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Band 2 der großen Reihe um drei Exilantinnen während des Zweiten Weltkriegs
Deutschland 1939: Die Zustände in Deutschland werden unerträglich, und die Jüdin Maria und ihre Familie wollen in letzter Sekunde flüchten. Doch inzwischen ist es fast unmöglich, das Land auf sicherem Weg zu verlassen. So wählen Maria und ihre Familie eine waghalsige und gefährliche Fluchtroute.
Brasilien 2023: Sandra führt eine Buchhandlung, die ihre Großmutter Maria gegründet hat. Als eine June aus New York sie kontaktiert und ihr von einem gemeinsamen Erbe erzählt, wird Sandra neugierig auf das Schicksal ihrer Großmutter. Sie schlägt June vor, mit ihr Marias Fluchtroute nachzureisen. Gemeinsam folgen die Frauen Marias Spuren und finden dabei mehr über die Geschichte heraus, die sie beide vereint.
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Seitenzahl: 450
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Über das Buch
Band 2 der großen Reihe um drei Exilantinnen während des Zweiten Weltkriegs
Deutschland 1939: Die Zustände in Deutschland werden unerträglich, und die Jüdin Maria und ihre Familie wollen in letzter Sekunde flüchten. Doch inzwischen ist es fast unmöglich, das Land auf sicherem Weg zu verlassen. So wählen Maria und ihre Familie eine waghalsige und gefährliche Fluchtroute.
Brasilien 2023: Sandra führt eine Buchhandlung, die ihre Großmutter Maria gegründet hat. Als eine June aus New York sie kontaktiert und ihr von einem gemeinsamen Erbe erzählt, wird Sandra neugierig auf das Schicksal ihrer Großmutter. Sie schlägt June vor, mit ihr Marias Fluchtroute nachzureisen. Gemeinsam folgen die Frauen Marias Spuren und finden dabei mehr über die Geschichte heraus, die sie beide vereint.
Über die Autorin
Anna Claire ist das Pseudonym einer deutschen Erfolgsautorin, deren Romane es immer wieder in die Bestsellerlisten schaffen (mehrere Top 1 Kindle-Bestseller und Top 1 BILD-Bestseller). Sie arbeitet als Drehbuchautorin und Dramaturgin für das Fernsehen. Seit 2013 schreibt sie Romane (zeitgenössisch/historisch) und hat sich damit in die Herzen von vielen Leserinnen und Bloggerinnen geschrieben und eine große Social-Media-Fanbase aufgebaut.
Anna Claire
Die Kraft der Bücher
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Copyright © 2024 by Anna Claire
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anne Schünemann, SchönbergUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung von Illustrationen von © Trevillion Images: Mark Owen und © shutterstock: Elonalaff | rocharibeiroeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-5568-9
luebbe.delesejury.de
Berlin, September 1936
Wie kann ich meine Liebsten schützen, in diesen Zeiten? Marias Gedanken rasten. Der Duft der Bücher vermischte sich mit dem Geruch von Gemüsebrühe. Sie hatte ihrem Mann Jakob Matzeknödel-Suppe in die Buchhandlung gebracht. Nun stand sie wartend an der Tür, in der einen Hand den Suppentopf, in der anderen die weiche, kleine Hand ihrer dreijährigen Tochter Tabea. Jakob stand am Tresen, bediente eine Stammkundin, Frau Papies. Sie trug einen mondänen Hut, kaufte netterweise immer noch bei ihnen Bücher, sogar jüdische Literatur, die liebe sie einfach, wie sie sagte, sehr.
Was, wenn ich Jakob zu einem riesigen Fehler dränge? Maria dachte immer darüber nach, wenn sie einen Moment zur Ruhe kam. Erst gestern hatten sie wieder lange diskutiert. Und natürlich hatte auch er recht, dass es ein großes Risiko für ihre Familie darstellte, die Heimat zu verlassen.
Die Kleine wurde zappelig und zupfte an Marias Hand. »Mama, ich will auch Schiff fahren, wie Tante Luise«, flüsterte sie plötzlich, durchaus hörbar.
»Pscht. Du musst leise sein bei Vati in der Buchhandlung, das weißt du doch.« Niemand durfte etwas von ihrem Plan ahnen, erst recht nicht Frau Papies, deren Mann neuerdings in der Partei war. Darüber hatte sie sich bei einem Besuch im Laden lautstark echauffiert. Auf keinen Fall durfte sie wissen, dass sie auswandern wollten, zumindest Maria wollte das, um der Kinder willen. Jakob hatte Tabeas Frage gehört, das sah sie ihm an, und sofort redete er nervöser, schneller und lauter, empfahl ein Buch in den höchsten Tönen.
»Was ist Amerika, Mama?«, fragte Tabea weiter und sah sie mit ihren großen dunklen Augen an. Dieser niedliche Mund. Ihre langen schwarzen Haare hatte Maria ihr heute Morgen zu zwei Zöpfen geflochten wie so oft.
»Tabea, bitte, sei leise, das erkläre ich dir später«, rügte Maria sie streng, bedachte sie dann aber mit einem liebevollen Blick. Frau Papies hatte es gehört, lächelte ihnen zu. Maria zog ihre Tochter rasch ein paar Schritte in Richtung Hinterzimmer, nur mussten sie dazu Frau Papies umrunden. Und das mit dem Suppentopf, der beinahe überschwappte.
»Entschuldigung«, flüsterte Maria, trat ins Hinterzimmer und stellte den Topf auf den Tisch, an dem Jakob immer zu Mittag aß. Tabea löste sich dabei von ihrer Hand, stand in der Tür, sah fragend zu Frau Papies im Laden.
»Amerika, was ist Amerika?«, überlegte diese laut. »Es ist ein Kontinent, Kleines. Ach je, unter Kontinent kannst du dir sicher nichts vorstellen. Wie sage ich das kindgerecht? Ein großer Erdteil ist das. Entschuldigung, ich habe keine Kinder, es hat nicht sollen sein.« Sie blinzelte eine Träne weg. »Wie kommst du denn auf Amerika, Liebes?«
Ehe die Eltern es verhindern konnten, erwiderte Tabea unbedarft: »Da will die Mutti hin, mit uns allen, zu Tante Luise.«
Jakob und Maria sahen sich alarmiert an. Sofort lachte Maria auf und erklärte schnell: »Unsere Tochter hat eine blühende Fantasie – was man ihr vorliest, vermischt sie ganz durcheinander. Sie ist ein kluges und sehr neugieriges Kind, wissen Sie, und ich lese ihr viel vor.«
»Ganz entzückend ist sie. Und es ist gut, wenn wir Frauen neugierig und klug sind, nicht wahr?« Frau Papies zwinkerte Maria und Tabea zu. »Weiter so.«
Jakob lenkte die Dame ab, indem er sich erkundigte, ob sie das Buch denn gern erwerben wolle.
Frau Papies bestätigte, holte ihre Geldbörse heraus. Hoffentlich erzählt sie ihrem Mann nichts davon, dachte Maria nervös. Sie strich sich mit der Hand über ihr hochgestecktes Haar, obwohl es ordentlich saß. Dann über ihr grünes Kleid, das sie unter dem leichten Mantel trug. Sie sah zu ihrem Mann. Die Brille war ihm etwas die Nase heruntergerutscht, er schob sie wieder hoch. Ein neuer Tick, der zeigte, wie nervös auch er war. Maria nahm erneut Tabeas Hand, zog sie an der Kundin vorbei zu einem der Bücherregale.
So oft hatte Jakob es den Kindern erklärt, auch Noah, ihrem Sechsjährigen. »Wir können nicht einfach alles stehen und liegen lassen wie Luise«, hatte er gestern wieder gesagt. »Sie hat keinerlei Verpflichtungen, ist frei wie ein Vogel. Aber wir, wir haben unsere Buchhandlung, das ist unsere Existenz. Ich bin verantwortlich für meine Familie, ich muss euch ernähren.« Und natürlich hatte er recht damit. Durch die Reichsfluchtsteuer würde man ihnen noch mehr nehmen als ohnehin schon. Es war ein Dilemma.
Dennoch. Was würde der größere Fehler sein? Zu bleiben oder zu gehen?
Schon im Mai des vorigen Jahres war ein Fragebogen an alle Buchhändler geschickt worden, um deren jüdische Abstammung zu klären. Im Folgenden wurden einige jüdische Buchhändler aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Nichtarier sollten wissen, dass sie im Buchhandel nichts mehr zu suchen hatten, wurde gesagt. Dieser Satz ging Maria nicht mehr aus dem Kopf. Sie spürte einen Knoten im Magen, sah auf Tabeas Schopf. Seit Luises Weggang konnte Maria erst recht kaum noch schlafen. »Kommt ganz bald nach, bevor es zu spät ist«, hatte Luise mehrfach eindringlich gesagt.
Tabea löste erneut ihre kleine Hand aus ihrer und griff sich ein Buch aus dem Regal, spielte Lesen, hielt es aber verkehrt herum.
Wie sehr Maria ihre Tochter liebte. Beide Kinder. Wie sehr wünschte sie sich eine unbeschwerte Kindheit für sie. Aber Luise hatte ja recht, dass es immer gefährlicher wurde in Deutschland. Für alle, die sich widersetzten, so, wie es Luise und ihr Richard getan hatten. Aber erst recht für Juden wie sie. Jüdische Buchhändlerkollegen bangten um ihre Existenz. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels war durch den Bund Reichsdeutscher Buchhändler ersetzt worden, unter nationalsozialistischer Führung. Wann würden Jakob und sie ihre Buchhandlung schließen müssen?
»Was, wenn wir unsere Buchhandlung aufgeben müssen?«, hatte sie ihn gestern gefragt.
»Das dürfen wir nicht zulassen«, widersprach er kämpferisch. Wie sehr sie ihn liebte. Sieben Jahre war es jetzt her, dass Maria als Sechzehnjährige in diese Buchhandlung in der Grunewaldstraße gekommen war, um ein Buch für sich zu kaufen. Jakob hatte sie mit seinem Wissen und seiner Meinung sofort beeindruckt. Es handelte sich um das Geschäft seines Großvaters und Vaters, in dem er damals schon gearbeitet hatte. Dieser feinsinnige, belesene Mann, der eine Lehre zum Buchhändler absolvierte.
Nach ihrer Heirat hatte sie ihn im Laden unterstützt, aber seit der Geburt der Kinder half sie nur noch ab und zu aus. Die Arbeit fehlte ihr. Oft las sie den Kindern vor, träumte sich in letzter Zeit selbst mit einem Buch in der Hand in ein anderes Leben. Zumindest seit das Leben hier immer gefährlicher für sie wurde.
Maria sah erneut zu ihrem Mann. Das weiße Hemd und die beigefarbene Weste standen ihm gut. Geduldig wartete sie darauf, dass er sich zu ihr gesellte. Sie wollte die kleine Tabea ein Stündchen bei ihm in der Buchhandlung lassen, um ihre Freundin Anni zu sehen, wie jeden Donnerstag.
Früher hatten sich die Freundinnen immer zu dritt bei ihrem Lieblingsbäcker im Bayerischen Viertel verabredet, mit Luise. Aber seit die zu ihrem Richard nach Amerika ausgereist war, trafen sich nur noch Maria und Anni. Von New York aus wollten Richard und sie etwas bewirken, hatte Luise versprochen. Maria hoffte sehr darauf, dass sie es schaffen würden. Hier hatten die beiden mit einer Gruppe Flugblätter verteilt, aber was wollten sie von dort aus tun?
Hoffentlich würde Luise in New York schon bald das kleine Restaurant eröffnen können, für das Anni und sie ihr ein Startkapital mitgegeben hatten. Als Sicherheit für sich selbst, falls die Lage hier noch schlechter würde. Das hatte Jakob für klug befunden und eingewilligt.
Endlich kassierte er ab und überreichte seiner Kundin das in Papier eingeschlagene Buch. »Sie werden die Geschichte lieben, Frau Papies. Sie gibt Hoffnung. Ganz sicher werden Sie sie lieben.«
Die Dame wirkte angespannt. »Wenn Sie das sagen, Herr Kirschbaum.«
Ein Mann mit Hut betrat die Buchhandlung, grüßte mit »Heil Hitler«. Maria zuckte unwillkürlich etwas zusammen. Frau Papies wandte sich rasch zum Gehen, nickte Maria und Tabea noch einmal freundlich zu.
Der Mann sah sich nur kurz um, verließ die Buchhandlung dann wieder ohne ein weiteres Wort.
Jakob sah blass aus. Maria wollte ihn ablenken. »Sieh nur, Tabea liest«, sagte sie.
Er atmete durch, trat zu Maria, legte den Arm um ihre Hüfte, sah seine Tochter lächelnd an. »Wie die Mama, manchmal etwas verdreht, und beim Lesen vergisst sie alles.«
Maria knuffte ihn, küsste ihn auf die Wange. »Ist ja manchmal auch das Beste, zu vergessen.«
Er nickte, wurde ernst und nachdenklich.
»Hast du ein Auge auf sie, ja? Anni holt mich gleich ab.«
»Natürlich. Ich geb ihr noch ein Kinderbuch, dann ist sie beschäftigt.« Er nahm ein Buch aus dem Regal, ging zu seiner Tochter, kniete sich hin, reichte ihr das Kinderbuch. »Sieh mal, Tabea, kennst du das schon? Mit den Hasen, die keine Angst haben?«
Tabea betrachtete es kurz, schüttelte den Kopf und tauschte es gegen das Erwachsenenbuch aus, das sie Jakob in die Hand drückte. Er nahm es entgegen, ging wieder zu Maria.
»Noah will nicht mehr in die Schule, hat er heute Morgen gesagt«, erzählte sie ihm leise.
Jakob seufzte. »Unser kleiner Rebell. Hat er gesagt, weshalb?«
Sie schüttelte den Kopf. »Dabei ist er doch erst in der ersten Klasse. Wie soll das weitergehen?«
»Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Keine Angst haben.«
»Ich weiß«, entgegnete sie.
Die Tür schwang auf, und Anni betrat die Buchhandlung. Wie immer duftete sie nach Lavendel, trug ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und hatte ihr blondes langes Haar seitlich hochgesteckt.
»Grüß euch. Hallo Tabea, Süße. Entschuldige die Verspätung, Maria. Siegfried war gerade bei mir. Es gibt etwas zu feiern.«
»Ach ja, wie schön, was denn?«
»Er wird befördert«, erklärte sie stolz.
Maria und Jakob sahen sich alarmiert an.
»Bei der Gestapo?«, konnte sich Jakob nicht verkneifen. »Das habt ihr gefeiert?«
»Ja, man sollte feiern, wenn es etwas zu feiern gibt«, entgegnete Anni unbedarft. Sie liebte ihren Siegfried, den sie schon so lange kannte und heiraten wollte. Dann wandte sie sich an Maria. »Wollen wir?«
Maria nickte, ging rasch zu Tabea, küsste sie auf die Stirn. »Sei schön brav beim Vati, ich hole dich in einer Stunde wieder ab.«
Ob Luise auf dem richtigen Dampfer ist?«, fragte Anni gut gelaunt an Maria gewandt und prustete los ob der Doppelbedeutung des Ausdrucks.
Auch Maria musste lächeln. »Ganz bestimmt«, erwiderte sie. Die Freundinnen gingen eine von Bäumen gesäumte Straße in Schöneberg entlang. Der Wind fühlte sich bereits kühl an. Maria zog ihr Halstuch enger. Wie zugig muss es erst auf hoher See sein, dachte sie. »Luise ist sicher schon auf dem richtigen Schiff«, erklärte sie zuversichtlich.
»Na ja, manchmal lassen sie die Leute in Hamburg nicht ausreisen«, wandte Anni ein. »Wegen einer Augenkrankheit zum Beispiel, habe ich gehört.«
»Unsere Luise ist kerngesund und nicht auf den Mund gefallen. Sie schafft das schon«, bekräftigte Maria. Aber auch sie dachte viel an ihre Freundin und machte sich Sorgen um sie.
»Du hast recht. Was sich Luise in den Kopf setzt, das schafft sie. Schade nur, dass sie ihren Richard nun in New York heiratet und nicht in Berlin, ich wäre so gern dabei gewesen. Aber vielleicht gibt es ja hier bald eine Hochzeit«, meinte sie vielsagend und mit einem verträumten Lächeln im Gesicht.
Maria schluckte. Anni wollte ihren Siegfried offenbar immer noch heiraten. Im Grunde war er stets sehr nett gewesen, Anni kannte ihn schon lange und sah in ihm natürlich ihren liebevollen, zuvorkommenden Siegfried. Aber er hatte sich für die Partei und dann sogar für die Gestapo entschieden, was Maria einfach nicht verstehen konnte. Wie konnte ein guter, kluger Mensch da mitmachen? »Das heißt, er hat dich gefragt?«, hakte sie nach.
Anni schüttelte betreten den Kopf. »Nein. Aber lange kann es ja nicht mehr dauern.« Sie seufzte, und Maria atmete innerlich auf.
»Ihr müsst ja nichts überstürzen.«
Anni reagierte angegriffen, wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, ihre Freundin würde sie in diesem Punkt kritisieren. »Maria, wie oft noch? Siegfried setzt sich bei der Staatspolizei nur für Recht und Ordnung ein. Für uns alle. Für unser Land. Er ist ein guter Mensch. Du kennst ihn.«
Maria wollte sich nicht mit ihr streiten. Sie hatte schon Luise als Freundin verloren, zumindest war sie nicht mehr in Berlin und fehlte ihr sehr.
Doch in dem Moment kamen sie an einem kleinen Juweliergeschäft vorbei, das Maria kannte. Es gehörte Aaron Abramowitz, einem netten älteren Herrn. Er war ein Freund von Jakob. Zwei Männer in SS-Uniform standen vor dem Geschäft, einer hielt ein Schild in der Hand, der andere einen Hammer. Dann brachten sie das Schild rechts von Aaron Abramowitz’ Ladentür mit Nägeln an. Kauft nicht bei Juden, stand darauf.
Marias Herz raste. Sie musste dem alten Mann helfen. Aber was könnte sie ausrichten, ohne festgenommen zu werden? Und was würde dann aus ihren Kindern und Jakob? Sie dachte an die kleine Tabea, die so bitterlich weinen würde. Maria blickte zu Anni. Auch sie beobachtete erschrocken das Geschehen. Immerhin sah sie es, immerhin. Während der Sommerspiele waren Schilder wie diese abmontiert worden, um den Schein in der Welt zu wahren. Aber seitdem wurden sie doch wieder aufgehängt.
»Das ist nicht recht, Anni, das musst du doch sehen«, flüsterte Maria tonlos.
»Natürlich sehe ich das.« Annis Stimme klang ebenso belegt. »Solche Aktionen findet Siegfried auch nicht gut. Aber eben die anderen Ziele schon, die Hitler hat. Arbeit für alle, und Frieden.«
Maria schluckte. Schon lange glaubte sie nicht mehr daran. Die wenigsten, die sie kannte, taten das noch. »Immerhin ist Siegfried auch gegen so etwas«, entfuhr es ihr. Sie erblickte Aarons weißen Haarschopf im Inneren des Ladens. Was musste er für eine Angst ausstehen? Was, wenn sie ihn gleich mitnahmen? Der eine SS-Mann schlug den letzten Nagel ein, spuckte dann durch die offene Tür in den Laden hinein auf den Teppich.
»Widerwärtig. Was können wir tun? Wir müssen doch etwas tun«, flüsterte Maria und ballte die Hände zu Fäusten.
»Bist du verrückt? Wir Frauen können nichts tun. Das überlass mal den Männern. Siegfried sagt, dass er befördert wurde, ist gut. Er kann mehr tun, wenn er Verantwortung trägt«, fuhr Anni fort.
Maria sah ihre Freundin an. Anni liebte ihn, himmelte ihn an, träumte von einer Familie mit ihm, einer Zukunft. Sie konnte es ihrer Freundin nicht wirklich verübeln. Wenn man liebte, war man bereit, viel auf sich zu nehmen. Auch, die Augen zu verschließen – das gehörte wohl dazu.
»Komm, wir gehen weiter, schau, sie tun dem Besitzer nichts«, flüsterte Anni.
Die Männer steckten sich jeder eine Zigarette an, rauchten genüsslich und unterhielten sich lachend.
Anni hakte sich bei Maria unter und zog sie mit sich. »Ich mache mir immer mehr Sorgen«, erklärte Maria im Gehen. »Luise hat recht, wir sollten auch schnellstmöglich ausreisen. Aber Jakob findet, wir dürfen nicht klein beigeben.«
»Ganz genau, bleibt bitte hier. Wo kommen wir denn da hin, wenn jetzt alle gehen? Ich rede mit Siegfried, er kann euch beschützen, das weiß ich. Er wird jetzt noch mehr auf euch achten. Dann musst du dich nicht mehr so sorgen.«
Maria sah sie zweifelnd an. Kurz darauf kamen sie vor der Bäckerei an. Der Duft von frischen Backwaren und Kaffee strömte ihnen entgegen.
»So, jetzt denken wir nur noch an schöne Dinge. An den Streuselkuchen zum Beispiel, den wir gleich essen«, fand Anni. »Und unsere Freundschaft. Es ist so eine schöne Tradition, dass wir uns das gönnen, das müssen wir auf jeden Fall weiterführen, auch ohne Luise.«
»Du hast recht. Das machen wir«, pflichtete Maria ihr bei.
»Und bestimmt schreibt sie uns bald, dass sie in New York angekommen ist und dass sie unser Restaurant eröffnet«, fuhr Anni fort. »Dann ist unser Geld sicher und gut angelegt. Und wenn sich hier alles beruhigt hat, kommt sie zurück. Du wirst sehen, Maria, alles wird gut, ihr müsst nicht auswandern, in die weite, fremde Welt. Das ist doch viel zu gefährlich.«
Rio de Janeiro, 2023
Wie gern hätte sie die weite Welt gesehen. Stattdessen stand Sandra in ihrer kleinen Buchhandlung in Rio, mit einem Stapel Bücher auf dem Arm, die ihr bis unters Kinn reichten. Umgeben von gelb und hellgrün gestrichenen Regalen, vollgepackt mit Büchern. Und stattdessen kam nun die Welt zu ihr. Besuch aus New York, eine June, die sie gleich am Flughafen abholen würde. Was sie genau von ihr wollte, hatte Sandra nicht wirklich verstanden, nur dass es um Sandras Familiengeschichte ging. Deshalb hatte sie sich an diesem Morgen besonders schön zurechtgemacht. Sie liebte Farben, hatte sich eine orangefarbene Seidenblume in ihr langes schwarzes Haar gesteckt, trug ein gelbes flatterndes Sommerkleid, das ihren dunkleren Teint unterstrich.
Sie pustete sich eine Locke aus dem Gesicht. Dabei wirbelte sie den Staub auf, der das oberste Buch bedeckte, und musste niesen. Der Stapel verrutschte, und zwei Bücher fielen zu Boden, wo sie aufgefächert liegen blieben. Oh nein. Sie konnte es nicht sehen, wenn sich die Seiten so aufstellten.
Rasch legte sie den restlichen Stapel auf eine alte Holztruhe, die neben dem Regal stand, ging in die Knie, hob ein zu Boden gefallenes Buch auf. Zum Glück war ihm nichts geschehen. Auch dem anderen nicht. Immer weniger Menschen schätzten Literatur, so hatte sie den Eindruck, immer weniger lasen Bücher. Dabei konnte man in ihnen doch die Welt bereisen, träumen, in ein anderes Leben schlüpfen, in ein anderes Land. Von so vielen spannenden Ländern hatte Sandra gelesen, wollte selbst dorthin, am liebsten bald. Aber sie konnte sich keine Vertretung für die Buchhandlung leisten, das Geschäft lief schlecht, sehr schlecht sogar.
Sie kniete immer noch neben der Holztruhe, sah zum Schaufenster, vor das ein Mann getreten war, der versonnen die Buchauslage betrachtete. Die Hände hielt er lässig in den Hosentaschen. Er sah attraktiv aus, vermutlich war er in ihrem Alter, Mitte dreißig, vielleicht etwas älter. Dunkle kinnlange Locken, markante Wangenknochen.
Sandra erhob sich, legte die Bücher zu den anderen auf die Truhe, ging an den eng stehenden Regalen vorbei und tat so, als suchte sie ein Buch in einem Aufsteller direkt neben dem Schaufenster. Der Mann hatte sie nicht registriert, wirkte ein wenig verloren, verträumt. Wie ich, dachte sie unwillkürlich und musste lächeln. Sie lebte allein, seit ihre Mutter gestorben war, kurz nach dem Herzinfarkt ihres Vaters. Es war ein Schock gewesen. Sie waren ihre einzige Familie gewesen.
Seitdem fühlte sie sich häufig verloren. Sie lebte allein in dem bunten Haus in der Nähe ihrer Buchhandlung in Lapa. Rosa und gelb gestrichen war es, fiel auf. Sie hatte es von ihrer Mutter und die von ihrer Mutter geerbt. Genauso wie die Buchhandlung, die sich in einem Ladenlokal befand. Der Pachtvertrag bestand seit den Vierzigerjahren und war zum Glück erschwinglich. Sandra solle die Buchhandlung und das bunte Haus in Ehren halten, hatte ihre Mutter kurz vor ihrem Tod gesagt, als sie den Kampf gegen den Brustkrebs verloren hatte. »Ich weiß, du liebst Bücher, bist aber sehr verträumt, und ich hoffe, du schaffst es, diesen Laden zu führen, Kind. Das meine ich nicht böse. Du bist perfekt, wie du bist. Ich liebe dich über alles, das weißt du. Aber bitte gib dir Mühe mit der Buchhandlung, Sandra. Deine Großmutter hat so viel durchgemacht auf ihrer Flucht, hat es geschafft, sich in Brasilien ein Leben aufzubauen, wir müssen ihr Erbe in Ehren halten, das sind wir ihr schuldig. Vergiss nie: Die Buchhandlung hat sie und uns ernährt.«
Sandra hatte sich wirklich bemüht. Aber sie liebte es eben auch, Freunde zu treffen, feiern zu gehen, das Leben in Rio zu genießen. Da blieb nach Ladenschluss kaum Zeit, die öde Buchhaltung zu erledigen oder Remittenden zu verschicken. Oft brachte sie in ihrem Chaos einiges durcheinander.
Immer noch stand der Mann da. Schöne Augen hatte er. Dunkel, tiefgründig. Er zog sie wie magisch an. Sie liebte es, Menschen und ihre Genrevorlieben bei Büchern einzuschätzen, sie dann kennenzulernen. Ihr erster Eindruck stimmte beinahe immer. Schon länger war kein Kunde im Laden gewesen. Vielleicht konnte sie ihn hereinlocken?
In Gedanken versunken ließ er den Blick über die Bücher wandern, war bestimmt ein feinsinniger, nachdenklicher Mensch. Voll Fantasie. In diesem Moment sah er auf. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte ihn forsch an, und er lächelte verhalten zurück. Entschlossen ging sie zur Tür, öffnete sie.
»Bom dia. Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie ein bestimmtes Buch?«
»Ein Buch? Ja …« Er wirkte überrumpelt. Zog die Hände aus den Hosentaschen, fuhr sich durchs Haar. »Ich suche … etwas ganz Besonderes. Inspirierendes.« Dabei sah er sie mit einem Mal an, als hätte er es gefunden. Er deutete auf ihr Haar. »Die Blume steht Ihnen sehr gut.«
Sie betastete die Blüte, lachte. »Danke. Ich liebe Blumen. Aber ich finde es immer traurig, sie abzuschneiden. Deshalb lieber eine aus Seide.«
»Eine sehr schöne Sichtweise«, erwiderte er, sah sie immer noch an, steckte die Hände wieder in die Hosentaschen.
»Also, was genau suchen Sie?«, fuhr sie fort. »Warten Sie – Sie wagen sich nicht herein, weil Sie ein Buch suchen, das Ihnen unangenehm ist, nicht wahr? Haben Sie Mut. Mir können Sie es sagen.«
Er lachte. Ein sympathisches Lachen. »Nein, das ist es wirklich nicht. Mut fehlt mir zwar manchmal, aber nicht bei Büchern.«
»Mmhm. Sie lesen Krimis, aber nicht zu häufig, habe ich recht?«
»Ja, in der Tat, da haben Sie recht. Ich mag es zwar spannend, aber düster sollte es nicht zu oft sein. Mord, Totschlag, es gibt so viel Schreckliches in der Welt.«
»Das stimmt. Sie sind jemand, der gern in die Historie eintaucht. Historisch-Zeitgenössisch ist Ihr Genre, richtig?«
Wieder lächelte er, verschränkte die Hände vor der Brust, musterte sie von Kopf bis Fuß. »Richtig, die Geschichte lehrt uns so vieles. Woher wissen Sie das? Sieht man es mir an?«
Sie tat es ihm gleich, verschränkte die Hände vor der Brust, musterte ihn von oben bis unten. Er trug ein weißes Leinenhemd, eine beige Leinenhose. Dazu hochwertige braune Lederschuhe. »Das ist mein Geheimnis«, erwiderte sie kokett.
»Sie scheinen ein feines Gespür für Menschen zu haben«, stellte er fest.
Sandra freute sich. »Es macht mir Spaß, zu beobachten, Menschen kennenzulernen. Warten Sie, ich sehe noch mehr in Ihnen. Sie mögen die Bestsellerliste.«
»Gegen die Bestsellerliste habe ich in der Tat nichts.« Er räusperte sich, wurde ernster. »Vielleicht können Sie mir wirklich helfen. Ich suche nach einem Buch, das ich noch nicht beschreiben kann. Es muss sich richtig anfühlen, hier drin.« Er legte beide Hände auf seinen Bauch.
Unwillkürlich spürte Sandra ein Ziehen im Magen. »Das kenne ich.«
Verblüfft sah er sie an.
»Kommen Sie bitte herein, ich bin sicher, ich finde etwas für Sie.«
Er nickte, folgte ihr in den Laden und sah sich angetan um. »Eine wunderschöne Buchhandlung haben Sie«, sagte er. »Ein Traum.«
»Ein Traum?« Sandra war zu einem Regal getreten, in dem sich die historisch-zeitgenössischen Titel befanden, hatte ein Buch schon halb herausgezogen, hielt verwundert inne.
»Ja, hier zu arbeiten muss großartig sein.«
Nachdenklich sah sie ihn an, reichte ihm das Buch. »Das ist es.« Aber während er den Klappentext las, dachte sie nur an ihre Sehnsucht, die Welt zu bereisen. Sie liebte diesen Ort inmitten der Bücher, liebte Brasilien, ihre Heimat, aber ihr Traum war es schon seit Längerem, eine Weltreise zu unternehmen, unterschiedliche Kulturen kennenzulernen, frei zu sein. Die Buchhandlung, ihr Erbe, empfand sie in letzter Zeit immer mehr als Ballast.
Er schüttelte bedauernd den Kopf, reichte ihr das Buch zurück. »Leider nein. Es muss Liebe darin vorkommen. Gibt es darin eine große Liebesgeschichte?«
»Eine große Liebesgeschichte?«, entfuhr es ihr verblüfft. Dann lächelte sie. »Nur am Rande, es geht mehr um die brasilianische Geschichte.«
»Es muss den Leser emotional berühren. Das Herz.« Er pochte mit der rechten Hand auf seine Herzgegend, sah Sandra leidenschaftlich an. »Ich bin übrigens Gabriel. Und entschuldigen Sie, es klingt vielleicht ungewöhnlich, dass ich als Mann auf einer Liebesgeschichte bestehe. Über die Liebe zu schreiben ist so schwer, aber sie zieht Leser in ihren Bann.« Seine dunklen Augen leuchteten.
Sandra hatte ihm fasziniert zugehört, betrachtete seine Lippen. Seine vollen Lippen.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das sein muss. Jemand, der noch nie geliebt hat, kann darüber vermutlich nicht schreiben.«
Er wirkte plötzlich getroffen und ernst. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Sie zog ein anderes Buch aus dem Regal, reichte es ihm, dabei berührten sich ihre Hände. Er zuckte zurück.
Ihr Blick fiel auf seine Armbanduhr. Herrje. Sie hatte vollkommen die Zeit vergessen. »So spät ist es schon? Ich muss sofort zum Flughafen.« Sie entriss ihm das Buch, besann sich dann aber, reichte es ihm wieder. »Tut mir leid. Wollen Sie es in Ruhe ansehen? Dann nehmen Sie es mit. Falls Sie es behalten wollen, können Sie ein anderes Mal bezahlen. Ich muss jetzt sofort schließen.«
»Oh, gern, danke schön. Wann haben Sie denn immer geöffnet?«
»Meine Öffnungszeiten sind etwas … spontan.« Sie lachte. »Und einen Mitarbeiter habe ich leider nicht.«
»Dann gebe ich Ihnen meine Nummer, und Sie rufen mich an, wenn Sie da sind und nicht so viele Kunden im Laden haben.«
»So machen wir es.«
Schnell trat sie zum Tresen, schnappte sich ihre rote Handtasche, dazu einen Zettel und einen Stift, reichte beides Gabriel. Er kritzelte seine Nummer darauf. Sandra wartete bereits an der Tür, und Gabriel folgte ihr, gab ihr den Zettel zurück. Sie nahm ihn, spürte die Wärme seiner Hand, steckte das Papier in ihre Tasche.
»Bis bald, ich werde erwartet«, sagte sie, lächelte ihn an, schloss den Laden von außen ab und rannte los, drängte sich an Passanten vorbei, blieb an der belebten Hauptstraße stehen. »Taxi, Taxi!«, rief sie und winkte hektisch einem vorbeifahrenden Wagen zu.
*
»Bitte, können Sie nicht schneller fahren?«, bat Sandra den Taxifahrer, einen älteren Brasilianer mit lichtem, schwarz-grauem Haar und schlechten, schiefen Zähnen.
Der grinste. »Ah, die Liebe wartet«, sagte er nur, kaute auf einem Stöckchen weiter, das ihm im rechten Mundwinkel hing.
»Ach, die Liebe, nein, eine Freundin«, erwiderte sie spontan. Dabei kannte sie diese June gar nicht.
Wieso hatten es heute alle mit der Liebe? Sie liebte ihre Freiheit. Single zu sein hatte sehr viele Vorteile. Aber weshalb sollte sie dem Taxifahrer das alles erklären?
Hoffentlich wartet sie am Flughafen, dachte Sandra und sah erneut auf ihr Handy. Sie hatte June gerade eine Nachricht geschrieben, dass sie sich etwas verspäten würde, aber noch hatte die es offenbar nicht gesehen.
Natürlich herrschte um diese Zeit starker Verkehr, Autos hupten, drängten sich in ihre Fahrspur. Der Taxifahrer, der sein Bestes gab, fluchte und lachte dabei. Er schien ein so fröhlicher, positiver Mensch zu sein wie sie. Normalerweise hätte sie aus Kostengründen den Bus zum Flughafen genommen, aber sie hatte gehofft, mit dem Taxi schneller zu sein. Dass es Schleichwege gab, doch bei diesem Stau – unmöglich!
Der internationale Flughafen Rio de Janeiro-Galeão lag etwa zwanzig Kilometer nördlich vom Stadtzentrum. Sandra warf immer wieder einen nervösen Blick auf ihr Handy, Amerikaner waren sicher Pünktlichkeit gewohnt. Oder sagte man das nur den Deutschen nach?
Offenbar hatte June die Nachricht immer noch nicht gelesen. Vielleicht hat der Flug ja Verspätung, hoffte Sandra. Sie sah aus dem Fenster, genoss den Trubel auf den Straßen, der so typisch für Rio war. Auch wenn es bedeutete, nicht schnell voranzukommen. Sie liebte das bunte Leben in dieser Stadt, fühlte sich inmitten des turbulenten Treibens erst richtig lebendig.
Die Sonne schien in den Wagen, und Sandra schloss für einen Moment die Augen. Sofort dachte sie an diesen Mann von vorhin, Gabriel, der so feinfühlig gewirkt hatte wie keiner ihrer Freunde und Bekannten. Die waren eher Machos. Sie lernte selten Männer kennen, die so verträumt und zurückhaltend waren wie Gabriel. Sie wollte ihn unbedingt wiedersehen. Es machte Spaß, sich mit ihm zu unterhalten.
Von Machos hatte sie genug. Ihr letzter Partner hatte ernsthaft verlangt, dass sie jede Woche seine Wohnung putzte und aufräumte. Das konnte er schön selbst machen.
Sandra musste lächeln. Ordnung zu halten war sowieso nicht ihre Stärke. Im »kreativen Chaos«, wie sie es immer nannte, ließ es sich gut leben.
Endlich fuhr der alte Mann rasant am Flughafen vor. Das Hauptgebäude war in der Form eines riesigen Halbkreises erbaut und weckte in Sandra erst recht die Sehnsucht nach der großen weiten Welt, wann immer sie es sah. Sie liebte es, am Flughafen zu stehen, die Passagiere zu beobachten, die verschiedenen Nationalitäten anhand ihres Verhaltens und ihrer Kleidung zu erraten.
Sandra zahlte, gab dem Mann ein großzügiges Trinkgeld, denn die Alten hatten es noch schwerer in diesem Land, das wusste sie.
»Obrigado«, sagte er dankbar, küsste die Geldscheine und fügte ein »Gott segne Sie« auf Portugiesisch hinzu.
Sandra stieg lächelnd aus, betrat eiligen Schrittes das Flughafengebäude und lief zu dem Terminal, den June ihr genannt hatte. Es gab insgesamt zwei Terminals und zwölf Flugsteige. Zahlreiche Geldwechselstuben und Automaten befanden sich im Gebäude, es war voll, die Menschen schoben ihr Gepäck auf Kofferwagen, Kinder spielten Fangen, eine Mutter wies ihre Tochter auf Englisch zurecht. Sandra mochte Kinder, aber sie konnte sich kein eigenes vorstellen. Es würde ihren Wunsch nach Freiheit zu sehr einschränken.
Suchend ging sie durch die belebte Halle. Sie hatten die orangefarbene Blume im Haar als Erkennungsmerkmal ausgemacht, falls Sandra keinen Handyempfang haben sollte. Denn das kam bei ihrem günstigen Anbieter leider öfter vor.
Aber keine Frau in ihrem Alter schaute sich suchend nach ihr um. Sandra sah nur Paare, die sich glücklich in die Arme schlossen, Familien mit quengeligen Kindern und ältere Menschen, ein sehr niedliches weißhaariges Paar, Hand in Hand.
Erneut blickte sie auf ihr Smartphone, bedauerte es kurz, den günstigsten Anbieter gewählt zu haben. Andererseits mochte sie es nicht, jede freie Minute am Handy zu verbringen. Und davon hielt sie ihr schlechtes Netz oft ab.
Sandra lief weiter, und endlich trat eine Frau Mitte dreißig mit einem großen roten Hartschalenrollkoffer auf sie zu. Sie sah sehr sympathisch aus, modern, selbstbewusst, ein bisschen erschöpft von der Reise, trug eine Designer-Handtasche über der Schulter, an den Füßen teure Samt-Ballerinas. Warum haben wir einander eigentlich keine Fotos geschickt? Das hätte die Sache deutlich erleichtert, dachte Sandra amüsiert.
»Sandra?«, fragte die Frau freundlich, und sie bestätigte. Die Frau stellte sich auf Englisch als June vor, und Sandra nahm sie einfach herzlich in den Arm. Sie spürte, dass das vielleicht ein wenig zu spontan für June gewesen war, löste sich wieder.
In einem Englisch-Portugiesisch-Gemisch entschuldigte sie sich aufgedreht für ihre Verspätung. Ihr Englisch war nicht schlecht, aber auch nicht herausragend.
»Kein Problem, das Flugzeug hatte Verspätung«, erwiderte June gelassen. Sie schien ein ausgeglicheneres Temperament zu haben als Sandra. Vorsichtig fragte sie auf Englisch nach, ob sie Deutsch spreche.
Verblüfft sah Sandra sie an. »Ja, meine Großmutter hat es mir beigebracht.«
»Und mir meine«, erwiderte June lächelnd.
Sandra freute sich. So lange hatte sie die deutsche Sprache nicht mehr gehört. Und jetzt war sie noch neugieriger, warum June sie in Brasilien aufsuchte. »Du kannst gern bei mir wohnen«, schlug sie spontan vor. »Ist zwar etwas chaotisch bei mir, aber gemütlich.«
»Oh, das ist lieb, danke für deine Gastfreundschaft, aber ich habe schon ein Hotel gebucht. In der Nähe deiner Buchhandlung.«
Sandra sah June neugierig von der Seite an, während sie mit dem großen Koffer im Schlepptau Richtung Ausgang marschierten. In der Nähe der Buchhandlung? Als June vor ein paar Tagen aus New York angerufen hatte, war die Verbindung sehr schlecht gewesen. Was wieder mal an Sandras Anbieter gelegen hatte. Sie hatte verstanden, dass es um ihre Großmutter Maria gehe, dass Junes Großmutter eine Freundin von ihr gewesen und June Journalistin sei und Sandra, die Enkelin von Maria, gern besuchen und sprechen wolle. Irgendetwas hatte sie auch über die Buchhandlung gesagt, aber Sandra hatte den Zusammenhang nur halb verstanden. Die Uhrzeit ihrer Ankunft hatte June ihr dann per Kurznachricht mitgeteilt.
Sie traten aus dem Flughafengebäude, die heiße Luft schlug ihnen entgegen.
»Puh, heiß hier«, entfuhr es June. Sie sah sich um, stützte sich auf ihren Koffer, als hätte sie Kreislaufprobleme.
»Alles gut?«
»Ja, na ja, ich muss mich erst an die Hitze gewöhnen, habe vermutlich auch nicht genug getrunken.«
»Mit dem großen Koffer willst du dann sicher lieber Taxi fahren, oder?«, fragte Sandra.
»Ja, gern. Aber man soll sicherheitshalber nur bestimmte Taxen nehmen in Brasilien, richtig?«
Sandra stimmte zu. »Keine Sorge, ich kenne mich aus.« Wie viele Touristen hatte June offenbar von der hohen Kriminalitätsrate in Brasilien gehört. Und leider war diese nicht zu leugnen. Dennoch ging Sandra ohne Furcht durch die Straßen Rios, nur in der Nacht fühlte sie sich allein als Frau unwohl. Bisher war ihr zum Glück nie etwas geschehen.
Gerade als Sandra auf einen Taxifahrer zugehen wollte, klingelte Junes Handy. Sie hielten inne, June warf einen Blick darauf, entschuldigte sich. »Das ist mein Freund, ich muss kurz rangehen, er macht sich sonst Sorgen, okay?«
»Klar, die Liebe geht vor.« Sandra lächelte und wartete.
June nahm ab. »Hendrik, ich bin gut gelandet, der Flug hatte nur etwas Verspätung …« Sie lauschte, ihre Miene wurde ernster. »Oh, das ist ja schade. Wirklich?«
Nachdem sie ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, verabschiedete sie sich bedrückt und legte auf. »Er kann leider nicht kommen.«
»Oh, er wollte auch nach Rio reisen?«, fragte Sandra erstaunt.
»Ja, er ist Däne und Chefkoch in unserem Restaurant und interessiert sich sehr für die brasilianische Küche.«
»Ihr habt ein Restaurant?«
June sah sie an. »Äh, nein, so meinte ich das nicht. Das erkläre ich dir nachher in Ruhe.«
Sandra nickte verwirrt, kaufte einem Straßenhändler eine Flasche Wasser ab und reichte sie June.
»Danke. Vor allem aber wollte er mir in Brasilien beistehen«, fuhr June nachdenklich fort. Dann öffnete sie die Flasche und nahm mehrere Schlucke.
Beistehen? Das Ganze klingt ja immer mysteriöser, dachte Sandra. Worum ging es hier? Doch während sie vor der Flughafenhalle standen, wollte sie nicht genauer nachfragen. Ständig liefen Passanten mit Gepäck an ihnen vorbei, fuhren Wagen vor und brachten Fluggäste zum Terminal.
June schien sich zusammenzureißen, lächelte bemüht. »Ich hätte so gern mit ihm alles hier erkundet. Wir kennen uns noch nicht lange. Unsere Beziehung ist recht frisch und besonders. Er hat eine Ex-Frau, eine ganz liebe Frau, die leider einen Unfall hatte und im Rollstuhl sitzt.«
»Nossa Senhora! Das tut mir sehr leid. Wie schrecklich, die Arme.«
»Ja, das ist es. Es ist schon ein paar Jahre her, sie ist recht selbständig, aber natürlich auf Hilfe angewiesen. Als wir zusammen buchen wollten, hatte sie starke Unterleibsschmerzen und musste ins Krankenhaus. Deshalb bin ich erst mal allein geflogen, Hendrik wollte nachkommen. Dann war alles wieder gut. Aber jetzt hat sie wieder starke Krämpfe. Die Ursache ist immer noch unklar.«
»Herrje, vielleicht geht es ihr ja bald besser und dein Hendrik kann nachkommen?«, fragte Sandra aufmunternd.
»Das wäre schön. Er kannte meine Großmutter Luise, die Freundin deiner Großmutter Maria, er ist ein wenig involviert in die ganze Geschichte.«
Sandra sah sie neugierig an. »Ich bin gespannt auf die Geschichte. Wie hast du mich denn ausfindig gemacht?«
June lächelte jetzt wieder. »Ich bin Journalistin. Ich habe durch sehr viel Recherche herausgefunden, dass deine Großmutter Maria nach Brasilien ausgewandert ist. Zusammen mit ihrer Familie. Ich kannte ihren Nachnamen, Kirschbaum, wusste, dass sie in Berlin Buchhändler waren. Und da deine Großmutter damals im Exil, in Rio, eine Buchhandlung aufgemacht hat, später sogar mit mehreren Filialen, wie ich erfahren habe, bin ich fündig geworden.«
»Du scheinst eine gute Journalistin zu sein.« Sandra lächelte beeindruckt.
»Danke. Es gehörte auch Glück dazu. Wenn Maria nicht so eine starke Frau gewesen wäre und in Brasilien in den Vierzigerjahren keinen eigenen Laden eröffnet hätte, wäre es schwieriger geworden.«
»Ja, sie war eine bewundernswerte Frau«, pflichtete Sandra ihr bei.
»Meine Großmutter Luise auch«, fügte June hinzu. »Und eine Frau voller Geheimnisse, aber dazu später mehr.«
»Gern. Ich bin schon so neugierig.« Sandra wandte sich an einen Taxifahrer, verhandelte mit ihm einen Preis, und der sportlich gebaute Mann willigte ein und nahm June den wuchtigen Koffer ab, hob ihn hoch, als wäre er leer, legte ihn in den Kofferraum. Die beiden Frauen stiegen hinten ein.
Im Wagen nannte June dem Fahrer die Adresse des Hotels, und sie fuhren los, auf die Schnellstraße ins Stadtzentrum. Die ganze Zeit sah sich June um, und Sandra freute sich über ihren interessierten Blick, mit dem sie die zahlreichen hohen Häuser betrachtete.
»Wow, Rio ist riesig, eine wirklich dichtbesiedelte Stadt«, sagte sie. »Über 6,7 Millionen Einwohner ist ja auch eine beeindruckende Zahl.« Lächelnd ergänzte sie: »Ich recherchiere immer alles, bringt der Beruf mit sich.«
»Verstehe. Ja, Rio ist groß und bunt und sehr spannend.«
»Ich freue mich immer, neue Ecken der Welt kennenzulernen. Brasilien scheint ein wundervolles Land zu sein.« June wandte den Blick zurück zu den belebten Gehwegen. »Zum Glück wurde die massive Abholzung des Regenwaldes eingeschränkt.«
»Ja, es ist so wichtig für den Klimaschutz.«
»Ohne Brasilien wird der Klimaschutz nicht funktionieren«, pflichtete June ihr bei. Diese Amerikanerin schien sich wirklich dafür zu interessieren, das gefiel Sandra. Ihre Heimat und diese klimapolitischen Themen waren ihr sehr wichtig.
»Es ist ein faszinierendes Land, du wirst sehen. Aber ach, ich würde auch so gern andere Länder kennenlernen und bereisen«, erklärte Sandra. »Leider bin ich aus Brasilien noch nicht herausgekommen.«
»Oh, wirklich? Dann warst du also nie in Deutschland – ich meine, wegen deiner Großmutter? Sehr schade.«
»Ja, das ist es. Meine Großmutter hat mir früher von ihrer Kindheit in Berlin erzählt. Ein bisschen von ihrer Buchhandlung später, aber nicht viel. Sie wollte nicht über ihre letzten Jahre dort reden, was ich verstehen kann. Die Gräuel, die sie als Jüdin in der Nazi-Zeit durchstehen musste, möchte man sich kaum ausmalen. Vielleicht wollte sie mir keine Angst machen. Ich bin ja auch Jüdin, wie meine Mutter. Der jüdische Glaube wird ja über die Mutter vererbt, aber das weißt du ja sicher. Wir haben die Religion jedenfalls nie gelebt. Großmutter damals in Berlin wohl auch nicht. Das hat ihr nicht gefehlt, aber Berlin, wie es vor dem Krieg war, schon, das habe ich immer gespürt, wenn sie von ihrer Kindheit und Jugend erzählte.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich lebe in Berlin, oder besser gesagt, habe die letzten Jahre dort gelebt. Eine wunderschöne, interessante Stadt, obwohl sie natürlich auch negative Seiten hat.«
»Wie fast jede Stadt. Berlin ist im Gegensatz zu Rio bestimmt ein harmloses Pflaster.« Sandra lachte. »Das heißt, du lebst nicht in Amerika?«
»Dort bin ich geboren und aufgewachsen, nach dem frühen Tod meiner Eltern hat mich meine Großmutter aufgezogen. Aber fürs Studium bin ich nach Berlin gegangen und habe dort geheiratet. Die Ehe hat nicht gehalten, aber ich bin geblieben. Der Tod meiner Großmutter, ihr Vermächtnis, hat mich wieder in die Staaten geführt. So habe ich Hendrik kennengelernt, der in New York lebt. Seitdem steht mein Leben auf dem Kopf. Und vor allem seit ich von der Vergangenheit meiner Großmutter erfahren habe. Sie hat mir so vieles nie erzählt, dabei war sie für mich wie eine Mutter.«
»Oh, wieso hat sie nichts erzählt?«
»Ich denke, aus demselben Grund, aus dem deine Großmutter vieles für sich behielt. Sie konnte es wohl nicht, die Zeit des Zweiten Weltkriegs war zu traumatisch. Sie hat mir nie gesagt, dass sie aus Deutschland stammt und ausgewandert ist. Ich habe jetzt erst durch ihr Testament davon erfahren.«
Der Taxifahrer bremste scharf ab, sodass sie sich festhalten mussten. Ein Wagen vor ihnen hatte abrupt gehalten. Es war viel los auf Rios Straßen. Ständig wurde gehupt, immer wieder schlängelten sich Personen durch den Verkehr, immer wieder versuchten Bettler oder Straßenhändler ihr Glück. »Sehr viel Trubel, und leider viel Armut«, stellte June fest. »Aber ich liebe diese Samba-Rhythmen.«
Sandra gab ihr recht. Das Taxi fuhr weiter, im Schneckentempo, schneller ging es nicht in diesem turbulenten Verkehr.
»Was hast du denn noch erfahren?«, fragte Sandra nach.
June schien zu überlegen, wo sie anfangen sollte, schüttelte dann den Kopf. »Unsere Großmütter haben sehr viel mitgemacht. Meine Großmutter Luise musste in Deutschland um ihr Leben fürchten, weil sie sich dem Regime widersetzte und Flugblätter verteilte. Und nach ihrer Flucht hatte sie auch keine leichte Zeit im Exil, in New York. Ihr Verlobter Richard wurde immer lethargischer, alles blieb an ihr hängen, wie oft an den Frauen im Exil, was heutzutage kaum einer weiß. Luise hat ihre besten Freundinnen sehr vermisst, deine Großmutter Maria Kirschbaum und eine Anni Graf. Die drei waren beste Freundinnen. Aber irgendetwas Gravierendes muss zwischen ihnen vorgefallen sein, sodass ihr Kontakt 1939 plötzlich abbrach. Und was das war, müssen wir herausbekommen und die Nachfahren von dieser Anni finden, denn sonst können wir unser Erbe nie antreten, das hat Luise in ihrem Testament so verfügt.«
Verblüfft sah Sandra sie an. »Unser Erbe? Erst wenn alle drei Nachfahren gefunden wurden?«
»Ja, genau. Deshalb bin ich hier. Ein Glück habe ich schon mal herausbekommen, dass du hier in Brasilien lebst.«
»Aber wie sollen wir die von dieser Anni finden? Hast du gar keine Hinweise auf ihren Verbleib damals?«
»Leider nein. Ich hatte gehofft, dass du etwas über sie weißt, von deiner Großmutter?«
Sandra schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Name sagt mir tatsächlich etwas, sie hat einmal von dieser Anni gesprochen, ich weiß aber nicht mehr, was sie genau gesagt hat. Ich war noch ein Kind, fand nur den Namen schön.«
»Herrje, dann hast du also gar keinen Hinweis. Das habe ich befürchtet. Vielleicht kommen wir auf eine Spur, wenn wir mehr über die Flucht deiner Großmutter Maria herausfinden.«
»Vielleicht.« Sandra dachte nach. »Ihre Flucht scheint abenteuerlich gewesen zu sein, ging quer durch Europa, mehr weiß ich darüber leider nicht, ich war ein Kind. Sie hat oft über ihre Buchhandlung gesprochen. Über die in Berlin und wie sie diese hier gegründet hat. Bücher haben sie wohl gerettet. Waren ihr Leben. Das habe ich von ihr.«
»Ich liebe Bücher auch«, erklärte June.
Die Frauen lächelten einander verstehend an. Dann hakte June nach: »Und was genau hat Maria über ihre Buchhandlung erzählt? Alles kann uns weiterbringen.« Sie konzentrierte sich jetzt nur noch auf Sandra, hatte keine Augen mehr für die Umgebung. Sie befanden sich in Ipanema, dem Ausgehviertel unweit der Buchhandlung.
Sandra überlegte. »Großmutter meinte, dass jüdische Buchverleger und Buchverkäufer im Reichsgebiet schon 1936 nur noch ›Jüdisches Schrifttum‹ vertreiben durften. Dass sie noch Glück hatten, ihre Buchhandlung überhaupt führen zu dürfen. Das ist mir auch in Erinnerung geblieben, weil es Jahre vor dem Krieg war, wie sie sagte. Es war ihnen nur erlaubt, die Bücher an Juden zu verkaufen. Ihr Mann Jakob hatte sich aber wohl öfter darüber hinweggesetzt, was lebensgefährlich werden konnte. Es gab Denunzianten, und Großmutter hatte riesige Angst um die Kinder, um Jakob, um ihre Familie.«
Berlin, März 1937
Jakob, du weißt doch, du darfst nur noch an unsere Leute verkaufen«, sagte Maria zu ihrem Mann, nachdem er in der Buchhandlung Herrn Papies verabschiedet hatte. Der hatte ein bestelltes Buch für seine Frau abgeholt, das Jakob ihm in Papier eingeschlagen hatte. Dabei hatte Herr Papies Maria und Tabea abschätzig von oben herab angesehen, wie noch nie. Beschwörend fuhr Maria fort: »Jakob, wir müssen die Anordnungen einhalten, auch wenn es uns nicht gefällt. Du weißt nicht, ob uns sonst doch jemand meldet.«
Diese Anordnungen bestanden schon länger. Jüdische Buchhändler durften nur noch jüdische Literatur und nur noch an Juden verkaufen. Jakob missachtete die neuen Gesetze regelmäßig. Einerseits gefielen ihr seine Eigensinnigkeit, sein unbezwingbarer Stolz, andererseits versetzte er sie damit in Angst und Sorge.
Sie nahm seine Hand in ihre, drückte sie, deutete zu ihrer Kleinen. Tabea saß wie so oft, seit Maria wieder einige Stunden im Laden mitarbeitete, an dem edlen Mahagoniholztisch und las konzentriert in einem Kinderbuch. Dabei spielte sie gedankenverloren mit einem ihrer geflochtenen Zöpfe, zog immer wieder diese niedliche Schnute und murmelte vor sich hin. Mit ihren vier Jahren konnte sie tatsächlich schon einige Buchstaben lesen.
»Denke bitte an die Kinder«, sagte Maria leise. »Es gibt so viele Denunzianten, auch Juden.«
Jakob drückte ihre Hand, ließ sie wieder los. »Du weißt, ich denke immerzu an euch. Frau Papies ist eine liebe Stammkundin«, erklärte er. »Sie kommt so oft zu uns, liest gern jüdische Autoren, sie mag unsere Familie. Und sie sieht nicht den Juden in mir, sondern den Menschen.«
Sie sah es an seinen Augen. Sie wusste es. Jakob verletzte es zutiefst, nicht gleichwertig behandelt zu werden, und Maria verstand ihn. Es tat weh, sehr sogar.
»Das weiß man leider heutzutage nie, bei keinem, wie er zu uns steht. Menschen und ihre Einstellungen verändern sich. Die Propaganda wirkt, Jakob.« Sie sah ihren Mann bittend an.
In dem Moment kam Frau Papies in die Buchhandlung gehetzt, einen modernen Hut schief auf ihrem Haar, sah sich immer wieder um, als würde sie verfolgt werden. Sie hatte das eingepackte Buch dabei, das ihr Mann gerade für sie abgeholt hatte, legte es lautstark auf die Theke. »Herr Kirschbaum, es tut mir so leid, aber mein Mann hat gedroht, Sie anzuzeigen, wenn Sie an Arier verkaufen. Er hat mir sogar verboten, jüdische Literatur zu lesen. Ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen, hier, ich gebe es zurück.« Und ehe Jakob reagieren konnte, huschte sie wieder aus der Buchhandlung, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her.
Am Abend saß Jakob wie ein Häuflein Elend am Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände.
Maria trat von der Spüle, an der sie den Abwasch erledigt hatte, zu ihm, strich ihrem Mann über den Arm. Was konnte sie tun, damit es ihm wieder gut ging? Sie liebte ihn so sehr.
Als sie zu Bett gingen, schmiegte sie sich an ihn, spürte ihn, atmete seinen vertrauten Duft ein. Sie fasste einen Entschluss. »Jakob, wenn du denkst, es ist besser, nicht auszureisen, dann lass uns eine Buchhandlung in einer Einrichtung der jüdischen Gemeinde eröffnen«, flüsterte sie.
Er sah sie nachdenklich an.
»Das ist doch möglich für uns«, fuhr Maria fort. »So können wir wenigstens weiter Bücher verkaufen, das tun, was wir lieben.«
»Du verlangst von mir, die Buchhandlung meines Großvaters und Vaters aufzugeben?«
»Nein, nicht ich. Sie tun das. Und nein, du musst nicht aufgeben, die Buchhandlung muss nur umziehen, in Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde. Ich habe schon ein mögliches Ladenlokal im Auge.«
Überrascht stützte er sich auf, sah sie an. »Du warst allein unterwegs und hast einen Laden gesucht?«
»Warum nicht? Tabea und ich haben einen kleinen Spaziergang unternommen.« Sie lächelte. »Ich liebe die Arbeit mit Büchern doch so sehr wie du.«
Einen Moment lang starrte er nachdenklich vor sich hin. Dann wurde seine Miene ernster. »Denkst du, ich kümmere mich nicht genug um das Wohl unserer Familie?«
»Was, nein! Das tust du. Du bist den ganzen Tag im Laden und arbeitest so fleißig. Ich hatte einfach die Zeit. Sieh dir das Lokal bitte an, sonst nimmt es ein anderer.«
Er zuckte mit den Schultern, legte sich wieder auf den Rücken, starrte traurig an die Zimmerdecke.
Maria lag neben ihm, sehnte sich nach ihm, wusste aber, dass er jetzt keinen Kopf für sie hatte. Schon länger hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen. Die Schikanen setzten ihm zu. Machten aus diesem einst so stolzen Mann eine verletzliche Hülle. Der Hass auf die Juden verletzte sie alle tief.
Jakob fehlte ihr, der alte Jakob, der ihr abends im Bett oft noch etwas aus einem Buch vorgelesen hatte. Maria seufzte innerlich, versuchte, ihre Gedanken auf einen eventuellen Umzug der Buchhandlung zu lenken. Es würde viel Arbeit bedeuten, alle Bücher sorgfältig zu verpacken und in ein neues Ladenlokal zu schaffen. Lohnte sich das überhaupt? Würden sie ihnen nicht auch dort bald verbieten, eine Buchhandlung zu führen? Die Nazis ließen sich immer wieder neue Beschränkungen und Schikanen einfallen.
Jakob überlegte ein paar Tage, fast ein paar Tage zu lang. Dann, Ende März, kam die Anordnung, dass die letzten verbliebenen jüdischen Buchhändler nun wirklich nur noch in Einrichtungen der jüdischen Gemeinden Bücher vertreiben durften. Und als wäre das nicht genug, hatte sie Herr Papies, der Mann ihrer Stammkundin, offenbar verpfiffen. Jakob konnte es nicht fassen. Aber ihm blieb keine Wahl mehr. Er musste sich dem Regime fügen. Dem, was er so hasste.
Manchmal erinnerte er sie an Luise, ihre rebellische Freundin. Nur dass er sich widersetzte, indem er es aussitzen, hierbleiben wollte. Luise dagegen war aktiv gewesen und agierte sicher schon von der Ferne aus. Zwar hatte sie in den Briefen, die Maria bisher von ihr erhalten hatte, nichts dergleichen geschrieben, eher, dass es in der Fremde nicht leicht sei, dass Richard verzagte. Dennoch bekräftigte sie immer wieder, dass es in Amerika sicherer und besser sei als unter diesem Hitler und dass Maria und Anni, so schnell es ging, nachkommen sollten.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, Noah war bereits in der Schule, und Tabea spielte in ihrem Zimmer, verkündete Jakob gepresst: »Also gut, sie zwingen mich ja, ich gebe unsere Buchhandlung in Schöneberg auf, Maria. Aber nur an diesem Standort. Wir sehen uns morgen das Ladenlokal unserer jüdischen Gemeinde zusammen an. Wenn es noch zu haben ist. Ganz klein kriegen sie mich nicht.«
Maria nickte erleichtert. Immerhin. Immerhin legte er sich nicht mit den Nazis an.
Jakob nippte an seinem Tee, stellte dann die Tasse wieder ab. »Von diesem Hitler lasse ich mich nicht aus meinem Land vertreiben. Und von Hitlers Schergen auch nicht. Menschlich bin ich zutiefst enttäuscht. Aber ich arbeite weiter als deutscher Buchhändler. Was soll ich im Ausland? Du siehst doch, wie es Richard dort drüben ergeht.«
Maria seufzte. Ein klein wenig Englisch konnten sie beide sprechen, aber nicht gut genug, um englische Literatur lesen und empfehlen zu können.
»Danke, Jakob. Ich hoffe, das Ladenlokal ist noch zu haben. Und dass wir mit den Einnahmen über die Runden kommen.«
»Das werden wir. Es gibt so viel gute jüdische Literatur. Und so viele gebildete Menschen in der jüdischen Gemeinde. Es kann ja nicht immer so weitergehen. Es wird wieder gut werden, Maria, ganz bald.«
Doch sie entgegnete nichts, war müde geworden, ihre Befürchtungen kundzutun. Sie nippte an ihrem Tee, der mittlerweile lauwarm war. Er schmeckte schwach nach Pfefferminze, denn sie verwendete die Beutel mehrfach seit ein paar Wochen.
Der Umzug der Buchhandlung musste schnell gehen. Während sie das Ladenlokal leer räumten, traten Jakob Tränen in die Augen, die er verschämt wegwischte. Die Buchhandlung seines Großvaters und Vaters war eine Institution in ihrem Kiez gewesen. Da schon einige ihrer jüdischen Freunde ausgewandert waren oder mit sich selbst zu tun hatten, blieben nur zwei, die ihnen halfen, die unzähligen Kisten zu packen. Man unterstützte sich gegenseitig in diesen Zeiten, Geld für Umzugshelfer hatten sie nicht mehr. »Wir müssen das Geld, was sie uns gelassen haben, zusammenhalten«, hatte Jakob gesagt.
Die Bücherkisten wogen schwer. Nicht nur Maria, auch die Kinder halfen beim Packen. Anni war leider auf dem Land.
Und dann kam Frau Papies vorbei. »Herr Kirschbaum, Frau Kirschbaum, es tut mir so unendlich leid. Ich habe mich von meinem Mann getrennt, ich wollte, dass Sie das wissen.«
Erstaunt sah Maria diese tapfere Frau an. Sie hatte ihren Mann sicher geliebt, aber sein Handeln und seine Gesinnung verachtet. Wie viel Mut es sie gekostet haben musste, in diesen Zeiten.
»Danke«, brachte Jakob heraus.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die gute Frau sogar.
»Auf keinen Fall. Das haben Sie schon. Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute.«
»Ich Ihnen auch.« Frau Papies zog ein Taschentuch hervor, winkte damit Tabea, die sie mit großen Augen ansah, tupfte sich dann die Augen und ging mit gesenktem Kopf weiter.
Beeindruckend, dachte Maria. Es gab sie noch, die guten Menschen. Vielleicht hatte Jakob ja doch recht, und sie würden bald wieder die Oberhand gewinnen.
»Lass uns weitermachen, Maria.«
Sie brachten die vielen Bücher in ihre neue Buchhandlung, die um einiges kleiner war als ihr alter Laden. Der enge Verkaufsraum stand bald voller Kartons, ein einziges Chaos.