geschlagen hätte, daß die Saiten klirrend und klagend nachdröhnten. »Mir war's zum Tanzen!«
»Dir is was g'schehen, Kind! Sag's mir – i kann dir vielleicht helfe.«
»Mir kann niemand helfen!« sagte Wally und warf den Deckel ihrer Truhe zu, als wolle sie alles, was sie drückte, darunter begraben. Es war, als habe sie den Sargdeckel über all ihren jugendlichen Hoffnungen geschlossen. »Geh jetzt«, sagte sie herrisch, wie sie nie zuvor gesprochen, »i will mich a bissel ausruhen!«
»Jesus Maria«, kreischte die Luckard, »da liegt ja dei Rosenkranz zerrissen. Wo hast die K'rallen?«
»Verloren!«
»O Jesus, Jesus, das Unglück, nur das Kreuz'l hast b'halten und die leere Schnur – am Firmeltag den Rosenkranz zerrissen und die Tränenkart dazu! O mei Gott und Vater, was wird da g'schehen!«