Die Geschwister M. - Navid Linnemann - E-Book

Die Geschwister M. E-Book

Navid Linnemann

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Beschreibung

Glaube, Gerechtigkeit und Liebe, aber auch Gefräßigkeit und Arschkriecherei - bestimmte Aspekte des menschlichen Charakters überschreiten die Grenzen von Zeit, Raum und Sprache. Mehr als zweitausend Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen präsentiert Navid Linnemann eine zeitgenössische Nacherzählung von Theophrastus' Satire "Charaktere". Anhand von 15 neuen Interpretationen des antiken Werks erkundet er das Menschsein in seinen besten und schlechtesten Seiten. Ob stärker oder schwächer ausgeprägt, diese Eigenschaften sind in uns allen vorhanden. In diesen Geschichten werden Sie daher bestimmte Personen wiedererkennen - vielleicht sogar sich selbst.

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Seitenzahl: 37

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"Im Theater klatscht er, wenn die anderen aufhören, und pfeift die Darsteller aus, die die Übrigen gern sehen. Und wenn das Theater still ist, richtet er sich auf und rülpst, damit sich die Zuschauer nach ihm umdrehen."

– Theophrast, »Charaktere«

Inhaltsverzeichnis

Die Beistehende

Der Arschkriechende

Der Geduldige

Die Fakende

Die Eloquente

Der Gefräßige

Der Gläubige

Die Ehrenleute

Die Hamsternde

Die Gewissenhafte

Der Untätige

Der Liebende

Die Viktimisierende

Die Gerechte

Der Notgeile

1. Die Beistehende

Es ist zu einer Zeit, da Einer im Osten einen schlechten Tag hat und einen Beschluss fasst, der Tausende das Dasein kostet. Es ist zu einer Zeit, da dieser eine Mann viel Macht besitzt und seine Entscheidung über das Leben auch der Tod sein kann. Es ist zu einer Zeit, da diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Doch bevor sie beginnt, seien zwei Hinweise gegeben:

1. Besagter Mann hat nur deshalb Macht, weil er seine Gegner zuvor deren Macht beraubte, und weil es seinen Gefährten ganz offenbar an Mut, Anstand und Moral mangelt.

2. Besagter Mann hat zwar einen Namen, doch spielt dieser keine Rolle, denn viele andere der Geschwister M. würden in seiner Position ähnlich, wenn nicht sogar gleich handeln. Das hat bereits die Geschichte gezeigt.

Der Beistand ist ein Akt, der sich durch nichts bezahlen lässt. Die Beistehende aber ist eine, die nicht im Traum die Verbindung zwischen Tat und Lohn ziehen würde, sondern schlicht fragt: „Hier bin ich, was kann ich tun?“

Genau aus diesem Grund handelt die erste Geschichte dieser Sammlung eben nicht von jenem Mann mit Macht, sondern von Frau H., die in der Stadt K. lebt. Wobei leben alleine keine ausreichende Bezeichnung ist. Vielmehr müsste es überleben heißen. Denn das ist es, was Frau H. seit einiger Zeit aufgrund der bereits genannten Entscheidung jeden T aufs Neue gelingen muss.

Dass diese Geschichte gerade Frau H. unter den Geschwistern M. ausgewählt hat, ist dem Umstand zu verdanken, dass sie sich nicht nur um ihr eigenes, sondern auch das Überleben anderer kümmert – eine seltene, gleichzeitig aber die höchste aller Eigenschaften. Nun könnte erwidert werden, dass auch jene Frauen und Männer unter Blau-Gelb und mit Waffe in der Hand dieses Ziel verfolgen, doch besteht noch immer ein Unterschied darin, ob Gegner erschossen, Kampfjets vom Himmel geholt und Flaggschiffe im Meer versenkt werden, oder ob Verletzte aus Trümmern gezogen, Frierenden eine Decke umgelegt und Geschlagenen die Hand gereicht wird.

Frau H. macht genau das und noch mehr. In Hinterhöfen füllt sie Benzin in Flaschen und in U-Bahnstationen bringt sie Kinder zur Welt. Auf Zufahrtstraßen stellt sie sich mit ausgestreckten Händen vor rollende Panzer und weicht auch dann nicht zurück, wenn Soldaten aussteigen, um in die Luft zu schießen. Frau H. übernachtet in Zoos, damit die eingeschlossenen Tiere nicht verhungern, – falls sie den Bombenhagel überleben. An anderen Tagen stellt sie sich auf Bahnsteige und an Bushaltestellen, weist den Flüchtenden den Weg und begrüßt die Reserve. Frau H. kocht Eintopf und verteilt ihn. Sie spendet Geld, stellt ihr Bett, ihre Couch und ihre Dusche zur Verfügung. Frau H. fährt durch das ganze Land und packt an, wo immer ihre Hände gebraucht werden. Und dann – als der letzte Tag gekommen ist – helfen weder Suppenlöffel noch Bandage. An diesem Tag greift auch Frau H. zum Gewehr und …

schießt.

2. Der Arschkriechende

Die Arschkriecherei ist eine Kunst, bei der man des eigenen Vorteils wegen schöne Worte säuselt, ohne dabei die Gesichtsfarbe zu ändern. Der Arschkriechende aber ist einer, der auch dann noch das Modebewusstsein seines Melkviehs in höchsten Tönen lobt, wenn dieses längst des Kaisers neue Kleider trägt.

Nehmen wir das Haus des Herrn E. mit seinen eintausend und mehr Zimmern. Ein wichtiger Mann, dessen Wort nichts taugt, aber viel gilt. Was Herr E. sagt, das wird getan. Nicht etwa, weil es richtig wäre, sondern weil nur Menschen wie Q. um E. zugegen sind. Herr E. sei brillant, sagen diese Leute. Herr E. mache seine Sache tadellos. Er wisse alles, könne alles und überhaupt: Herr E. sei der beste Mann, den es geben könne.

„Das Volk liebt Sie“, flüstert Q., wann immer es ihm möglich ist. Doch auch in anderen Bereichen des Lebens spricht Q. nur Gutes in seiner Nähe. Er sagt beispielsweise an jedem Morgen, dass der Anzug des Herrn E. ein ausgefallen exquisites Stück sei und ihn vortrefflich ziere. Obwohl sich weder seine Mode noch