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Nach dem Bestseller Das gestresste Herz das neue Buch von Professor Gustav Dobos, dem Pionier der wissenschaftlichen Naturheilkunde, über den Einfluss unserer Gefühle auf unsere Gesundheit und wie stark unsere Emotionen von unserem körperlichen Wohlbefinden abhängen. »Vegetative Überreizung«, notiert der Arzt dann in seiner Akte oder »somatoform«. Wird die emotionale Wurzel hinter den Beschwerden aufgedeckt, kann Heilung stattfinden. Inklusive ein achtwöchiges Übungsprogramm für körperliche und mentale Stärke.
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Seitenzahl: 293
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Prof. Dr. med. Gustav Dobos
NATURHEILKUNDE
für Körper und Gefühle
Wie Emotionen die Gesundheitbeeinflussen
DAS 8-WOCHEN-PROGRAMM
für mentale Stärke
Unter Mitarbeit von Dr. Petra ThorbrietzBeratung: Marika Dobos (M. Sc. Psychologie)
Man kann einem Gefühl nicht befehlen,stärker zu werden oder zu verschwinden,so wie man dem Verstand befehlen kann,zu sprechen oder still zu sein.
DAVID SERVAN-SCHREIBER
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1. eBook-Ausgabe 2020
© 2020 Scorpio Verlag in Europa Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv:
FAVORITBUERO, München
Autorenfoto: Dominik Asbach
Lektorat: Angela Kuepper
Illustrationen auf S. 30, 35, 67, 104, 134, 199, 200, 202-205:
Wolfgang Pfau, Baldham;
Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Gesetzt aus der Minion Pro und der Meta
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95803-334-4
Alle Rechte vorbehalten.
www.scorpio-verlag.de
Vorwort: Ich fühle, also bin ich!
1. Das Netz der Körpererinnerung
Erste Bauchgefühle•Lernen durch Spüren•Dynamisches Gleichgewicht•Signale aus dem Selbst•Können wir Gefühle kontrollieren?•Wunsch und Wille•Interozeption: sich wahrnehmen•Intuition – was ist das?•Das Bauchhirn•Die Anatomie der Emotionen
2. Furcht und Freude: die Pole unseres Lebens
Theorie des Errötens•Die ewige Schlange•Fallbeispiel: Angst als Ursache chronischer Schmerzen•Außer Kontrolle: Angststörungen•Freude kann man üben•Humor ist wichtig•Die Psychologie des Positiven
3. Berührt werden: ein einzigartiges Gefühl
Berühren heißt binden•Die Gummihand-Illusion•Sich im anderen spiegeln•Empathie zwischen Arzt und Patient•Fallbeispiel: Schutz, Hilfe und Zuwendung als Therapie•Die Körperlosigkeit der Medizin•Das Besondere der Hand•Social Distancing•Heilsame Berührungen•Die Macht der Zuwendung•Massage als Therapie•Fließend: Psyche und Soma
4. Hochspannung durch Stress
Die zwei Gehirne•Symptome ohne körperliche Erklärung•Fallbeispiel: Stress und Reizdarm•Die Chemie der Gefühle•Die schnelle Stressantwort•Wenn die Belastung chronisch wird•Zuwendung und Belohnung•Kaskaden von Liebe und Hass•Die Polyvagal-Theorie•Dauerbeschuss•Evidenzbasiertes »Chillen«•Der Body Scan•Fallbeispiel: Trotz Schmerz keine Gefühle zeigen•Wie erkennt man Stress?
5. Psyche und Körperabwehr
Achtsamkeit stärkt das Immunsystem•Immunologie der Gefühle
6. Lebenslinien: Von Liebeskummer bis Lachfalten
Pubertät: Kabelsalat im Kopf•Liebeskummer: das gebrochene Herz•Karrieren: »Toxic masculinity« und weibliche Doppelbelastung•Beziehung: wertvoller denn je•Einsamkeit macht krank•Liebe hilft überleben•Zuneigung und Instinkt•Mobbing vergiftet•Fallgeschichte: Überreaktion – auf allen Seiten
7. Gefühle aus dem Darm
Stress und Bakterien•Gemütskrank durch Durchfall•Vom Bauch ins Gehirn
8. Depression: Schwarze Löcher, dunkle Schatten, unklare Symptome
Begleitsymptom oder Ursache?•Selbsttest: Bin ich depressiv?•Unerklärliche Symptome•Hilferuf des Körpers•Naturheilkunde: ein neuer Ansatz in Psychosomatik und Psychiatrie
9. Gefühle regulieren – Heilung anregen
Akupunktur: Nadelstiche gegen die bösen Geister•Fallbeispiel: Der Herzpunkt als Therapiewende•Massage: verklebte Faszien, verbackene Gefühle•Fallbeispiel: Gebärde und Gefühl•Neuraltherapie: rätselhafte Rückführung•Fallbespiel: Der doppelte Schmerz•Ernährung als Stimmungsmacher•Johanniskraut & Co. pflanzliche Arzneimittel•Bewegung bewegt•Kognitive Umstrukturierung•Die Kraft der Meditation•Fallbeispiel: Abstand nehmen von den Schmerzen
10. Sich selbst lieben lernen und gesund bleiben
Resilienz und Salutogenese: was uns gesund hält•Fallbeispiel: Ich habe gelernt, wieder in Würde zu sitzen!•Die Natur als Kraftquelle nutzen: Waldbaden•Sinn finden – wie geht das?•Selbstmitgefühl: Immuntraining für die Seele•Fallbeispiel: Die Wut auf sich selbst
11. Ihr persönliches 8-Wochen-Programm: für bessere seelische Gesundheit und mehr Glücksgefühle
Einführung•Selbsttest: Wo stehe ich?
Woche 1: Mit sich selbst freundlich sein und für sich sorgen
Woche 2: Die Sorgen pausieren – Glück planen!
Woche 3: Chronobiologie: den eigenen Rhythmus finden
Woche 4: Achtsamkeit – dort ankommen, wo du bist
Woche 5: Stressverschärfende Gedanken wahrnehmen und verändern
Woche 6: Achtsamer Umgang mit Gefühlen
Woche 7: Dankbarkeit kultivieren und anderen helfen
Woche 8: Soziale Kontakte pflegen und Liebe zulassen
Ausblick: Und jetzt …?
Danksagung
Literaturverzeichnis
Vorwort: Ich fühle, also bin ich!
Das Denken – Sie haben es vielleicht schon geahnt – wird überschätzt. Zwar steckt in unseren Köpfen eine wichtige Steuerzentrale, und es gibt kaum etwas, was das Gehirn nicht registriert. Aber deshalb gelangt es noch lange nicht in unser Bewusstsein, denn nur etwa ein Prozent seiner Arbeitsleistung erreicht unsere Gedanken. Die meisten der Hunderttausenden Informationen, die täglich auf uns einprasseln, werden abgespeichert und verschwinden im Unbewussten. »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt«, schrieb der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) über dieses versteckte Wissen.
Pascal war Zeitgenosse von René Descartes (1596–1650), der mit seinem Satz »Ich denke, also bin ich« so berühmt wurde wie ein Popstar. Vor rund 400 Jahren war dies eine revolutionäre Aussage, denn Descartes war bereit, eher an Gott zu zweifeln als an seiner eigenen Fähigkeit zur Erkenntnis. Doch heute wissen wir, dass unsere Existenz bereits vor dem Denken anfängt, dass sich unsere Gefühle schlagartig in uns manifestieren, noch bevor wir überhaupt einen klaren Gedanken dazu fassen können. Die Gefühle sind es, die unsere Gedanken formen und unser Verhalten prägen.
In der Medizin machen wir tagtäglich diese Erfahrung: Wir können unseren Patienten noch so sehr ins Gewissen reden, wenn sie zum Beispiel dringend ihre Ernährung umstellen sollten. Es nützt alles nichts, wenn wir nicht erreichen, dass sie das wollen – oder besser gesagt, dass »es« in ihnen das will. Wenn sie keine Hoffnung auf Besserung haben, wenn grünes Gemüse sie an ihre ungeliebte Kindheit erinnert, wenn sie einfach keine Lust haben auf Müsli und wir nichts finden, was ihnen Befriedigung verspricht, dann brauchen wir erst gar keine Lebensstiländerung verordnen, denn sie wird scheitern.
Gefühle beeinflussen aber nicht nur unser Verhalten, sie verändern auch unseren Körper. Wir wissen zwar nicht genau, wie das geht, aber es ist faszinierend zu sehen, wie manche Therapien, die eigentlich auf ein bestimmtes körperliches Symptom abzielen, plötzlich auch Gefühle freisetzen. Die härtesten Fußballspieler, habe ich mir sagen lassen, fangen in der Kabine unter den Händen des Physiotherapeuten an zu weinen – nicht nur, weil die Massage der strapazierten Muskeln schmerzhaft ist, sondern weil sich aufgestaute Aggression, Enttäuschung und Anspannung Bahn brechen. Bei uns in der Klinik erlebe ich immer wieder, wie sich hinter einem Symptom wie etwa einem Bandscheibenvorfall ein traumatisches Erlebnis versteckt, das den Patienten oft gar nicht mehr bewusst ist. »Die Therapeutin hat eigentlich gar nichts gemacht, nur über mein Herz gestrichen«, sagte ein Physiker Anfang 30, ein Patient, der dringend an der Halswirbelsäule operiert werden sollte, weil man wegen eines Bandscheibenvorfalls einen Querschnitt fürchtete. »Plötzlich habe ich zu weinen angefangen. Und danach war der Nackenschmerz für ein paar Stunden völlig verschwunden!«
In diesem Buch soll es aber nicht etwa um Wunderheilungen durch Berührung gehen, sondern um die Rolle der Gefühle, die sie für unsere Gesundheit spielen. Und um die Frage, wie wir mit unseren Emotionen umgehen, sie als Teil unseres Lebens wahrnehmen und vielleicht auch bewusst gestalten können, um gesund zu bleiben oder zu werden.
»Ich fühle, also bin ich!« – dieses Buch führt Sie in den Irrgarten der Nervennetze und Botenstoffkaskaden, die unseren Körper überfluten, und in das Blitzlichtgewitter der Neuronen. Es ist eine Einladung zu einer Expedition in unser Innerstes, in das, was wir als Liebe oder Hass, als Wut oder Sehnsucht wahrnehmen, was uns schmerzt oder entspannt.
Gefühle verändern das Leben – ob es das unglaubliche Glück ist, ein Kind zur Welt zu bringen, die Schmetterlinge im Bauch, wenn man verliebt ist, oder auch die Trauer und Angst beim Verlust eines Partners, die Wut und Ohnmacht, ausgeliefert zu sein, zum Beispiel dem Klimawandel oder dem Coronavirus. Als Netz der Körpererinnerung prägen sich all diese Erfahrungen, die wir machen, in uns ein, und sie entscheiden mit darüber, ob wir uns wohl- und gesund fühlen.
Unbewältigte Gefühle sind es, mit denen viele Menschen ihren Hausarzt aufsuchen – sie verstecken sich hinter körperlichen Symptomen, für die es keine rechte physiologische Erklärung gibt. »Vegetative Überreizung« notiert der Arzt dann in seiner Karteikarte oder »somatoform«. Diese Patienten werden dann zwar behandelt – gegen Kopf- oder Bauchweh, gegen hartnäckige Entzündungen oder ständige Müdigkeit. Aber so richtig helfen die Maßnahmen nicht – weil häufig die emotionale Wurzel der Beschwerden nicht aufgedeckt, sondern vielleicht sogar durch Medikamente überdeckt wird.
Für mich ist das eine der interessantesten Beobachtungen an unserer Essener Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin: dass naturheilkundliche, also ganzheitliche Therapien nicht nur auf körperliche Beschwerden wirken, sondern auch auf den seelischen Zustand unserer Patienten. Nach einer Woche Ruhe, Reiz-Reaktions-Therapien und Meditation sind sie kaum wiederzuerkennen: Ihre Symptome haben sich unter anderem auch dadurch gebessert, dass ihre Emotionen freigelegt und ihnen bewusst wurden. Diesen Menschen könnte ein Therapeut oder eine Therapeutin vermutlich auch helfen – aber die Schwelle, sich in die Hände eines Psychologen oder Psychiaters zu begeben, ist hoch, freie Plätze sind auf Monate nicht zu bekommen, und häufig haben die Betroffenen auch gar nicht das Gefühl, ein psychisches Problem zu haben. Wenn sie eine leichte oder mittelschwere Depression haben, eine typische Begleiterscheinung bei vielen chronischen Erkrankungen, dann sind sie mit naturheilkundlichen Therapien und Lebensstiländerungen in jedem Fall deutlich besser dran als mit Psychopharmaka – denn anders als diese haben sie keine Nebenwirkungen, und sie wirken zwar langsamer, aber dafür nachhaltiger (siehe Seite 109).
Das Ziel dieses Buches ist es also, einen neuen Blick auf die seelische Gesundheit des Menschen zu werfen – nicht auf psychische Erkrankungen an sich, dafür sind andere Experten da, sondern auf das heilende Potenzial für den Körper, das in unseren Gefühlen steckt.
Was können wir tun, um den häufig vergrabenen Emotionen auf die Spur zu kommen, mit ihnen »reif« umzugehen, ohne uns von ihnen überwältigen zu lassen oder in den Spiralen negativer Gedanken gefangen zu bleiben?
Ich lade Sie ein zu einer spannenden Expedition nicht nur in unsere Psyche, sondern in die Welt der Emotionen, die sich in jedem noch so kleinen Teil unseres Körpers widerspiegelt und die uns unser Leben lang begleitet.
Am Anfang waren die Gefühle. Sie erst verwandeln unseren Körper aus biologischen Maschinen in reaktions- und anpassungsfähige Organismen. Wie sehr Gefühle mit dem Menschsein verbunden sind, zeigen Schöpfungsmythen, zum Beispiel der indische. Danach entsteht aus der Meditation des Urgottes Brahma heraus plötzlich eine Morgendämmerung – und er und die zehn Urväter, die er geschaffen hat, beginnen zu fühlen. »Du wirst die dauernde Schöpfung in Gang halten«, befiehlt Brahma dem Gott der Lebenslust, den er als Nächstes erschafft. Die moderne Biologie kann diese existenzielle Rolle der Gefühle nur bestätigen. Lange bevor unser Gehirn ganz ausgebildet ist, geschweige denn, wir denken können, haben wir bereits intensive Empfindungen. Diese Phase beginnt bereits im Mutterleib, ungefähr im Alter von 32 Wochen. Die meiste Zeit seines noch sehr jungen Lebens schläft der Fötus – manchmal fällt er in Tiefschlaf, oft aber weist er auch REM-Phasen auf, wie wir sie auch von Erwachsenen kennen. Dann zucken die Augen hinter den geschlossenen Lidern, und viele Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass er träumt – von den vielen Eindrücken, die er im Bauch seiner Mutter erlebt hat: dem Pulsschlag ihres Herzens, dem Gurgeln ihres Darms oder auch lauten Geräuschen um sie beide herum. Da kann es schon vorkommen, dass er beim Zuschlagen einer Tür erschrickt und reflexhaft in den Bauchraum der Mutter tritt.
In dieser frühen pränatalen Lebensphase entstehen bereits Urgefühle wie Furcht oder Freude, die in der Amygdala verankert sind, dem tief im Gehirn verborgenen »Mandelkern«, der entwicklungsgeschichtlich einer der ältesten Teile unseres Nervenzentrums ist. Er ist zentral für Nahrungsaufnahme, Geschlechtstrieb und das Überleben in der Auseinandersetzung mit Feinden.
Gleichzeitig speichert der Fötus bereits Empfindungen, auch wenn er sich noch nicht bewusst erinnern kann, und lernt dabei. Babys entspannen sich zum Beispiel beim Vorlesen, wenn es dabei um eine ganz bestimmte Geschichte geht, die sie auch schon im Bauch der Mutter gehört haben. Ihr Herzschlag verlangsamt sich dann. Auf fremde Stimmen hingegen, die sie noch nicht kennen, reagieren sie wachsam und weniger entspannt.
Auch Temperament und Verhalten werden bereits in der frühen vorgeburtlichen Phase geprägt. Janet DiPietro von der Johns Hopkins University in Baltimore hat sich mit pränatalen Persönlichkeitsmerkmalen beschäftigt. Das Leben der Mutter, zeigen ihre Studien, spielt dabei eine wichtige Rolle. Je nachdem, wie viel die Mutter schläft, ob sie angesichts der Schwangerschaft Freude oder Angst empfindet, aufgeregt oder gelassen ist, wird der Fötus über den gemeinsamen Blutkreislauf von Hormonen überschwemmt, die mit darüber entscheiden, wie schnell erregbar bzw. stressempfindlich er nach der Geburt sein wird. Diese Art von Einflüssen – Stress und Ernährung, aber auch Umweltgifte – spielt für die Entwicklung des Nervensystems und damit auch der Intelligenz möglicherweise eine wichtigere Rolle als die Genetik.
Ganz am Anfang unseres Bewusstseins steht also das sinnliche Wahrnehmen, wenn wir sehen, hören, tasten oder schmecken. Diese audiovisuellen, taktilen oder auch viszeralen, aus dem eigenen Bauchraum vermittelten Reize – noch im Leib der Mutter – sind die Basis dessen, was wir Menschen als Gefühle empfinden.
In frühen Stufen der Evolution waren diese Zustände dem Organismus, der sie erzeugte, natürlich noch nicht bewusst. Die Wahrnehmungen erfüllten rein regulatorische Funktionen. Sie riefen Handlungen hervor – zum Beispiel, wenn ein Einzeller sich Richtung Licht bewegte oder eine Qualle der Nahrung folgte.
Auch wenn das noch kein Bewusstsein ist, so ermöglichten diese Wahrnehmungen im Nervennetz bereits einfache Formen des Lernens, wie Nobelpreisträger Eric Kandel an der Aplysia, einer Meeresschnecke, zeigen konnte. Je öfter man sie berührt, desto seltener reagiert sie mit einem Rückzugsreflex: Die Schnecke gewöhnt sich an den Reiz, sie »habituiert« sich. Praktisch heißt das, dass weniger Kalzium in die Nervenzelle einströmt und als Folge weniger Botenstoffe ausgeschüttet werden. Ganz ähnlich automatisieren sich auch bei uns Verhaltensweisen oder Handlungen, zum Beispiel beim Fahrradfahren, wenn wir das Gleichgewicht halten. Wichtig ist: Wir lernen durch Spüren, indem Nerven entweder gehemmt oder aktiviert werden.
Nicht zufällig können wir mit dem Verb »fühlen« sowohl den Tasteindruck beschreiben – zum Beispiel von Härte – als auch den emotionalen Zustand, zum Beispiel einer harten Kindheit. Trotzdem ist es wichtig, wenn wir die Rolle von Gefühlen in unserem Leben besser verstehen wollen, immer wieder präzise zu trennen – zwischen der sinnlichen Wahrnehmung der dafür bestimmten Nervenzellen und dem, was unser Gehirn auf einer anderen Ebene daraus macht. Denn das spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir unseren Gefühlshaushalt regulieren können, um unsere Gesundheit zu stärken.
Der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio, der an der University of Southern California forscht, unterscheidet deshalb zwischen »emotions«, den sinnlichen Wahrnehmungen, die im Körper als Nervenmatrix abgespeichert werden (wie bei der Aplysia). Diese bildet eine Art biografische Landkarte. Die andere Ebene sind die »feelings«, die im Gehirn verarbeitet werden – entweder als Erinnerung abgelegt oder in andere Areale des Gehirns verdrängt. Sie sind dann nicht mehr in unserem Bewusstsein, aber keinesfalls verschwunden. Diese »feelings« können, wie wir sehen werden, großen Einfluss auf unser Wohlbefinden, auf Krankheit und Gesundheit haben. Gleichzeitig macht es die enge Verbindung zwischen Körperempfindungen und Gehirn, betonte der französische Psychiater David Servan-Schreiber, leichter, über den Körper auf Gefühle einzuwirken als über die Sprache.
Damásio ist es zu verdanken, dass in den Neuro- und Kognitionswissenschaften der Körper wieder stärker in den Vordergrund gerückt ist, denn er bestreitet, dass das Gehirn allein unsere individuelle Identität ausmacht. Dabei unterzieht er auch das Konzept des biologischen Gleichgewichts, nach dem Organismen streben, einer kritischen Revision. »Homöostase« bezeichnet die koordinierten und weitgehend automatischen Reaktionen, die den Körper in einem stabilen Zustand halten – zum Beispiel durch die Regulation von Temperatur, Sauerstoffgehalt im Blut und pH-Wert. Häufig werden die Prozesse, die zur Homöostase führen, relativ mechanisch beschrieben, ähnlich einem Thermostat, der ein Regelsystem beeinflusst. Damásio verweist jedoch immer wieder auf die enge und dynamische Vernetzung von Hormon-, Immun- und Nervensystem und betont die wichtige Rolle, welche die »emotions« und »feelings« dabei als Einflussfaktoren spielen.
Komplexe Organismen wie der Mensch, führt Damásio aus, leben in komplexen Umwelten, und sie benötigen deshalb umfangreiche Wissensrepertoires, um sich für unterschiedliche Handlungsoptionen entscheiden zu können. Das verleiht ihnen die Fähigkeit, vorauszuplanen, nachteiligen Situationen auszuweichen und aus positiven Umständen Nutzen zu ziehen. Das Streben nach Homöostase, so Damásio, existiert schon bei den einfachsten Lebewesen, aber erst ein komplexeres Nervensystem ermöglicht »feelings«, also ein spezielles Abbild unserer Körpereindrücke und Erfahrungen in unserem Gehirn. Das hilft uns nicht nur, mit (äußeren) Handlungen auf Herausforderungen unserer Umwelt zu reagieren, sondern auch, (innere) Vorstellungen zu aktivieren, die uns helfen können, als Reaktion auf Gefühle Problemlösungen zu entwickeln – uns allerdings auch, wie wir später sehen werden, belasten können.
»Emotions« sind nach außen gerichtet und öffentlich, wir zucken bei einer Berührung sichtbar zusammen, wenn wir erschrecken, oder wir werden rot, wenn wir uns schämen. »Feelings« sind hingegen nach innen gerichtet und sehr persönlich. Sie können unbewusst ablaufen oder aber auch in unser Bewusstsein dringen. Unser Innenleben ist also viel komplizierter als ein bloßes Nervennetz, das auf Reize reagiert.
Zwei anatomische und funktionelle Anordnungen dienen dazu, komplexe Organismen wie uns zu steuern: Da sind die Kerngebiete des Hirnstamms, des Hypothalamus und des basalen Vorderhirns, wo Botenstoffe ausgeschüttet werden, die Aufgaben im Organismus erfüllen. Und es gibt Informationsstrukturen, die diese Regionen fortlaufend mit Signalen aus allen Teilen des Organismus versorgen – Nervennetze als »Verkehrswege« der Informationen und auch die chemischen Signale der Botenstoffe, die über die Blutbahn transportiert werden: Hormone, Glukose, Sauerstoff, Kohlendioxid oder der pH-Wert. Diese Botschaften werden von Nervenzellen »gelesen« und an die Kerngebiete des Gehirns übermittelt. Diese reagieren und schütten ihrerseits weitere Botenstoffe aus. Das bereitet den Körper in Bruchteilen von Sekunden auf Handlungen vor, etwa indem die Gefäße eng gestellt werden oder der Blutdruck erhöht wird.
Erst in diesem Wechselspiel von Reizen und Reaktionen, das immer komplexer wird, kommt es dann zu sinnhaften Mustern, den unterschiedlichen Gefühlen, die letztlich zu Bewusstsein führen. Das sieht vereinfacht dargestellt so aus:
DENKEN
Individuelle Reaktionsmuster werden bewusst, können als Vorstellungen formuliert und als Verhalten ausgeführt werden.
GEFÜHLE (»feelings«)
Sensorische Muster, die Schmerz, Lust und Emotionen signalisieren, werden zu Vorstellungen (zum Beispiel Verlangen, Sehnsucht).
REAKTIONEN (»emotions«)
Komplexe stereotypisierte Reaktionsmuster (zum Beispiel Aggression, Ekel, Scham)
BASALE REGULATION
Einfache biologische Mechanismen (zum Beispiel Stoffwechsel und Reflexe)
(nach Damásio: Ich fühle, also bin ich)
Dieses Netzwerk vieler gegenläufiger Faktoren federt unser Nervensystem bis zu einem gewissen Grad gegen Reize von außen ab. Es schützt unseren Organismus davor, aus dem Ruder zu laufen, wenn sich die Welt um uns gerade mal »heftig, tief greifend und häufig auch unvorhersehbar« verändere, so Damásio. Das Regelwerk aus aktivierenden und beruhigenden Faktoren puffert äußere Einflüsse ab, indem die Reaktionen des Körpers, einander gegenseitig korrigierend, sich in einer relativ schmalen Bandbreite bewegen und, so Damásio, »einen Hafen der Stabilität in einem Meer von Veränderung« garantieren.
Warum ist das so wichtig? Erlebnisse, Denken und Fühlen hinterlassen Spuren in unserem Gehirn, und über diesen Weg verändert sich auch wieder unser Körper bis hin zu seinen Erbanlagen. Nicht nur unser Gehirn, auch unser Körper hat also ein Gedächtnis. Seelische Prozesse senden biologische Signale aus, und diese können selbst das Schicksal künftiger Generationen beeinflussen. Vieles davon haben wir noch nicht verstanden, doch die Wissenschaft der Epigenetik zeigt uns bereits faszinierende Zusammenhänge.
Passiert das denn nun alles nach einem evolutionär vorgegebenen Schema, oder haben wir irgendeinen Einfluss darauf? Können wir unsere Gefühle, wenn sie denn so wichtig sind, auch unter Kontrolle bringen oder zumindest abschwächen oder verstärken?
In der Debatte um den freien Willen, also die Frage, wie eigenständig unser Bewusstsein ist, hatte der amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916–2007) Anfang der 1980er-Jahre die Anhänger des cartesianischen Rationalismus schwer verunsichert. Er hatte festgestellt, dass der Körper 500 Millisekunden früher reagierte, als das Gehirn sich das bewusst machte – in diesem Fall ging es um ein Fingerzucken als Beginn einer Handlung. Das »Bereitschaftspotenzial« der zuständigen Nervenzellen für Handlungen, so die damaligen Messungen, existiere also unabhängig vom Bewusstsein.
Neuere Forschungen zeigen, dass die Frage, was den Impuls für Handlungen gibt, noch viel komplexer ist, denn die gemessenen Hirnwellen, das »Bereitschaftspotenzial«, führten nicht in jedem Fall zur Bewegung. Es ist also beeinflussbar. Zum Beispiel von meditationserfahrenen Versuchspersonen, die durch jahrelanges Training ihrer Achtsamkeit besser als andere Menschen in der Lage sind, innere Vorgänge zu beobachten. Einige von ihnen können den inneren Impuls zum Handeln zuverlässig identifizieren und die Handlung bewusst verzögern. Das allerdings bedeutet noch lange nicht, dass der Willen unseren Körper dominiert. Vielleicht handelt es sich eher um eine gesteigerte Fähigkeit zur Introspektion, also das Wahrnehmen der eigenen Körpersignale – und dann wären auch wieder die »feelings« im Sinne von Damásio die eigentlichen Akteure.
Wie eng biologische Reaktionen und psychische Empfindungen miteinander verknüpft sind, zeigt das Beispiel einer Schokoladentorte. Nehmen wir an, Sie lieben Süßes und auch Schokolade – dann wird eine Region in Ihrem Gehirn aktiviert, die Taktgeber für viele Gefühle ist: das Belohnungssystem. Wichtiger Teil davon ist der Nucleus accumbens, der in den Basalganglien liegt und über sehr viele Rezeptoren für den Botenstoff Dopamin (siehe Seite 69) verfügt. Werden sie durch Nervenimpulse stimuliert, löst das ein intensives Glücksgefühl aus. Das bringt uns dazu, Anstrengungen auf uns zu nehmen (»runner’s high«), aber es macht uns auch anfällig für Sucht, denn Substanzen wie Kokain oder Alkohol kürzen die Befriedigung sozusagen ab, indem sie stärkere Signale aussenden, als zum Beispiel durch Bewegung erzeugt werden.
Der Anblick der Lieblingstorte ruft im limbischen System, das Funktionen wie Emotion, Lernen und Antrieb verknüpft, ein Reaktionsmuster hervor, das die Großhirnrinde als Verlangen wahrnimmt und uns bewusst macht. Erfüllen wir uns dieses Verlangen, dann gelangt Dopamin in den Hippocampus, einen Teil des Gehirns, der für Gedächtnis und Lernen zuständig ist. Wenn die Torte geschmeckt hat, wird ihr Anblick deshalb beim nächsten Mal ein neues Glücksgefühl auslösen, schon bevor sie auf dem Teller liegt.
Brian Knutson, Neurowissenschaftler an der Stanford University, legte Probanden in einen Magnetresonanztomografen, der Aufnahmen vom Gehirn macht. Mitten im Versuch bot er ihnen Pralinés an. Bei denen, die zugriffen, reagierte der Nucleus accumbens bereits, bevor die Teilnehmer am Experiment überhaupt wussten, dass sie »Ja« sagen würden. Vor einer Ablehnung jedoch feuerte ein Teil der für Bewertung zuständigen Großhirnrinde, die Inselrinde – das »Nein, danke« war offensichtlich ein bewusster Akt der Entscheidung, während das Zugreifen instinktgesteuert war.
Wenn ein Mensch über ein Problem nachdenkt, Vor- und Nachteile abwägt oder seine Zukunft plant, dann benutzt er dafür die vordere Stirnhirnrinde, den präfrontalen Cortex. Dieses Gehirnareal ist mit dem limbischen System verschaltet und kann Emotionen unter Kontrolle halten — wenn das gerade vernünftig erscheint.
Wir lassen uns dabei aber relativ leicht von unseren Urinstinkten täuschen. Psychologen nennen das den Framing-Effekt: Wird dieselbe Tatsache unterschiedlich formuliert, entscheiden sich Menschen oft anders. Werden wir bei einem Spiel gewarnt, wir könnten einen möglichen Gewinn von 20 Euro verspielen, gehen wir Risiken ein, um das zu verhindern. Die Amygdala hat uns dazu motiviert. Bekommen wir hingegen 20 Euro geschenkt, bleibt die Amygdala passiv. Das Ergebnis ist letztlich dasselbe, wir haben in jedem Fall ein reines Gewissen – und das Gefühl, uns rational entschieden zu haben.
Ein noch junges Forschungsfeld an der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Biophysik und Psychologie ist die Interozeption. Dahinter verbirgt sich die Wissenschaft vom Spüren der »emotions«, der Signale unseres Körpers. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass es Menschen gibt, die ohne technische Hilfsmittel ihren eigenen Herzschlag sehr gut wahrnehmen können. Andere sind ausgesprochen schlechte »Herzwahrnehmer«.
Die Interozeption ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die unterschiedlichen Gefühlsebenen der »emotions« und »feelings«, also der körperlichen und seelischen Gefühle, in unserer Vorstellung vermischen und uns in die Irre führen können. Wenn ich vor einer Prüfung Herzklopfen habe und nervös bin, kann das daran liegen, dass ich in einer ähnlichen Lage schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht habe und meine Psyche das als Versagensangst abgespeichert hat. Oder schlicht daran, dass ich nicht gefrühstückt habe und der Blutdruck niedrig ist, was mir der Körper signalisiert.
Bei schmerzkranken Kindern hat zum Beispiel Tanja Hechler, Psychologieprofessorin an der Universität Trier, festgestellt, dass diese häufig auf harmlose Körpersignale wie etwa Muskelanspannung mit Angst reagieren. Frühe Stresserfahrungen spielen dabei eine Rolle. Mit Bewegungsübungen (dem gehüpften »Hampelmann«) können sie lernen, das Gefühl der Angst (»feeling«) von dem körperlichen Auslöser (der Wahrnehmung der »emotions«) zu unterscheiden.
Studien zeigen, dass Menschen mit guter Interozeption sich beim Sport seltener überlasten oder, wie die englische Neurowissenschaftlerin Sarah Garfinkel von der University of Sussex an Londoner Aktienhändlern erhoben hat, die Wahrscheinlichkeit von Gewinn oder Verlust besser einschätzen können.
Das bringt uns zum Thema der Intuition, dem viel beschworenen Bauchgefühl, dem in unserem Unterbewusstsein verborgenen Wissen. Der Amerikaner Daniel Kahnemann, der einen Nobelpreis in den Wirtschaftswissenschaften für seine Forschungen über Entscheidungsfindung erhalten hat, beschreibt die Intuition als eine starke und vor allem schnelle Kraft, die VOR dem rationalen Denken einsetzt, aber gleichzeitig fehleranfälliger ist als die langsamere Rationalität des Abwägens.
Gerd Gigerenzer, deutscher Psychologe und ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, misst der Intuition jedoch einen besonderen Wert zu. Es gebe ohnehin keine Entscheidung, die rein rational getroffen würde, und die Intuition, so seine Argumentation, folge heuristischen Prinzipien. Sie sortiere anhand früherer Erfahrungen quasi nach dem Prinzip der Abstimmung mit dem Daumen – rauf oder runter – Unwichtiges aus und erleichtere so eine rationale Entscheidung.
Forscher der Universität Amsterdam kamen zu dem überraschenden Ergebnis, dass simple Entscheidungen am besten rational getroffen würden, komplexe Fragen aber eher durch Intuition. In einem Experiment baten sie die Probanden, sich zwischen vier Neuwagen zu entscheiden anhand von ebenfalls vier Merkmalen wie der Größe des Kofferraums oder des Benzinverbrauchs. Sie hatten vier Minuten Zeit zum Überlegen, aber ein Teil der Gruppe wurde dabei abgelenkt. Erwartungsgemäß traf diese die falschen Entscheidungen.
Ganz anders aber war das Ergebnis, als die Anforderungen hochgeschraubt wurden: Die Teilnehmer sollten nun anhand von zwölf Kriterien ihre Wahl treffen – und hier schnitten diejenigen Probanden deutlich besser ab, die sich intuitiv entschieden. 60 Prozent fanden auf diese Weise den besten Wagen, bei der »Nachdenk«-Gruppe waren es nur 25 Prozent.
Intuition ist natürlich nicht irgendeine Eingebung, sondern eine Art automatisierte Mustererkennung, die auf viele gespeicherte Erfahrungen von Regelmäßigkeiten, Überraschungen und Ähnlichkeiten zurückgreift. Das Gefühl, das dabei erzeugt wird, fließt dann in einen bewussten Abwägungsprozess ein – die meisten Menschen entscheiden sich in einer Kombination aus Logik und Intuition, je nach Fragestellung und ihrem Grad an Erfahrung.
Lässt sich Intuition mit dem sogenannten Bauchgefühl gleichsetzen? Ganz so einfach ist es nicht. Der Darm, der manchmal als »Bauchhirn« bezeichnet wird, ist entwicklungsgeschichtlich älter als unser Gehirn und entstand als das älteste Organ auch schon lange vor Herz und Lunge. Die ersten tierischen Lebewesen kamen ohne Kopfgehirn und nur mit dem Darm als Nervenzentrum aus. Deshalb hat er sich im Laufe der Evolution als hochkomplexes Steuerzentrum entwickelt – beim Menschen enthält er mehrere Hundert Millionen Nervenzellen, das ist mehr, als das Rückenmark aufweist.
In vielen Aspekten lässt sich das »Bauchhirn« durchaus mit dem Gehirn im Kopf vergleichen. Seine Nervenzellen reagieren auf viele Botenstoffe wie den Stressbotenstoff Adrenalin oder das Glückshormon Serotonin. Neurotransmitter helfen den Nervenzellen des Darms, miteinander zu kommunizieren. Denn das Darmhirn funktioniert weitgehend autark. Es analysiert selbst die Qualität der Nahrung, die durch den Verdauungstrakt fließt, und entscheidet, wie viele Verdauungssäfte der Körper produzieren muss. Das Gehirn meldet zwar dem Bauch wichtige Reize, zum Beispiel Stress, der die Darmmuskulatur hemmt. Doch 90 Prozent der Kommunikation laufen in die umgekehrte Richtung – vom Bauch zum Kopf. Das Gehirn wird also vom Darm ständig über die Vorgänge im Körper informiert. Wir nehmen das in der Regel nur wahr, wenn es um Warnsignale geht, zum Beispiel Erreger in der Nahrung, die das Brechzentrum im Gehirn aktivieren.
Das Bauchhirn hat also eine Art eigene Intelligenz, aber dafür, dass es Sitz der Intuition ist, gibt es keine Beweise. Es könnte allerdings sein, so Darmforscher wie der Humanbiologe Michael Schemann von der TU München, dass unbewusste Empfindungen aus dem Bauch eine Art Gefühlsteppich bilden, der unsere Entscheidungen beeinflusst. Die neueste Forschung zeigt jedenfalls immer mehr Beziehungen zwischen den beiden Gehirnen des Menschen, die über den Vagusnerv miteinander verbunden sind. Neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder auch Multiple Sklerose werden nun mit dem Darm in Verbindung gebracht, und es gibt auch Hinweise, dass die Art der Ernährung Einfluss auf unser psychisches Wohlbefinden hat. Worauf Sie dabei achten können, erfahren Sie auf Seite 137.
Eine Forschergruppe der Aalto University in Finnland hat an über 1000 Probanden aus Finnland, Schweden und Taiwan untersucht, wie und vor allem wo sich subjektive Empfindungen im Körper manifestieren – das Ergebnis ist eine Art Landkarte der Gefühle. Angst äußerte sich in dieser Studie zum Beispiel eher als Beklemmung in der Brust, Zuneigung als Wärme im Bauchraum. Je nach Art des Gefühls, aber auch individuell zeigten sich klare Unterschiede in der Anatomie, doch zwischen Europäern wie Asiaten gab es kaum Differenzen, was für ein universelles biologisches Prinzip spricht. Es ermögliche uns zum Beispiel, als soziale Wesen adäquat auf Sympathie oder Feindschaft zu reagieren, so die Forscherin Lauri Nummenmaa.
Diese körperlichen Signale sind bisher unterschätzt worden und sollen künftig bei der Forschung stärker berücksichtigt werden. Der Einfluss von Gefühlen ist bei allen mentalen Prozessen ablesbar, und je stärker die Wahrnehmung ist, desto stärker beeinflusst sie auch die Psyche. Jeder der Versuchsteilnehmer, so Lauri Nummenmaa, habe eine einzigartige Topografie der Körperwahrnehmung aufgewiesen, und viele hätten dabei den Sitz ihres »Selbst« interessanterweise intuitiv in ihrem Torso festgemacht und nicht im Gehirn.
António Damásio geht da noch weiter. Unser Geist, glaubt er, ist dazu bestimmt, dem Körper zu dienen. Das Bewusstsein mache Gefühle überhaupt erst der Erkenntnis zugänglich und verstärke deren Wirkung. »Vielleicht noch bedeutsamer«, schreibt er in Ich fühle, also bin ich, »ist der Umstand, dass Bewusstsein die entscheidende biologische Funktion ist, die uns ermöglicht, Kummer oder Freude zu fühlen, Leid oder Lust, Verlegenheit oder Stolz, Trauer über den Verlust eines Menschen oder die Vergänglichkeit des Lebens.«
Die Thesen dieses Neurowissenschaftlers haben mich immer besonders fasziniert, denn sie erklären für mich, warum das funktioniert, was wir in meiner Klinik tun: Sie geben eine plausible Erklärung, warum naturheilkundliche Therapien, die ganzheitlich den gesamten Körper ansprechen, auf allen Ebenen zu Veränderungen führen.
Gefühle (an dieser Stelle möchte ich zum allgemeinen, wenn auch weniger differenzierten Sprachgebrauch zurückkehren) sind überlebenswichtig. Sie ermöglichen uns, auf Reize der Umwelt zu reagieren, insbesondere solche, die für unser Überleben nützlich oder gefährlich sind. Im Gehirn werden neuronale Netze aktiviert, die Signale an Hirnkerne senden. Hormone wie das Cortisol werden ausgeschüttet, welche das chemische Profil des inneren Milieus beeinflussen. Dadurch verändert sich auch vorübergehend die Arbeitsweise vieler zerebraler Schaltkreise – wir haben den Eindruck, unsere Denkprozesse beschleunigen oder verlangsamen sich.
Dabei scheint es universelle Grundgefühle zu geben, die im Laufe der Evolution tief in uns verankert wurden und in ähnlichen Reaktionsmustern immer wieder ausgelöst werden. Der amerikanische Anthropologe und Psychologe Paul Ekman, ein Experte für nichtverbale Kommunikation, hat sie beschrieben: Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung, Ekel und Verachtung.
Eine zweite, individuell unterschiedliche Gruppe von Emotionen überlagert dieses Spektrum. Sie ist sozial und kulturell geprägt – dazu zählen zum Beispiel Empfindungen wie Verlegenheit, Eifersucht, Schuld oder Stolz. Und schließlich gibt es noch eine Art emotionales Hintergrundrauschen wie Wohlbehagen oder Unbehagen, Ruhe oder Anspannung.
Der Psychologe Paul Ekman identifizierte sieben Grundgefühle, die sich spontan in uns ausdrücken und die nur bedingt durch Denken dämpfen lassen.
Auf alle diese Ebenen, wie wir später (siehe Seite 74ff.) sehen werden, können wir mit etwas Übung Einfluss nehmen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß.
Einer der Ersten, der die Rolle von Gefühlen für die menschliche Entwicklung erforschte, war Charles Darwin (1809–1882) – erst vor wenigen Jahren sind seine Schriften dazu neu entdeckt worden. Besonders interessierte ihn, wie Gefühle sich offenbaren, und er testete das an Gästen in seinem Londoner Wohnhaus: Er legte ihnen fotografische Platten des französischen Neurologen Guillaume Duchenne (1806–1875) vor, der mit elektrischen Impulsen die Gesichtsmuskeln von Menschen stimuliert hatte und das Ergebnis für authentische Gefühlsausdrücke hielt. Darwin zweifelte daran. Deshalb fragte er seine Besucher regelmäßig, welche Emotionen sie in den Bildern erkannten. Diejenigen Bilder, die übereinstimmend gleich bewertet wurden, ordnete Darwin dann universalen Grundgefühlen zu. Sein experimentelles Verfahren war für das Viktorianische Zeitalter kühn und ungewöhnlich.
Darwin stellte unter anderem fest, dass die elementarsten Gefühle auch im Tierreich vorhanden sind. Zum Beispiel verglich er das Hochziehen der Oberlippe als Ausdruck der Aggression bei Menschen mit dem Verhalten des Hundes, der seine Vorderzähne entblößt, um seinem Gegner Furcht einzuflößen. Aber auch kulturell erworbene Emotionen erregten sein Interesse. So räsonierte er in einer »theory of blushing«, dass eine gezielte Aufmerksamkeit auf ein Körperteil dazu führe, dass sich dort die Blutgefäße weiteten, und je öfter das passiere, könne diese Reaktion möglicherweise auch vererbt werden. So wurde Darwins Theorie des Errötens zu einem ersten Ansatz der Epigenetik, der Vererbung von Gefühlen und Verhalten.
Manchmal sind es nur Bruchteile von Sekunden, in denen sich ein Gefühl in Gesicht oder Körperhaltung offenbart, aber wir sind trotz der Kürze der Zeit erstaunlich gut darin, den wahren Gemütszustand unseres Gegenübers wahrzunehmen – zumindest bei unverstellten Emotionen, die sich zwischen einer halben und vier Sekunden lang zeigen. Viel schwerer wird das bereits bei sogenannten Mikroausdrücken, die manchmal nur eine dreißigstel Sekunde anhalten, meistens dann, wenn wir unsere wahren Gefühle (zum Beispiel am Arbeitsplatz) nicht zeigen wollen. Solche minikurzen Gefühlssignale wurden beispielsweise erst dann offensichtlich, als man Versuchspersonen filmte und die Aufnahmen in Slow Motion ablaufen ließ. Denn die Signale sind sehr kurz, so kurz, dass sie nicht einmal in das eigene Bewusstsein dringen. Sehr wohl aber hinterlassen sie Spuren im Gehirn des Gegenübers: Das zeigte ein Experiment von Forschern der niederländischen Universität in Tilburg. Sie blendeten in eine Reihe neutraler Bilder ekelerregende Szenen ein, die so kurz waren, dass sie nicht ins Bewusstsein drangen. Danach lehnte diese Gruppe einen Test mit Lebensmitteln ab, ohne die Gründe dafür nennen zu können. Auf ähnliche Weise registrieren wir minimalste Äußerungen unseres Gegenübers und bilden uns innerhalb von Sekunden ein Urteil, obwohl wir gerade noch darüber nachzudenken glauben, wie wir den Menschen vor uns eigentlich finden.