Die Gestörten - Dirk Westphal - E-Book

Die Gestörten E-Book

Dirk Westphal

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Beschreibung

Die wohlhabenden Bürger von Berlins besten Wohngegenden und jene im Umland der Hauptstadt leben nobel und entspannt - bis die Flüchtling, die sie bisher nur in den TV-Nachrichten sahen, auch in ihre Welt einbrechen und ihr sicheres Leben infrage stellen. Die Bürger aus Grunewald und den feinen Potsdamer Wohnvierteln sehen ihre Zukunft und die ihrer Kinder bedroht, denn auch in ihrer Nachbarschaft gibt es immer mehr Zuwanderer aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU, und es kommen weitere hinzu. Sie gehen bis dahin ungeahnte Koalitionen ein mit Verbrechern und Geschäftemachern, die helfen sollen, die Existenz ihrer vermeintlich heilen Welt zu retten, abzuschotten gegen jene, die dazu kommen. So wie das syrische Mädchen Samira, die alles verlässt, was ihr einst etwas bedeutete. Da ist auch Paul van Orten, ein vom Polosport begeisterter, sehr reicher, aber orientierungslos durchs Leben Wandelnder, der sich mit fremden Leben auseinandersetzen muss. Der amerikanische Unternehmer Jeff Albright, der bereits in den USA mit seinem Unternehmensmodell der Gated Communities zu Reichtum kam, wittert ein großes Geschäft. Doch die Entwicklung entzieht sich jedem Kalkül, das Schicksal nimmt seinen Lauf. Eine Rolle spielt auch der schmierige, gewissenlose Meinhard von Knierim, Beamter der Potsdamer Stadtverwaltung, der darauf hofft, durch Albright Karriere zu machen und ihm deshalb bei den Bauprojekten hilft. Unterstützt wird er von Jens Rudelt, einem rechtsgesinnten Politiker, der mit Stimmungsmache gegen Zuzügler seiner Partei zum Durchbruch verhelfen will. Er träumt von einem Platz im Parlament für sich und von der Regierungsverantwortung seiner Partei. Und dann gibt es noch Jürgen Dörrfeld, ein deutschlandweit bekannter und von sich maßlos überzeugter Manager, von dessen Ansiedlung in einem seiner Wohnprojekte sich Albright eine Sogwirkung für alle schutzbedürftigen Bürger erhofft. Und so steuert die Entwicklung auf einen Höhepunkt zu, dessen Ergebnis gänzlich unerwartet ist.

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Für Irene und ihren Vater, den ich nie traf

Anmerkung des Autors:

Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist Zufall und in keiner Weise beabsichtigt. Orte, Veranstaltungen und sonstige Ereignisse, die es tatsächlich gibt, dienten nur als Staffage, um eine gänzlich fiktive Handlung voranzutreiben.

Ich danke meinem Bruder Jörg, Michael Dee D., Jezz und Steffi, Mel M. und Angel für ihre Ermunterungen.

Impressum:

© 2014 Dirk Westphal

Korrektorat: Eckart Eisenblätter

Cover und Satz: Angelika Fleckenstein, spotsrock.de

Coverfotos: © Ernest Prim und Benjamin Haas; www.123rf.com

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-8168-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Hauptpersonen:

Espinoza Tarom – Marokkaner, Flüchtling, der nach Berlin kommt und zweifelhafte Dinge tut

Romani Deutschlaender – Banater Schwabe aus Rumänien, in einem Berliner Heim lebend, der für ein besseres Leben seiner Familie sorgen will

Agneta „Agnieczka“ Deutschlaender - Romanis Frau

Andrea Deutschlaender – Romanis Tochter, verliebt in Espinoza

Tarom

Jeff Albright – texanischer Bauunternehmer, der mit „ Gated Communities “ Geld verdienen will

„Joe“ Joachim Groening – Groening Mitte, Maschinenbauunternehmer, der seine Erbe bestellen will

Jean Baptiste de Mattifould, Börsenhändler

Eugen Kranstorff – Weltkriegsveteran und Berater von Joachim Groening

Jürgen Dörrfeld – ehrgeiziger Aufsteiger, der Groening ausbooten will

Meinhard von Knierim – Potsdamer Beamter, der das große Geschäft wittert

Jens Rudelt – homosexueller Rechtspopulist mit Aufstiegsfantasien Ibrahim – kriminelles Mitglied eines arabischen Familienclans Magdalena Zwetkov – 39-jährige Bulgarin und Hausangestellte bei Jürgen Dörrfeld

Paul van Orten – Jungunternehmer, der über Romani Deutschlaender einen anderen Einblick in Flüchtlingsschicksale erhält Sylvia Reutlingen – Maklerin und Paul van Ortens Freundin Wilfried Bedecker – reicher Bewohner der Berliner Vorstadt Karla Marquardt – Altaktivistin und Gegnerin der Gentrifizierung Veit von Greiffenhain – Notar und Anwalt mit ambivalenten Interessen

Samira – 15-jährige Syrerin, die im Bürgerkrieg ihre Familie verliert und nach Westen flieht

Dirk Westphal

Die Gestörten

Roman

Im Zentrum von Damaskus, der syrischen Hauptstadt.

Der Tod kam schnell, vielleicht so schnell wie ein Lidschlag, aber daran konnte sich Samira später nicht erinnern. Das Einzige, das ihr in Erinnerung blieb von dem Moment, der ihre Eltern und Geschwister auslöschte, war ein Bild ihrer Spieluhr. Sie hatte sie gerade aufgezogen. Und die kleine Ballerina aus geschnitztem Holz oben auf der Spieluhr hatte sich gedreht. Die Melodie von „Schwanensee“. Aber das Spiel der kleinen mechanischen Uhr wurde übertönt von einem hellen Pfeifen. Wuh-wuh-wuh, das Geräusch wiederholte sich rasant schnell. Und je kürzer die Abstände zwischen den Wuh-Wuhs, desto näher war das Unheil. Hell und singend wie das Zirpen einer Techno-Zikade. Und als das Zirpen endete, ging die Welt und alles, was diese bis dahin für das 15-jährige Mädchen aus Damaskus bedeutet hatte, unter.

Stunden oder Tage später war Samira in einem Hospital am Rande der syrischen Hauptstadt wieder zu sich gekommen. Die Ärzte hatten zwei Granatsplitter aus ihrem linken Oberschenkel und ihrem rechten Arm entfernt sowie sechs kleine Glassplitter aus ihrer Gesichtshaut. Einer von ihnen hatte um Haaresbreite Samiras linkes Auge verfehlt.

Irgendwo in der Ferne bellten Hunde, draußen, außerhalb dieser weiß getünchten Flure. Samira blickte um sich. Ihr Krankenbett stand auf dem Flur des Hospitals, dabei hatte sie noch Glück gehabt. Einige der Patienten und Opfer des nun schon seit Monaten tobenden Bürgerkrieges lagen auf dem Boden, nur notdürftig mit Verbänden und Schmerzmitteln versorgt. Das Schreien und Stöhnen der Verletzten war allgegenwärtig und hallte von den Wänden wider, denn es fehlte an allem.

Am Ende von Samiras Bett stand ein Metallständer mit einem Tropf, von dem ein durchsichtiger Plastikschlauch zur Vene ihres rechten Armes führte. Samira richtete sich auf, sie musste auf Toilette. Als sie aufrecht saß, erfasste sie ein kurzes Schwindelgefühl, das jedoch schnell wieder verschwand.

Sie schob den Metallständer neben sich her und taperte über den Flur. Ihr geschwächter Körper zitterte, als sie schließlich auf der Toilette saß. Und dann erinnerte sie sich daran, was in der Zeit vor dem Krankenhaus gewesen war. Alle Bilder kamen zurück – mit der Wucht eines tonnenschweren Gewichts schlugen sie in den Erinnerungsregionen ihres Großhirns ein und schlugen dort Wunden, die ein Leben lang nicht verheilen würden.

Sie sah, wie ihre Puppe Pippaya in den Himmel stieg, hochgerissen von einem Luftsog, so stark, dass es ihr den Atem raubte. Und in der gegenüberliegende Ecke das erschrockene Gesicht ihrer Mutter, zeitlos eingefroren in einem Moment finaler Wahrhaftigkeit, aufgerissen der Mund, staunend die Augen, himmelwärts gerichtet. Dann war ihre Mutter fort. In Teile zerlegt, als hätte der Allmächtige selbst beschlossen, das auseinanderzunehmen, was er einst schuf.

Finde Frieden, Mama!

Und Samira erinnerte sich auch, wie ihr Vater zu der Platte gelangte, auf der ein gebratenes Huhn gelegen hatte. Dann waren ihr Vater und das Huhn weg. Ebenso wie ihr kleiner Bruder und ihre Zwillingsschwester. Findet Frieden!

Auch das Zimmer dahinter mit all seinen Möbeln und Utensilien für ihr Abendmahl waren verschwunden. Weggesprengt, deformiert, umgeformt zu neuen Molekülverbünden. Am Fuße des vierstöckigen Wohnhauses am Rande der syrischen Hauptstadt wurde Tage später ein männlicher Fuß gefunden. Nur eine Genanalyse, die sich niemand in diesem Chaos aus Granatenregen und Maschinengewehrsalven leisten konnte, hätte feststellen können, ob der Fuß einst Samiras Vater gehörte. So wurde der Fuß des Namenlosen beerdigt.

Finde, wem du gehört hast!

Das alles hatte Samira Wochen später erfahren, als sie auf dem Weg aus dem Land ihrer Ahnen war, auf der Flucht – Richtung Europa. Aber diese Geschichte ist noch zu erzählen.

Berlin. Wenn Paul van Orten geahnt hätte, dass ihn sein Weg vom Maifeld am Olympiastadion zu einer Begegnung führen würde, die fortan einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens bestimmte, ja, ihm eine gänzlich neue Wendung geben sollte, und dass diese von der allerbittersten Sorte war, er hätte aus dem Stand kehrtgemacht, wäre am Maifeld stehen geblieben, bei seinen argentinischen Groomern, die seine Polopferde umsorgten.

Und wäre es nicht möglich gewesen, durch das bloße Warten seinem Leben eine neue Wendung zu geben, so wäre es doch dazu gut gewesen, den unausweichlichen Moment hinauszuschieben, der alles veränderte.

Beschwingt von einem siegreichen Handicap, mit dem er alle anderen Polospieler auf die hinteren Ränge verwiesen hatte, machte sich Paul van Orten auf zu den Trailern, vor denen seine Pferdepfleger und Ponys standen. Van Orten, Sohn einer wohlhabenden Familie, Anfang 30 und ein erfolgreicher Start-up-Gründer, wollte sein Team belohnen. Denn sie hatten das Turnier gewonnen, und deshalb war es nur fair, so hielt er es, seit Jahren.

Eine kleine Belohung zahlt sich immer aus, dachte van Orten, während er beschwingt vom Sieg seines Teams das weitläufige Maifeld, das die Nazis zu den Olympischen Spielen 1936 angelegt hatten, überquerte. Ein Nicken nach links, eines nach rechts, mit der Hand auf diesen und jenen deutend, so wie es amerikanische Präsidentschaftskandidaten machen, nach einer Rede, Kandidatur oder gewonnenen Wahl.

Van Orten grüßte kurz Heinrich Fortmann, einen bekannten Schauspieler, der im gegnerischen Team gespielt hatte und immer noch auf seinem Pferd saß, das nun langsam zum Rand des Spielfeldes trabte. „Eine gute Partie. Alle Achtung!“, rief Fortmann. Der Schauspieler grinste misslungen, als wenn es ihm schwergefallen war, das bessere Spiel der anderen anzuerkennen. Paul van Orten hob sein Cappie und Stick in die Höhe und nickte mit dem Kopf, wie es Großväter tun, wenn ihren Enkeln etwas gelungen war, und was sie vielleicht an ihre eigene Jugend zurückdenken ließ.

Orten konnte Fortmann nicht ausstehen, in seinen Augen war er ein gelangweilter Angeber, der auf allen seinen Schauplätzen nach Anerkennung lechzte. Er, Paul van Orten, würde ihm seine nicht zuteilwerden lassen. Er wandte seinen Blick wieder geradeaus, amüsierte sich darüber, dass ihm Fortmann nun wohl enttäuscht hinterherblicken würde, denn er meinte gesehen zu haben, wie der andere zu einer längeren Rede ausholen wollte. Dann hatte van Orten auch schon seine Trailer erreicht. „Kleiner Scheißer“, flüsterte van Orten und zog aus der rechten Tasche seiner Reithose einen kleinen malvenfarbenen Lederbeutel. Noch im Gehen öffnete er das kleine Bändchen, das den Beutel verschloss, und betrachtete amüsiert die Gesichter seiner Groomer, die ihm erwartungsvoll entgegenblickten. Dasselbe Verhalten wie bei jungen Hunden, ein Pawlowscher Reflex, eine kleine Belohnung, schon fließt der Speichel schneller, Erweiterung der Iris, Gier!

Was nun folgte, war eine sich jährlich wiederholende Prozession. Van Orten nahm für jeden seiner Groomer einen versilberten US-Dollar aus dem Lederbeutel. Er legte sie ihnen jedoch nicht in die Hand, er schnippte sie ihnen zu, und sie waren gut beraten, die Münze nicht in den Pferdekot bei den Trailern fallen zu lassen. „Und nun noch diese!“ Van Ortens letzter Dollar des Prägejahres 2013 flog in einer parabelförmigen Flugbahn zu seinem treusten und besten Groomer, Diego.

Van Orten, dessen Vorfahren im 18. Jahrhundert nach Preußen gekommen waren, um für die Hohenzollerndynastie dort gewinnbringend Sümpfe trockenzulegen, und die später ein „o“ aus ihrem ursprünglichen Namen van Oorten getilgt hatten, verfolgte den Flug der Münze. Der Dollar drehte sich im gleißenden Licht der Berliner Augustsonne und landete mit Miss Liberty auf der Oberseite in Diegos Hand, was dieser mit einem unsicheren Lächeln quittierte.

Er ist ein Fänger, dachte Orten, und, und wenn ich eine Frau wäre … „Danke, mein Herr“, sagte Diego und entblößte dabei eine wenig perfekte obere Zahnreihe. Van Orten störte es nicht.

„Ich tu’s gern, denn ihr habt gut gespielt und mir damit wieder sehr geholfen. Ach ja, räumt bitte noch auf, wir wollen doch alle früh zu Hause sein.“

Diego und die anderen Groomer nickten, es war eine geübte Crew, jeder beherrschte die nötigen Handgriffe perfekt.

Diego und die anderen vier Groomer wandten sich nun den Pferden zu, die nass geschwitzt waren. Van Orten nutzte den Moment, um einen flüchtigen Blick auf die enge Reithose zu werfen, die sich über Diegos überrunden Po spannte. Er hatte sie dem Groomer zu dessen 30. Geburtstag geschenkt. Natürlich hatte er nicht gewollt, dass dies unter den Männern allzu sehr für Verwunderung sorgte, deshalb hatte er sogleich angefügt, dass die Hose keineswegs neu war, sondern aus seinem Besitz stammte, eingeritten war. Eine Geste, die sich auszahlte, Loyalität schuf. Es zeigte, dass ihr Patron sie schätzte, so sehr, dass er etwas Persönliches weggab, in ihre Hände. Van Orten lächelte und erinnerte sich seiner Worte, mit denen er mögliche Eifersüchteleien in dem Team hatte klein halten wollen: „Männer, so eine Hose bekommt ihr alle mal, früher oder später. Aber diese hier ist für Diego, schließlich wird man nur einmal 30.“ Mit kurzem Wohlgefallen schaute er noch einmal auf die formvollendete Rundung von Diegos Hintern, die Hose saß perfekt, dann rief er sich zur Ordnung. Auch Gedanken benötigten eine gewisse Disziplinierung, und es galt, sich nicht ablenken zu lassen.

Am anderen Ende des Maifeldes warteten bereits seine Eltern und einige Hunderte Zuschauer auf die Siegerehrung seines Teams, das von einem südkoreanischen Konzern gesponsert wurde, obwohl van Orten und seine Teamkollegen alle selbst genug Geld hatten, um ein Poloturnier zu bestreiten. Aber es wäre nicht professionell gewesen, es selbst zu tun, davon war van Orten überzeugt. Das Sponsoring gehörte einfach zu einem solchen Turnier, ebenso wie die Botschaft, die er selbst als einer der besten Spieler und damit als der von den Medien gefragteste Teilnehmer stets zum Besten gab: Polo ist kein elitärer Sport für Reiche, sondern ein ästhetisches Ereignis für alle, die gerne einem rasanten Spiel mit Pferden folgen. Dies war die Botschaft, die ihm seine Mutter Gloria eingetrichtert hatte, dutzende Male. Van Orten lächelte, wie recht sie doch hatte, in allem. Gloria van Orten war einfach besser als sein Vater Klaus, der zwar ein angesehener Unternehmer war und in Berlin mithilfe von Immobilienfonds erfolgreich Hunderte Millionen Euro in mondäne Wohnanlagen investiert hatte, aber der ansonsten ohne sie keinen Fuß vor den anderen bekommen hätte, davon war Paul van Orten überzeugt.

Lässig überquerte er das Maifeld in Richtung der Siegertribüne. Immer wieder kam er dabei an Freunden und Bekannten vorbei, die die losen Grasbüschel feststampften, die von den Pferdehufen hochgewirbelt worden waren. Eine jener leidigen Routinen, die zu ertragen sind, aber guten Eindruck machen, dachte van Orten, während er einigen bekannten Personen mit einem gewinnenden Lächeln Gruppenzugehörigkeit signalisierte. Hier ein Nicken, dort ein Gruß, es war eine Prozedur, die zu absolvieren war und zu denen er, Paul van Orten, stets einen gefälligen Gesichtsausdruck präsentieren musste. Denn er war nicht nur der Chef des siegreichen Teams, sondern auch der Sohn Glorias van Orten, die das Turnier jedes Jahr organisierte. Immerhin nervt dieser Ansager nicht mehr. Sie hatten einen Briten als Kommentator engagiert. Stundenlang hatte seine Stimme das weite Grün des Maifeldes mit einem aufgeregten Quaken überflutet, nun war Ruhe eingekehrt, die nur von dem leisen Dudeln irgendwelcher Fahrstuhlmusik unterbrochen wurde, deren Geräuschfetzen von den Lautsprechern am Rande des Maifeldes herangeschaufelt wurden.

„Hallo Paul, komm doch mal bitte, Pau-haul …“ Seine Mutter rief, sein Vater winkte, und ob er wollte oder nicht, er musste zu ihnen. Angewidert musterte er die um seine Eltern herumstehenden Gäste. Die mit Gucci, Dolce e Gabbana und Versace hochgerüsteten Beauties. Am Rand des Spielfeldes, im VIP-Bereich, saß ein fett gefressener Typ, neben ihm drei junge Frauen, die auf ihren 14-Zentimeter-Stilettos kaum laufen konnten und die, weil sie ja irgendetwas tun mussten, durch ihre Einheitsformschöndesignerbrillen bemüht interessiert die neben ihren Stilettos liegenden Windhunde und Doggen musterten, deren windschnittige Ohren ebenfalls standardmäßig nach hinten geklappt waren. Der Zuhältertyp nervte van Orten, aber er beschloss, den Unbekannten zu ignorieren.

„Da haben wir’s wieder mal gepackt. War ein gutes Turnier“, sagte Paul, während er kurz seine Mutter umarmte, die ihn wie immer anstrahlte. Seinem Vater schenkte er ein kurzes Nicken, dann eilte er mit seinen Teamkollegen zur Siegerehrung. Von dem Prozedere um ihn herum bekam er kaum etwas mit, er dachte an Sylvia, mit der er heute Abend im „Adnaldi“ verabredet war, einem In-Restaurant in Charlottenburg, wohin sich so mancher verirrte, der sich unter Berlins movern and shakern wähnte. Paul van Orten spie das Wort in Gedanken fast aus. Es stammte aus dem Vokabular seines Vaters, so wie das Wort Akteure. Er hatte alle diese Worte Dutzende Mal gehört und er hasste sie, ihre Abgenutztheit, ihre Plattheit und die Beliebigkeit, mit der sein Vater inflationär von ihnen Gebrauch machte.

„Paul, was stehst du da noch rum, komm doch zu uns.“ Der Ruf seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken, er hatte die lästige Siegerehrung gar nicht mitbekommen. Fast automatisch griff er sich an den Hals, um den herum nun das Band mit der Medaille hing, die ihm irgendeine der auf eine unheimliche Art gleich aussehenden und überaus hübschen Hostessen umgehängt haben musste. Natürlich hätte dies auch seiner Mutter in ihrer Eigenschaft als Organisatorin zugestanden, aber dies entsprach nicht ihrer Vorstellung von Etikette, wie sie ihm mal gesagt hatte. Es reichte, wenn die Anwesenden wussten, dass sie, die Ortens, die Dinge im Griff hatten. Es war müßig, dies auch noch durch Symbolik zu unterstreichen. Paul van Orten hatte genickt, als ihm dies Gloria gesagt hatte, wie klug und umsichtig sie doch war. Mechanisch glitt seine Hand an dem Band entlang, immer wieder. Bloß weg hier, dachte er, dann stieg er von dem kleinen Siegerpodest herunter und eilte dem Ausgang entgegen. Er musste dringend auf Toilette. Als er sich in Richtung eines der WC-Container wandte, die für die VIPs hergeschafft worden waren, sah er, dass der letzte von ihnen bereits von einem Truck fortgeschleppt wurde. Er hielt kurz inne. Irgendwo, das wusste er, gab es in der Nähe andere Toiletten. Dann erinnerte er sich. Er war im Jahr zuvor kurz dort gewesen, als sich wieder einmal ein kurzes Nasenbluten eingestellt hatte, das ihn seit seiner Kindheit in aller Regelmäßigkeit überkam. Immer wenn er dachte, dies gehöre nun der Vergangenheit an, stellte es sich wieder ein. Nicht in Form eines kleines Bächlein Blutes, aber in übersehbaren Tropfen, die in seinem Taschentuch endeten.

Paul van Orten lief zu dem großen dunklen Durchgang, der unter den Tribünen hindurchführte und das Maifeld mit dem Parkplatz außerhalb der Sportanlage verband. Dort gab es Toiletten, das wusste er. Er beschleunigte seinen Gang. Als er von dem sonnenlichtüberfluteten Spielfeld in das mit Muschelkalkplatten verkleidete Gewölbe einbog, dessen Inneres in Dunkelheit lag, war er zunächst orientierungslos. Er hatte stets Probleme, wenn sich die Lichtverhältnisse schnell änderten, zumal er fast nachtblind war. Er wartete einen kleinen Moment, damit sich seine Augen der Umgebung anpassten, doch es dauerte diesmal etwas länger.

Die an den Wänden, im Stile attischer Stadien montierten Leuchter, auf deren tellerförmiger Basis nicht sichtbare Leuchtmittel ruhten, verbreiteten lediglich ein diffuses Licht. Aus einem benachbarten Raum drangen martialische Geräusche, Hitlers Stimme. Langsam ging Paul van Orten auf den Raum zu, dessen Eingangssilhouette sich nun aus dem Dunkel herausschälte. Er verstand schnell, dass aus dem Raum kaum Licht herausdrang und warum ausgerechnet der „Führer“ an diesem Ort zu hören war. Im Hintergrund des Raumes flimmerte ein Dokumentarfilm. Er wandte sich an die Massen von Besuchern und Touristen, die alljährlich das Areal der Olympischen Spiele von 1936 besuchten und die der deutsche Staat nicht unbelehrt lassen wollte über die mit viel Symbolik befrachtete Architektur der Macht. Nach den Spielen von 36 war in der Anlage der „Helden“ der Weltkriege gedacht worden. Das wusste Paul van Orten, er hatte darüber gelesen. Als er noch darüber sinnierte, welche Funktion dabei dem Glockenturm zugefallen war, der sich einige Dutzend Meter über dem tonnenförmigen Gewölbe kühn in Berlins Himmel reckte, sah er plötzlich einen Schatten direkt auf sich zulaufen, mehr ein dunkler Fleck als ein Mensch, und doch war es einer.

„Hey, verdammt, passen Sie doch auf, Mann!“ Van Orten versuchte noch auszuweichen, aber es gelang ihm nicht mehr. Das Letzte, was er von dem anderen wahrnahm, war ein entsetzlicher, stechender Geruch. Der Schatten wuchtete ihn mit der Masse eines schweren Körpers um. Van Orten verlor das Bewusstsein.

Nahost. Mehr als 2000 Kilometer von Berlin entfernt.

Samira nahm die Auslöschung ihrer Familie als einen Auftrag, sie würde Damaskus verlassen, aber vorher galt es noch, einiges zu erledigen. Am Tag nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus besuchte sie die Grabstätten ihrer Familie. Der Bruder ihres Vaters hatte mithilfe des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds die Reste von Körpern zusammengesucht, die wegen der Nähe zu dem Granateinschlag und wegen einiger Kleidungsfetzen ihren Familienmitgliedern zugeordnet worden waren. Dann waren sie in aller Eile und unter dem Jaulen immer neuer Raketen und Granaten auf einer Brache nördlich von Damaskus verscharrt worden. Eine Ödnis. Einige abgemagerte Hunde liefen über die frischen Erdhügel und hinterließen ihre Spuren. Der ausgemergeltste von ihnen wühlte mit den Pfoten im frischen Sand, dann hob er den hängenden Kopf und jaulte wie ein verirrter Wolf.

Immer wieder hatte die Rede des Imams unterbrochen werden müssen, weil von irgendwoher ein Geschoss oder eine Maschinengewehrsalve durch die Luft fegte. Allahu Akbar, Gott ist groß, erschallte es aus der Gruppe der Trauernden, zornig reckten sich Fäuste in den Himmel. Samira hatte das Gefühl, dass Gott sie verlassen hatte und auch alle anderen, die in Syrien wohnten. Noch einmal wagte sie sich in das zerschossene Wohnhaus, in dem sie groß geworden war, wo ihr Kinderzimmer gewesen war, wo sie mit ihrer Schwester und ihrem Bruder gespielt hatte. Aber dort war nur noch der Schrecken zu Hause.

Im Krankenhaus, am Tag nach ihrer Einlieferung und dem Schock über die Auslöschung ihrer Familie, hatte sie einen Albtraum gehabt. Mit schemenhaften Gestalten, die wisperten, etwas wollten und gierig danach verlangten. Nach einer Weile hatte sie geglaubt, aus dem Raunen Stimmen herauszuhören, fern, flüsternd und an sie gerichtet.

Trauere nicht, Samira. Denn dir ist aufgetragen, eine neue Welt zu finden, es ist deine Prüfung, aber fürchte dich nicht, denn du wirst sie bestehen!

Folge den Strahlen der untergehenden Sonne, dann erreichst du das Mittelmeer. Folge seiner Küstenlinie nach Norden, dann erreichst du die Türkei, folge auch hier wieder der untergehenden Sonne. Sie führt dich in das Land deiner Bestimmung.

Aber wie heißt dieses Land?, hatte Samira im Schlaf gerufen. Die Stimmen hatten ihr nur einen letzten Satz zugerufen: Folge und vertraue, Samira!

Und so war sie aufgebrochen, kurz vor dem Sonnenaufgang, mit zwei Kleidern und allem Nötigsten in einem kleinen Rucksack, und mit einem Kopftuch. Sie blickte in Richtung der nahen Berge, wohin sie von ihrem Vater einmal mitgenommen worden war. Es gab dort oben ein kleines Dorf, in dem die Menschen noch Aramäisch redeten, die Sprache Jeschua, den die Christen Jesus nannten. Ihren Vater hatte das Aramäische fasziniert. Dass sich eine Sprache so lange halten konnte. Und er erklärte vieles: Jeschua sei ein Prophet gewesen, so wie Mohammed, aber die Bibelschreiber hätten unrecht getan, Jeschua als Sohn Gottes zu bezeichnen. Dies sei lästerlich.

Samira erinnerte sich, dass ihr Vater bei den letzten Worten wütend geworden war, aber nur für kurze Zeit. Nun saß er irgendwo in Gottes Land. Samira weinte, schulterte ihren kleinen Rucksack und ging in die entgegengesetzte Richtung zur aufgehenden Sonne. Das war ihr Weg, ihre Bestimmung, und ihr Auftrag war klar. Sorge dich nicht, Samira, denn du wirst nie allein sein.

+++Nachrichtenagenturen melden: Russlands Präsident Wladimir Putin will die Winterspiele in Sotschi trotz Kritik an den horrenden Kosten zu einem Erfolg machen +++ Ein etwa 30 Meter großer Asteroid war in die Erdatmosphäre eingetaucht, aber wegen des flachen Aufprallwinkels wie ein Tennisball wieder fortgeschleudert worden +++ Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel schickte sich an, den Titel erneut zu holen +++

Auf der großen Uhr, deren schwarz-metallene Ziffern an dem Kalksandstein des Glockenturms am Berliner Maifeld haftete, waren seit dem Überfall rund 15 Minuten vergangen. Stöhnend kam Paul van Orten wieder zu sich. Sein Kopf schmerzte. Rührte dies nur von dem Sturz her, oder hatte ihm jemand eine Stange oder einen anderen Gegenstand auf den Kopf geschlagen? Er ahnte, dass er dies wohl nicht so bald herausfinden würde, wenn überhaupt. Mit einem Ächzen raffte er sich auf.

„Kann ich Ihnen helfen, liegen Sie hier schon lange, sind Sie überfallen worden?“, fragte eine ältere Dame, die in einigen Metern Entfernung stand. Ihre Haltung verriet eine gewisse Unsicherheit darüber, was von dem sich gerade aufrappelnden Mann zu halten war. In Berlin gab es schließlich an allen Orten und Plätzen Leute, denen nicht zu trauen war. Aber irgendetwas an dem Mann ließ sie zu dem Entschluss kommen, ihm trauen zu können. „Ich kann meinen Mann herbeirufen, er hat eines dieser Mobiletelefone dabei, na, Sie wissen schon.“ Sie betonte dabei das Wort mobil wie etwas, das zugleich unangenehm, aber gleichwohl unverzichtbar war. „Nein, danke, mir geht es schon wieder ganz gut“, erwiderte Paul van Orten. Eine maßlose Übertreibung, denn sein Kopf schmerzte, als hätte er einen Hieb von Muhammed Ali oder Wladimir Klitschko eingefangen. „Ich habe Gott sei Dank selbst ein Telefon dabei.“

„Wenn Sie meinen“, sagte die Seniorin, deren Blicke ihn ungeniert taxierten.

Van Orten griff an seine linke Gesäßtasche, in die er sein iPhone gesteckt hatte, aber es war nicht mehr da. Hektisch fingerte er über die rechte Gesäßtasche, in der er nur seinen Autoschlüssel ertastete, dann glitt seine Hand fahrig weiter, zur Brusttasche seines Hemdes, aber das Smartphone blieb unauffindbar. „Entschuldigen Sie, ich müsste wohl doch Ihren Mann bemühen“, sagte van Orten zu der älteren Dame.

„Klaus …, kannst du mal kommen. Der junge Mann hier braucht unsere Hilfe! – und die wollen wir Ihnen doch nicht verwehren, armer Herr, was ist Ihnen da nur zugestoßen. Was heutzutage alles so passiert, ts ts ts. Einfach unglaublich.“

Van Orten hörte ihren Mann mit der Polizei telefonieren. Er schaute sich um, in diesem ramponierten Zustand konnte er unmöglich der Polizei gegenübertreten, ein van Orten bewahrte immer Haltung, selbst in haltlosen Situationen. Er musste sich frisch machen und seine Kleidung ordnen. Gegenüber von dem Kinoraum, dessen Eingang er nun besser erkennen konnte, weil sich seine Augen an das Halblicht des Gewölbes angepasst hatten, lag ein öffentliches WC. „20 Cent“ stand auf einer kleinen Stellwand, die jemand dort abgestellt hatte. Bis zu dem WC waren es nur wenige Meter.

„Sie entschuldigen kurz, ich müsste mal …“ Van Orten deutete in Richtung der Toiletten, die alte Dame nickte.

Draußen auf dem Maifeld waren die meisten Hänger, Trailer und Rover der Polocrews längst verschwunden, ebenso wie die Jaguar, Porsche Cayenne, Bentley und Aston Martin, die einige der VIPs und ein für seine Luxusmarke werbender Autohersteller am Rande des Maifeldes abgestellt hatten.

Van Orten hatte den WC-Trakt soeben betreten, als er in einem der über den Waschbecken montierten Spiegeln einen flinken schwarzen Schemen wahrnahm, der hinter einer sich schnell schließenden Toilettentür verschwunden war. Ein schwarzer Schatten mit einem stechenden Geruch. Van Orten stoppte kurz. Woran erinnerte ihn der Geruch noch mal. Es war tiefer Winter gewesen. Die Straße vor seinem Haus in Dahlem, dem feinsten Berliner Bezirk, waren nicht geräumt worden und spiegelglatt, hatte er seinen 911er Porsche in der Garage gelassen. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich ein Taxi zu rufen, aber die würden an einem solchen Tag auch zu lang brauchen. So war er zur U-Bahn gelaufen. Er wollte kurz ins KaDeWe, in die Feinschmeckeretage, es sollte ein Lobster werden, seine Mutter hatte Geburtstag, und er war ein begnadeter Koch.

Am Bahnhof Dahlem-Dorf war er in die U-Bahn gestiegen, er war allein, zumindest dachte er das. Hinter einer der brusthohen Wände, die die einzelnen Sitzgruppen voreinander trennten, hatte sich ein älterer Mann aufgerafft. Seine Wangen lagen hinter einem grauen Kräuselbart verborgen. Augen mit leicht gelblicher Färbung hatten van Orten neugierig gemustert. Jeder Tag beginnt mit einer guten Tat, hatte van Orten gedacht und war aufgestanden, um dem Alten etwas Geld zuzustecken. In diesem Moment hatte er den beißenden stechenden Geruch wahrgenommen, der den auf der Straße Lebenden derart zueigen ist, so wie es die feinen Düfte jener Gentlemen sind, die gerade aus einem Maßatelier an Londons feiner Savile Row kommen. Angeekelt hatte sich Robert damals von dem Stadtstreicher abgewandt.

Er erinnerte sich jetzt an jedes Detail dieses Wintertages, als wäre er gestern gewesen. Nun also wieder so ein Geruch. Und hatte es nicht vor dem Überfall vor wenigen Minuten ähnlich gerochen? Van Orten musterte die Tür, dann bückte er sich, um unter ihr hindurchzuschauen. Hinter der Tür raschelte es, jemand brabbelte in der Kabine Unverständliches.

„Hallo?“ Van Orten sah, wie zwei schrundige Hände eine verdreckte Hose an ihrem Bund fassten und hochzogen, dann flog die Tür auf. Alles ging so rasend schnell. Van Orten sah einen Hünen, mit einem Gesicht wie das eines Menschen, der seit Anbeginn auf der Flucht ist und der nichts mehr zu verlieren hat. Zwei große, schreckgeweitete dunkle Augen, die trotz ihres Schrecks oder gerade deshalb von Brutalität und Entschlossenheit kündeten. Vielleicht weil ihr Besitzer nichts zu verlieren hatte. All dies dachte van Orten in den wenigen Sekunden, die für ihn wie in Zeitlupe vergingen und in denen der Mann in einem weit ausgreifenden Schritt über ihn sprang. Das Gesicht brannte sich ihm ein, es war osteuropäisch, mit einer langen Nase. Van Orten war auch sicher, dass diese Augen und diese Nase zu der Schattengestalt gehörten, die ihn umgerannt und um sein Smartphone erleichtert hatte.

Er gab das auch den Polizisten zu Protokoll, die wenig später am Tatort ankamen. Gelangweilt notierte einer der beiden Beamten van Ortens Schilderungen. Derart gelangweilt, dass van Orten sich nicht bemüßigt sah, im Anschluss noch ein „Danke für Ihre Mühe“, herauszupressen. Er drehte sich kommentarlos auf dem Absatz um und ging zu dem Parkplatz vor dem Glockenturm. Er brauchte nun dringend ein Bad oder eine kühle Dusche und ein Glas extra eisgekühlten Veuve Cliquots und die tröstende Hand seiner Freundin Sylvia. Die schlechten Erfahrungen wären in wenigen Tagen nicht mehr präsent. Selten hatte sich van Orten stärker getäuscht als in dieser Annahme.

+++ Der Bürgerkrieg in Syrien hat laut Uno-Beobachtern ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Täglich fliehen mehrere Tausend Menschen Richtung Jordanien, Türkei und Ägypten +++ Über North-Dakota gingen fußballgroße Hagelkörner nieder. Meteorologen erklärten, das Phänomen habe nichts mit dem weltweiten Klimawandel zu tun +++ Im Büro von Papst Benedikt war spioniert worden. Nun schickte sich sein Nachfolger Franziskus an, die Kurie in Rom zu modernisieren +++

Berlin. Glockenturmanlage am Olympiastadion. Schwer atmend stand Romani Deutschlaender hinter einem Container. Er war einfach nicht mehr in Form, da hatte seine Frau Agneta recht, die dies in letzter Zeit immer öfter über ihn kundtat und dabei wenig Rücksicht auf sein Befinden nahm. Obschon, und das machte Romani Sorgen, sie in letzter Zeit öfter über Schmerzen unter der Brust klagte. Aber dies spielte jetzt und hier keine Rolle. Romani musste zusehen, dass er ungeschoren aus der Sache herauskam. Vor wenigen Minuten hatte er diesen Typen in der großen dunklen Halle überfallen, ihn um sein iPhone erleichtert, und er hätte auch mehr genommen, wenn er nicht gestört worden wäre.

Eigentlich hatte er dies gar nicht geplant, aber der Mann war ihm ja quasi vor die Füße gelaufen, und was sollte man schon tun, wenn einem ein fetter Braten sozusagen aus dem Himmel in die Arme plumpste? Man griff natürlich zu, jeder in seiner rumänischen Heimat hätte dies getan, zumindest jeder, den er kannte. Romani Deutschlaender stammte aus der Gegend Rumäniens, in der die Banater Schwaben zu Hause waren, oder besser: was von ihnen noch übrig war.

Über Jahrzehnte hinweg, noch unter dem Despoten Ceausescu, waren viele von ihnen unter Verweis auf ihre deutsche Abstammung in die Bundesrepublik ausgewandert. Nicht wenige hatten dabei getrickst, denn sie hatten niemals einen deutschen Vorfahren gehabt. „Umpudeln“ hatte man das in seinem Dorf genannt. Woher der Begriff kam, wusste Romani Deutschlaender nicht, aber es hatte irgendetwas mit dem Pudel zu tun, der, neben dem deutschen Schäferhund, in seinem Heimatdorf quasi zum Hausstand gehört hatte, bis immer mehr Familien nach Deutschland gezogen waren und ganze Straßen leerer Häuser hinterlassen hatten, deren unverschlossene Fensterläden nachts ein schauriges Klappern durchs Dorf gejagt hatten, nachdem zuvor Plünderer in die Häuser eingestiegen waren und die Fensterläden unverschlossen hinterlassen hatten.

Romani hatte dies alles als Kind beobachtet, und ihm war klar geworden, dass dies ein Land des Wohlstands war, das Menschen dazu brachte, alles zu verlassen, was ihnen bis zu diesem Zeitpunkt heilig gewesen war. Auch als die ersten Familien wieder zurückkamen, mit einem VW-Golf und Kindern, die in Deutschland gezeugt worden waren, ließ Romani Deutschlaender die Überzeugung eines verheißenen Landes nicht mehr los. Deutschland zahlte für alle Kinder, es hatte Geld im Überfluss. Denn viele, die in Deutschland geblieben waren, überwiesen nicht unerhebliche Summen auf Konten ihrer Eltern und Großeltern. Dieses Land musste er erreichen, komme, was wolle. Es war Gewissheit und Bestimmung. In seiner Welt.

Nun stand Romani Deutschlaender hinter diesem Container am Glockenturm, der das dunkle Gewölbe überragte, in dem er den fremden Mann umgerannt hatte. Ein Polizeiwagen bog auf den Vorplatz ein, die Sirene war ausgeschaltet, nur das Blaulicht auf dem Dach des Einsatzwagens drehte sich. Aber das blaue Licht war nicht mehr als ein blinkender Reflex in dem gleißendem Licht, in das die im Zenit stehenden Sonne den Platz getaucht hatte. Zügig, aber nicht besonders in Eile wirkend verließen die Beamten den Wagen, einer hatte die Hand an das Halfter gelegt, in dem seine Dienstwaffe steckte, das sah Romani Deutschlaender genau.

Immer wieder schaute er auf die Uhr, die unterhalb des Glockenturms hing. Was machen die da nur so lange?, dachte er. Es passierte lange Zeit nichts. Dann, es war mittlerweile eine halbe Stunde vergangen, sah er, wie sich langsam ein cremefarbener Fleck aus der Düsternis des Gewölbe herausschälte und die Konturen eines Mannes annahm. Das musste der Kerl sein, dem er etwas von seinem Reichtum weggenommen hatte, in gewisser Weise hatte er es sich zudem nur geliehen, eine Art Ausgleich für die Zeit bitterster Armut, die er als Kind erlebt hatte, als seine Großmutter einmal sogar laut darüber nachgedacht hatte, ihren Pudel zu schlachten, damit sie wieder mal an etwas Fleisch kamen. Denn in den Märkten der nächstgrößeren Kreisstädte hatte es lange Zeit, anders als in Bukarest, wenig außer leeren Regalen gegeben. Deshalb war es nur recht und billig, was er nun tat, er löste einen Scheck aus der Vergangenheit ein, so sah Romani Deutschlaender es, und so würde er es auch in Zukunft halten, wenn es ums Überleben ging. Die Deutschen selbst hatten nach dem großen Krieg sogar von einem katholischen Bischof die Erlaubnis bekommen, das von Feldern zu rauben, was sie selbst zum Überleben brauchten. Seine Mutter hatte es ihm erzählt, und sie hatte nie gelogen.

Romanis große, düster wirkende Augen weiteten sich, als er nun sah, was ihm alles entgangen war, weil er von diesem alten Pärchen gestört worden war.

Während Paul van Orten mit bewusst federnden Schritten den Vorplatz am Glockenturm überquerte, zog er einen elektronischen Schlüssel aus seiner Tasche. Mit einem Blinken seiner Lichter signalisierte sein 911er, dass er einsatzbereit war. Für Paul van Orten gab es kein besseres Auto. Der Porsche war das Auto schlechthin, das hatten schließlich auch alle seine Besitzer bewiesen, die sich deutlich teurere Autos hätten leisten können. Gunter Sachs etwa, der mit seinem Porsche an der Cote d’Azur entlanggebraust war, immer Brigitte Bardot hinterher. Das Auto allein hatte sie von einer Heirat mit dem deutschen Multimillionär zwar nicht überzeugen können, aber Hunderte aus einem Hubschrauber auf ihr Anwesen herabregnende Rosen. Danach war die schöne Französin dennoch mit Sachs an der Croisette in dessen Sportwagen entlanggebraust. Das allein war ausschlaggebend.

Der Porsche, bevorzugt in Rot lackiert, war ein Ladykiller, ein Auto maßgeschneidert für die Entführung eines Topmodels wie Gisele Bündchen, dachte van Orten. Und sein 911er war so ein Ladykiller. Das Innere des Sportwagens war nach seinen Wünschen komplett umgebaut worden. Die halbe Innenkabine inklusive Apparaturen und Sesselaufhängung bestand aus glatt poliertem und verheißungsvoll schimmerndem Aluminium. Die Spezialanfertigung, die nur noch äußerlich einem Serienwagen glich, hatte ihn ein Vermögen gekostet, aber er kostete dafür auch jeden Moment aus, und darauf kam es schließlich an, man lebte schließlich nur ein Mal. Er drehte den Zündschlüssel und drückte einen Knopf an der Mittelkonsole. Mit einem säuselnden Brummen meldete der Bolide seine Dienste an. Paul van Orten ließ im Leerlauf mehrfach spielerisch seinen Fuß über das Gaspedal huschen.

Das dumpf aufgrollende Geräusch des großvolumigen Motors begeisterte ihn wie kaum etwas anderes, selbst der Polosport, der ihn begeisterte, war nichts im Vergleich zu diesem Wagen. In Gedanken nun bei seiner Freundin Sylvia legte er den ersten Gang ein. Und da war noch etwas, das ihn beschäftigte und die Fahrt in den Grunewald zu einer mechanischen Abfolge von Schalten, Lenken, Fahrradfahrerblick, Kuppeln, Bremsen und Anfahren werden ließ. Die Frage, was der Dieb mit seinem iPhone alles anfangen konnte. Denn in ihm waren nicht nur die Telefonnummern seiner Freunde gespeichert, von denen einige zur Spitze der bundesdeutschen Gesellschaft gehörten, sondern das Smartphone barg einige intime Bilder von Nebenfreundinnen, einem Escortgirl, dessen Kontaktdaten nur einem engen Zirkel hochrangiger Freunde bekannt waren, sowie PIN-Nummern für Online-Trading und Depotverwaltung seines nicht unerheblichen Vermögens und darüber hinaus Kontaktdaten von Berliner Politikern, die ihm einen Gefallen schuldig waren. Aber dieser abgerissene Vollidiot sah eigentlich nicht so aus, als könnte er mit all dem im Entferntesten etwas anfangen. Egal, wenn ich ihn zwischen die Finger kriege und sei es mithilfe der Polizei, wird er bereuen, mir jemals über den Weg gelaufen zu sein. Paul van Orten lächelte vergnügt, er hatte schon eine Idee, was er mit diesem Individuum anstellen würde.

Als er in die Bernadottestraße einbog, in ihr hatte ein einflussreicher deutscher Unternehmer einst eines seiner zahlreichen Liebesnester für Gespielinnen unterhalten, betätigte van Orten den kleinen schwarzen Impulsgeber an seinem Schlüsselbund. Geräuschlos und wie von Geisterhand bewegt glitt eine schwarze Metallwand zur Seite. Es war das Haus seiner Freundin Sylvia. Allein hätte sie es sich niemals leisten können, obwohl sie einen gut bezahlten Job in der Immobilienbranche ausübte. Van Orten hatte beim Erwerb des Grundstückes mit Kapital geholfen. Er liebte selbstständige Frauen, aber nicht, wenn sie zu selbstständig waren. Und selbst wenn sie sich mal trennen würden, das Grundstück war eine Geldanlage, eine nicht duplizierbare Lage, wie sein Vater es formuliert hätte. Bei dem Gedanken an ihn verzog Paul van Orten das Gesicht, so, als hätte er auf einen Aluminiumstreifen gebissen, der noch an einem Kaugummi haftete. Er parkte den 911er vor dem Haus. Vielleicht hat Sylvia ja nichts an, ich werde ihr von dem kleinen Vorfall nichts erzählen. Das würde uns nur den Abend verderben.

Aleppo, die Stadt, die zur Zeit Roms am östlichen Rand des Imperiums gelegen hatte, wenngleich auch nicht am östlichsten, zog an Samira vorbei wie eine Fata Morgana. Säulen mit korinthischen Kapitelen reckten sich wie süchtige Rufer in den Himmel. Und erinnerten an die Zeit, als Aleppo eine Handelsmetropole gewesen war, vor Jahrhunderten.

Ich muss weiter, immer weiter, dachte Samira, und die kleinen Gurte ihres Rucksackes schnitten schmerzhaft ins Fleisch. Sie fühlte Reue darüber, dass sie sich nicht von ihren Verwandten verabschiedet hatte, aber man konnte niemandem trauen in diesen Tagen des Bürgerkrieges, dass hatten ihr ihre Eltern immer und immer wieder gesagt. Überlege, mit wem du sprichst. Es können Assads Agenten sein oder die anderen, von den Saudis und den westlichen Geheimdiensten unterstützten Terroristen. Wir können beiden nicht trauen. Die Worte ihres Vaters hallten in ihren Gedanken nach.

Nach drei Wochen hatte Samira jene geografische Besonderheit erreicht, wo das türkische Staatsgebiet eine kleine südwärts gerichtete Ausstülpung aufweist, die Syrien vorgelagert ist.

331 Jahre vor Christus kam an eben jener Stelle Alexander der Große mit seinem Reiterheer und den gefürchteten Bodentruppen entlang und schlug bei Gaugamela die Perser vernichtend. In der Formation der Phalanx, jener gefürchteten Erfindung der antiken Makedonier, schritten sie voran, Schild an Schild wie ein einziger Panzer. Nur so viel von sich durch die Mauer der ineinander verkeilten Schilde preisgebend, dass ihre Schwerter und Speere hindurchpassten. Und so schritten sie voran. Ein Schritt, ein Stemmen, ein Innehalten und dann wieder von vorn und immer wieder. Uhah – uh-ah – uh-ah – ihr Schrei lag über allem.

Samira hatte es in der Schule gelernt, aber jetzt, auf ihrem Weg in die unbekannte Welt, mit ihrem wenigen Hab und Gut und nur mit den Stimmen ihrer Ahnen im Kopf, dachte sie an alles andere, nur nicht daran. Obschon manches von dem, was die Krieger zum Überleben in dem kargen Land taten, ihr geholfen hätte. Etwa wie sie Nahrung und Wasser besorgten.

+++ Der Uno-Kommissar für Flüchtlinge schätzt die Zahl der jährlich auf dem Mittelmeer bei illegalen Einreiseversuchen ums Leben Kommenden auf mehrere Tausend +++ Das Hubble-Teleskop der Nasa entdeckt eine fast 14,5 Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxie, die sich bereits 200 Millionen Jahre nach dem Urknall gebildet hatte +++ Ein homosexueller Mann in Berlin gestand, den Kopf seines Partners gekocht zu haben +++

Berlins feinste Wohngegend, nahe Bernadottestraße. Sylvia Reutlingen saß entspannt auf der Ledercouch ihres ganz in Weiß gehaltenen Wohnzimmers. Sie besaß einen trainierten Körper, der anstandslos mit dem vieler Fernseh-Fitness-Beauties mithalten konnte. Über den 134-Zoll-LED-Schirm ihres Fernsehers flimmerten Videoclips mit Madonna, die gelegentlich von irgendeiner Yoga-oder Lebe-Bewusst!-Werbung unterbrochen wurden.

Sylvia Reutlingen trug einen schwarzen Slip und ein enges knappes Top, in der Art, wie Frauen sie auch in Bauch-Beine-Po-Kursen oder irgendwelchen Step-up-stay-healthy-Seminaren trugen. Sylvia Reutlingen betrachtete ihre Füße. Sollte sie einen neuen Nagellack ausprobieren? Unschlüssig wanderte ihr Blick weiter zu dem Paar Seidenstrümpfen, das über einem Stuhl hing. Sollte sie sie anziehen, um Paul etwas scharf zu machen? Sie hatten schon seit drei Tagen keinen Sex gehabt, was für ihre Verhältnisse einer Ewigkeit entsprach, und er würde sicher bald zu Hause sein, eigentlich hätte er schon längst zurück sein müssen, es war wohl etwas dazwischengekommen.

Vermutlich war Paul wieder einmal von seiner Mutter aufgehalten worden, oder durch eine Unterhaltung mit seinen Groomern, vielleicht sogar mit diesem Diego. Sie glaubte, Paul einmal dabei beobachtet zu haben, wie er seinem argentinischen Pferdepfleger einen verdächtigen Blick hinterherwarf, wie er es sonst nur bei ihr tat, wenn sie sich stylingtechnisch hochgerüstet hatte. Aber es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, Paul war durch und durch ein Hetero, ein deutscher Macho, ein Mann. Er hatte sie nicht nur mit dem überzeugt, was er auf dem Konto, sondern auch mit dem, was er in der Hose hatte. Sie hatte einmal Charlotte, ihrer besten Freundin Andeutungen gemacht, nachdem diese errötet war, hatte sie gerufen. „Waaaas, so ein … Rooohr? Das ist ja, das ist ja, also“, Charlotte hatte zu einem Glas mit Cremant gegriffen, das ihr Sylvia immer reichte, denn es machte ihre stets etwas verspannte Freundin lockerer. Dann beendete Charlotte den Satz: „Also, das ist ja ein echter Kolben. Und ich dachte, nur Pauls 911er würde solchen Kolben haben …“ Charlotte lachte und prustete einen Teil des Cremant auf ihr neues, sündhaft teures Haute-Couture-Kleid.

Sylvia konnte sich gut an die Unterhaltung zurückerinnern. Charlotte war unterhaltsam, aber alles in allem doch eine dumme Kuh, die ohne Zuwendung ihres 25 Jahre älteren Gatten nicht überleben würde, davon war Sylvia Reutlingen überzeugt.

Sylvia Reutlingens linke Hand glitt wie zufällig über ihre Brustwarzen, die hart und aufrecht unter ihrem Top in die Höhe standen. Sie zog ihr Top aus, kniff sich in die andere Brustwarze, sie mochte dies, und überlegte kurz, wie sie die Zeit zum Eintreffen Pauls überbrücken könnte. In ihrem Job in der Immobilienbranche hatte sie nie Probleme, Zeit mit irgendwelchen Tätigkeiten auszufüllen, aber sobald sie zu Hause und allein war …

Sie ging in die Küche, öffnete das Eisfach des fast bis unter die Decke reichenden Hightechkühlschrankes, griff einen Eiswürfel und ließ ihn über ihre Brustwarzen wandern. Ich brauche eine kleine Nascherei, ist ja nur einmal, und Paul wird es nicht mitbekommen. Sie lief ins Bad und zauberte aus einem kleinen Spiegelschränkchen ein Creme-Kästchen hervor, das ganz hinten gestanden hatte. Lächelnd drehte sie den Verschluss auf, ihr rechter Zeigefinger stupste in die Creme und baggerte einen kleinen Plastikbrief hervor. „Siehe da, du bist noch da …!“ Sylvia Reutlingen lachte. Mit einem Cleenextuch, von dessen Art stets mehrere Packungen auf Anrichten und Regalen in ihrem Haus herumlagen, entfernte sie die Creme von dem Briefchen. Dann schüttelte sie ein bisschen des darin befindlichen weißen Pulvers auf die Ablage über dem Waschbecken. Ein kurzer Zwischenstopp in der Diele, dann hatte sie den Rest dessen, was sie brauchte. Mit ihrer Amex-Goldcard zerrubbelte sie die feinen weißen Körner auf der Ablage. Gierig sog sie die Line durch einen zusammengerollten 50-Euro-Schein. Charlotte war nicht nur Freundin, sondern auch eine Lieferantin. Das Cremant-Pummelchen versorgte ihren gesamten Freundinnenkreis überwiegend gelangweilter Freundinnen mit Amphetamin, bestem Stoff, das musste ihr Sylvia Reutlingen zugestehen. Sie war gerade damit beschäftigt, sich eine weitere Line (die letzte!) zu legen, als sie das Bullern von Pauls Porsche und kurz danach dessen Bremsgeräusch direkt vor ihrer Grundstückseinfahrt hörte, ein unverwechselbares Geräusch.

„Mist, so ein Mist, gerade wenn es lustig wird …“ Eilig drückte sie das Plastikbriefchen in die Cremedose zurück, die sie schnell in dem WC-Schränkchen hinter all den anderen Tuben, Dosen, Sprays, Flacons, Feuchtigkeitstüchern und Deorollern verstaute. „Da gehörst du hin, und da bleibst du auch, zumindest für eine Weile …“ Sie lachte, sie wusste auch schon, wie sie Paul, ablenken würde. Er durfte nicht wissen, was sie manchmal tat, denn er mochte – im Gegensatz zu einigen seiner Freunde, die sie näher kennengelernt hatte – keinerlei synthetische Spaßmacher. Im Gegenteil, bekam er dies mit oder ahnte er auch nur etwas, würde er ausrasten, davon war sie überzeugt. Sie hatte einen Schlachtplan, er musste zum Fernseher, jedenfalls möglichst weit weg vom Bad. Und sie würde ihm einen Campari oder Martini mixen, einen Whiskey oder was auch immer anbieten und natürlich Sex. Sie war erst 29, im besten Alter, sah besser aus als alle ihre Freundinnen, und sie wusste es zu nutzen. „Hallo, Liebling“, sagte sie, als sie die Tür geöffnet hatte. Ihre Beine standen übereinander gekreuzt, sein Blick glitt zu ihrem Schoß, dann wieder zu ihren Brustwarzen. „Schön, dich zu sehen, Süße!“

Romani blickte dem Porsche hinterher. Der Mann, dessen Namen er nicht kannte, musste viel Geld besitzen, wirklich viel Geld. Das war Romani auf Anhieb klar. Er hatte in Rumänien auch schon viele teure Autos gesehen, die zumeist Menschenschleppern, Zuhältern, ehemaligen Mitarbeitern des Geheimdienstes Securitate, Politikern oder neureichen Unternehmern gehörten, aber dieses Auto musste so etwas wie eine Spezialanfertigung sein. Dazu musste er kein Experte sein, das sah er mit einem Blick.

Das Auto war so tief gelegt wie ein Formel-1-Rennwagen. Die Felgen sahen aus, als bestünden sie aus Gold, und das Grollen des Motors verriet ihm, dass auch dieser mit der Serienausstattung wenig zu tun haben konnte. Romani wartete darauf, dass der Fremde in den zweiten Gang hochschaltete, aber da war der Wagen auch schon außer Sichtweite. Verdammt, dachte er, was war denn das? Er musste mehr über den Mann herausfinden, er war ganz offenkundig eine gute Beute, ein fetter Fisch, wie man so sagte.

In dem Bach, der durch sein Heimatdorf in Rumänien plätscherte, gab es auch Fische, aber was waren die schon im Vergleich zu dem Goldfelgenmann. Goldfelgenmann –er mochte den Namen, den er dem Unbekannten verliehen hatte, und betrachtete nun nachdenklich das iPhone. Was mochte er für Geheimnisse verbergen? So ein Mann hatte sicher Kontakte, die Gold wert waren, und Geheimnisse, deren Nichtoffenlegung ihm wohl eine kleine Unterstützung für bedürftige Menschen wert war.

Romani tippte wild auf dem Smartphone herum, dessen Rahmen eine ähnliche Spezialanfertigung zu sein schien wie der Porsche. Als er über das Glas des iPhones strich, aktivierte sich das Feld zum Eingeben des Pin-Codes, aber er wusste nichts damit anzufangen. So ein Telefon kannte er nur aus der Fernsehwerbung. Seine Tochter, Andrea – er und Agneta hatten ihr vorausschauend einen Namen gegeben, der auch in Deutschland verwandt wurde – würde etwas damit anzufangen wissen. Sie hatte schließlich ein Elektronikstudium auf der Polytechnischen Hochschule in Bukarest absolviert. Die ganze Familie hatte dafür geschuftet und zurückstecken müssen, bis heute. Nun bekam Andrea die Möglichkeit, etwas an ihre Familie zurückzuzahlen. Es war nur gerecht. Eine Hand wäscht die andere, dachte Romani und schob das iPhone in die Brusttasche seines Hemdes, das er seit Wochen nicht gewaschen hatte.

Agneta hatten ihn mehrfach nicht mehr an sich herangelassen, weil er manchmal streng roch, wie sie es formulierte. Aber sie hatte schon immer übertrieben, und das hatte ihn schon immer genervt. Was wollte sie eigentlich? Er hatte sie und ihre Tochter schließlich ins Land ihrer Verheißung geführt, hatte Prügel der Menschenhändler im Kosovo und in Slowenien über sich ergehen lassen, nachdem sie zuvor tagelang zwischen irgendwelchen Kartons und Paletten im Laderaum eines unbekannten Lastwagens ausgeharrt hatten. Im Gegenzug für 3000 Euro pro geschmuggelte Person, Geld, das sie vom Verkauf ihres Hauses zurückbehalten hatten, bekamen sie lediglich ein paar kratzende Decken und einen Kasten mit Plastikflaschen. Durch halb Europa waren sie gerumpelt, das war nun schon ein paar Jahre her und sie hatten es immer noch nicht zu einem kleinen Wohlstand gebracht, nicht einmal zu einer eigenen Wohnung. Wegen verschiedener bürokratischer Vorkommnisse, die derart kompliziert waren, dass sie niemand glauben konnte, waren sie von Heim zu Heim gezogen. Was ursprünglich zu einer nur vorübergehenden Einquartierung hatte werden sollen, war für sie seit geraumer Zeit Alltag: Leben in einem Heim. Das war aber bei weitem nicht das Einzige, das Romani erzürnte. Wie ihm Landsleute berichtet hatten, hatte die Europäische Union nun ganz legal die Türen aufgemacht für Arbeitssuchende aus seiner Heimat. Dies sei seit Jahren beschlossen, so viel hatte er verstanden. Er kochte innerlich. Gab es jemanden, der mehr Pech hatte? Er hatte verdammt noch mal etwas Glück verdient. Und das darauf jeder ein Anrecht hatte, stand sogar in der amerikanischen Verfassung, das hatte ihm seine Andrea gesagt. Und wenn das für das Stammland des Kapitalismus zutraf, dann war ihm Deutschland, das Stammland seiner Ahnen, allemal etwas schuldig. Und wenn es ihm das nicht freiwillig gab, würde er es sich nehmen, auch wenn ihm seine Mutter und Großmutter tausendmal gesagt hatten, dass man sauber bleiben müsste, bei allem, was man tat.

Romani wohnte mit seiner Agnete und Andrea in Berlin-Hellersdorf, eine schlichte Gegend, ihre Unterkunft lag in einer ehemaligen zu einem Heim umgebauten Schule. Auch Roma und Sinti gab es dort, er hatte sie sofort gesehen.

Sie stellen sich erst gar nicht solche Fragen wie ich, dachte Romani, die nehmen sich, was sie wollen. Aber: Wer von Moral redet, hat meist selbst keine. Das war Romanis Überzeugung und nach ihr würde er handeln. Denn sie könnten unmöglich weitere Monate in ihrem Heim leben. Es musste etwas passieren. Jetzt.

Vor dem Heim zogen immer wieder rechtsgesinnte Banden auf, mehrfach war er bedroht worden auf dem Nachhauseweg, er hatte ihnen nicht klarmachen können, dass er eigentlich auch ein Deutscher war, sogar deutscher als deutsch, dass er seine Abstammung rund 250 Jahre zurückverfolgen konnte, weil seine Familie penibel Buch darüber geführt hatte, seit Generationen. Aber wer fragte schon danach, oder vertraute auf eine solche Aussage? Wenn es spät in der Nacht war, und die Natriumdampflampen der Straßenbeleuchtung ihr gelbes fades Licht auf die Straßen warfen. Und die Gesichter jedes Passanten zu einer Folie aus undefinierbaren Schatten und hellen Flächen machten. Dann war die Zeit für Argumente vorüber. Dann zählten nur handfeste Argumente. Romani hatte sie mehrfach zu spüren bekommen. Einmal war er sogar von einem Fernsehteam angesprochen worden, das ihn hatte interviewen wollen. Er hatte kurz vor der Kamera gestanden, dann jedoch nur mit dem Kopf geschüttelt und war weggerannt. Die Journalistin hatte aufgeregt in ihr Mikrofon gesprochen. „Sie sehen, die Menschen hier haben Angst, sind eingeschüchtert. Sie trauen sich nur anonym …“

Mehr hatte er von dem Kommentar der Reporterin nicht mitbekommen. Agneta wartete schon in ihrem Zuhause, so umschrieb er ihr 24-Quadratmeterzimmer in dem Heim. Das war erst wenige Tage her.

Er hatte seiner Frau, die ihn wegen der Schrammen im Gesicht besorgt angeschaut hatte, nichts von den wirklichen Vorkommnissen erzählt. Mitunter bedurfte es einer Notlüge. Er habe in der Kneipe gesessen, und nach dem Kartenspielen sei es zu einem Streit gekommen, auch weil sie ein wenig über den Durst getrunken hatten, er und seine Kumpels, sagte er. Agneta hatte es ihm geglaubt. In Rumänien war dies auch zwei-, dreimal im Jahr passiert, dass er in eine handfeste Schlägerei geraten war. Hier jedoch …, sie mussten weg, und dazu brauchten sie Geld. Und der Goldfelgenmann hatte den Schlüssel zu ihrem Glück. Romani beschwor diesen Gedanken geradezu, fasste dann in seine linke Hosentasche, die noch kein Loch hatte wie die rechte, und fingerte zwei Euro für die S-Bahnfahrt zu ihrem Heimplatz hervor.

+++ Drei Nobelpreisträger äußern Zweifel am Fortbestand des Kapitalismus und erhalten darin Unterstützung von Papst Franziskus +++ In Tasmanien werden Eier einer bis dahin unbekannten Saurierart gefunden +++ Ein Astronaut an Bord der Internationalen Raumstation erklärt, ein nicht identifizierbares Flugobjekt im Mondorbit gesehen zu haben +++ Die Abschmelzung der Pole und Gletscher beschleunigt sich +++ Die mutmaßliche NSU-Mittäterin Beate Tschäpe stand wieder vor Gericht. Den Angehörigen der Getöteten hatte sie nichts zu sagen. „Der Teufel trug Schwarz“ titelte eine Boulevardzeitung +++

Sylvia Reutlingen lief voran, sie wusste nur zu gut, mit welchen Bewegungen ihres Pilatus-Yoga-Körpers sie Paul van Ortens uneingeschränkte Aufmerksamkeit bekommen konnte, und sie nutzte es, denn er durfte von ihrem kleinen Geheimnis in dem Badezimmer-Cremedöschen nichts erfahren, sonst wäre es aus, denn ihr Paul neigte zu Temperamentsausbrüchen. Und wie die endeten, wusste man nie.

Einmal hatte sie mit Charlotte zu lange gefeiert, mit einer anderen Freundin, einer Apothekerin, die gelegentlich verbotene Substanzen herstellte, auch Pervitin war darunter, ein Stoff, der im Zweiten Weltkrieg massenhaft an Soldaten und Matrosen zur Leistungssteigerung verteilt worden war. An jenem Abend hatte Sylvia Reutlingen etwas zu viel davon zu sich genommen, jedenfalls war sie erst um 9 Uhr morgens nach Hause gekommen, angekickt wie ein Super-Junkie, und Paul war ausgerastet. Sie hatte ihn zuvor noch nie so gesehen. Erst war er rot angelaufen, dann hatte er zu zittern begonnen und schließlich nur noch gebrüllt. Nein, einen Vorwand für einen weiteren Ausraster dieser Art würde sie ihm nicht liefern.

Sie ließ sich auf das Bett fallen, ein Bein angewinkelt, das andere wippend von sich fort gestreckt. „Was magst du trinken, Paul? Also, ich hätte gern einen Campari“, ihre rechte Hand wanderte zum Slip, parallel setzte sie ihr verführerischstes Lächeln ein. „Ich kann dir aber auch einen Martini anbieten oder sogar mal einen Wodka, wonach steht dir der Sinn?“, fragte sie, während sie sich einen jener kleinen Plastikspießchen in den Mund steckte, mit denen man sonst irgendwelche Früchte für Cocktails aufspießt. Sie lächelte und dirigierte den Minispieß mit ihrer Zunge von der linken in die rechte Mundecke und dann wieder zurück.

„Du bist ja erstaunlich gut drauf? Hast du ein Grundstück verkauft … oder hattest du Besuch von einer deiner Freundinnen, hm …? Du kannst mir gern …“, Paul van Orten stockte kurz, „… einen Martini einschenken.“ Er fasste sich an den Hinterkopf. Der Sturz bei dem Überfall hatte an seinem Hinterkopf eine formidable Beule wachsen lassen. Verdammt, Sylvia durfte dies nicht erfahren. Zum Glück hatte er viel und sehr dichtes Haar, einige seiner Freunde verspotteten ihn deshalb auch als späten Popper.

Paul van Orten gab sich alle Mühe, nach dem Vorfall unterhalb des Glockenturms besonders locker zu wirken, spürte jedoch, dass da eine Anspannung war, derer er nicht ganz Herr wurde. Und da er es gewohnt war, Situationen zu beherrschen, trübte das seine Stimmung weiter.

Sylvia brachte ihm den Martini. Vor der Anrichte, auf der mehrere gläserne Kristallfalschen mit Alkoholischem standen, hatte sie einen kleinen Tanz aufgeführt – „Lala-La-la-la“ –, sich auf die Zehenspitzen gestellt, fast wie eine Ballerina, und dabei mit ihren Hüften kleine Baccardi-at-the-beach-girls-Schwünge ausgeführt. In dem kleinen Spiegel über der Anrichte hatte sie mitverfolgt, wie Pauls Blicke ihre Bein erst hinab- und wieder hinaufgewandert waren, um dann auf dem schwarzen Etwas ihres Tangas zu verweilen. Na, also, Kleiner.

„Und nun …“, sie setzte sich auf seinen Schoß, „lass uns ein bisschen Spaß haben, ja? Vergiss die Anspannung, entspann dich, Liebling.“ Sie ließ ein paar Kräuselfältchen auf ihrer Stirn entstehen – da ist doch was, da geht doch was – und entschloss sich nun zu einem verwegenen Lächeln. Ihre Hand wanderte wie zufällig an seinem Oberschenkel herauf, während sie den Miniplastikstocher, in dessen kreisförmiges Ende die abstrakten Konturen eines Clownsgesicht gestanzt waren, in ihrem Mund gekonnt kleine Kreise ziehen ließ, was den Frivolitätsgrad des Momentes ein weiteres Mal steigerte. Dann stoppte ihre Hand jäh, sie hatte Dreck an seiner Reithose entdeckt, und er machte sich nie dreckig, selbst beim irrsten Galopp auf dem Polofeld nicht, er sah immer aus wie frisch aus dem Ei gepellt, das wusste sie, und deshalb beneideten Charlotte und all ihre anderen Freundinnen sie auch um … die Akquise Paul. Sie lächelte. „Was ist dir denn zugestoßen?“ Sie fuhr ihm nun durch sein Haar, das blond und seiden schimmerte, wie bei einem Wikinger, aber eigentlich auch nicht verwunderlich, wo seine Eltern so urdeutsch aussehen, hehe.

Während sie ihm zunehmend wilder durchs Haar fuhr, griff er nach der auf dem Sofa liegenden Fernsteuerung, um die Nachrichtensendung auszuschalten, aber … Van Orten, der über Sylvias Schulter, zu dem Fernseher gespäht hatte, hielt inne. Ein Livetickerband in N24 berichtete über einen geplanten Luftangriff der USA in Syrien. Das Regime, so hieß es, habe Giftgas eingesetzt, und das sei inakzeptabel. Es gebe „eindeutige Beweise“, hieß es. Auf NBC redete sich ein britischer Militärexperte heiß. Es sei „highly likely“, dass das syrische Regime dies angeordnet habe. Dabei sahen dies bei Weitem nicht alle als erwiesen. Obschon klar war, dass Assad Chemiewaffen besaß, aber eben nicht nur er.

Paul van Orten erinnerte sich an all die anderen Codewörter für Militärkampagnen, die so sinnlos wie verheerend gewesen waren: Desert Storm, Desert Shield, Enduring Freedom.

Mindestens eine Million Tote und das alles wegen des Öls, denn nur darum geht es euch doch… die Kontrolle der Zugangswege. Wer den Ölhahn kontrolliert, kontrolliert die Weltwirtschaft.

Van Orten dachte an die Erzählungen seiner Eltern über die 70er-Jahre, als die Erdöl exportierenden Staaten den Ölpreis durch Drosselung der Förderung in die Höhe geschraubt hatten und in Deutschland die erste nennenswerte Nachkriegsrezession bewirkt hatten. Als an mehreren Sonntagen auf den Autobahnen keine Autos fahren durften und die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellte. Das Ende des Wirtschaftswunders.

Der Sieg über Nazideutschland war auf einem Ozean von Öl errungen worden, hatte Winston Churchill am Ende des Zweitens Weltkriegs gesagt, und in veränderter Form galt das bis heute. Die Wirtschaft des gesamten Westens hing von einem bezahlbaren Ölpreis ab. Van Orten schüttelte verärgert den Kopf. Was für eine Volksverdummung, dieses ganze Fernsehen, mit seinen nicht endenden Verkaufsshows und Productplacements, inszeniert von langweiligen Narren.

Ihm wurde übel bei all dem Mist, den er nicht mehr hören konnte, umso lieber gab er sich den Streicheleinheiten Sylvias hin, die an Intensität noch einmal zugelegt hatten. Aber die aktuelle Entwicklung ließ ihn nicht entspannen. Hatte nicht zehn Jahre zuvor US-Außenminister Colin Powell „unwiderlegbare Beweise“ für chemische Kampfstoffe im Irak vor der Uno präsentiert und ein regime change verlangt. Und hatte sich das nicht schon wenige Woche später alles als gelogen erwiesen. Die Nachrichten über Syrien waren ein Déjà-vu-Erlebnis des Wahnsinns, eine Beleidigung für Menschen wie ihn, befand van Orten.

Gloria, seine Mutter, hatte ihn bereits als Knaben auf ein Internat nach Eaton geschickt, sein Studium absolvierte er auf einem Schloss in Süddeutschland. Und diese Fernsehfuzzis und Nachrichtenheinis glaubten, ihm, einem van Orten, irgendwelches Billigfutter vorwerfen zu können, und dachten, er würde das fressen? Es war eine Beleidigung seines Standes, eine bodenlose Frechheit. Einige der Fernsehtypen sagten in einem und demselben Satz, dass die Herkunft des Gases nicht geklärt war, forderten aber dennoch „Luftschläge“ und ein entschiedenes Eingreifen. Für wie dumm halten diese Leute das Fernsehpublikum eigentlich?

„Das ist doch nicht zu fassen …“ Paul van Orten hatte den Sender gerade ausschalten wollen, als das Nachrichtenthema und der Schauplatz wechselten. N24 brachte eine Zusammenfassung der Wochenereignisse. Und auch hier gab es ein beunruhigendes Topthema.

Die Bilder zeigten eine aufgebrachte Menschenmenge vor einem Heim in Berlin-Hellersdorf, einem Bezirk im Osten der Hauptstadt, der Paul van Orten seit jeher suspekt war. Plattenbausiedlungen schmiegten sich dort in einer gefühlt endlosen Kette aneinander. Über die Kriminalität hörte man nur Schlimmes, zudem galt der Bezirk als eine Hochburg einstiger SED- Mitglieder, die nun die Linke wählten, und an rechtsgesinnten Glatzköpfen fehlte es ebenfalls nicht.

Van Orten, der sich grundsätzlich den Liberalen zugeneigt fühlte, aber niemals in irgendeine Partei eintreten würde, mied den Berliner Osten. Alles, was östlich des Berliner Fernsehturmes lag, war ihm zutiefst suspekt und machte ihm, das musste er zugeben, auch etwas Angst.

Das Fernsehen zoomte nun von der Totalen des Heims zurück, wieder hin zu der vor dem Gebäude in einigem Abstand verharrenden Menschenmenge, die in zwei Lager gespalten war. Gegner des Heims und Bürger, die mit den Flüchtlingen sympathisierten. Die Kamera hielt nun auf ein Schild, auf dem etwas von einer „Deutschen Alternative“ stand, ein anderes Transparent warb für die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den Heimbewohnern.

Van Orten wollte das Gerät nun endgültig ausmachen, Sylvia hatte die ganze Zeit über an seinem Hemd herumgezuppelt und frustriert in einer Kauerstellung Platz genommen, als ein Journalist noch mehr Beunruhigendes kundgab. „Nach sieben langen Jahren des Wartens seit dem Beitritt ihrer Länder zu der Europäischen Union können Bulgariens und Rumäniens Bürger nun hoffen, in den Genuss der erweiterten Rechte zu kommen, die das Gemeinschaftswerk der EU ausmachen. Nämlich in Deutschland auch arbeiten zu können, um sich hier oder in ihrer Heimat einen kleinen Teil dessen aufzubauen, von dem sie schon so lange geträumt haben. Es wird erwartet, dass zu den Hunderttausenden Bürgern, die die Länder in Richtung Westeuropa berei verlassen haben, so genau kennt niemand die Zahlen, übrigens auch nicht in Brüssel, dass weitere Hunderttausende …“ Der Sender schaltete noch mal nach Berlin-Hellersdorf, um das eben Gesagte auf eine ganz lokale, „fassbare Ebene“ herunterzubrechen, wie dies die Sprecherin formulierte. Die Kamera zeigte in der Zusammenfassung der vergangenen Tage noch einmal das Flüchtlingsheim, da trat ein Mann vor die Kamera, dessen Gesicht … van Orten bekannt vorkam. Zwei große, dunkle und keine Furcht kennenden Augen mit einer langen Nase dazwischen.

„Das ist doch un-mög-lich …“ Das kann doch unmöglich derselbe Typ sein, der mich …“

Paul van Orten hörte den Rest der Sendung nicht mehr. Er schaltete den Fernseher mit einem entschiedenen, kraftvollen Hieb auf die Fernbedienung aus, der das Plastik kurz knacken ließ.

„Was hast du denn, Schatz, ich dachte, du wolltest diese Kiste gar nicht mehr ausmachen. Ist das denn interessanter als das hier?“ Sylvia Reutlingen hatte sich ihm im Schneidersitz zugewandt. Nun zog sie den kleinen Steg schwarzen Tangastoffes zwischen ihren Schenkeln zur Seite. „Gewaschen und frisch rasiert.“ Sie grinste so anzüglich, wie sie nur konnte, und schleuderte den kleinen Plastikstocher in Richtung des Showkamins, der sich neben der Anrichte mit den Getränken befand. Der Früchte-Pikser vom Cocktail landete daneben. Das kleine Plastik-Clownsgesicht am Ende des Piksers starrte in Richtung der künstlichen Flammen.

Im Norden Syriens.