Endlich schmerzfrei und wieder gut leben - Gustav, Prof. Dr. med. Dobos - E-Book

Endlich schmerzfrei und wieder gut leben E-Book

Gustav, Prof. Dr. med. Dobos

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Beschreibung

Der Pionier der wissenschaftlich basierten Naturheilkunde Schmerz ist nach wie vor eine Herausforderung der Medizin: 23 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an chronischen Schmerzen. Häufige Erkrankungen wie Rheuma, Arthrose, entzündliche Darmerkrankungen und Migräne sind mit Schmerzen verbunden. Welcher Ausweg bleibt den Betroffenen, wenn immer höhere Medikamenten-Dosierungen keine Linderung mehr verschaffen – und selbst zu Gesundheitsrisiken werden? Der Weg heißt: Selbst aktiv werden! Professor Dobos vermittelt Schmerzpatienten in seiner Klinik erprobte Strategien, um die Symptome zu lindern – und damit das Leben wieder lebenswerter zu gestalten.

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Prof. Dr. med. Gustav Dobos

Endlichschmerzfreiund wieder gutleben

Die eigenen Heilkräfte stärkenmit moderner Naturheilkunde

Unter Mitarbeitvon Dr. Petra Thorbrietz

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Die Informationen und Ratschläge in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt von Autor und Verlag erarbeitet und geprüft. Alle Leserinnen und Leser sind jedoch aufgefordert, selbst zu entscheiden, ob und inwieweit sie die Anregungen in diesem Buch umsetzen wollen. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

eBook-Ausgabe 2018

© 2018 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: FAVORITBUERO, München

Autorenfoto: Claudia Kempf

Illustrationen auf S. 13, 48, 67, 141, 150, 184, 200, 262, 269, 276, 281, 286, 287, 289 und 293: Wolfgang Pfau, Baldham

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub: 978-3-95803-227-9

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Inhalt

Vorwort: Warum Sie Schmerzen nicht hilflos ausgeliefert sind

1. Schmerzhafte Erkenntnisse: Tabletten sind langfristig keine Lösung

Pflichtbewusstsein bis zum Erbrechen · Die Sprache der Naturheilkunde lernen · Opioide: Süchtig durch Schmerzmittel · Der Weg in die Abhängigkeit – auch bei uns? · Schmerzmittel – Fluch und Segen · »Das Leben ist zu schön für Schmerzen« · Aspirin – der Klassiker · Ibuprofen – der Marktführer · Antirheumamittel und ihre Risiken · Schlimmer als Alkohol

2. So viele Medikamente wie nötig, so wenige wie möglich

Schock mit Happy End · Hochleistungsmedizin plus Naturheilkunde · Fallbeispiel: Rheuma und chronisch entzündliche Darmkrankheit · Der Patient kann mehr, als ihm die Medizin zutraut · Fallbeispiel: Steißbeinschmerz · Die Perspektive der Gesundheit

3. Schmerz – das große Rätsel

Leuchtfeuer im Gehirn · Verschiedene Schmerzen und ihre Ursachen · Das Ökosystem des Schmerzes · Leiden wird gelernt · Die Rolle des Rituals · Glaube, Liebe, Hoffnung · Über sieben Brücken musst du gehn …

4. Das Netz der Körpererinnerung

Ein Stich in die Vergangenheit · Fallbeispiel: Neuraltherapie bei Fibromyalgie · Die Trauer unter dem Schmerz · Fallbeispiel: Multiple Sklerose und Ganzkörperschmerz · Die Erinnerung der Zellen · Ich fühle, also bin ich · Narben im Gefühlsleben · Wissenschaft weiß nicht immer · Berührung als Therapie

5. Wenn der Körper überreagiert

Chronisches Dauerfeuer · Schmerz ist nicht gleich Schmerz · Das »appe« Bein · Fallbeispiel: Phantomschmerz · Die Gummihandillusion · »Small fibres, big pain« · Naturheilkunde gegen Polyneuropathie · »Ich wollte mir das Leben nehmen« · Fallbeispiel: Neuropathie nach Krebstherapie · Tut weh, aber was? · Rühr mich nicht an

6. Bio-Benefits: Die Natur als Assistenzarzt

Blutegel gegen Kniearthrose · Tausche Blut gegen Schmerzstiller · Liebevolles Egelkraulen · Medizinischer Vampirismus · Bioprinzipien statt synthetischer Chemie

7. Stich für Stich: Wie ist das mit der Akupunktur?

TCM – ein Marketingkonzept · Mein Studium in Peking · Nadeln von der Stange · Chinesischer Beifuß und Löwenschwanz aus Bayern · Ökosystem statt pharmakologischer Monokultur · Akupunktur – eine Scheinbehandlung? · Über den Daumen gepeilt · China »begradigt« seine Medizin · Was wirkt an der Akupunktur? · Punkt oder nicht Punkt? · Akupunktur als Kassenleistung · Nadeln bei Krebs · Fazit: Und sie hilft doch

8. Berührung – ein Lebenselixier

Einsamkeit schmerzt · Liebe lernen durch Augenkontakt · Handhalten hilft · Kontaktverlust in der Medizin · Behandlung als antikes Drama · Der Patient als Puzzle · Das Streichel-Neuron · Körperkontakt – wichtiger als Nahrung · Spüren als Therapie

9. Be-Handlung: Mit den Händen heilen

Was kann Massage? · Revolution in der Anatomie: Faszien · Ein neues Körperbild: Tensegrity · Stress tut weh · Das Geheimnis Bindegewebe · DIY: Massagen zum Selbermachen

10. In Bewegung bleiben

Sitzen – das neue Rauchen · Hula-Hoop in den Pausen · Das Allheilmittel Yoga · Qigong: Stehen wie ein Baum, fliegen wie ein Kranich · Kampfkunst gegen den Schmerz

11. Selbstfürsorge: Sich pflegen bringt Segen

Mitfühlen mit sich selbst · Pflege wird gesellschaftlich abgewertet · Selbsthilfe für zu Hause · Wirsing: Mindestens so gut wie Diclofenac · Integrative Onkologie: Naturheilkunde gegen Nebenwirkungen · Quark: Aufstriche für Gelenke · Heilpflanzen – ein schwieriges Kapitel · Wechselhaft: Die Wirkprinzipien der Natur · Alternativen: Pflanzliche Schmerzmittel · Wohltuende Aromen · Zu Hause kneippen · Selbsthilfe bei Schmerzen

12. Essen und Fasten gegen Schmerz

Die Crux mit dem Fleisch · Arachidonsäure und Arthritis · Milch oder nicht Milch? · Sauer macht nicht lustig · Ist vegan die Antwort? · Mediterran und vollwertig · Alles Omega oder was? · Die Rolle der Darmbakterien · Kann man Schmerz transplantieren? · Gereizter Darm · Flammen im Bauch: Morbus Crohn und Colitis ulcerosa · Was essen, wenn der Darm rebelliert? · Kopfschmerzen durch Paprika-Chips · »Lasst Nahrung Medizin sein« · Fasten: Boxenstopp für den Organismus · Wenn Sie fasten wollen …

13. Die Kraft der Gedanken: Mind-Body-Medizin

Die Last auf den Schultern · Fallbeispiel: Rückenschmerz und Psyche · Was drückt denn da? · Aus Krisen lernen · Erkenntnisse der Stressforschung · Salutogenese: Was uns gesund macht · Fallbeispiel: Rheuma aus salutogenetischer Sicht · Suche nach dem wunden Punkt · Fallbeispiel: Ganzkörperschmerz und Gefühle · Alte Weisheiten, neuer Sinn · Pioniere einer anderen Medizin · Selbsterkenntnis und Selbstfürsorge· Fallbeispiel: Migräne und Meditation · Nicht Defizite, sondern Potenziale · Die Negativspirale durchbrechen · Fallbeispiel: Migräne und Fasten · Studien zeigen die Wirkung der Anti-Stress-Medizin · Meditation verändert Gehirn und Immunsystem · Was kann die Mind-Body-Medizin? · Sich wieder kennen- und lieben lernen

14. Die Schmerztherapie der Zukunft

Mit Naturheilkunde zu mehr Resilienz

Auf einen Blick: Was tun bei welchen Schmerzen?

Kopfschmerzen · Migräne · Rückenschmerzen · Arthrose · Arthritis · Fibromyalgie · Reizdarm

Danksagung

Ausgewählte Literatur

VorwortWarum Sie Schmerzen nicht hilflos ausgeliefert sind

»Damit werden Sie wohl leben müssen …« Falls Sie unter anhaltenden oder wiederkehrenden Schmerzen leiden, ist das vermutlich die häufigste Aussage, die Sie von Ihren Ärzten zu hören bekommen. Sätze wie dieser sind aber nicht nur eine Bankrotterklärung der Medizin. Sie erhöhen darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass sich Ihre Beschwerden nicht bessern werden. Aus der Placeboforschung nämlich wissen wir: Hierbei handelt es sich um eine sich selbst erfüllende negative Prophezeiung.

Die Botschaft dieses Buches ist eine ganz andere: Sie können immer etwas an Ihren Schmerzen verändern – und mit großer Wahrscheinlichkeit zum Positiven! Vergessen Sie Vokabeln wie »Abnutzungserscheinung« oder »altersbedingt«, sie reichen nicht an den Kern der Symptome heran. Denn Schmerz spielt sich einerseits zu großen Teilen im Kopf ab, und andererseits gibt es sehr vieles in Ihrem Alltag, mit dem Sie dem Schmerz Einhalt gebieten können: von Ihrer Ernährung über entspannende Wickel oder gezielte Reize wie Kneippen in der Badewanne bis hin zu Meditation. Die Naturheilkunde hat ein riesiges Reservoir an Strategien, die Selbstregulation des Körpers zu aktivieren.

Doch leider wissen die wenigsten Ärzte, wie wichtig es ist, dass sie Hoffnung vermitteln statt Resignation. Sie ahnen nicht, welche Selbstheilungskräfte sie entfesseln können, wenn sie ihren Patienten Wege zeigen, etwas an ihrem Leben zu ändern. Wenn wir Ärzte die Ressourcen unserer Patienten fördern, anstatt uns nur auf ihre Defizite zu konzentrieren, dann werden Dinge möglich, die in keinem Lehrbuch stehen.

Schmerzpatienten sind nämlich nicht auf ewig verdammt zu leiden. Sie können selbst sehr viel dafür tun, dass es ihnen besser geht. Diese Chance aber übersieht die Medizin aus vielerlei Gründen: Da ist der Status des Arztes, der auf seinem Expertenwissen beharrt. Die Forschung, die fast ausschließlich von der Medikamentenindustrie finanziert wird. Das Abrechnungssystem, das für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient keinen Raum lässt. Und schließlich ein Menschenbild, das sich bei allem Engagement für den anderen doch nur auf seine negativen, pathologischen Seiten konzentriert – auf Reparatur anstatt auf Entwicklung.

Kein Wunder also, dass Menschen mit anhaltenden Schmerzen im Schnitt sechs oder sieben (!) Jahre lang von Arzt zu Arzt pilgern, bis sie wenigstens einen qualifizierten Schmerztherapeuten finden, der nicht einfach nur Medikamente rezeptiert oder ein paar Sitzungen beim Physiotherapeuten. Von den 17 Prozent Deutschen über 18 Jahren, die unter chronischen Schmerzen leiden, erfahren nur zwei Prozent eine spezialisierte Schmerzversorgung, so eine Studie von 2006. Die Hälfte der fast 4000 Befragten fühlte sich unzureichend behandelt. Die Zahlen haben sich seither sicher nicht verbessert, sondern sich – angesichts der demografischen Entwicklung – eher noch verschlechtert.

Dieses Buch beschreibt, wie eine andere Medizin aussehen kann – eine, die ganzheitlich an das Phänomen Schmerz herangeht. Denn kaum eine Diagnose spiegelt so viele verschiedene Seiten des Menschseins wider wie der Schmerz. Er ist viel mehr als nur Zeichen einer Verletzung oder Verschleißerscheinung, er hat biografische sowie soziale, seelische und kulturelle Anteile – und auf all diesen Ebenen kann und muss man ansetzen, um den Schmerz zu verändern, abzuschwächen, zu neutralisieren, vielleicht sogar verschwinden zu lassen.

Diese ganzheitliche Sicht ist die Domäne der Naturheilkunde. Das Erfahrungswissen vieler Generationen wird seit rund 30 Jahren wissenschaftlich erforscht und durch moderne Erkenntnisse ergänzt, zum Beispiel aus der Hirn- und der Genforschung. Diese naturheilkundliche Medizin versteht sich explizit nicht als »Alternative« zur sogenannten Schulmedizin, sondern als Teil davon. Sie kann die (akutmedizinische) Hochleistungsmedizin vor allem da sinnvoll ergänzen, wo diese sich schwertut: bei chronischen Erkrankungen. Also zum Beispiel bei Schmerz infolge von Arthrose und Arthritis, Kopfschmerzen und Migräne, Rheuma und Fibromyalgie oder auch Reizdarm und entzündlichen Darmerkrankungen.

Als ich vor rund 20 Jahren in Deutschland begann, die versprengten naturheilkundlichen Disziplinen gemeinsam mit einigen engagierten und leidenschaftlichen Mitstreitern unter einen wissenschaftlichen »Hut« zu bringen und in die Hochschulmedizin zu integrieren, waren wir Außenseiter in der Medizin. Etwa die Hälfte der medizinischen Fakultät war strikt dagegen, dass an der Universität Duisburg-Essen der Stiftungslehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin geschaffen werden sollte, den ich heute innehabe. Den Beweis, dass die Methoden der Naturheilkunde wirken, haben wir inzwischen mit vielen, auch hochrangig publizierten Studien geliefert. Immer mehr unserer Therapien werden Bestandteil offizieller Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften, und selbst Universitätskliniken übernehmen sie. Bei den Patienten ist die Naturheilkunde immer schon sehr beliebt gewesen – in der Schulmedizin selbst hat sie leider trotz ihres wissenschaftlichen Fundaments immer noch viele Gegner.

Häufigste Schmerzdiagnosen in Deutschland (2014) nach Geschlecht (Angaben in Prozent)

Vielleicht liegt das daran, dass unsere Erfolge einen echten Paradigmenwechsel in der Medizin einläuten. Wir setzen sehr konsequent auf den Patienten und das Prinzip der Selbstregulation und sehen unsere Aufgabe als Ärzte deshalb weiter gefasst, als nur auf ein Organ oder Gelenk bezogen. Wir betrachten den ganzen Menschen und beziehen sehr viele Faktoren aus seinem Alltag in die Therapie mit ein. In meiner Klinik für Naturheilkunde in Essen haben wir auf diese Weise Tausende von Schmerzpatienten erfolgreich behandelt. Das Wichtigste dabei sind nicht die Akupunkturnadeln, die Heilkräuter oder die feuchtkalten Wickel. Das Wichtigste sind die Patienten selbst – also auch Sie. Sie allein können mithilfe der Naturheilkunde den Hebel finden und umlegen, damit der Schmerz nicht länger Ihren Alltag beherrscht, sondern Sie wieder gut leben können.

Dabei möchte ich Ihnen mit diesem Buch helfen.

Schmerz hat viele Ursachen:

1. Schmerzhafte Erkenntnisse: Tabletten sind langfristig keine Lösung

Etwa die Hälfte der jährlich rund 1300 Patienten in meiner Klinik sind Menschen mit chronischen Schmerzen. Bei ihnen helfen keine Tabletten oder Zäpfchen mehr, im Gegenteil. Diejenigen, die zum Beispiel schon lange regelmäßig Mittel gegen Kopfschmerz oder auch Migräne einnehmen, bekommen davon neue Kopfschmerzen. Man nennt das in der Fachsprache »medikamenteninduziert«. Geschätzte 1,6 Millionen Menschen in Deutschland, schreibt die ZEIT, entwickeln – zusätzlich zu ihren bestehenden Beschwerden – weitere Symptome, die allein von der Einnahme von Tabletten herrühren. Wir haben nicht selten Patienten, die an 15 oder mehr Tagen im Monat Migräne haben. Der bei Weitem häufigste Grund ist das zu häufige Einnehmen von Schmerzmitteln. Im Prinzip scheint jede Art von Analgetika solche Symptome auslösen zu können.

Der einzige Weg für die Betroffenen, der Schmerzspirale zu entkommen, ist eine längere Medikamentenpause. Schon der Gedanke daran fällt nicht leicht, wenn der einzige Ausweg aus schier unerträglichen Schmerzen bisher der Griff zur Tablettenpackung zu sein schien. Manchmal gelingt eine Entwöhnung, die durchaus mit einem Drogenentzug vergleichbar ist, nur mit ärztlicher Begleitung und im Schutz eines Krankenhauses, denn zunächst einmal schlägt der Schmerz mit voller Wucht zu. Aber denjenigen, die diesen Weg gehen, geht es hinterher deutlich besser.

Schmerzkrankheiten nehmen zu. Prävalenz von akuten und chronischen Schmerz-Diagnosen in Deutschland in den Jahren von 2005 bis 2015 (Betroffene je 100.000 Diagnosen)

Kopfschmerz durch Analgetika erkennt man daran, dass er

•an mindestens 15 Tagen im Monat (seit mehr als einem Vierteljahr) auftritt,

•beidseitig und eher drückend ist.

Pflichtbewusstsein bis zum Erbrechen

Es ist Hochsommer in Essen. Im großen Veranstaltungssaal des Hotel Franz sind auf der Bühne fünf Sessel aufgestellt, dem Publikum zugewandt. Drei meiner Patientinnen und ein männlicher Migränekranker haben sich bereit erklärt, den rund 100 Teilnehmern der jährlichen Mind-Body Medicine Summer School ihre Geschichte zu erzählen. Als sie vor rund zwei Wochen in die Klinik für Naturheilkunde überwiesen wurden, waren sie am Ende, innerlich wie äußerlich, nach einer langen Odyssee von einem Arzt zum anderen, vom Hausarzt zum Neurologen, zum Orthopäden, zum Psychologen oder Psychiater. Die Erfahrungen in diesem Ärztekarussell waren frustrierend – auch für meine Medizinerkollegen: Es ist nicht leicht auszuhalten, wenn man Menschen nicht so helfen kann, wie man es gerne möchte. Schmerzpatienten sind außerdem oft schwierig, egal, ob sie die Zähne zusammenbeißen oder jammern und klagen. »Take the worst« – »Nehmen Sie die härtesten Fälle«, hatte einer unserer Mentoren, der prominente Harvard-Arzt Herbert Benson, mir bei der Eröffnung unserer Klinik 1999 empfohlen, als es darum ging zu beweisen, dass Naturheilkunde mehr kann, als nur »sanft« sein.

Neben Kopfschmerz und Migräne behandeln wir die verschiedensten Schmerzsyndrome – Bauchkrämpfe bei Reizdarm und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Gelenkschmerzen bei Rheuma und Arthrose, Rücken- und Nackenschmerzen durch Verspannung, Überlastung und Abnutzung, auch den rätselhaften Ganzkörperschmerz, die Fibromyalgie, die Lady Gaga immer wieder zum Abbruch ihrer Tourneen zwingt. Ohne dass ich dies systematisch begründen könnte, sammelt man als Arzt mit der Zeit Erfahrung, welcher Typ Patient zu welchem Schmerz passt. Manchmal ist schon beim Eintreten in ein Krankenzimmer klar, was genau diese Person zu uns in die Klinik gebracht hat, noch bevor ich auf die Kurve geblickt habe. Meinen Kollegen geht es ganz ähnlich.

Zum Beispiel Migränepatientinnen und -patienten. Das sind in aller Regel ehrgeizige und disziplinierte Menschen, die ihren eigenen hohen Ansprüchen selten gerecht zu werden glauben. Sie sind Arbeitnehmer, wie man sie sich nur wünschen kann, meinte einer meiner Oberärzte einmal sarkastisch. Denn ihre Schmerzattacken stecken sie so lange weg, bis ihr Körper diese gleich auf das Wochenende schiebt. Dann aber, in den seltenen Momenten der Ruhe, wo sie sich eigentlich entspannen könnten, bricht der Schmerz durch. Jetzt rächt sich, dass die Betroffenen nicht schon vorher auf die Signale ihres Körpers gehört haben. »Wenn wir eine wichtige Sitzung hatten, habe ich vorher was eingenommen, zur Sicherheit«, erzählt auf der Bühne im Hotel Franz eine Patientin Ende 40, die in der Verwaltung einer Forschungseinrichtung arbeitet. »Und wenn die Migräne trotzdem kam, bin ich rausgegangen, habe mich auf der Toilette übergeben und bin danach gleich wieder zurück in den Konferenzsaal.«

Was die Patientin denn jetzt ändern will, fragen die Teilnehmer der Summer School, Ärzte und Medizinstudenten, Psychologen und Therapeuten aus akademischen Gesundheitsberufen. Die Frau schildert, wie sie an unserer Klinik zuallererst auf ungewohnte Ruhe traf, was für sie zunächst keine positive Erfahrung war: Wenn Körper und Nervensystem immer noch auf Hamsterrad »programmiert« sind, können Stille und Untätigkeit auf ihre ganz eigene Weise schmerzen. Plötzlich wird das ganze Ausmaß der eigenen Überlastung spürbar: »Als mich ein Therapeut gefragt hat, wie es mir heute geht, bin ich sofort in Tränen ausgebrochen – ich konnte mich einfach nicht mehr zusammenreißen!« Doch der kleine Zusammenbruch, weiß sie heute, war schon der erste Schritt zur Besserung. Loszulassen erlaubt dem Körper, sich zu zeigen – denn Beschwerden sind letztlich das, was das Wort sagt: Der Organismus protestiert gegen die Art, wie er behandelt wird.

Meine Klinik für Naturheilkunde in Essen

1999 wird an den Kliniken Essen-Mitte der Huyssens-Stiftung die Klinik für Naturheilkunde eröffnet, als Pilotprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen, zunächst mit 16 Betten. Zielgruppe der internistischen Abteilung sind schwere chronische Erkrankungen. Fünf Jahre lang wird die Klinik für Naturheilkunde streng evaluiert (auf Nutzen und Wirkung überprüft). 2004 wird sie Lehrklinik des neu etablierten Stiftungslehrstuhls für Naturheilkunde und Integrative Medizin (Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung). Das ein- bis zweiwöchige kassenfinanzierte Therapieprogramm umfasst konventionelle medizinische Diagnostik und Therapie sowie naturheilkundliche und Mind-Body-Medizin. Es gibt die Möglichkeit, nach dem Klinikaufenthalt noch eine zehnwöchige Tagesklinik (teilstationär, ein Tag pro Woche) zu besuchen. Ziel ist die Stabilisierung von gesundheitsförderlichen Lebensstiländerungen.

Heute hat die Klinik 54 Betten sowie eine Kooperation mit der Klinik für Senologie/Interdisziplinäres Brustzentrum sowie der Klinik für Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie und der Klinik für Internistische Onkologie/Hämatologie zur naturheilkundlichen Mitbehandlung onkologischer Patienten. Weitere Kooperationen sind im Entstehen. Seit 2013 gibt es – ambulant wie stationär – das Zentrum für Integrative Gastroenterologie samt angeschlossenem Lehrstuhl (Prof. Dr. med. Jost Langhorst). Eine Ambulanz für Naturheilkunde, Traditionelle Chinesische und Traditionelle Indische Medizin (Erich Rothenfußer Stiftung) ist privatärztlich. Lehrstuhl und Klinik haben eine eigene Forschungsabteilung. Sie soll die überwiegend erfahrungsbasierte Naturheilkunde und andere traditionelle Heilsysteme wissenschaftlich untermauern, um sie in die evidenzbasierte Medizin zu integrieren. Eine eigene Arbeitsgruppe erarbeitet die Grundlagen (Studien, Metaanalysen) dafür, dass naturheilkundliche Therapieverfahren auch in den Leitlinien berücksichtigt werden, die eine wichtige Empfehlung für das Vorgehen bei bestimmten Erkrankungen sind.

Die Klinik für Naturheilkunde in Essen ist Modell für verschiedene ähnliche Behandlungsmodelle, unter anderem das Immanuel-Krankenhaus in Berlin (Lehrstuhl für Klinische Naturheilkunde der Charité), das UniversitätsSpital Zürich (Lehrstuhl für komplementäre und integrative Medizin) und das Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart.

Die Sprache der Naturheilkunde lernen

Manche Menschen verwechseln eine naturheilkundliche Behandlung mit Wellness. Sie denken, jetzt bräuchten sie sich nur noch zurückzulehnen und bekämen Schlammpackungen und wohlriechende Öle, und dann würde sicher alles anders werden. Doch das ist ein Irrtum. Sich für Naturheilkunde zu entscheiden, ist, wie eine fremde Sprache zu erlernen – man muss sich nicht nur in einen neuen Kosmos einfühlen, es ist auch richtig Arbeit. Unter anderem müssen unsere Patienten lernen, sich selbst wieder zu spüren.

Dazu müssen sie in einem ersten Schritt von ihren Arzneimitteln entwöhnt werden, soweit das eben möglich ist. Denn Medikamente beeinflussen die natürliche Reaktionsfähigkeit des Körpers, sie lähmen sie oder decken sie zu. Um diese körpereigenen Regulationsmechanismen wieder zu »kitzeln«, setzt die Naturheilkunde Sinnesreize ein – heiße Packungen oder kalte Güsse, feuchtkalte oder warme Wickel, reflektorische Massagen und – aus der Chinesischen Medizin – die Akupunktur. Yoga, Qigong und Tai-Chi tragen dazu bei, dass die Patienten auch äußerlich wieder in Bewegung kommen.

Nach zwei Wochen Klinik weiß die Migränepatientin auf der Bühne des Hotel Franz wieder, wie es sich anfühlt, wenn ihr Nervensystem zu rebellieren beginnt – gegen zu schnelles Tempo, gegen Druck von außen, aber auch gegen die innere Stimme, die bisher immer noch mehr von ihr gefordert hat. Die Migräne, zuvor an drei bis vier Tagen der Woche aufgetreten, hat sich mehr als vier Monate nach dem Klinikaufenthalt noch nicht wieder gezeigt. Denn bei den ersten Signalen, dann, wenn ihr Nacken sich wieder einmal verhärtet und sich Druck unter der Schädeldecke aufbaut, trinkt die Patientin erst mal einen halben Liter Wasser oder mehr und geht an die frische Luft, mindestens 30 Minuten lang. Sie legt nun in der Arbeit regelmäßige Pausen mit kleinen Entspannungsübungen ein und verzichtet unter Stress auf Kaffee, weil der sie nur noch mehr aufputscht. Und falls das alles nichts hilft, will sie sich auch nach Hause abmelden – das Zugeständnis, dass der Körper sein Recht fordert, ist ein ganz wichtiger Lernschritt.

Wenn diese Patientin ihrer Migräne trotz aller Vorbeugung nicht ausweichen kann, denn Stresssituationen lassen sich einfach nicht immer vermeiden, dann weiß sie aus der Erfahrung im Krankenhaus, wie sie Stufe für Stufe der Eskalation entgegenarbeiten kann: Erst legt sie sich hin, verteilt Minzöl auf den Schläfen, legt sich ein Nadelkissen unter den steifen Nacken und sprayt sich vielleicht noch eine Dosis Lidocain (verschreibungspflichtig) in die Nase. Wenn die Symptome trotzdem nicht besser werden, kann sie immer noch pflanzliche Schmerzmittel einnehmen (zum Beispiel Natura Vitalis Weidenrinde – aus Weidenrinde wurde ursprünglich das Aspirin entwickelt). Diese sind zwar schwächer, haben aber auch entsprechend weniger unerwünschte Nebenwirkungen. (Das Stufenschema der Selbsthilfe bei Kopfschmerz und Migräne finden Sie auf Seite 183.)

Opioide: Süchtig durch Schmerzmittel

In den USA sinkt die Lebenserwartung seit 2016, und der Grund dafür sind Schmerzmittel. 2,4 Millionen Menschen sind dort nämlich, so schätzen die US-Gesundheitsbehörden, abhängig davon. Wegen dieser »opioid crisis« wurde 2017 sogar der nationale Notstand ausgerufen. Denn die »painkiller« sind dort längst zur treibenden Kraft der Drogenszene geworden: Bei zwei Dritteln der rund 65 000 Menschen, die in den USA jährlich durch Drogen sterben, sind Schmerzmittel die Ursache.

Diese katastrophale Entwicklung hat weniger als 20 Jahre gedauert, und sie ist durch die Pharmaindustrie befeuert worden. 1996 brachte das Pharmaunternehmen Purdue Oxycodon auf den Markt, ein starkes Schmerzmittel, eigentlich für akute Notsituationen oder die palliative Versorgung von Sterbenskranken gedacht und dort auch ein Segen für die Betroffenen. Aufgrund der verharmlosenden Werbung des Herstellers wurde das Mittel bald auch schon bei vorübergehenden Schmerzsyndromen verschrieben, einem gequälten Ischiasnerv zum Beispiel. Das konnte eine Studie nachweisen: Von Patienten mit Ischiasbeschwerden, die von ihren Medizinern Oxycodon forderten, bekam jeder Fünfte das Medikament auch verschrieben. Von denjenigen, die einfach nur etwas gegen Schmerzen haben wollten, erhielt es hingegen nur jeder Hundertste.

Auch die Wissenschaft ließ sich täuschen. 1980 war in einem Leserbrief an das renommierte New England Journal of Medicine behauptet worden, nur bei weniger als einem Prozent von über 11 000 stationär mit Opioiden behandelten Patienten sei es in der Folge zu einer Abhängigkeit gekommen. Obwohl die Autoren, zwei Ärzte vom Boston University Medical Center, diese Behauptung nicht mit Beweisen untermauert hatten und der nur einen Absatz lange Leserbrief auch nicht, wie es bei einer Studie der Fall gewesen wäre, von Gutachtern geprüft wurde, wurde er mehr als 600-mal unkritisch in der wissenschaftlichen Literatur zitiert. In Interviews nannten Experten die ersten Symptome einer Abhängigkeit »Pseudo-Sucht«. Erst im Jahr 2007 bekannten sich der Hersteller und drei der leitenden Angestellten für schuldig, die Öffentlichkeit wie auch Kontrollbehörden und Ärzte falsch informiert zu haben.

Während Heroin, Kokain, Crack und auch Haschisch also kriminalisiert wurden und werden, dürfen Opioide in den USA bis heute ganz legal verschrieben und beworben werden (in Deutschland ist Reklame für rezeptpflichtige Medikamente nicht ohne Grund verboten). »Das Medikament mit hohem Suchtpotenzial war eine Art Luxus-Morphium, wurde aber verteilt wie Aspirin«, kritisierte der britische Guardian den Umgang mit Oxycodon, der wegen des retardierenden Effekts des Mittels besonders leicht zur Sucht führte, vor allem, wenn man es nicht vorschriftsmäßig schluckte, sondern schnupfte.

Jetzt, wo man versucht, regulierend einzugreifen, ist es in vielen Fällen zu spät: Die durch Schmerzmittel süchtig Gewordenen weichen nun auf Heroin aus oder auf Schwarzmarktversionen des Opioids Fentanyl. Bei drei von vier Heroinabhängigen, die nach dem Jahr 2000 süchtig wurden, begann dies mit ihnen verordneten Opioiden. Ein solches Vorgehen hat die Sucht aus den Elendsvierteln und Luxusbars auch in den ganz normalen Mittelstand gespült und bis dahin unbescholtene Bürger zu Fixern gemacht. Der Bürgermeister von New York, Bill de Blasio, hat deshalb mehrere Hersteller von Opioiden im Frühjahr 2018 auf eine halbe Milliarde Dollar verklagt, 60 weitere Anklagen sind anhängig.

Fentanyl, ein synthetisches Opioid, ist um ein Vielfaches stärker als Heroin. Der Sänger Prince ist an einer Überdosis gestorben, bei Michael Jackson war dieses Mittel wohl mit verantwortlich für seinen Tod, und auch der Rocker Tom Petty, den starke Schmerzen an einer gebrochenen Hüfte quälten, hat eine tödliche Dosis davon eingenommen. Seine Familie gab im Januar 2018 den Obduktionsbericht mit folgender Erklärung frei: »Wir hoffen, dass dieser Bericht Anstoß gibt für eine weitere Auseinandersetzung mit der Opioid-Krise … Vielleicht können wir Leben damit retten.«

Der Weg in die Abhängigkeit – auch bei uns?

Bei uns sei so etwas nicht möglich, wiegeln Pharmahersteller und Gesundheitspolitiker ab. In der Tat lassen sich das US-amerikanische Gesundheitssystem und das deutsche kaum miteinander vergleichen. Doch auch hierzulande wird mit Schmerzmitteln zu sorglos umgegangen. Gerade die leicht zu handhabenden Fentanyl-Pflaster, die durch die Haut hindurch ihren Wirkstoff abgeben, verleiten Ärzte, die sonst kaum so starke Medikamente in Betracht ziehen würden, zur Verschreibung. 2013 wurde ein Bereitschaftsarzt verurteilt, weil er einem Geschäftsreisenden mit akutem starkem Hexenschuss ein Fentanyl-Pflaster verordnete, das bei diesem zu einem tödlichen Sauerstoffmangel im Gehirn führte. Indiziert sind Fentanyl-Pflaster nur bei chronischen starken Schmerzen unter ärztlicher Kontrolle.

Fentanyl ist in Deutschland zum stark wirksamen Opioid der ersten Wahl geworden. Die Zahl der Verschreibungen der Substanz hat sich zwischen 2000 und 2010 mehr als verdreifacht, obwohl bei drei Vierteln der Behandelten kein Krebs vorlag und deshalb für eine Langzeitbehandlung keine ausreichenden Wirknachweise vorliegen, schreibt das Bayerische Ärzteblatt. »Bei Verordnung und Umgang werden Empfehlungen für eine sichere Anwendung nicht immer beachtet«, kritisiert auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, unter anderem, weil Fentanyl trotz Kontraindikation immer wieder auch bei akuten Schmerzen verordnet würde. Ein Schmerzmittelpflaster, so die Kritik weiter, sei auch bei chronisch Kranken nur bei einem Viertel der Patienten erforderlich, zum Beispiel wegen einer Schluckstörung.

Auch bei uns entsteht ein Drogenschwarzmarkt, zum Beispiel durch den Handel mit gebrauchten Fentanyl-Pflastern, die immer noch bis zu 70 Prozent ihres Wirkstoffs beinhalten und ausgekocht und »recycelt« werden. Bei bis zu 30 Prozent der Drogentoten in Bayern spielt dieses Schmerzmittel inzwischen eine Rolle.

Generell werden auch in Deutschland Langzeit-Opioide zu hoch dosiert und nicht nur Krebskranken verschrieben, sondern auch Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen, Bandscheibenschäden, Osteoporose-Schmerzen und Depressionen, nicht selten in Form von »riskanten Medikamentenverordnungen« von Beruhigungsmitteln, so die Ärzte-Zeitung. Und auch, wenn die Rahmenbedingungen in Deutschland die sozialen Folgen abmildern: »Der Pro-Kopf-Verbrauch von Opioiden unterscheidet sich kaum noch von dem in den USA«, kritisiert Christoph Stein, Professor für Anästhesiologie an der Charité Berlin.

Schmerzmittel – Fluch und Segen

Wer starke Schmerzen hat, für den ist es natürlich ein Segen, wenn ein hochwirksames Medikament zur Verfügung steht: Das weiß jeder, der zum Beispiel nach einer Operation aus der Narkose aufwacht und dann spürt, wie die Wunden sich melden. Auch Tumorschmerzen können unerträglich sein und erfordern eine gute Symptomkontrolle durch potente Schmerzmittel. Problematisch wird es erst, wenn chronische Schmerzen – und davon sind nach einer internationalen Vergleichsstudie mindestens 12 Millionen Erwachsene in Deutschland betroffen – zur Dauermedikamentierung führen. Denn jedes Analgetikum, das hilft, hat immer auch unerwünschte Wirkungen. Das betrifft vor allem die synthetischen Wirkstoffe, die auf eine möglichst effiziente Wirkung hin zugeschnitten sind und nicht wie zum Beispiel eine Pflanze ein Gemisch von Substanzen beinhalten, die sich gegenseitig unterstützen und im Zaum halten.

Die Nebenwirkungen von Schmerzmitteln sind zwar bekannt, werden aber weitgehend ignoriert – zumal in Deutschland ein Patient sich »auf Tour« durch die Praxen von verschiedensten Ärzten immer neue Mittel verschreiben lassen kann. »Warnsignale« seien ignoriert worden, kritisierte zum Beispiel der renommierte US-Kardiologe Eric Topol, als 2004 das bei Knochen- und Gelenkschmerzen beliebte Mittel Vioxx weltweit von dem Hersteller zurückgerufen wurde. Nach Jahren der Anwendung hatte sich herausgestellt, dass das Mittel – in Deutschland von rund zwei Millionen Menschen eingenommen – das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko deutlich erhöhte. Experten hatten das jedoch schon längst als Ergebnis von Experimenten prognostiziert.

»Unbehagen«, schreibt die Deutsche Apotheker Zeitung, bereiten Experten auch die steigenden Verschreibungszahlen des krampf- und schmerzlösenden Wirkstoffes Metamizol, das zum Beispiel in Novalgin enthalten ist. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte appellierte 2009 an die Ärzte, auf eine strenge Indikationsstellung zu achten – das sind vor allem Koliken und Tumorschmerzen, mitunter auch hohes Fieber, das auf andere Medikamente nicht anspricht. Metamizol kann nämlich in das Immunsystem eingreifen und dort eine Agranulozytose auslösen, eine Verminderung von Teilen der weißen Blutkörperchen.

»Das Leben ist zu schön für Schmerzen«

Der größte Teil der in Deutschland eingenommenen Analgetika (drei Milliarden Einzeldosen) sind jedoch Over-the-Counter-Produkte, nicht rezeptpflichtige Medikamente, die über den Ladentisch gereicht werden. Eine halbe Milliarde Euro setzen Apotheker jährlich damit um, fast doppelt so viel wie mit rezeptpflichtigen Schmerzmitteln. 100 Millionen Euro geben die Hersteller jährlich allein für Werbung auf diesem lukrativen Markt aus. Diese verspricht Menschen mit Schmerzen »ein gutes Gefühl«, »neue Leistungsfähigkeit« und ein »Er-ist-weg«-Gefühl.

Natürlich ist es verlockend, in null Komma nichts oder, sagen wir, in einer halben Stunde beschwerdefrei zu sein – um sich dann weiter überfordern zu können. Vor allem Frauen nehmen deshalb Schmerzmittel, ergab eine vom Pharmahersteller Bayer beauftragte Umfrage: 50 Prozent wollten dadurch ihre alltäglichen Aufgaben bewältigen, 44 Prozent einen wichtigen Termin wahrnehmen. Bei Männern waren es nur 38 bzw. 30 Prozent, die diese Antworten gaben.

Kopfschmerzen und Migräne zum Beispiel medikamentös wegzudrücken, löst das Problem nicht – denn die Rebellion des Nervensystems hat einen Sinn: Sie macht auf eine Überforderung aufmerksam. Die ist aber nicht weg, wenn der Schmerz weg ist. Viele Menschen glauben außerdem, diejenigen Schmerzmittel, die man ohne Rezept kaufen kann, seien harmlos. Das ist nicht richtig – das Thema »Risiken und Nebenwirkungen« wird in der Werbung auf den »Arzt oder Apotheker« verlagert. Besonders problematisch sind Kombi-Präparate mit anregendem Koffein, was laut Angaben des DHS Jahrbuchs Sucht von 2017 Missbrauch der Arzneien und in der Folge Entzugskopfschmerzen fördern kann. Der kritische Pharmakologe Gerd Glaeske, Leiter des Instituts »Länger besser leben« der Universität Bremen und BKK24, sagt dazu: »Wenn Werbung so aussieht, dass Risiken nicht auftreten, dass das Positive immer im Vordergrund steht, dass der Missbrauch verharmlost wird, dann muss man sagen, gehört die Werbung nicht ins Fernsehen, die muss verboten werden.« Er fordert auch, die Packungsgrößen zu reduzieren – und größere Rationen rezeptpflichtig zu machen. Seit dem Sommer 2018 müssen OTC-Präparate nun mit deutlichen Warnzeichen versehen werden.

Damit das ganz klar ist: Auch freiverkäufliche Schmerzmittel machen abhängig, wenn sie häufig eingenommen und somit überdosiert werden. Und natürlich haben auch sie erhebliche Nebenwirkungen.

Aspirin – der Klassiker

Aspirin ist ein Klassiker unter den Schmerzmitteln: Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Ludwigsburger Chemiker Felix Hoffmann nach einem Rheumamittel gesucht. Gegen Gliederschmerzen hatten schon die Kelten und Germanen Auszüge aus Weidenrinde eingesetzt, denn ein Grundsatz der Volksmedizin lautete: Gegen Beschwerden, die durch Feuchtigkeit entstehen, helfen Bestandteile von Pflanzen, die an nassen Standorten wachsen. Die Volksmedizin war aber im wahrsten Sinne eine bittere Medizin, denn Sud und Extrakt der Weidenrinde schmeckten scheußlich und führten nicht selten zu Übelkeit und Erbrechen. Durch Zufall fand Hoffmann heraus, dass die enthaltene Salicylsäure durch den Austausch eines Wasserstoffatoms mit Essigsäure (Acetylierung) diese negativen Eigenschaften verlor. Heute ist Aspirin in über 80 Ländern der Welt erhältlich.

Helfen tut Acetylsalicylsäure (ASS) vor allem bei leichten und mittelstarken Schmerzen. Es hat darüber hinaus verschiedenste Eigenschaften: So ist es entzündungshemmend, fiebersenkend und verringert die Blutgerinnung. Seine Wirkungen entstehen dadurch, dass diese Substanz Enzyme hemmt, die für die Bildung von Prostaglandin E2 und Prostacyclin, zwei Botenstoffe, die Schmerzen, Entzündungen und Fieber fördern, zuständig sind. Sie wirkt auch Thromboxan A2 entgegen, das für die Blutgerinnung wichtig ist. Zusätzlich erhöht der Wirkstoff den Stickoxid-Spiegel im Blut, was die Tätigkeit der weißen Blutkörperchen und damit des Immunsystems erleichtert.

Aspirin hat den Ruf, ein Allheilmittel zu sein. Jährlich werden neue Studien veröffentlicht, die unterschiedlichste positive Wirkungen des Aspirins belegen sollen – von der Krebsvermeidung bis zur Vorbeugung von Demenz. Diese Forschungsstrategie macht aus dem Schmerzmittel fast so etwas wie ein Vitamin, einen vorgeblich gesundheitsförderlichen Zusatz zum täglichen Leben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie, als unsere Kinder noch klein waren, unser amerikanisches Au-pair die mitgebrachte Tausender-Packung Aspirin auspackte und auf unseren Küchenschrank stellte.

Alle Mittel, die wirken, haben wie bereits angedeutet auch Nebenwirkungen. In welchem Verhältnis Nutzen und Schaden bei Aspirin stehen, lässt sich noch nicht endgültig beurteilen. Fest steht nur, dass Aspirin die Schleimhäute im Magen-Darm-Trakt angreift und dort zu Blutungen führen kann. So wurde seine gerinnungshemmende Wirkung überhaupt erst entdeckt, weil mit der Einnahme verbundene Magenblutungen auffielen. In Großbritannien geht eine 2017 im renommierten Fachblatt The Lancet veröffentlichte Studie von rund 3000 Todesfällen aus, bei denen ASS eine Rolle spielte (dass allein die Acetylsalicylsäure Ursache sei, konnte bei dieser Beobachtungsstudie nicht belegt werden). Das Forscherteam aus Oxford betonte jedoch, dass gerade bei älteren Patienten, denen wegen eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts Aspirin verschrieben wurde, das Blutungsrisiko besonders hoch ist. Das Medikament kann außerdem bei empfindlichen Menschen Asthmaanfälle auslösen und, wie alle Schmerzmittel, die Nieren schädigen.

Ibuprofen – der Marktführer

Fast die Hälfte der rezeptfreien Schmerzmittel macht in Deutschland Ibuprofen aus. Auch dieser Stoff ist bei der Suche nach einem Wirkstoff gegen das Rheuma entdeckt worden. Anfang der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts schluckte der britische Pharmakologe Stewart Adams nach einer durchzechten Nacht den Stoff, an dem er gerade forschte – weil er einen Vortrag halten musste und hoffte, dadurch einen klaren Kopf zu bekommen. Es funktionierte – und ein neues Schmerzmittel war entdeckt.

Heute wird Ibuprofen vor allem bei Glieder- und Rückenschmerzen, gegen Zahnweh und bei fiebrigen Erkältungen eingenommen. Auch dieser Wirkstoff hemmt Enzyme, die für die Bildung der Botenstoffe Prostaglandine notwendig sind – die Cyclooxygenasen, weshalb diese Schmerzmittelgruppe auch »Cox-Hemmer« genannt wird. Weil Ibuprofen die Produktion der Schleimzellen im Magen bremst, können Schleimhautschäden und – wie bei Aspirin – Blutungen die Folge sein. Der Wirkstoff Naproxen ist dem Ibuprofen ähnlich.

Zu den Cox-Hemmern gehört auch der Wirkstoff Diclofenac, der, abhängig von Indikation und Dosis, rezeptfrei in der Apotheke zu erhalten ist. Diclofenac, gegen Rheuma oder andere Gelenkschmerzen eingenommen, ruft sehr häufig Probleme im Verdauungstrakt hervor. Dazu zählen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen, mangelnder Appetit, Oberbauchbeschwerden sowie Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre sowie leichtere Blutungen. Die Substanz kann aber auch zu Leber- und Nierenfunktionsstörungen führen, und sie interagiert mit sehr vielen Stoffen, verstärkt also die Wirkung anderer Medikamente oder schwächt sie ab.

Wer Diclofenac für längere Zeit in hoher Dosis einnehmen muss, für den besteht ein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. 2013 warnte die europäische Arzneimittelbehörde EMA deshalb, diese Substanz leichtfertig oder ohne gezielte Indikation »systemisch«, also als Tablette oder Infusion, einzunehmen. Die Deutsche Apotheker Zeitung forderte über ihr Internet-Portal Ärzte dazu auf, »in regelmäßigen Abständen die Sinnhaftigkeit der Medikation kritisch zu überprüfen«.

Antirheumamittel und ihre Risiken

Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Diclofenac gehören sämtlich zur Klasse der nichtsteroidalen Antirheumatika, kurz NSAR genannt. Sie heißen so, weil sie ursprünglich alle zur Behandlung der rheumatischen Arthritis entwickelt wurden. Bei etwa 70 Prozent der mit solchen Antirheumatika behandelten Patienten kommt es zu Schleimhautverletzungen, so die Deutsche Apotheker Zeitung, 30 bis 50 Prozent haben Magenbeschwerden, bei jedem Fünften entwickeln sich endoskopisch nachweisbare Geschwüre im oberen Gastrointestinaltrakt, und zahlreiche Patienten bekommen Magengeschwüre. Wer regelmäßig NSAR einnimmt, hat darüber hinaus ein erhöhtes Risiko für eine Herzinsuffizienz, so eine jüngere Studie im British Medical Journal. Eine Studie des Schweizer Mediziners Martin Tramèr, in Pain veröffentlicht, fasst zusammen: Einer von 1200 Patienten, die mindestens zwei Monate lange antirheumatische Schmerzmittel einnehmen, stirbt an Komplikationen im Verdauungsstrakt.

Bei Paracetamol ist die Lage etwas anders. Es gehört nicht zu den NSAR, denn es entwickelt seine schmerzlindernden und fiebersenkenden Eigenschaften nicht im Magen-Trakt, sondern vor allem im Rückenmark und Gehirn. Dort nimmt es Einfluss auf Botenstoffreaktionen, die an der Wahrnehmung von Schmerz beteiligt sind. Der antientzündliche Effekt ist bei diesem Wirkstoff weniger stark ausgeprägt, gleichzeitig fehlen die unangenehmen Nebenwirkungen. Nur bei hohen Dosen greift Paracetamol die Leber an. (Als ich während meiner Ausbildung auf der Intensivstation zum ersten Mal mit Fällen akuten Leberversagens konfrontiert wurde, war in den meisten Fällen eine versehentliche oder absichtliche Überdosierung mit Paracetamol die Ursache.) Gefunden wurde die Substanz bereits Ende des 19. Jahrhunderts, aber wirklich als Schmerzmittel angewendet wird sie erst seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Heute steckt sie in über 600 Arzneimitteln, oft in Kombinationspräparaten wie Erkältungsmitteln.

Die europäische Arzneimittelbehörde EMA möchte diejenigen Paracetamolpräparate verbieten lassen, die ihren Wirkstoff verzögert (»retard«) freisetzen. Das nämlich birgt das verstärkte Risiko einer Überdosierung. Kinder erhalten Paracetamol oft gegen Fieber. Eine Studie der Universität Edinburgh aus dem Jahr 2011 zeigte, dass gerade kleinen Kindern zu hohe Dosen dieses Wirkstoffs verordnet wurden. Problematisch kann auch hier die Kombination mit anderen paracetamolhaltigen Arzneimitteln werden.

Schlimmer als Alkohol

In Deutschland sind mehr Menschen von Medikamenten abhängig als von Alkohol, so das DHS Jahrbuch Sucht von 2017: nämlich 1,9 Millionen. Dazu zählen vor allem Schlaf- und Beruhigungs-, aber auch Schmerzmittel. Der dänische Pharmakologe Peter C. Gøtzsche, Leiter des Nordic Cochrane Centers am Rigshospitalet in Kopenhagen, war früher selbst in der Pharmaindustrie tätig. Seither hat er sich zu einem der international bekanntesten und streitbarsten Kritiker von Medikamenten entwickelt. Er fordert dazu auf, die Gesellschaft von ihrer Medikamentenabhängigkeit zu befreien, und schreibt: »Wenn Sie ein Medikament nicht unbedingt brauchen, dann nehmen Sie es nicht. Wir brauchen selten Medikamente. Es kommt selten vor, dass ein Medikament ein Leben rettet oder unser Leben erheblich verbessert. Die meisten Medikamente haben keinerlei positive Wirkungen.«

Ich bin ganz ähnlicher Ansicht. Die Medizin tendiert dazu, Krankheiten als Ausdruck eines Medikamenten-Mangelsyndroms zu verstehen – als müsse man nur die richtigen Arzneistoffe nehmen, um wieder ins Lot zu kommen. Dieses Denken negiert jedoch die körpereigenen Ressourcen, die durch Medikamente eher unterdrückt als gefördert werden. Gerade in einer Gesellschaft, die altert und in der Abnutzungserscheinungen zum Alltag der Menschen gehören, ist es wichtig, die Zahl der Arzneimittel auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Denn als Internist weiß ich, dass bei jemandem, der drei und mehr Medikamente nimmt, sich Wirkungen und Nebenwirkungen schon nicht mehr sicher auseinanderhalten lassen. Die Kombination von Arzneistoffen bringt unvorhersehbare Risiken mit sich – vor allem für ältere Patienten. Zu wenige Ärzte sind sich dessen bewusst, und noch weniger wissen damit verantwortungsvoll umzugehen. Noch fehlen uns auch die diagnostischen Hilfsmittel, wie zum Beispiel Algorithmen, um die Folgen eines komplexen Wirkstoffgebrauchs besser einschätzen zu können.

Bei jüngeren Menschen scheint es der Leistungsdruck zu sein, der einen neuen Typus stressbedingter Schmerzen schafft: Immer mehr junge Erwachsene haben, so der Barmer Arztreport 2017, chronische Kopfschmerzen – ihre Zahl hat in zehn Jahren um 42 Prozent zugenommen. Die Verordnungsrate von Migränemitteln ist in diesem Zeitraum sogar um 58 Prozent gestiegen. Auch hier zeichnet sich leider ein Trend zur Tablettenabhängigkeit ab: 42 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen neun und 19 Jahren sind daran gewöhnt, jeden einzelnen Kopfwehanfall mit einem Medikament zu bekämpfen. Das ist eine erschreckende Entwicklung.

2. So viele Medikamente wie nötig, so wenige wie möglich

Ein Gesundheitsrisiko bei Schmerzmitteln, aber auch anderen Medikamenten ist, dass die Nieren irgendwann nicht mehr mitmachen. Weil sie als Filter funktionieren, kommen die Gefäßwände der Nierenkörperchen mit den im Blut gelösten Substanzen in enge Berührung und können auf Dauer geschädigt werden.

Die Begegnung mit Nierenpatienten war sicher einer der Auslöser, warum ich begann, nach Alternativen zur klassischen Medikamentenmedizin zu suchen. An der Universität Freiburg, wo ich meinen Facharzt in Innerer Medizin, spezieller internistischer Intensivmedizin und Nephrologie machte, arbeitete ich unter anderem auf der Dialysestation. Eine Nierenwäsche ist keine Kleinigkeit für den Körper, die Patienten sind häufig instabil, und man muss als Arzt ständig auf Überraschungen gefasst sein. Damals, vor dreißig Jahren, waren 40 Prozent der tödlich verlaufenden Nierenversagen und jede fünfte der notwendigen Nierentransplantationen auf Schmerzmittelmissbrauch zurückzuführen. Seit der Wirkstoff Phenacetin, der als eine der Ursachen identifiziert wurde, vom Markt genommen wurde, sind die Zahlen deutlich zurückgegangen: Heute werden noch drei Prozent eines akuten Nierenversagens auf Schmerzmittel zurückgeführt.

Es gab aber noch eine weitere Erfahrung, die mich nachdenklich stimmte: Als Leiter eines nephrologisch-immunologischen Forschungslabors hatte ich häufiger Kontakt mit Patienten, die unter unklaren Schmerzen litten. Sie wurden aus diagnostischen Gründen stationär aufgenommen, um sie dann medikamentös auf antirheumatische Schmerzmittel einzustellen, die, wie in Kapitel 1 beschrieben, erhebliche Nebenwirkungen haben können. Bei Rheuma zum Beispiel nimmt man das aber in Kauf, um die schleichende Zerstörung der Gelenke durch die Immunreaktion zu verhindern.

Es gab jedoch auch einige Patienten, die schon älter waren und bereits seit Jahren als rheumakrank galten, die aber erst jetzt auf Antirheumatika eingestellt werden mussten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie ihre Krankheit auf andere Weise im Zaum gehalten – durch fleischarme Diät zum Beispiel oder regelmäßiges Fasten, Bewegung und Entspannung oder auch pflanzliche Mittel. Meine ärztlichen Kollegen straften das bei den regelmäßigen Frühbesprechungen meistens mit Häme: »Geht wohl doch nicht ohne Medizin«, triumphierte einer. »Die haben geglaubt, wenn sie kalt duschen, das bringt was«, ätzte ein anderer.

Ich selbst war vielmehr fasziniert. Auf welche Weise hatten es diese Patienten geschafft, ihrer Krankheit bis dahin die Stirn zu bieten – und zwar ohne die nebenwirkungsreichen Medikamente? Und ich war unangenehm berührt, wie wenig diese Leistung von Seiten meiner Kollegen honoriert wurde. Der blinde Glauben an die Medikamentenmedizin ärgerte mich. Also begann ich, die Patienten auszufragen, wie sie bisher mit ihrer Krankheit umgegangen waren und welche Behandlung ihnen am meisten gebracht hatte. Sehr häufig genannt wurde die Physiotherapie. Fast alle Patienten empfanden diese als besonders stärkend: eine Medizin, die berührte und auch das Gespräch suchte.

Schock mit Happy End

Warum bin ich überhaupt Arzt geworden? Vielleicht hatte das etwas mit meinem Interesse an Biografien zu tun, mit der Frage, was uns eigentlich zu dem macht, wer und was wir sind – gesund wie krank. Ich stamme nicht, wie so viele meiner Kollegen, aus einer Medizinerdynastie, wo der Großvater und Sanitätsrat schon in Öl porträtiert im Esszimmer hängt. Im Gegenteil: Mein Vater war gelernter Konditormeister und Flüchtling aus Pressburg, heute Bratislava. Als die deutschstämmigen Einwohner und auch die Ungarn, die den anderen Teil meiner Vorfahren ausmachen, dort nicht mehr gerne gesehen wurden, kam er nach Baden-Württemberg. Mein Vater wollte, dass ich einen soliden Beruf ergriff – damit meinte er, keinen akademischen. Also machte ich nach dem Abitur eine Lehre als Zahntechniker, ein zugegeben wichtiger Beruf, aber einer, der mir persönlich überhaupt nichts sagte. Das Manuelle lag mir zwar, weil ich auch immer gerne künstlerisch gearbeitet hätte und mir hätte vorstellen können, Bildhauer zu werden. Aber Zähne – das befriedigte meine Neugier auf das Leben nicht. Daher überwand ich den hartnäckigen Widerstand meines Vaters und bewarb mich um einen Studienplatz in Medizin.

Das war 1980, und ausgerechnet im ersten Semester wurde ich gleich krank und kam in Freiburg ins Krankenhaus. Ich hatte mich während eines Pflegepraktikums mit Hepatitis B angesteckt und fühlte mich elend und deprimiert, denn das bedeutete Quarantäne und eine längere Genesungszeit. Der behandelnde Arzt aber schien wenig besorgt, und mehr als meine Symptome interessierte ihn ein silberner Anhänger, den ich um den Hals trug und selbst gegossen hatte. Ich war mächtig stolz darauf und freute mich über die Anerkennung. Das war der Beginn einer positiven therapeutischen Beziehung, und ich kann mich noch heute, 38 Jahre später, an dieses Gefühl der Unterstützung und Stärkung erinnern. Aber dann nahm die Geschichte eine Wendung.