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Sind Gender und das natürliche Geschlecht Gegensätze? Abigail Favale zeigt die versteckten Widersprüche der Gendertheorie und ihre fatalen Auswirkungen. Dabei weiß sie, wovon sie spricht: Sie war selbst Dozentin für Gender Studies. In diesem Buch diskutiert sie nicht nur kenntnisreich umstrittene Fragen zum Thema Gender, sondern erzählt auch ihre eigene spannende Geschichte, die sie dazu bewogen hat, für die Würde des Körpers, die sakramentale Bedeutung der Unterschiede zwischen Frau und Mann und die Verbundenheit der gesamten Schöpfung einzutreten. Ein Buch, das viel Diskussionsstoff bietet und einen wichtigen Beitrag für alle darstellt, die sich mit der Genderthematik aus katholischer Perspektive auseinandersetzen möchten.
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Seitenzahl: 372
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Abigail Favale
Warum die Gender-Theorie in die Irre führt
Übersetzung aus dem Englischen von Frank Lachmann und Thomas Stauder
Mit einem Vorwort von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Für unsere Söhne und Töchter.
Mögen sie ihren wahren Wert erkennen.
Titel der Originalausgabe: The Genesis of Gender: A Christian Theory
© Ignatius Press 2022
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die Bibelzitate sind entnommen der
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift
© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: Harald Slott-Møller (1864–1937), Adam and Eve (1891),
Öl auf Leinwand, 79 cm (h) × 77.8 cm (w), Statens Museum for Kunst,
Kopenhagen, Dänemark. Public Domain via SMK.
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print 978-3-451-39628-1
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83968-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83972-6
Leselicht
Danksagungen
1. Häretikerin
2. Kosmos
3. Wellen
4. Kontrolle
5. Biologisches Geschlecht
6. Soziales Geschlecht
7. Künstlichkeit
8. Ganzheit
9. Geschenk
Anmerkungen
Über die Autorin
Was für ein Buch! Es ist ein Fanal, es musste geschrieben werden und es war überfällig. Geschrieben nicht vom Rande der Kritik aus, sondern aus der Mitte von jahrzehntelang aufgetürmten und sich nun überstürzenden Fragen. Es sind Fragen, die die Autorin seit ihrem Studium selbst mitdachte, lehrte und ausbaute – um dann in den Widersprüchen stecken zu bleiben. Oder um es griffiger zu sagen: um durch die Widersprüche hindurch endlich einen tragenden Grund zu finden. Die Rede ist von der seit mehreren Jahrzehnten einflussreichsten und folgenreichsten Theorie der westlichen Anthropologie, versammelt unter dem vagen Titel »Gender«. Wie Favale es selbst auf den Punkt bringt: Obwohl die Gender-Theorie ihre Wurzeln im Feminismus hat, gehört mittlerweile das Wort »Frau« nicht mehr zum feministischen Wortschatz; »Frau« gilt als kaum noch definierbar. Der Grund dafür ist, dass zwischen Frau und den weiblichen Leib ein Keil getrieben worden ist, eine theoretische Brechstange, die beide immer weiter spaltet.
Abigail Favale, verheiratet, Mutter von vier Kindern und Professorin, lehrt gegenwärtig an der Universität von Notre Dame in den USA. In Kindheit und Jugend im freikirchlichen Christentum verankert, geriet sie mit dem Studium in die Zeitströmungen, die nach und nach vom klassisch-feministischen Thema der »vom Patriarchat unterdrückten Frau« zu einer immer unschärferen Problematik übergingen, die allerdings nicht weniger kämpferisch war: »Gibt es« überhaupt Frauen und Männer? Frau- oder Mannsein wurde letztlich nur noch mit einem individuellen Selbstentwurf verbunden, der alle Fremdbestimmungen ausschalten sollte. Die Stadien dieser Entwicklung beschreibt Favale eingehend biografisch und auch selbstironisch, etwa das anfängliche Stadium feministischer Bibelauslegung, die wahlweise mit Paulus oder gegen Paulus arbeitete, und danach die Faszination durch mittelalterliche und neuere Theoretikerinnen des Christentums wie Hildegard von Bingen und andere Mystikerinnen (die aber als »Ausnahmen« im Unterdrückungsnarrativ verschwanden). Auch die betont weibliche Erfahrungswelt, die seinerzeit Luce Irigaray (damals gegen Judith Butler) vermittelte und die teils noch bis zu einer schroffen Abgrenzung gegenüber männlicher Erfahrungswelt führte, entflammte die damalige Studentin von St. Andrews in Schottland. Zuletzt wurde aber alles Bisherige fortgeschwemmt von der konstruktivistischen Rollentheorie, die die Polarität von Mann und Frau nicht mehr an biologischen und anderen psychisch-geistigen Merkmalen festmachte, sondern nur mehr am individuellen Willen zum Selbstentwurf – andere hatten diesem Selbstentwurf einfach zuzustimmen. Jahrzehntelang geebnet wurde dieser Weg durch die Abkoppelung des Frauseins von Schwangerschaft, Geburt, Familie – also durch die Stilllegung weiblicher Fruchtbarkeit. Auf diese Weise wurde die biologische Fähigkeit des weiblichen Körpers zu einer zwar möglichen, keineswegs aber mehr notwendigen (oder überhaupt wünschenswerten?) Eigenschaft am Frausein – als »wesentlich« durfte sie auf keinen Fall mehr gelten. Als eine Funktion unter vielen anderen konnte Fruchtbarkeit auch hormonell oder operativ oder abortiv unterbunden werden. Im Blick auf sexuellen Genuss unterschied sich also der weibliche Leib infolge von Verhütung nicht mehr vom männlichen Leib, oder genauer: Es bedurfte dieser Unterscheidung im Blick auf den Sexual-Genuss gar nicht mehr, nicht einmal mehr der polaren Unterscheidung der Geschlechter. Dieselbe Einebnung galt für interkulturelle Differenzen zwischen Mann und Frau auf den verschiedenen Ebenen der Lebenswelt.
Abigail Favale berichtet über diese Entwicklung zunächst im Spiegel eigener Erfahrung – das macht Reiz und Glaubwürdigkeit der Darstellung aus. Sie selbst war jahrelang von den wechselnden Thesen angezogen, vollzog die theoretischen Radikalisierungen in allen Wendungen mit, wurde sogar Universitäts-Dozentin für Gender Studies. Ab und zu blitzte zwar eine Wahrnehmung der Widersprüche durch; sie gipfelten darin, dass sie als Dozentin (auch das eigene) Frausein nicht mehr in einer schlüssigen Definition festhalten konnte. Weiblichkeit wurde zum Konstrukt ohne Konkretion. Aber, das fiel ihr auf, auch »Konstruieren« braucht etwas, das konstruiert wird. Zweifellos sind kulturelle Einflüsse auf die geschlechtliche Identität wirksam, aber solche Einflüsse trafen – wie Favale bemerkte – gendertheoretisch in eine völlige Leerstelle, da es keine natürliche Identität mehr geben durfte, die überhaupt hätte beeinflusst werden können. Der Selbstwiderspruch wird deutlich an dem bekannten Satz, es gebe keine Fakten, nur Interpretationen. Aber die Rückfrage lässt sich nicht zum Schweigen bringen: Was soll denn interpretiert werden? Nur Kommentare zu Kommentaren zu Kommentaren …? Eine Gedankenakrobatik in der dünnen Luft der Fantasie?
Ausgelöst und bestärkt wurde der gedankliche Umschwung Favales zu einer kritischen Sicht durch zwei zeitgleiche Erfahrungen: durch die Geburt des zweiten Kindes, einer Tochter, und durch den Eintritt in die katholische Kirche. Gebären bedeutete eine erneute Wahrnehmung des eigenen und des fremden kindlichen Leibes, dem sie als Frau Leben schenken konnte. Konversion bedeutete die Wahrnehmung eines alten Satzes, den sie zwar kannte, aber nicht erfasst hatte: Gott habe irdisches Fleisch angenommen. Damit geschah ein Durchbruch: zum Fleisch als dem Angelpunkt des Christentums. Fleisch ist konkretes, männliches oder weibliches, leidendes, endliches, sinnliches, genießendes Fleisch. Die Inkarnation Jesu warf ein anderes Licht auf die Gender-These: Nicht mehr die tausende Jahre alte gnostische Trennung von Geist und Körper war das Denkmodell der Evangelien und zuvor schon des Alten Testaments, sondern die Einheit von Geist und Fleisch, wenn auch die fragile und noch nicht vollendete Einheit. Leib, im deutschen Wortstamm mit Leben und Liebe verwandt, ist Schlüssel zum Dasein, Seele und Geist sind leiblich eingewurzelt, nicht in einer stummen Körperhülle verschlossen.
Körper, body im Englischen, kennt diese Differenzierung zum Leib nicht; aber, wie es Favale versteht, ist Körper mehr als funktional, geschweige dass man seine Funktionen willentlich oder mechanisch anwerfen oder abstellen kann. Denn: Leib bin ich, Körper habe ich … (In der deutschen Übersetzung wird daher zwischen Leib und Körper unterschieden.)
Favales selbstbewusster Trompetenstoß, mit dem sie ihren Angriff auf die Gender-Theorie einleitet, ist aber nicht nur auf einen überzeugenden biografischen und kenntnisreichen Bericht beschränkt. Im zweiten Teil arbeitet sie mit eingehenden naturwissenschaftlichen Daten, die vor allem die Behauptung eines dritten oder weiterer anderer Geschlechter entkernen. Dabei kommt auch Intersexualität zur Sprache, anhand einer wiederum persönlichen Begegnung, mit der das Buch nachdenklich schließt. Die Durchleuchtung von Erkenntnissen nach heutigem Stand der Wissenschaft erfordert eine Lektüre im geduldigen und aufmerksamen Mitdenken. Als Ergebnis – biologisch ausnahmslos bestätigt – ist die Tatsache hervorzuheben, dass es durchgängig in der Welt des Lebendigen, auch bei Pflanze und Tier, zwei Geschlechter und nicht mehr gibt. Abweichungen sind äußerst selten, und es sind Abweichungen innerhalb der bipolaren Normierung. Das bedeutet nicht, dass es keine Dysphorien gibt, also Fremd-Empfindungen des eigenen Körpers. Aber es bedeutet, dass Besonderheiten am Genitale oder im Chromosomensatz oder in anderen Bio-Daten keine eigene Species von Mensch ausmachen, sondern medizinisch je nach Faktenlage behandelt werden können, oder bei seelischen Dysphorien therapeutisch in eine Annahme seiner selbst münden können.
Kurz: Es geht in diesem Buch vor allem um Tatsachen (als Vorgabe aller Deutungen). Und um die Folgen, wenn Tatsachen geleugnet werden. In einem anderen Wort: Es geht um die menschliche Natur. Natur gilt sonst auf allen Ebenen als unbedingt schützenswert – nur nicht beim Menschen. Dass sie nicht einfach gusseisern vorliegt, sondern kultiviert werden muss wie alles, was der Mensch in die Hand nimmt, ist deutlich; biblisch gesehen ist Selbstgestaltung sogar ein Schöpfungsauftrag. Aber Vorsicht: Es gibt zwei Wörter für Leben im Griechischen; das eine ist bios, das biologische Leben; das andere ist zoe, das kultivierte, geistige Leben. Beide hängen zusammen, so sehr, dass zoe ohne bios leer und blutarm wird. An dieser Wendemarke steht seit geraumer Zeit die Kultur. Chestertons bissiger Ausruf markiert das Verhängnis: »›Ach, Tatsachen!‹, rief er in einer Art Verzweiflungsanfall. ›Tatsachen! Willst du wirklich behaupten – bist du noch so im Aberglauben versunken, kniest du noch vor so morschen prähistorischen Altären, dass du an Tatsachen glaubst?‹«
Abigail Favale räumt stattdessen die postmodernen Altäre ab. Das tut gut. Dass das mit einer intelligenten und lustvollen Auslegung der Schöpfungsgeschichte und göttlichen Fleischwerdung verbunden wird, tut noch besser.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Dieses Buch war eine schwere Geburt, und ich muss mich bei vielen tüchtigen Hebammen bedanken.
Zunächst einmal bei meinen Freundinnen: Hayley McCullough, Cassie Meadows, Jessica Rolfe, Merissa Zielinksi und Erika Barber. Eure Gebete und eure Ermutigung haben mir in vielen Augenblicken voller Furcht und Selbstzweifel den nötigen Halt gegeben.
Ein besonderer Dank geht an meine Seelenfreundin Lindsay Tsohantaridis, die sich die Rohfassung durchgelesen hat und deren Freundschaft für mich eine der wichtigsten Tröstungen darstellt.
Danken möchte ich auch allen, die mir ihre Lebensgeschichten erzählt haben und ehrlich über Probleme mit der geschlechtlichen Identität und ihrem Wechsel gesprochen haben, insbesondere Daisy Chadra, Laura Reynolds und Adelynn Campbell, die mir ihre privaten Erfahrungen anvertraut haben, was heiligen Respekt verdient. Ebenso einer bestimmten Frau, die es vorzieht, anonym zu bleiben, und die mir gezeigt hat, wie man die Würde von intersexuellen Menschen wie ihr am besten achten kann.
Mein Dank gilt auch all denen, die mir geholfen haben, meine eigenen Gedanken zu durchdenken, indem sie eingewilligt haben, sich per Zoom mit mir darüber auszutauschen, obwohl sie mich zuvor nicht kannten: Angela Franks, Erika Bachiochi, Stephen Adubato, Isaiah Jones und Benjamin Boyce.
Dankbar bin ich Artur Rosman, dem Herausgeber des Church Life Journal, der mir großzügig die Erlaubnis erteilte, einige Formulierungen aus meinen Artikeln für diese Zeitschrift zu übernehmen und in dieses Buch zu integrieren.
Ebenso danken möchte ich Corynne Staresinic, der Gründerin von The Catholic Woman, die mir geholfen hat, mir vorzustellen, wie katholischer Feminismus aussehen könnte.
Mein Dank gebührt Mark Brumley von Ignatius Press, weil er das Risiko eingegangen ist, dieses Buch in sein Verlagsprogramm aufzunehmen, sowie Suzanne Lewis, Thomas Jacobi und Abigail Tardiff, die mich wie gute Hirten durch den gesamten Redaktionsprozess begleitet haben.
Am Ende ein privater Dank an Michael und unsere Kinder, die mir vor allem jeden Tag die Unerschöpflichkeit der göttlichen Liebe und die sakramentale Schönheit des menschlichen Leibes offenbaren.
Abigail Favale
15. Oktober 2021
Fest der heiligen Teresa von Ávila
Im Frühjahr 2015 hielt ich eine Lehrveranstaltung zum Thema Gender-Theorie an einer christlichen Universität. Diesen Kurs hatte ich bereits seit mehreren Jahren unterrichtet, aber nie auf genau dieselbe Weise. Die Gender-Theorie befand sich in einem unaufhörlichen Veränderungsprozess, was auch auf meine Studierenden zutraf, und ich orientierte mich ständig um, im Bemühen, mit dem neuesten Jargon und den neuesten Trends Schritt zu halten. Dieses Mal war alles anders. Ich befand mich gerade inmitten zweier dramatischer Umwälzungen in meinem Privatleben: der Geburt meines zweiten Kindes, die mitten im Semester stattfand, und einer turbulenten Konversion zum Katholizismus, die all meine vorherigen Gewissheiten auf den Kopf stellte. Ich war in einer Situation, in der ich sowohl gebar als auch geboren wurde. Das Innerste meines Körpers kam nach außen, um eine Tochter auf die Welt zu bringen; meine Seele erfuhr eine innerliche Neustrukturierung, um Platz für Christus zu schaffen. Jede dieser beiden Geburten war ein ergreifendes Paradox aus Schönheit und Qual.
Meine körperlichen Wehen sind meist rasch vorbei. Für meine geistigen Wehen gilt das weniger. Ich begann jenes Semester als halbe Konvertitin: nur offiziell, aber noch nicht innerlich katholisch. Ich befand mich in einem seltsamen und schwindelerregenden Zwischenstand. Als ich im Jahr 2014 in die Kirche eingetreten war, hatte ich angenommen, eine »Cafeteria-Katholikin« zu werden, die ihre liebgewonnenen progressiven Überzeugungen mit in die Kirche schleppt und sich dabei auf die individuelle Gewissensfreiheit beruft. Dann geschah etwas Schreckliches: Mein Gewissen begann zu rebellieren. Die progressiven Ansichten, die ich mit mir herumtrug, fingen an, sich weniger wie ein persönliches Eigentum anzufühlen, sondern mehr wie ein lästiges und unangemessenes Gepäck.
Die Welt, in der ich mich als feministische Universitätsdozentin bequem eingerichtet hatte, begann weniger Sinn zu ergeben. Ich fühlte mich wie Platons unglückseliger Höhlenbewohner, als er zum ersten Mal aus der Düsternis ins blendende Tageslicht stolperte. Die Schatten an den Steinwänden hinter mir, die einst so klar und beruhigend real schienen, wirkten jetzt wie überzeichnete Cartoons. Doch der Schritt hinaus aus der Höhle war furchteinflößend: Meine Augen hatten sich noch nicht an eine sonnenhelle Welt gewöhnt, also verweilte ich noch ein wenig auf der Schwelle, gestrandet im Halbdunkel.
In diesem Zustand weiter Gender-Theorie zu lehren, war gelinde gesagt verwirrend. Während ich Essays besprach, die ich im Unterricht schon dutzendfach behandelt hatte, wurde ich plötzlich von unfreiwilligen Zweifeln geplagt und bemerkte Lücken und Ungereimtheiten, die mir zuvor nie aufgefallen waren. Im Laufe des Semesters wurde mir durch kleine Einbrüche von Schrecken zunehmend klar, dass ich über ein Jahrzehnt lang in einer Höhle gelebt und diese irrtümlich für die Realität gehalten hatte. Durch meine Liebe zur Frauenliteratur und mein fortwährendes Interesse an weiblichen Lebenserfahrungen war ich in ein Forschungsgebiet geraten, in dem man dessen totalisierende Weltanschauung gleich mitgeliefert bekommt. Ich hatte diese Lehrsätze nach und nach verinnerlicht und war zu einer Ideologin geworden, ohne es zu merken.
Ich erinnere mich an eine bestimmte Unterrichtsstunde, in der meine Studierenden und ich uns mit einem Essay der bekannten Gender-Theoretikerin Judith Butler abmühten. In diesem Aufsatz erklärt Butler ihr Konzept der Genderperformativität: Gender sei etwas, das wir tun, und nicht etwas, das wir sind. (Auf Butler werde ich in Kapitel 3 noch näher eingehen.) Wie die meisten kritischen Theoretiker pflegt Butler einen kryptischen Idiolekt; dennoch akzeptierten meine Studierenden bereitwillig ihre Auffassung von Gender als Performanz. Sie bemerkten nicht das ganze Ausmaß von Butlers Vorstellungen: Sie behauptet, Gender sei ausschließlich performativ, »Frauen« existierten nicht wirklich, und jeder Anspruch auf Wahrheit sei letzten Endes eine Ausübung von Macht. Diese Ideen, die meinen Studierenden vielleicht nicht so gut gefallen hätten, blieben sorgfältig unter der Oberfläche verborgen, abgeschirmt durch einen undurchsichtigen Jargon. Meine Studierenden überflogen nur die oberste Erdschicht des Textes, hier und da einige Blüten sammelnd, aber ihre Wurzeln bekamen sie nie genau zu Gesicht. Da ich erst kürzlich etwas hellsichtiger geworden bin, war ich ihnen zu diesem Zeitpunkt keine große Hilfe.
Ich verließ den Unterricht an jenem Tag mit einem Gefühl der Niederlage und wusste nicht genau, warum. Ich hatte diesen Text schon viele Male mit Studierenden im Grundstudium besprochen, damals noch mit gutem Gewissen. Tatsächlich fand ich es häufig großartig, die jungen Menschen mit hochtrabenden und modischen Theorien zu Genderfragen zu konfrontieren. Wenn sie ihre dadurch entstandene Unsicherheit und Verwirrung zum Ausdruck brachten, was sie in der Regel am Ende der Lehrveranstaltung zu tun pflegten, war ich zufrieden, als ob es meine zentrale Aufgabe als Dozentin für Gender Studies gewesen wäre, ihre ordentlichen und allzu simplen Ansichten zu erschüttern und durcheinanderzubringen und sie einer unauflöslichen Verworrenheit auszusetzen. Mit dieser Desorientierungsarbeit, auf die keine Bemühungen zur Neuorientierung folgten, fühlte ich mich nun zunehmend unwohl. Mein Gewissen, das mich ein Jahrzehnt lang zu meiner Lehrtätigkeit beglückwünscht hatte, meldete im Hinterzimmer meines Gehirns nun Bedenken an und fragte: Ist irgendetwas davon überhaupt wahr?
In diesem Zustand des Unbehagens suchte ich den Rat eines älteren, von mir geschätzten Professors. Ich eilte direkt von zuhause aus in sein Büro, mein Haar war noch feucht vom Duschen kurz zuvor. Ich war gerade erst aus dem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt, kam immer fünf Minuten zu spät und schwitzte in Strömen, weil ich so unter Druck stand. Ich hatte immer nur drei Stunden Zeit, bevor ich wieder stillen musste, und versuchte, in diesem Intervall so viel wie möglich zu erledigen. Als ich in das Zimmer des Professors trat, hatte ich ein Cola light in der Hand; ich erwartete eine nette und entspannte Unterhaltung mit einem Kollegen. Nach fünf Minuten fühlte ich mich ihm gegenüber wie im Beichtstuhl; ich offenbarte die Vorwürfe meines Gewissens jedoch nicht einem Priester, sondern einem graubärtigen Quäker mit einer Aura wie Gandalf aus dem Herrn der Ringe. »Ich habe den Eindruck, meinen Studierenden geistiges Gift eingeträufelt zu haben«, sagte ich. Viele Jahre lang war ich zu sorglos gewesen im Umgang mit ihrem Verstand und, was mich noch mehr beunruhigte, mit ihrer Seele.
Der Professor hörte mir ruhig zu, wie es seine Art war. Er neigt dazu, sehr wortkarg zu sein, aber seine wenigen Worte sind meistens voller Weisheit; er sagt den Leuten nur selten das, was sie von ihm hören wollen. Er hätte mich trösten können, mir sagen können, dass ich das getan habe, was ich zum damaligen Zeitpunkt für richtig hielt, dass ich zu streng zu mir sei. Stattdessen sagte er mit dem schleppenden Akzent der Appalachen: »Kennen Sie jenen Vers bei Matthäus? Der, in dem es heißt, wer einen von diesen Kleinen zum Straucheln bringe, für den sei es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde? Ich habe schon immer gedacht, dass es für uns Hochschullehrer eine gute Idee wäre, uns das auf den Arm tätowieren zu lassen.«
Das war es, was ich fühlte: den verdammten Mühlstein. In Wirklichkeit hatte er mir schon seit Jahren am Hals gehangen, aber erst jetzt bemerkte ich sein Gewicht. Die verbesserte Wahrnehmung war ein gewisser Trost.
Als ich sein Büro verließ, wusste ich ein wenig besser, was ich nicht tun wollte. Ich wollte die Gender-Theorie nicht mehr im Unterricht als ein Bündel wertneutraler Ideen präsentieren, ohne dabei der im Hintergrund wirksamen Weltanschauung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Ich wollte nicht als Ende vom Lied damit Verwirrung stiften. Mir war klar, was nicht getan werden sollte, aber ich war mir weniger sicher, was ich tun sollte.
Wenn die Gender-Theorie im Grunde genommen eine ideologische Disziplin war, hatte ich dann einfach nutzlose Dinge gelernt? Gab es darin nichts Gutes, nichts Bewahrenswertes? Ich wusste nicht, wie sich diese Theorien in meine unlängst gefundene katholische Identität integrieren ließen – oder ob ich dies überhaupt versuchen sollte. Ich musste weiter aus der Höhle herausklettern, das war mir klar, aber gab es nichts Wertvolles, das ich mitnehmen konnte? Ich stellte eine tiefgreifende Spaltung in meiner Weltanschauung fest: Bis dahin hatte ich geglaubt, auf einem festen Floß wohlgemut auf dem Wasser zu treiben, aber nun bemerkte ich, dass ich mich auf zwei nicht miteinander verbundenen Baumstämmen befand, die sich voneinander entfernten.
Ich vermute, dass es heutzutage viele Frauen gibt, die sich in einer ähnlichen Situation befinden: in der Klemme zwischen verschiedenen Weltanschauungen, zögernd zwischen dem Christentum und den neuesten feministischen Trends, und unsicher, ob sich – wenn überhaupt – Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen diesen Blickwinkeln entdecken lassen. Einige empfinden diese Spannung sehr stark und wissen nicht, wie sie beides miteinander in Einklang bringen können. Andere spüren sie überhaupt nicht und kommen stattdessen zu dem Schluss, Christentum und Feminismus seien so wunderbar vereinbar, dass sie in etwa auf dasselbe hinauslaufen: Jesus nachzufolgen, hieße dann, eine Feministin zu sein. Daneben gibt es noch diejenigen, die sich den Feminismus so vollständig zu eigen machen, dass er für sie zu einer Religion wird und jeder noch verbliebene christliche Einsatz allmählich zur Nebensache wird oder gänzlich verschwindet.
Auf meinem eigentümlichen und alles andere als geradlinigen Glaubensweg bin ich all diese Frauen gewesen.
Evangelikale Feministin
Ich begann mein Studium im Herbst 2001; von meinem ersten Semester waren gerade zwei Wochen vergangen, als der mit Flugzeugen verübte Terroranschlag auf die New Yorker Twin Towers stattfand. Die Welt war in Aufruhr, aber für mich war das alles meilenweit entfernt. An der amerikanischen Westküste fühlte ich mich sicher; das Einzige, was mich bewegte, waren die Veränderungen in meiner eigenen kleinen Welt. Das Verlassen des Elternhauses empfand ich als so befreiend wie einen Gefängnisausbruch. Ich war begierig auf den Prozess der Selbstfindung, der üblicherweise mit dem College assoziiert wird, und wollte so schnell wie möglich einen Freund haben. Mein Frauenbild war damals noch evangelikal geprägt; ich hielt mich an die vorgegebene Linie, wenn es um Themen wie männliche Dominanz und weibliche Unterordnung ging, zumindest wenn ich gefragt wurde. Da ich von klein auf dazu erzogen worden war, von meinem zukünftigen Ehemann zu träumen, hatte ich ganz hinten in meinem Tagebuch dessen gewünschte Eigenschaften aufgelistet. Was ganz oben stand? »Eine Führungspersönlichkeit zu Hause und in der Welt.« Weil ich schon immer zu widersprüchlichem Verhalten neigte, führte ich daneben auch eine Liste aller Jungs, die ich bereits geküsst hatte – eine immerhin zweistellige Zahl im Sommer vor meinem Eintritt in das College.
Trotz meiner obligatorischen Respektsbezeugung gegenüber der männlichen Autorität entsprach meine Verhaltensweise keineswegs in jeder Hinsicht dem Ideal weiblicher Unterwürfigkeit. Ich drang oft in von Männern beherrschte Bereiche ein; auf der High School war dies die Fußballmannschaft der Jungen und auf dem College das Philosophieseminar. Mir gelang es durchaus, mich zu behaupten; ich war ehrgeizig und kämpferisch, wenn nötig auch angriffslustig. Ich wich ab vom weiblichen Klischee (beispielsweise durch zu starke Körperbehaarung), und das wurde mir im Laufe meines ersten Studienjahres immer deutlicher bewusst. Debatten über die Rolle der Frau, die mich als Teenager noch kaum interessiert hatten, betrafen mich nun ganz persönlich. Heirat, Familienleben, Karriere: Das waren nicht mehr nur abstrakte Entwürfe für die Zukunft, sondern unmittelbar bevorstehende Stationen. Die Frage nach meiner Identität und meiner Lebensplanung als Frau wurde dringlich.
Ich begann mein Studium in der Überzeugung – die man mir beigebracht hatte –, der Feminismus sei eine schädliche Ideologie, unvereinbar mit dem Christentum. Ohnehin hatte kaum jemand in meiner evangelikalen Kirche oder meiner kleinen, von Mormonen bewohnten Heimatstadt irgendwann überhaupt einmal den Feminismus erwähnt. Allenfalls hatte ich hin und wieder im Autoradio Rush Limbaugh dabei zugehört, wie er über »Feminazis« schimpfte. Feministinnen stellte ich mir als schrille und freizügige Frauen mit kurzen Haaren und Hosenanzügen vor. Es dauerte nicht lange, bis ich mich von dieser Karikatur-Vorstellung verabschiedet hatte. Nur neun Monate nach meinem Eintritt in das College schrieb ich bereits eine Hausarbeit mit dem Titel »Gott ist ein Feminist« und schickte sie per E-Mail an meine zweifellos schockierten Eltern.
Was löste diese plötzliche Änderung meiner Haltung aus? Die Lektüre der Bibel. Von klein auf evangelikal erzogen, hatte ich viel in der Bibel gelesen, aber immer nur häppchenweise: einmal einen auswendig zu lernenden Vers an der einen Stelle, ein andermal ein Kapitel oder einen Abschnitt an einer anderen Stelle. Im College wurde jedoch von mir verlangt, ein ganzes biblisches Buch an einem Stück zu lesen, wobei ich einige seltsame, unangenehme Facetten der Bibel entdeckte, obwohl ich sie bereits zu kennen glaubte. Ich stieß überraschend auf Verse über Frauen, die ihren Kopf bedecken und in der Kirche schweigen mussten, oder, was mich noch mehr verstörte, über Frauen als Abbild und Abglanz des Mannes, und Männer als Abbild und Abglanz Gottes.1 Diese Stelle brachte mich geistig ins Schleudern. Stehen die Männer denn Gott näher als die Frauen? Obwohl ich an einem Nistplatz des religiösen Konservatismus aufgewachsen war – einer Gemeinschaft von Evangelikalen innerhalb einer Gemeinschaft von Mormonen –, war ich bis dahin noch nie so direkt mit etwas konfrontiert worden, was eine Rangordnung zwischen Frauen und Männern zu sein schien. Außerdem wurde diese Hierarchie ausgerechnet vom Wort Gottes verkündet.
Vor der Vorstellung, dass Frauen in den Augen Gottes weniger wert sein sollten, schreckte ich instinktiv zurück. Aber ich wollte in der Lage sein, meinen Glauben an die gleiche Würde von Männern und Frauen mit der Autorität der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen. Mein Professor konnte mir keine zufriedenstellende Deutung dieser Stelle bieten, und genauso wenig konnten das meine Kommilitonen. Ich fühlte mich verloren und begab mich in die Bibliothek, um dort vielleicht Antworten auf meine Fragen zu finden. Durch die Gänge zwischen den Bücherregalen irrend, machte ich eine Entdeckung, die dem Verlauf meines intellektuellen Lebens eine neue Richtung geben sollte: die feministische Bibelauslegung.
Diese Entdeckung löste das aus, was man als meine persönliche »erste Welle« als Feministin bezeichnen könnte: einen evangelikalen Feminismus. Etwa zwei Jahre lang konzentrierte ich meine Anstrengungen nun auf eine Auslegung der Heiligen Schrift, mit der sich die Gleichstellung von Mann und Frau begründen ließ. Ich fand einen goldenen hermeneutischen Schlüssel in einem Ausschnitt aus Galater 3,28: »Es gibt nicht mehr […] männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.« Ich benutzte diesen Schlüssel, um damit die problematischen Verse zu neutralisieren, die mich beunruhigt hatten. In all dieser Zeit blieb meine grundsätzliche religiöse Orientierung mehr oder weniger evangelikal. Ich verließ mich immer noch auf die Heilige Schrift als wichtigste Autorität, mit dem Vorbehalt, sie müsse richtig interpretiert werden. Ich glaubte an die christliche Offenbarung und das Erlösungswerk Christi. Ich sah keinen Widerspruch zwischen Feminismus und Christentum, wie ich die beiden verstand, und gab mir Mühe, andere von ihrer Vereinbarkeit zu überzeugen.
Meine »zweite Welle« des Feminismus begann während des dritten Jahres auf dem College. Es gab eine neue Professorin auf dem Campus, die eine explizite Feministin war, und ich belegte ihren Kurs über Frauen in der Bibel. Als wir zu den ärgerlichen paulinischen Passagen im Neuen Testament kamen, lehnte ich mich zurück und wartete darauf, von ihr gesagt zu bekommen, was ich bereits wusste: Paulus ist nicht sexistisch, wir müssen ihn nur richtig lesen.
Zu meiner Überraschung vollzog die Professorin einen Schwenk zu einer ganz anderen Art von Argumentation: Paulus ist in der Tat sexistisch, aber wir können diese Teile der Heiligen Schrift einfach ignorieren, weil sie durch die patriarchalische Kultur der damaligen Zeit negativ geprägt wurden. Mich frustrierte das zunächst, denn ich wusste, dass meine Kommilitonen dem Feminismus skeptisch gegenüberstanden. Jede Lesart der Bibel, die sie so leichtfertig in eine bestimmte Richtung drängte, würde sie abschrecken, was meinem Bestreben, einige von ihnen für die Sache des Feminismus zu gewinnen, zuwiderlief.
Trotz meiner anfänglichen Verstimmung begann das Seminar, meine Sicht auf die Heilige Schrift schrittweise zu verändern. Am Ende des Semesters hatte ich die Denkweise und Auslegungsmethode der Professorin voll und ganz übernommen. Die Bibel war für mich nicht mehr das Wort Gottes, etwas Vertrauenswürdiges und zutiefst Wahres; ich sah sie als ein von Menschen gemachtes Kunstwerk und ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen. Zum ersten Mal bemerkte ich eine Spannung, ja sogar eine Kluft zwischen Christentum und Feminismus. Ich war entschieden auf der Seite des Feminismus und blickte misstrauisch auf die Heilige Schrift und die Überlieferung.
Im folgenden Semester ging ich nach Oxford, um mittelalterliche Schriftstellerinnen zu analysieren. Ich verbrachte vier Monate vertieft in die Werke von Hildegard von Bingen, Juliana von Norwich und Christine de Pizan – allesamt zutiefst christliche Autorinnen und treue Töchter der Kirche. Seltsamerweise betrachtete ich diese Frauen nicht als Vertreterinnen der Tradition; ich sah sie als Antikonformistinnen, deren Stimmen unterdrückt worden waren. Dann fand ich eine handliche kleine Quellensammlung von frauenfeindlichem Material in den Schriften verschiedener Kirchenväter, das mir repräsentativ für die christliche Tradition als Ganzes schien. Ohne eine einzige der Primärquellen vollständig gelesen zu haben, begnügte ich mich mit diesen Auszügen, die aus ihrem Kontext gerissen waren, um Augustinus, Ambrosius, Johannes Chrysostomus und andere auf die schwarze Liste zu setzen und mich in der Annahme bestärken zu lassen, die christliche Tradition sei frauenfeindlich.
Ich gelangte schnell zu einer simplifizierenden und zweigeteilten Sichtweise der Kirchengeschichte. Ich sah die von mir neu entdeckten Schriftstellerinnen als Randfiguren, obwohl beispielsweise Hildegard zu ihrer Zeit enormen Einfluss ausübte und seither zu einer Heiligen und zum »doctor ecclesiae« erklärt wurde. Meine Auffassung von »Tradition« war hoffnungslos kenntnisarm, aber das war mir nicht bewusst. Ich war in einer von geschichtlichem Wissen weitgehend unberührten Ecke des Christentums aufgewachsen, in der unsere örtliche Kirche als nahtlose Fortsetzung der ersten Christen des Neuen Testaments angesehen wurde. Die dazwischenliegenden Jahrhunderte, die allmähliche Ausarbeitung von Glaubensbekenntnissen, eines Kanons und einer Doktrin – all das wurde nicht beachtet. Mir war nicht einmal klar, was genau es bedeutete, eine Protestantin zu sein, weil ich nicht wusste, dass der Evangelikalismus selbst eine Tradition ist, das jüngste Kind in einem schon sehr viel früher errichteten Wohnblock. Ich kannte die Bibel gut, aber nicht das umfangreiche Erbe ihrer Auslegung. Ich nahm naiverweise an, meine Vertrautheit mit der Heiligen Schrift mache mich zu einer Expertin für das Christentum im Allgemeinen, und ich zögerte nicht, daraus in aller Eile ein billiges Schreckgespenst zu fabrizieren, das ich leicht bekämpfen konnte.
Im Nachhinein kann ich klar erkennen, dass sich meine beiden ersten feministischen Phasen durch begeistertes Rosinenpicken auszeichneten. Als egalitäre Feministin wählte ich Verse wie Galater 3,28 aus, die meine Sichtweise zu bestätigen schienen, und benutzte diese Verse, um andere neu zu interpretieren, die so wirkten, als stünden sie im Widerspruch zum Egalitarismus. Als kritische Feministin griff ich mir die Passagen heraus, die eklatant sexistisch waren, und verwendete sie dazu, meine Überzeugung zu untermauern, die Bibel, und damit das Christentum als Ganzes, sei von Grund auf patriarchalisch und bedürfe dringend einer feministischen Reform. Anstatt mir die Details der Spannungen näher anzusehen, die durch diese scheinbaren Widersprüche in der Bibel entstehen, reagierte ich auf klassische Weise: Ich löste die Spannung, indem ich sie gänzlich beseitigte.
In Oxford erhielt ich eine vage Vorstellung von einem dritten Weg – einem, der die ausgetretenen Pfade des frauenfeindlichen Hierarchiedenkens auf der einen Seite und der egalitären Gleichmacherei auf der anderen Seite verließ. In jenem Semester schrieb ich meine Hausarbeit über Hildegards Kosmologie und konzentrierte mich dabei besonders auf ihre Auffassung der Stellung von Mann und Frau in der Schöpfungsordnung. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden allzu oft herangezogen, um eine rigide Hierarchie von Wert und Rollen der beiden Geschlechter zu rechtfertigen. Im Bemühen, diese Argumentation zu widerlegen, hat das feministische Denken in der Regel das Konzept der sexuellen Differenz ablehnend betrachtet und diesen Unterschied heruntergespielt, um die gleiche Würde für beide Geschlechter zu beanspruchen. Hildegards mystische Theologie, ausgedrückt mehr durch reiche Bildlichkeit als durch abstrakte Formulierungen, vermittelt ein Verständnis von Unterschiedlichkeit, das harmonisch und ausgewogen ist, anstatt hierarchisch zu sein. Ich konnte erkennen, dass ihr Ideal von Komplementarität ein anderes war als das in evangelikalen Kreisen gelehrte, und ich bemerkte auch, dass sie in dieser Hinsicht nicht mit dem modernen Feminismus in Einklang zu bringen war, denn dieser steht dem Konzept der Komplementarität misstrauisch gegenüber.
Irgendwie gelang Hildegard die Balance zwischen gleicher Würde und bedeutungsvollen Unterschieden, auf eine Art, die mir bis dahin noch nie begegnet war. Ich wünschte, ich wäre damals dieser Anregung gefolgt; vielleicht hätte sie mich früher in den christlichen Kosmos geleitet. Stattdessen ließ ich diese Chance verstreichen und verlor mich in den nächsten zehn Jahren im Labyrinth des postmodernen Feminismus.
Revisionistische Feministin
Das war für mich der Beginn einer neuen Welle: ein revisionistischer Feminismus. Nach Abschluss des Grundstudiums auf dem College ging ich für ein Aufbaustudium nach Schottland, um dort weibliches Schreiben und Gender-Theorie zu studieren. Zu diesem Zeitpunkt interessierte ich mich zunehmend für den französischen poststrukturalistischen Feminismus. Ich fühlte mich hingezogen zu Philosophinnen wie Hélène Cixous und Luce Irigaray, die seltsame und verunsichernde Dinge mit der Sprache anstellten. Die Lektüre ihrer Werke war wie ein Eintauchen in eine Traumwelt, ein Abtauchen knapp unter die Oberfläche des bewussten Denkens in ein Reich, in dem Worte, Bilder und Metaphern in schwindelerregenden Strudeln herumwirbelten und Bilder schufen, die sich bewegten, schimmerten und sich dann wieder auflösten. Während meines Grundstudiums mit dem Hauptfach Philosophie war ich der strohtrockenen Sprache der analytischen Philosophie, die hoffnungslos entfernt schien von jeder konkreten Erfahrung, überdrüssig geworden. Ganz anders war dies bei diesen französischen Feministinnen, die der kontinentalen Strömung der Philosophie angehörten, und in deren Schriften der Leib, insbesondere der Leib der Frau, eine wichtige Rolle spielte. Während anglo-amerikanische Feministinnen sich größte Mühe zu geben schienen, die Andersartigkeit und Besonderheit des weiblichen Leibes außer Acht zu lassen – seine Fähigkeit, schwanger zu werden, zu gebären und Milch zu geben –, ergötzten sich die französischen Feministinnen an diesen Eigenschaften. Cixous’ Werk schildert eine unverwechselbar weibliche Art des Schreibens und schöpft dabei aus der Fülle weiblicher Metaphorik. »Ich schreibe mit weißer Tinte«, behauptet sie, als würde sie in ihrer Pariser Wohnung ihren Füllfederhalter in Muttermilch tunken.
Einen Monat vor dem Beginn meines Masterstudiengangs in Gender Studies tat ich etwas Ungewöhnliches, zumindest für eine Studentin mit dieser Spezialisierung. Ich heiratete. Und zwar sogar einen Mann, im Alter von nur 22 Jahren. Das fanden meine feministischen Kommilitoninnen so verblüffend, dass sie mir den Spitznamen »die sonderbare Ehefrau« gaben. Im feministischen Hochschulumfeld galt ich als bizarres Wesen, bereits fest gebunden in einer heterosexuellen Ehe, während die meisten meiner Kommilitoninnen sich in ständig wechselnden lesbischen Dreiecksbeziehungen vergnügten.
Seltsam war ich auch noch in anderer Hinsicht: Ich war religiös. Oder zumindest nicht areligiös. Einem seine Religion wirklich praktizierenden Menschen wäre ich ziemlich verweltlicht erschienen. Während meiner ganzen Zeit in Schottland habe ich keine einzige Kirche betreten, abgesehen von einer Besichtigung der Ruinen einer alten Kathedrale am Rande der Nordsee. Diese im 12. Jahrhundert erbaute Kathedrale war einst die größte Kirche Schottlands und als Sitz der Erzdiözese von Saint Andrews ein pulsierendes Zentrum des katholischen Christentums. Im Jahr 1559 wurde die Kathedrale jedoch von Anhängern des protestantischen Reformators John Knox geplündert, binnen zweier Jahre vollständig aufgegeben und dem Verfall überlassen.
Für mich war das Christentum damals so etwas wie diese zur Ruine gewordene Kathedrale: eine sakrale Struktur, die zu Recht ihren einstigen Glanz verloren hatte – nicht wegen päpstlicher Verfehlungen, sondern wegen patriarchaler Dominanz. Anstatt die Ruine zu verlassen, verweilte ich zwischen den am Boden liegenden Steinen und versuchte, sie neu zu ordnen und aufeinanderzuschichten. Ich wollte die Kathedrale neu erschaffen, in einem Akt der Revision und nicht der Restaurierung. Ich wollte ein neues Christentum konstruieren, vollständig gereinigt von Sexismus, Hierarchiedenken und Sünde.
Diese Arbeit der religiösen Revision wurde zum thematischen Schwerpunkt meiner Doktorarbeit, und die französischen Feministinnen waren dabei meine Musen, insbesondere die Philosophin Luce Irigaray. Ihr Werk eignete sich aus zwei Gründen sehr gut für diese Aufgabe: Erstens legt sie im Unterschied zu vielen feministischen Philosophinnen Wert auf die religiöse Dimension der menschlichen Erfahrung, und zweitens gibt es für sie als radikal postmoderne Denkerin keine Grenzen für die Freiheit und das Ausmaß der Revision.
Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei der Postmoderne um eine Weltanschauung, die die Realität für ein von Menschen geschaffenes Narrativ hält, und nicht für eine Ordnung objektiver Wahrheiten, die von den Menschen entdeckt werden können. Die Postmoderne spiegelt eine tiefe Skepsis gegenüber »Metanarrativen« – kollektiven, erklärenden Erzählungen, die einen übergreifenden Sinnzusammenhang der Wirklichkeit liefern. Das Christentum, genauso wie jede etablierte Religion, gilt eindeutig als Metanarrativ, und ebenso die atheistische Wissenschaftsgläubigkeit. Die Postmoderne steht einem aufklärerischen Verständnis der Realität ebenso skeptisch gegenüber wie einem christlichen. Postmodernisten bestreiten nicht unbedingt die Existenz Gottes, aber sie bestreiten die Möglichkeit, Gott zu erkennen, und verneinen die Existenz objektiver Wahrheit. Gott ist für sie kein Wesen, das sich uns durch die Schöpfung und die göttliche Offenbarung zeigt; vielmehr ist »Gott« für sie lediglich eine Projektion menschlicher Sehnsüchte, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen.
Irigarays Philosophie betont die Notwendigkeit des Konzepts von Gott als ultimative Grenze oder Horizont, zu dem wir als menschliche Wesen emporwachsen und uns entwickeln können. Irigaray sieht jedoch ein Problem darin, dass dieser Horizont von Männern definiert wurde, dass es sich um eine Projektion männlichen Begehrens und männlicher Erfahrung handelt. Die Frauen stünden deshalb vor der Aufgabe, eine spezifisch weibliche Vorstellung Gottes zu erschaffen, die unser »Frau-Werden« erleichtert. Irigaray ist nicht der Auffassung, dass Frauen frei sein müssen von jeder Religion; vielmehr müssen sie einer Religion angehören, die sie selbst geschaffen haben.
Während meines Aufbaustudiums wurde ich zu einer postmodernen Feministin nach dem Vorbild von Irigaray. Ich stellte mir die Realität als eine geschlossene Kuppel hoch oben über meinem Kopf vor. Ich konnte emporblicken zu der Kuppel und mir ausmalen, dass sich etwas Mysteriöses und Gottähnliches jenseits dieses Horizonts befand, aber in der abgeschlossenen Welt unter der Kuppel war das einzige Werkzeug, das ich besaß, um Zugang zu diesem »Jenseits« zu erhalten, die Sprache – Wörter, Metaphern und Bilder, die, weil von den Menschen geschaffen, immer zu kurz greifen, um die letztendliche Wahrheit zu erfassen. Ich konnte nicht mehr tun, als mit diesen Wörtern zu spielen und zu versuchen, ihnen eine Bedeutung zu verleihen, wohl wissend, dass sie auf das undurchdringliche Kuppeldach treffen und von dort zurückprallen.
An dieser Vorstellung ist etwas dran. Mystiker, Theologen und Kirchenlehrer haben seit jeher betont, dass Gott sich jenseits des endlichen Verstandes der Menschen befindet und niemals vollständig verstanden werden kann. Ich bin damals noch einen Schritt weiter gegangen und habe »Verstehbarkeit« mit »Erkennbarkeit« verwechselt. Gott übersteigt zwar unser Verständnis, aber er ist dennoch erkennbar, denn er ist in der Lage, sich selbst zu erkennen zu geben. Als Postmodernistin schenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit der Unfähigkeit der menschlichen Sprache und des menschlichen Verstandes, ein göttliches Wesen zu erreichen und vollständig zu erfassen. Ich hatte ganz aus den Augen verloren, dass es ein göttliches Wesen gibt, das zu uns herabsteigt, um uns zu ergreifen.
Gemäß dieser Weltanschauung ist jeder Anspruch auf verbindliches Wissen einfach eine Ausübung von Macht. Es gibt keine Autorität, weder die Heilige Schrift noch ein kirchliches Lehramt, das einen besonderen Zugang zur Wahrheit hätte, und so konnte ich damals jede etablierte Lehre nach Belieben akzeptieren oder ablehnen. Ich sah das Christentum als ein von Menschen geschaffenes Narrativ und daher offen für Revisionen durch andere Menschen, beispielsweise durch mich selbst. In meiner Dissertation analysierte ich von Frauen verfasste Romane, die traditionelle christliche Narrative infrage stellten und modifizierten, und ich hielt dies für einen Akt der Befreiung, eine Rückgewinnung von Macht.
Das war der ganze Umfang meiner religiösen Praxis während dieser Phase meines Lebens. Weder betete ich, noch besuchte ich eine Kirche. Ich las auch nicht in der Heiligen Schrift. Ich arbeitete nur an meiner Dissertation. Ich war eine Christin nur insofern, als das christliche Narrativ mein Untersuchungsmaterial war. Aus meiner postmodernen Perspektive war das genug.
Aber es gab Augenblicke, manchmal ganze Tage, an denen ich plötzlich hellsichtig wurde. Ich schaute von einer Seite auf, die ich gerade schrieb, oder von einem Text, den ich gerade las, und mir ging durch den Kopf: Ich denke mir das alles doch nur aus. In diesen Momenten hatte ich das vorübergehende, quälende Gefühl, die von mir geleistete Arbeit habe nichts mit echtem Wissenserwerb zu tun. Dann war dieser Augenblick schon wieder vorbei; ich tat diese Zweifel als typische Unsicherheit in dieser Phase des Studiums ab und vergaß sie wieder. Tief in meinem Inneren, unter dem trendigen postmodernen Jargon, den ich mir angewöhnt hatte, strebte meine Seele jedoch immer noch reflexartig nach etwas Wahrem.
Was mich am meisten an diesem Abschnitt meines Lebens stört, ist die kognitive Dissonanz, unter der ich damals litt. Ich hielt mich für eine Christin, hatte aber keinen orthodoxen Glauben und keine aktive Praxis. Ich hatte das Christentum hinter mir gelassen, ohne es zu bemerken. Mein Glaube war von innen heraus ausgehöhlt worden; weil aber eine dünne Hülle nach außen hin intakt blieb, blickte ich nicht der Realität ins Auge, dass ich nur noch formal eine Christin war. Bezüglich meines Glaubens war ich eine Agnostikerin, bezüglich meiner Praxis eine Atheistin.
Eine Art, meine Geschichte zu erzählen, besteht darin, zu sagen, dass der Feminismus mich vom Christentum weggeführt hat. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, trifft das zu. Das Eintauchen in feministische Philosophie, feministische Bibelauslegung und Gender-Theorie lehrte mich, die Welt – insbesondere die Heilige Schrift und die christliche Überlieferung – mit einer »Hermeneutik des Misstrauens« zu lesen. Mir wurde beigebracht, davon auszugehen, dass in jedem Text und in jeder menschlichen Interaktion verborgener Sexismus steckt; ich sah es als meine Aufgabe an, ihn aufzudecken, ihm die Maske herunterzureißen und triumphierend zu rufen: »Erwischt!« Jede Weltanschauung beruht auf bestimmten Annahmen, die als gegeben vorausgesetzt werden, so wie ein Haus auf einem Fundament ruht. Diese Prinzipien sind Wahrheitsbehauptungen, die eher angenommen als bewiesen werden. Sogar die Postmoderne basiert ironischerweise auf einer Prämisse, nämlich der, dass keine weltanschaulichen Prämissen Gültigkeit besitzen. Als ich dem Feminismus zum ersten Mal begegnete, war mein Fundament christlicher Natur; ich näherte mich dem Feminismus von christlichen Prämissen aus. Irgendwann kehrte sich das um, so dass meine Lebensgrundlage eine andere wurde; fortan war ich anderswo zuhause und betrachte von dort aus das Christentum in der Ferne. Diese Verschiebung war die Ursache für den Zerfall meines christlichen Glaubens, denn das Fundament dieses Glaubens war versetzt worden. Meine wichtigsten Prinzipien, die Prämissen, auf denen meine Weltanschauung beruhte, waren nun postmodernistisch und nicht mehr christlich.
Häretische Feministin
Es gibt jedoch noch eine andere Seite dieser Geschichte zu erzählen. Dazu gehört die Tatsache, dass mein Interesse am Feminismus mich dazu brachte, Hildegard von Bingen zu studieren, die brillante Mystikerin, die zehn Jahre später meine Firmheilige werden sollte. Und dann ist da noch die Tatsache, dass Irigarays Philosophie eine Rolle bei meiner letztendlichen Hinwendung zur katholischen Kirche spielte.
Im ersten Jahr meines Promotionsstudiums in Saint Andrews, als ich noch orientierungslos war und herauszufinden versuchte, was ich eigentlich tun sollte, wurde ich in ein Doktorandenseminar mit Luce Irigaray aufgenommen, der von mir bewunderten Philosophin. Sie war aus den französischen Universitäten verbannt worden, weil sie eine zu radikale Ikonoklastin war – ihr erstes Buch Speculum, de l’autre femme (Spiegel des anderen Geschlechts) hatte es gewagt, etablierte Größen der französischen Intelligenzija wie Jacques Lacan anzugreifen –, und sie bot deshalb in Großbritannien jedes Jahr einwöchige Seminare an, zu denen Doktorandinnen aus der ganzen Welt kamen, um ihre Forschungen mit ihr zu diskutieren. Ich war die Jüngste in der Gruppe und mit Abstand die am meisten Beeindruckte. Ich konnte es nicht fassen, tatsächlich im selben Raum und am selben Tisch zu sitzen wie meine feministische Heldin. Zwischen den Seminaren ergötzte sie uns mit Insider-Klatsch über andere französische Philosophinnen wie Hélène Cixous (die laut Irigaray »absolut fürchterlich« war). Ich war so außer mir vor Begeisterung, dass ich an diesen Tagen kaum essen konnte, und am Abend musste ich mir Melatonin von meinen amerikanischen Kommilitoninnen leihen (die dies gegen den Jetlag nahmen), um einschlafen zu können.
Als ich an die Reihe kam, meine Forschung zu präsentieren, die zu diesem Zeitpunkt gerade erst begonnen hatte, erklärte ich zu untersuchen, wie zeitgenössische Schriftstellerinnen in ihren Romanen traditionelle religiöse Konzepte und Geschichten mit Hilfe ihrer Fantasie neu gestalteten. Irigaray war ganz und gar nicht einverstanden mit meiner Verwendung des Begriffs der »Fantasie«. Sie argumentierte, er sei zu ätherisch und begrifflich, was zu einem ungesunden Dualismus verleite, der das Reich der Abstraktion über das Reich der Körperlichkeit stelle. Sie empfahl mir, mich weniger auf die Fantasie und mehr auf die Verkörperung zu konzentrieren.
Dies war für mich ein Wendepunkt. Ich stellte in den Mittelpunkt meiner Dissertation nun die Idee der Inkarnation als Ausweg aus dem Dualismus. Die »Verkörperung« wurde zum Hauptthema meines intellektuellen Lebens. Mehrere Jahre lang las und schrieb und theoretisierte ich darüber; es wurde die Angelschnur, die mich mit dem Christentum verband, denn ich erkannte, dass die Lehre von der Inkarnation das Christentum von anderen Religionen unterscheidet.
Natürlich war dabei eine verborgene Ironie zugange, die ich damals nicht bemerkte, die aber heute für mich deutlich erkennbar ist. Die »Inkarnation«, auf die ich mich stürzte, war nicht gegenständlich, sondern abstrakt; ich ging weiter der Frage aus dem Weg, ob die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus wörtlich oder nur metaphorisch aufzufassen war. Aber eine bloß begriffliche Verkörperung tappte wieder in die Falle des Dualismus, der ich zu entkommen suchte. Um eine Formulierung des Philosophen Charles Taylor zu entlehnen, war dies eine rein »exkarnierte« Inkarnation, denn das, was verkörpert werden sollte, wurde reduziert auf eine theoretische Idee.
Trotz dieser Ironie war meine Beschäftigung mit der Inkarnation der goldene Angelhaken, der es der göttlichen Gnade ermöglichte, mich wie einen Fisch einzuholen in den Schoß der katholischen Kirche. Als ich knapp unter 30 Jahren alt war, war ich spirituell ausgehungert. Das intellektuelle Herumspielen mit religiösen Konzepten und Metaphern war nicht genug, weil diese nicht wirklich inkarnatorisch sein konnten, wenn sie abgeschnitten waren von der Realität der Menschwerdung Christi, einer Realität, die in den Sakramenten sichtbar und greifbar wird. Ich war es leid, nur über die Inkarnation nachzudenken; ich musste sie schmecken, musste ihn schmecken, das fleischgewordene Wort. Diese eucharistische Sehnsucht drängte mich zu einer plötzlichen und unerwarteten Bekehrung.
Ich habe an anderer Stelle ausführlich über diese Konversion geschrieben, ihre ganze bizarre Komplexität geschildert;2 hier möchte ich nur einen Schlüsselaspekt hervorheben. Es ist eine überraschende Wendung in meiner Bekehrungsgeschichte – überraschend zumindest für diejenigen, die denken, es gebe nichts Brauchbares in der feministischen Theorie –, dass es ausgerechnet die intensive Beschäftigung mit Irigaray war, die mich auf den gewundenen Weg zum Katholizismus brachte. Diese zweiteilige Tatsache, dass die feministische Theorie mich erst vom christlichen Glauben entfernte und dann wieder zu ihm zurückführte, ist der Grund, weshalb ich mich nicht mit vereinfachenden Darstellungen des Einflusses von Feminismus zufriedengebe, mit Darstellungen, die den Feminismus entweder verteufeln (manchmal ganz wörtlich) oder ihn übermäßig verherrlichen. Wie in den meisten Dingen auf dieser Welt, insbesondere in den meisten Philosophien, gibt es im feministischen Denken eine Mischung aus Gutem und Schlechtem, aus Wahrheit und Unwahrheit. Wenn jemand nicht auf diese Vielschichtigkeit achtet, kann ihn das in Schwierigkeiten bringen.