Die Glücksfrauen - Der Geschmack von Freiheit - Anna Claire - E-Book

Die Glücksfrauen - Der Geschmack von Freiheit E-Book

Anna Claire

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Beschreibung

Die große Reihe um drei Exilantinnen während des Zweiten Weltkriegs

Drei beste Freundinnen - jede von ihnen lebt in Nazi-Deutschland, jede in großer Gefahr. Ein unverzeihlicher Fehler zerstört ihre Freundschaft. Nun, rund 85 Jahre später, erfährt die junge Amerikanerin June, dass ihre verstorbene Großmutter Luise 1936 aus Deutschland in die USA immigriert ist. Außerdem erbt sie ein Restaurant in Manhattan, das ihr aber nur zu einem Drittel gehört. Die anderen beiden Restaurant-Anteile soll June den verschollenen Freundinnen ihrer Großmutter, beziehungsweise ihren Erben zurückgeben. Ohne zu zögern, macht June sich auf die Suche und erfährt auch von dem Bruch zwischen den drei Frauen. Was ist damals geschehen? Und kann June diese Wunde heilen?

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Luises Berliner Streuselkuchen

Über das Buch

Die große Reihe um drei Exilantinnen während des Zweiten Weltkriegs

Drei beste Freundinnen – jede von ihnen lebt in Nazi-Deutschland, jede in großer Gefahr. Ein unverzeihlicher Fehler zerstört ihre Freundschaft. Nun, rund 85 Jahre später, erfährt die junge Amerikanerin June, dass ihre verstorbene Großmutter Luise 1936 aus Deutschland in die USA immigriert ist. Außerdem erbt sie ein Restaurant in Manhattan, das ihr aber nur zu einem Drittel gehört. Die anderen beiden Restaurant-Anteile soll June den verschollenen Freundinnen ihrer Großmutter, beziehungsweise ihren Erben zurückgeben. Ohne zu zögern, macht June sich auf die Suche und erfährt auch von dem Bruch zwischen den drei Frauen. Was ist damals geschehen? Und kann June diese Wunde heilen?

Über die Autorin

Anna Claire ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Sie arbeitet als Drehbuchautorin und Dramaturgin für das Fernsehen. Seit 2013 schreibt sie Romane und hat sich damit in die Herzen von vielen Leserinnen und Bloggerinnen geschrieben und eine große Social-Media-Fanbase aufgebaut. Die Autorin lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Berlin.

Anna Claire

Der Geschmack von Freiheit

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Copyright © 2023 by Anna Claire

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: Anne Schünemann, SchönbergUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Illustrationen von © Trevillion Images: Natasza Fiedotjew; © shutterstock: RomanYa | ElonalaffeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-4815-5

luebbe.delesejury.de

»Betrachte einmal die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bisher gesehen hast. Denn das heißt, ein neues Leben beginnen. Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast.«

MARC AUREL

KAPITEL 1

Berlin, Juli 1936

Fahnen, überall Fahnen. Ganz Berlin flatterte im lauen Sommerwind. Die Olympischen Sommerspiele würden in wenigen Wochen beginnen. Sommerspiele, was für ein schönes Wort, dachte Luise, Sommerspiele im Sommerwind, fast wie Poesie. Aber nur fast. Eilig ging sie den holprigen Gehweg in Schöneberg entlang, kickte einen kleinen Stein vor sich her, strich ihre wilden blonden Locken zurück. Sie liebte Wortspiele, denn Worte hatten so viele Bedeutungen, Worte konnten aufwecken, Geheimbotschaften enthalten.

Als sie um die nächste Straßenecke bog, strömte ihr der Duft von frischen Backwaren entgegen. Selbst hier, vor ihrer Lieblingsbäckerei, in der sie und ihre Freundinnen sich jeden Donnerstag am Mittag trafen, um ihren geliebten Berliner Streuselkuchen auf die Hand zu essen und zu schwatzen, flatterten sie, zwei Fahnen. Rot. Ein weißer Kreis. Ein schwarzes verdrehtes Kreuz. Luise fröstelte. Bei dieser Hitze. Sie blieb kurz stehen und rückte ihren Hut zurecht. Wie sollte sie es ihren Freundinnen sagen? Das, was vor ein paar Tagen geschehen war, das, was ihnen geschehen würde, wenn sie sich nicht endlich entscheiden konnten?

»Renn, Luise, renn um dein Leben!«, hatte Richard panisch geschrien. Und Luise war gerannt, so schnell wie nie zuvor.

Aber ihre Freundinnen wollten nicht sehen, was in Deutschland Unmenschliches geschah, verschlossen die Augen, hofften wie so viele, dass alles gut werden würde. Aber verhöhnten nicht all die flatternden Fahnen diese Hoffnung im Wind?

»Da bist du ja endlich«, hörte sie Marias Stimme und sah auf. Maria, die Pragmatische, Belesene, verheiratet mit Jakob, einem Buchhändler. Die beiden hatten zwei ganz wunderbare Kinder: die dreijährige Tabea und den sechsjährigen Noah. Wie so oft trug sie ein Buch unter dem Arm. Die schwarzen Haare seitlich zusammengerollt, die Strähnen ihres Ponys kräuselten sich in kleinen Löckchen an den Schläfen. In einer Hand hielt sie ein Stück Streuselkuchen, in der anderen eine Papiertüte der Bäckerei.

Neben ihr stand Anni, die Dritte im Bunde, und zwirbelte eine blonde Haarsträhne zwischen den Fingern. Ihr langes, gewelltes Haar hatte sie seitlich eingedreht und zurückgesteckt. Auch sie balancierte ein Stück Kuchen auf der Handfläche und musterte Luise forschend mit ihren hellblauen Augen.

»Ich hab dir schon ein Stück mitgekauft, Luise«, sagte Maria, hielt ihr die Papiertüte hin und lächelte.

»Danke.« Luise nahm die Tüte entgegen, öffnete sie aber nicht. »Es ist etwas passiert«, platzte sie heraus.

»Das habe ich dir sofort angesehen«, erwiderte Anni triumphierend, strich ihr blaues Kleid glatt. Wie immer sah sie fantastisch aus und duftete nach Lavendelseife. Anni war die Romantischste der drei Freundinnen. Geschmack hatte sie, zumindest was Dinge betraf. »Luise, bei dir ist immer etwas passiert«, neckte sie ihre Freundin. »Was ist es denn nu wieder?« Genüsslich biss sie in ihren Streusel und leckte sich über die Lippen.

Luise atmete durch, ihre Hand zitterte plötzlich, das Papier raschelte. »Richard. Richard ist weg.«

»Er hat dich verlassen?«, entfuhr es Anni mitleidig. Sie war eine Seele von Mensch, glaubte immer an das Gute. Eines Tages würde sie eine großartige Mutter werden, so, wie sie es sich wünschte. Mit ihrer herzlichen, fröhlichen Art konnte man sie nur gernhaben. Auf sie war immer Verlass.

»Nein, wir sind aufgeflogen«, berichtete Luise. »Gestern. In diesem Keller. In dem die Druckmaschine steht, mit der unsere Gruppe die Flugblätter druckt.«

Maria schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Anni kaute ruhig weiter.

»Richard hat sie in Grund und Boden geredet, die polternden Nazis, mit seinen grandiosen Ausreden, seinen erfundenen Kontakten nach ganz oben. Für mich haben sie sich nicht interessiert. Noch nicht. Richard glaubt, ich bin ebenfalls in Gefahr, weil ich Texte für die Flugblätter schreibe. Wobei er auch sagt, Frauen trauen sie nicht viel zu. Deshalb haben sie mich da im Keller nicht ernst genommen. Sollten sie aber mal«, schloss sie rebellisch.

Anni verschluckte sich an ihrem Kuchenstück und hustete. Maria schlug ihr herzhaft mit der Hand auf den Rücken. Als sie wieder atmen konnte, sagte Anni: »Luise, es ist doch klar, dass sie etwas dagegen tun müssen, wenn ihr … so was verbreitet.«

»Wir verbreiten keine Lügen«, konterte Luise wütend. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, mit Anni darüber zu reden. Mit Anni, die ihren Siegfried vergötterte, den sie schon seit der Grundschule kannte, der in der Gestapo war, in dem sie dennoch nur das Gute sah.

»Immerhin hält Siegfried seine schützende Hand über Maria und ihre Familie«, hatte Anni einmal gesagt. »Auch wenn sie Juden sind, ihnen wird nichts geschehen.« Auch wenn sie Juden sind. Worte konnten die Liebe zu Freundinnen anzweifeln lassen. Im schlimmsten Fall zerstören. Zumindest anknacksen konnten sie. Luise hatte viel mit Anni diskutiert. Sie hatte versucht, ihr die verliebten Augen zu öffnen, aber Anni besaß auch eine sture Seite, und sie war Meisterin der Verdrängung. Gegen Sätze wie »Jeder Mensch hat das Recht, zu denken, was er möchte, das sagst du doch selbst immer, Luise«, konnte selbst eine Studentin der Philosophie nichts ausrichten.

Richard hätte es gekonnt. Zuerst ihr Dozent an der Uni, seit einem Jahr ihre Liebe. Ein angesehener Wortkünstler. Und vor ein paar Wochen hatte er um ihre Hand angehalten. »Wollen wir heiraten, Luise?« Banale Worte. Aber es hatte sich angefühlt, als ob das Glück aus ihrer Brust herausplatzen müsste.

In diesem Moment kamen ihnen zwei Soldaten entgegen. Sie trugen braune Uniformen und waren vermutlich in ihrem Alter. Sie musterten die jungen Frauen mit überheblichen, kühlen Blicken. Luise bemühte sich, heiter zu wirken, etwas Spaßiges zu den Freundinnen zu sagen. Aber Maria versteifte sich. Nur Anni lachte über Luises Scherz, lächelte dann die beiden an und grüßte sie mit »Heil Hitler«. Sie grüßten mit »Heil Hitler« zurück und gingen weiter. »So musst du das machen, Luise. Opportun sein ist auch klug«, erklärte Anni.

Luise atmete durch.

»Also, wo ist Richard?«, hakte Maria besorgt und leise nach.

»Jetzt gerade … müsste sein Zug schon in Hamburg sein, bald ist er auf dem Schiff«, antwortete Luise angespannt.

»Was?«, hakte Maria nach. »Ohne dich?«

Luise schluckte. Ihre Enttäuschung, dass er ohne sie gegangen war, kroch hervor wie eine scheue Eidechse. Luise scheuchte sie schnell wieder zur Seite. Es wäre nicht anders gegangen. Sie hatten vorher viel darüber diskutiert. Ob sie als politisch Verfolgte auswandern sollten, wie andere auch. Und wenn ja, wohin? »Jetzt werden wir verfolgt, Luise, jetzt ist es so weit. New York«, hatte Richard gesagt. »Dort kenne ich George. Er schickt mir sicher eine Bürgschaft, gibt sich als ein entfernter Verwandter aus. Und von dort aus können wir sogar mehr tun, da bin ich mir sicher.«

»Wieso nicht Paris, irgendwas in Europa? Dann sind wir näher an der Heimat«, hatte Luise erwidert.

Aber Richard hatte bestimmt den Kopf geschüttelt. »Dort dürfen Emigranten nicht arbeiten, habe ich gehört, viele leben in Armut. Und es ist mir zu nah. Wir müssen größer denken, Luise. Großes kann nur mit Großem geschlagen werden, verstehst du?«

Natürlich verstand sie.

»Ich kann George erst mal nur nach einer Bürgschaft für mich fragen, vor Ort bitte ich ihn um eine für dich. Du musst so lange alles für uns regeln. Du kannst das gut, Luise, du bist die Beste«, hatte er gesagt.

»Aber wolltet ihr nicht zusammen gehen? Ihr wollt doch heiraten«, fragte Anni jetzt verwundert nach.

»Ja, das werden wir auch. In New York«, erwiderte Luise tapfer. Sie wusste, dass Anni sie nicht verstand. »Ich reise nach. Wenn ich hier alles organisiert habe. Ich soll alles, was geht, veräußern. Wir brauchen ja Geld für einen Neuanfang. Ein bisschen hatte Richard schon vorab organisiert, sonst wäre es ja nicht so schnell gegangen. Für den Fall eines Falles. Was ist mit dir, Maria, mit euch? Kommt mit, bitte, bevor es zu spät ist«, wandte sie sich eindringlich an die Freundin.

Maria schüttelte wie immer auf diese Frage den Kopf. »Ich habe noch mal auf Jakob eingeredet. Ich habe jeden Tag Angst, dass er die Buchhandlung schließen muss. Aber er meint, wir finden einen Weg. Er will die Buchhandlung partout nicht aufgeben. Du weißt doch, wie er ist. Durch die Reichsfluchtsteuer würden wir so viel von unserem Vermögen verlieren. Es wird schon nicht noch schlimmer werden.«

»Genau«, stimmte Anni zu. »Wird es nicht. Das glaube ich auch, ganz fest.«

»Ich aber. Lasst uns alle nach New York gehen, bevor es zu spät ist, und dort unser kleines Restaurant eröffnen. Wir haben doch alle schon seit Jahren davon geträumt. Und so können wir in Amerika von den Einnahmen leben.«

»Ach, Luise, wir wollten es doch hier in Berlin eröffnen«, entgegnete Anni und biss erneut in ihren Streuselkuchen. Ein dicker Krümel fiel ihr aus dem Mund.

»Mich würden sie hier kein Restaurant mehr aufmachen lassen«, bemerkte Maria bitter. »Luise hat schon recht. Falls wir irgendwann auswandern müssen, wäre es die beste Möglichkeit, neu anzufangen. Ein kleines Lokal, etwas Eigenes. Ich liebe unsere Buchhandlung, aber von einem kleinen Restaurant kann man in einem fremden Land sicher erst mal besser leben. Luise kocht, philosophiert mit den Gästen, Anni hat das Händchen für die Inneneinrichtung, wählt die täglich frischen Blumen aus, und ich bediene und kann in meiner Freizeit so viel lesen, wie ich will.«

Anni schüttelte den Kopf. »In Amerika, so ein Unsinn.«

»Ist es nicht«, widersprach Luise. »Wir Frauen müssen selbständig sein, nicht abhängig von unseren Männern.« Sie wurde ernst. »Maria, ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Um euch. Versprecht mir eines: Wenn es in Deutschland gefährlicher wird, kommt ihr sofort nach New York. Ich schicke euch Bürgschaften, Affidavits für die Einreise, sobald ich drüben bin, dann könnt ihr ein Visum beantragen. Anni kommt irgendwann auch.«

»Werde ich nicht.«

»Auch für dich könnte es gefährlich werden, hast du nicht entfernte jüdische Verwandte?«

Anni zuckte zusammen, nickte jetzt nachdenklich. »Sehr, sehr entfernt!«

»Wir brauchen einen Plan, ein Ziel für uns alle, wenn es hier schlimmer wird, und danach sieht es ja leider aus. In Amerika ist es sicher, und wir wären wieder alle zusammen«, fuhr Luise fort. »Also, da ich jetzt eh dorthin gehe und dort leben werde, ist es die schlauste Lösung. Ich kann mich vor Ort schon mal um alles kümmern, wie und wo man in New York ein Restaurant gründen kann.«

Anni lächelte jetzt unsicher, sie war sehr still geworden, sagte jetzt: »Du immer mit deinen verrückten Ideen.«

»Aber es ist eine gute Idee«, wandte Maria ein. »Nur bestimmt sehr teuer, wie soll das gehen?«

»Ich weiß. Aber daran darf es nicht scheitern«, entgegnete Luise kämpferisch. »Andere Auswanderer haben das auch hinbekommen. Natürlich ist so etwas teuer, aber essen müssen die Leute immer. Auch in Notzeiten. Auch in Amerika. Deutsche Küche kommt bestimmt gut an. Erst recht Berliner Streuselkuchen als Nachtisch.«

Maria nickte nachdenklich. »Wir geben Luise Geld dafür, und falls wir nicht nachkommen, kann sie es uns ja zurückzahlen.«

»Natürlich«, versicherte Luise. Anni sah sie unwohl an.

»Was wird das kosten?«, fragte sich Maria.

»Bis zu einem Jahresgehalt, ich habe mich erkundigt«, erwiderte Luise. »Aber es geht bestimmt auch mit deutlich weniger.«

»So viel?«, entfuhr es Anni entsetzt.

»Gebt mir, sagen wir, jede 150 Reichsmark, ungefähr ein Monatsgehalt. Oder besser zwei. Dann könnte es schön werden, vielleicht kann ich ja einen Laden mit Inventar günstig übernehmen«, erwiderte Luise unbeirrt.

»Dreihundert Reichsmark?«, wiederholte Anni zögerlich.

»Ich weiß, es ist viel Geld, und sie ziehen etwas ab, wenn ich es dorthin überweise, mitnehmen kann ich ja nur zehn Reichsmark, aber es ist zu unserer aller Sicherheit.« Luise sah Anni bittend an.

Maria nickte jetzt bestimmt. »Jakob wird damit einverstanden sein. Es ist ein Notfallplan. Ein Weg in die Freiheit, sollten wir ihn benötigen. Auch du weißt wirklich nicht, wie sich hier alles entwickelt, Anni.«

Die setzte an zu protestieren, aber Maria redete weiter: »Entweder kommen wir nach Amerika nach und führen zusammen das Restaurant, oder Luise überweist uns das Geld, sobald es geht, wieder. So haben wir nichts zu verlieren. Du hast doch Geld von deinem Vater geerbt, Anni.«

»Ja, schon.«

»Es ist gut angelegt, glaube mir. Eine Investition. Vielleicht in dein Leben.«

Luise sah Anni gespannt an. Auch sie musste ihren Anteil von ihrem Geerbten nehmen. Ihre verstorbene Mutter würde es klug finden, was die Frauen vorhatten. Da war sie sich sicher. »Wenn jede ein Pfand gibt, wird es auch klappen mit unserem Restaurant«, fügte sie noch hinzu.

»Also gut. Mein Geld gut anzulegen ist in diesen Zeiten nicht verkehrt. So machen wir es«, erwiderte Anni. »Ein Hintertürchen braucht jede Frau, das hat mein Vater immer gesagt.«

»Ihr seid großartig. Lasst uns schwören, dass wir alles dafür tun werden, unseren Traum zu verwirklichen«, schlug Luise vor. »Wir schwören wie früher.« Die Freundinnen legten alle ihre Hände übereinander und sahen sich dabei in die Augen. Ohne ein einziges Wort.

KAPITEL 2

New York, 2023

Der Geruch von Lavendel hing in der Luft und schmerzte. So viele Jahre war sie nicht mehr hier gewesen bei ihrer Großmutter Luise. June sah sich im Schlafzimmer um, stand verloren in der Mitte des Raums, spürte den Schwindel, der sie seit Luises Tod vor fünf Jahren immer wieder erfasste. June war in Amerika geboren und nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei Luise in Washington Heights, einem Stadtviertel von New York, aufgewachsen. Hier gehörte ihrer Großmutter ein großes, anmutiges Haus, edel eingerichtet, mit vielen Antiquitäten, einem parkähnlichen Garten, einem Gärtner und einer Haushaltshilfe. Nur gekocht hatte Luise nimmer selbst.

Jetzt war auch noch Luises letzter Mann, Bill, verstorben. Er war etwas jünger gewesen als Junes betagte Großmutter und hatte lebenslanges Wohnrecht in ihrem Haus gehabt. June hatte ihn nicht besonders gut gekannt, auch war sie seit Luises Beerdigung nicht mehr in New York gewesen.

Um alles zu regeln, war sie aus ihrer Wahlheimat Berlin angereist, in der sie seit ihrem Studium lebte. Großmutters Testament lag bei einem Anwalt, der June als Erbin vor dem »personal representative«, dem Nachlassverwalter, den es in den USA in Erbsachen gab, vertrat. Dieser Anwalt hatte sie nach dem Tod ihrer Großmutter über Bills lebenslanges Wohnrecht informiert und auch darüber, dass sie in der Erbfolge hinter Bill stand, dass es aber noch einen verschlossenen Brief von ihrer Großmutter an June gebe, den er ihr erst nach Bills Tod vorlesen dürfe, so hatte sie es in ihrem Testament verfügt. Dies sollte dann auch persönlich sein. Als gäbe es etwas zu verheimlichen, hatte sich June damals gedacht. Ein seltsamer Gedanke. Verbarg Großmutter ein Geheimnis?

Das Zimmer sah aus, als wäre Luise nur kurz hinausgegangen. Bill hatte nichts verändert, er schien sie sehr geliebt zu haben. Und sie ihn? »Wenn du liebst, dann tu es aus vollstem Herzen im Hier und Jetzt oder lass es sein«, hatte sie einmal zu June gesagt. Und: »Im Leben einer Frau gibt es immer eine ganz besondere Liebe.«

June ließ sich auf den altrosafarbenen Hocker vor dem Frisiertischchen sinken. Alles in diesem Zimmer wirkte, als wäre die Zeit in den Sechzigerjahren stehen geblieben. Zu selten hatte June ihre Großmutter in den letzten Jahren besucht, durchfuhr es sie, zu viel hatte sie gearbeitet. Und Großmutter wollte partout nicht nach Berlin kommen, auch nicht, als June ihr Studium begann und Luise noch rüstiger gewesen war.

Nach dem Tod ihrer Eltern war die sechsjährige June nachts oft zu Luise unter die Bettdecke gekrochen. Der Verlust von Junes Eltern hatte sie beide zutiefst erschüttert, herausgerissen aus dieser Welt in eine Schwerelosigkeit. Junes Mutter, Großmutters einzige Tochter Linda, hatte im Sarg so friedlich ausgesehen. Kein einziger Schnitt im Gesicht, dafür offenbar viele am Körper. Details, die June nicht hören wollte. Aber wer kümmerte sich schon um die Gedanken eines Kindes, wenn es neben einem Sarg stand? Einzig ihre Großmutter hatte sie dort entdeckt und ihr die Hand vor Augen und Ohren gehalten. »Ein Kind darf nicht alles sehen«, hatte sie geflüstert. »Ich habe so gehofft, dass dir der Anblick von Toten erspart bleibt.«

Zu Luises Beerdigungsfeier waren nur ein paar Nachbarn in die kleine Kapelle gekommen. June hatte vorgehabt, alte Freunde und Bekannte ausfindig zu machen, aber ohne ein persönliches Telefonbuch ihrer Großmutter war das vergebens. Vermutlich waren auch alle schon tot. Überhaupt hatte sich June nie Gedanken gemacht, ob ihre Großmutter enge Freundinnen und Freunde hatte. Luise hatte immer zufrieden gewirkt, sich um kranke Nachbarn gekümmert und für sie gekocht, sonst aber eher zurückgezogen in diesem wunderschönen Haus gelebt. Aber auch die alten Nachbarn, mit denen Luise Kontakt gehabt hatte, waren schon gestorben oder weggezogen.

Ob Bill Freunde oder Bekannte hatte? June wusste aus den Erzählungen ihrer Großmutter nur, dass er keine Familie mehr hatte, mehr nicht. Er hatte nie viel geredet.

Ein letztes Mal ließ sie den Blick durch Luises Schlafzimmer schweifen, dann erhob sie sich und ging die Treppe hinunter ins Entrée. Woher Großmutter so viel Geld gehabt hatte, um dieses große Haus kaufen zu können, hatte June sie einmal gefragt. »Über Geld redet man nicht«, war Großmutters Devise gewesen, und danach hatte June sie nie wieder gefragt.

Vor einem goldumrandeten Gemälde blieb sie stehen. Luise war wie eine Mutter für sie gewesen. Eine oft fröhliche Mutter, aber auch eine traurige. Beinahe wäre sie an dem Verlust der einzigen Tochter zerbrochen, hatte sie June später einmal gestanden. Einzig die Tatsache, dass sie für ihre Enkelin da sein musste, hielt sie am Leben. »Du hast mir das Leben gerettet, Schatz«, hatte sie gesagt. »Ich danke dir sehr dafür, du hast meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Und meine Schuld verringert.«

June hatte den letzten Satz damals nicht verstanden, aber Großmutter hatte nicht darüber reden wollen.

Jetzt, als June auf das Gemälde sah, dachte sie wieder daran. Denn Großmutter hatte den Satz genau hier gesagt, vor dem Bild, auf dem Ellis Island abgebildet war. Die Insel der Tränen. June wischte den Gedanken beiseite.

June war mit zwanzig nach Berlin gegangen, um Journalismus zu studieren, und hatte sich danach lange als Praktikantin ausbeuten lassen. Hätte Großmama ihr nicht monatliche Schecks geschickt, hätte das niemals funktioniert. Kurz vor dem Ende ihres Studiums lernte June Micha kennen, einen Musiker. Sie heirateten überstürzt, und June musste Geld verdienen, denn Micha lebte für seine Musik und von ihr.

Notgedrungen hatte sie einen befristeten Job als Redakteurin eines Klatschmagazins angenommen. Anfangs mochte sie diese Art Jobs sogar, die sich aneinanderreihten. Aber inzwischen, mit Ende dreißig, kam ihr ihre Arbeit leer und sinnlos vor. Sie machte June unzufrieden und unleidlich, wie ihr aktueller Partner Anton ihr immer wieder vorwarf. Anton, mit dem sie seit vier Jahren zusammenlebte, nachdem die Ehe mit Micha gescheitert war, weil er sie betrogen hatte. Sie hatte Anton in einem Café kennengelernt, da trug er nicht sein Bankerkostüm, wie sie es immer nannte, sondern eine legere Hose und ein T-Shirt.

Auch die Beziehung mit Anton war inzwischen schwierig. Er nörgelte oft an ihr herum. Aber das hatte sie erst in den letzten Monaten bemerkt. Auch dass sie kurz vor einem Burn-out stand, dass ihre Hände öfter zitterten. Gut, dass ihr befristeter Vertrag bei einem Unterhaltungsmagazin gerade ausgelaufen war und sie ein wenig Atem schöpfen konnte. Oder belastete sie das, was sie über Anton herausgefunden hatte, immer noch so sehr? Sie fühlte sich seitdem einsamer als jemals zuvor.

June sah auf die Uhr, zog den Brief des Anwalts aus Manhattan aus ihrer Handtasche hervor, der sie vor einer Woche erreicht hatte, und überflog ihn erneut.

Sehr geehrte Mrs. Zeiler,

wie wir Ihnen nach dem Tod Ihrer Großmutter mitgeteilt haben, soll Ihnen nach dem Ableben von Mr. Bill Blixton der verschlossene Brief Ihrer Großmutter persönlich verlesen werden. Zu diesem Anlass möchten wir Sie bitten, einen Termin in unserer Kanzlei zu vereinbaren.

Mit freundlichen Grüßen

Walter Brown

June ließ den Brief sinken, der Termin war in einer Stunde. Was konnte es sein? Sie würde dieses wunderschöne Haus erben, das war ja eigentlich klar. Da sie aber in Berlin lebte und sich dort mit Anton ein Häuschen am Stadtrand kaufen wollte, musste sie es wohl verkaufen. Das tat ihr jetzt schon in der Seele weh.

June steckte den Anwaltsbrief zurück in ihre Handtasche, goss rasch die Blumen im Salon und schloss die Haustür sorgfältig ab. Wie sehr vermisste sie ihre Großmutter, wie sehr bedauerte sie es, mit ihr nicht mehr über ihre Vergangenheit, ihr Leben, ihre Lieben geredet zu haben.

KAPITEL 3

Berlin, August 1936

Luise saß erschöpft am Tisch ihres Zimmers in der Damenpension, in der sie lebte. Vor ihr lag ein Blatt Papier. Richard hatte ihr nach seiner Ankunft in New York ein Telegramm gesendet, dass er gut angekommen sei, und nun wollte sie ihm einen Brief schreiben. Sie hielt einen Stift in der Hand und sah durchs Fenster in den typischen Berliner Hinterhof. Sie fühlte sich so schwach, als habe ihr jemand all ihre Energie herausgesaugt. Und das ihr. Dem Energiebündel, wie ihre Mutter sie immer genannt hatte. Ihre Mutter, die vor zwei Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Ein Glück, dass sie das alles hier nicht mehr erleben musste, dachte Luise. Diese sensible, gute Frau. Die sich erschreckt hatte, als die Nazis an die Macht gekommen waren. Die Unheil nahen sah und Luise bestärkte, weiterzumachen. Zu versuchen, das Schlimmste abzuwenden. Luises Vater hatte die Familie früh verlassen und sich danach nie wieder nach seiner Tochter erkundigt. Irgendwann war die Nachricht gekommen, dass er gestorben war. Besser so, hatte Luise verletzt gedacht, aber auch gemerkt, wie sehr es schmerzte. Feige Männer brauchte keiner.

Sie dachte an Richard, der allein gegangen war. Tippte mit dem Stiftende an ihre Lippen und überlegte. Was sollte sie ihm schreiben? Ein lapidarer Brief durfte es nicht sein. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf den alten Holztisch. Er wackelte. Richard hatte immer gesagt, er werde sich darum kümmern. Aber Luise hatte gewusst, dass sie es selbst in die Hand nehmen musste. Richard war ein Mann der Worte, sein Talent lag nicht darin, mit einem wackeligen Tisch zu ringen. Mit ein Grund, warum er ihr die ganze Organisation überlassen hatte. Praktisch war er wahrlich nicht veranlagt. Musste er auch nicht. Wo er sich so gut ausdrücken konnte, den Mut besaß, zu widerstehen. Gegen all dieses Unrecht.

Dass man etwas tun sollte, darin waren sich viele einig. Aber sie wagten es nicht. Liefen mit wie die Schafe. Selbst wenn sie geschoren wurden. Es tat ja nicht weh. Noch nicht. Aber es würde wehtun, hatte Richard gesagt. »Jetzt haben sie uns im Auge, ab jetzt werden wir verfolgt, Luise.«

Im Widerstand zu sein war gefährlich. Es drohten KZ, Deportation, Folter, womöglich bis zum Tode. Luise wusste manchmal nicht, ob sich Richard der Konsequenzen seines Tuns bewusst war, sie schon. Richard schwebte in geistigen Sphären. Flugblätter drucken gegen das Regime. Aufbegehren, Menschen wachrütteln. Ein probates Mittel. Das einzige Mittel, das es für sie gab. Die Studenten aus Richards Kursen, die ihn unterstützten, debattierten in der Gruppe viel. Auch über das Für und Wider von Attentaten. Denn mutige Menschen hatten es bereits versucht. Mit vergiftetem Essen, einem vergifteten Brief, der abgefangen wurde, und offenbar hatte auch eine andere Gruppe in Berlin einen Versuch gewagt. Bestimmt noch weitere.

Emil, ein Vorlauter aus ihrer Gruppe, Richards Student, fand einen Anschlag auf so einen wie Hitler durchaus legitim. »Ein Diktator, der viele andere Menschen tötet und noch mehr töten will, daraus macht er ja keinen Hehl. Den darf man ermorden, man muss es sogar.«

Luise gab ihm recht. »Um Schlimmeres zu verhindern.« Aber der Rest der Gruppe war sich uneins. Und Luise musste zugeben, dass sie selbst es nicht könnte und von keinem verlangen würde. Emil debattierte aufgewühlt mit ihr. Emil, der sie immer so interessiert ansah. Ein hübscher Kerl mit braunen, zerzausten Haaren, eher klein, mit breiten Schultern, durchtrainierter Figur. Luise mochte ihn, mochte es, mit ihm zu debattieren, weil er auf sie einging. Wie Richard. Der aber fand Emil anstrengend, wie er ihr einmal gesagt hatte, er redete ihm zu viel. Richard unterbrach die immer hitzigere Debatte aufgewühlt mit einer Armbewegung. »Nein!«, rief er dazu aus. »Einen Menschen zu töten ist Unrecht und gegen die Moral. Und es ist nicht zielführend. Denn dafür gibt es schon zu viele Gleichgesinnte in Deutschland. Man muss es auf anderem Wege schaffen, diesen Wahnsinn in den Köpfen aufzuhalten. Mit Flugblättern erreicht man viel bei vielen. Wörter fräsen sich in dein Gehirn. So, wie es die Propaganda schafft.«

Luise erinnerte sich an sein Gesicht, das diesen leidenschaftlichen Ausdruck annahm, wenn er von etwas überzeugt war, wenn er redete, mit Worten jonglierte. Wie sehr sie das liebte. Sein schmales, ebenmäßiges Gesicht.

Sie betrachtete das Foto, das er ihr vor seiner hektischen Abreise gegeben hatte. Darauf stand er neben einem jungen Mann Anfang zwanzig vor dem Brandenburger Tor. »Das ist George«, hatte er gesagt, »mein amerikanischer Freund, der einmal in Berlin studiert hat. Er ist ein Guter.«

George war groß und gut aussehend, viel sportlicher gebaut als Richard, der zwar schlank, aber nicht muskulös war. Richard trug sein braunes Haar kurz, George sein blondes etwas länger. Er hatte ein sympathisches Lächeln und blickte in den Himmel. Richard sah ihr auf dem Bild genau in die Augen.

Sehnsucht machte sich in Luise breit. Seufzend nahm sie den Stift aus dem Mund, drehte ihn noch einmal und legte ihn dann beiseite. Sie würde ihm später schreiben. Oder morgen. Der Brief würde eh lange brauchen, bis er den großen Teich überquert haben würde. Da kam es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.

Sie stand auf. Ihr Affidavit von Richard beziehungsweise seinem Freund George war noch nicht eingetroffen, kein Wunder, lange war er ja noch nicht weg. Aber ohne Affidavit war es unmöglich, in die USA zu kommen, denn wenn man als Immigrant einreisen wollte, musste ein US-Bürger für einen bürgen. Ohne diese Bürgschaft kein Visum, ohne Visum keine Einreise. Erschwert wurde das Ganze dadurch, dass es eine Quote für Immigranten gab, wie Richard ihr erklärt hatte. Sie hatten immer wieder darüber gesprochen. Entscheidend für die Einwanderung war die Länderquote. Seit 1891 wurde diese Quote von einer Kommission festgelegt, und 1924 war im Immigration Act der Anteil der Einwanderer an der Gesamtbevölkerung der USA zur Bemessungsgrundlage der Quote gemacht worden. Aus welchem Land wie viele einreisen durften, bezog sich wiederum auf ihre Herkunftsländer. Im letzten Jahr war diese Quote für Deutsche wohl nur zu einem Viertel ausgeschöpft worden, hatte Richard gesagt. Zum Glück, denn Luise wollte auf keinen Fall einem jüdischen Flüchtling ein Visum wegnehmen. »Für politische Flüchtlinge, wie wir es sind, gibt es Visa, die nicht nach der Quote erteilt werden«, hatte er sie beruhigt. Doch auch sie brauchten die Bürgschaft eines US-Bürgers, ein sogenanntes Affidavit, um ein Visum zu erhalten. Am besten für ein Affidavit war es, wenn man mit einem US-Bürger verwandt war. Denn wenn der Verdacht aufkam, man könne dem Sozialsystem zur Last fallen, konnte es sein, dass das Visum abgelehnt wurde.

Luise hatte die letzten Wochen gewirbelt, so viele Dinge veräußert wie möglich. Dieses Geld und ihr eigenes hatte sie, bis auf zehn Reichsmark, erst mal auf das neue Konto von Richard in New York transferieren lassen, sie brauchten es in Amerika. Sie wollte dann dort für sich auch eines eröffnen. Ihr Konto in Berlin ganz auflösen wollte sie nicht. Wer wusste schon, ob sie nicht doch irgendwann wieder zurückkommen würden, auch wenn sie das im Moment nicht glaubte. Weitere zehn Reichsmark durfte sie mitnehmen.

»Von Amerika aus kann man auch Schriften verfassen, um die Bevölkerung wachzurütteln«, hatte Richard gesagt. Sie hatten eine Mission. Sie mussten es schaffen in der Neuen Welt. Um die alte Welt zur Vernunft zu bringen.

Richards großen Koffer mit seiner Kleidung hatte sie sorgfältig in seiner Wohnung, zu der sie einen Schlüssel besaß, gepackt. Er legte großen Wert auf knitterfreie Kleidung. Einen kleinen Koffer für sich selbst hatte sie auch schon fertig. Die Unterlagen für Richard, um die er sie vor seiner Abfahrt gebeten hatte, hatte sie herausgesucht. Jetzt lag alles vorbereitet in ihrem Zimmer, nun hieß es warten. Warten, bis er ihr das Affidavit von diesem George schicken würde, sodass sie das Visum beantragen konnte. Hoffentlich dauerte es nicht lange. Seit Tagen wartete sie schon, ihre Ungeduld und Sorge wuchsen. Konnte George vielleicht kein zweites Affidavit für sie ausstellen? Wollte Richard nicht, dass sie nachkam? Ein törichter Gedanke. Er liebte sie, sie wollten schließlich heiraten.

Die Uhr an der Wand tickte. Ein Tropfen am Wasserhahn fiel in ihr Waschbecken. Was, wenn sie hier in der Falle saß? Waren ihr die Nazis nach der Entdeckung im Keller doch auf der Spur? Mit jedem Tag wurde ihre Angst größer. Himmel, ihr fiel etwas ein: Ein Brief mit ihrer Adresse lag noch im Keller! Wieso hatte sie nicht früher daran gedacht? Sie bekam Angst, ihr wurde ganz heiß, ihre Wangen glühten. Hastig legte sie ihre Hände darauf, versuchte, sich selbst zu beruhigen.

Offenbar hatten sie ihn noch nicht gefunden. Sonst hätte man sie doch längst festgenommen. Fieberhaft überlegte Luise, was sie tun konnte, aber in den Keller zu gehen, war viel zu gefährlich. Sie nahm ihr Notizbuch, ein einfaches, schmuckloses Büchlein, das als eine Art Tagebuch diente, zur Hand und schrieb sich, wie so oft, all die Ereignisse der letzten Zeit von der Seele.

Die nächsten Tage schlief sie schlecht, wachte immer wieder schweißgebadet auf.

Und dann, eines Morgens, hatte sie eine Idee. Sie zog ihren Sommermantel an und machte sich auf in die Buchhandlung von Marias Mann Jakob. Die Straßen von Berlin waren immer noch voll von fröhlichen Menschen, die sich über die Sommerspiele freuten. Berlin war zur weltoffenen Sportmetropole geworden. Es blieben Luise nur noch wenige Tage bis zum Ende des Spektakels. Dann würde man Widerstandskämpfer sicher wieder stärker verfolgen.

Sie kam am Delphi-Palast in der Kantstraße vorbei. In einem der Vorgärten spielte eine Band, eine Menschentraube hatte sich in den umliegenden Straßen versammelt. Luise kannte diese Musik, sie liebte sie. Das Orchester von Teddy Stauffer gastierte in Berlin. Sein Song »Goody Goody« war irgendwie zur Begleitmusik der Olympischen Spiele geworden.

Stramme Nazis, die vorbeigingen, zuckten zusammen, sagten aber nichts. Auf den Sound der Teddies schien Berlin nur gewartet zu haben. Auch Luise war stehen geblieben und wippte mit, tanzte, wie andere Schaulustige, gönnte sich einen Moment der Sorglosigkeit, ehe sie schließlich weiterlief zur Buchhandlung von Jakob. Diese befand sich nahe der Kantstraße in einem Bau aus der Gründerzeit. Vor dem Haus stand eine kleine Bank, auf der man sitzen und lesen konnte. Im Schaufenster des Ladens hatte Jakob eine Reihe Buchtitel in einem Regal ausgestellt. Luise betrachtete sie einen Moment lang. Es waren einige darunter, die ihr unbekannt waren, doch das war kein Wunder, schließlich besorgte Jakob ständig neue gute Bücher. Sie las gerne, half ab und zu hier aus, um ein wenig Geld zu verdienen und ihr Studium zu finanzieren.

Sie trat ein. Die Tür der Buchhandlung klingelte. Luise sah sich in der kleinen Buchhandlung um, die vollgestellt war mit Regalen voller Bücher. Es wurden immer mehr, hatte sie den Eindruck. Luise atmete ein, sie liebte den Duft der Bücher, auch wenn es etwas muffig roch.

An einem Regal entdeckte sie Jakob, er trug ein weißes Hemd und Hosenträger darüber, schob seine runde Hornbrille gerade wieder höher auf die Nase und las konzentriert den Klappentext eines Buches. Er war in den letzten Wochen noch schlanker geworden. Und er hatte Augenringe bekommen, richtige Sorgenfalten. Weiter hinten entdeckte sie Maria in dem angrenzenden kleinen Raum, winkte ihr zu. Maria winkte mit der Linken zurück. In der rechten Hand hielt sie einen Suppenbehälter an einem Tragegriff. Sie brachte ihrem Mann immer sein Mittagessen.

Luise ging zu Jakob, der sie erst jetzt bemerkte, so vertieft war er gewesen. Jetzt roch sie auch den Duft von Gemüsesuppe. Luise begrüßte Jakob herzlich und kam schnell zu ihrem Anliegen.

»Das Telefonbuch von New York willst du?« Er sah sie nachdenklich an, verstand, dieser kluge Mann. »Du suchst New Yorker, die denselben Nachnamen wie du tragen, um sie um ein Affidavit zu bitten. Eine gute Idee. Und im Telefonbuch findest du die Adresse.«

»Auch wenn sie nicht mit mir verwandt sind, vielleicht haben sie ein großes Herz. Ich werde ihnen nicht auf der Tasche liegen. Mit demselben Nachnamen fällt es am wenigsten auf, und die Chance, dass es klappt, ist am größten.«

»Ja, versuche es. Nur ich als Jude kann es nicht besorgen, das ist zu auffällig, tut mir sehr leid.«

»Natürlich. Aber du könntest mir helfen, den Brief auf Englisch zu schreiben.«

»Das mache ich gern.«

»Danke. Und weißt du, wo ich das Telefonbuch von New York finde? In welcher Bibliothek könnte es sein?«

»In der Staatsbibliothek vielleicht?« Sie wussten zwar beide, dass die Bibliotheken die Ausleihe von Büchern kontrollierten, vor allem von Büchern, denen das Regime einen »undeutschen Geist« unterstellte. Aber es war ja kein Roman, sie musste es wagen.

»Geh nicht da hin«, bat Maria, die zu den beiden getreten war und alles mitbekommen hatte. »Das fällt doch auf.«

»Mir fällt schon was ein«, entgegnete Luise bemüht selbstsicher.

»Und möchtest du nicht doch bei uns wohnen, bis das Affidavit von diesem Freund von Richard da ist?«, schlug Maria vor. »Sicherheitshalber?«

»Nein, nein. Danke. Sie lassen mich in Ruhe, Richard hatte recht. Sie nehmen mich als Widerstandskämpferin nicht ernst. Sonst wären sie schon längst da gewesen.«

»Pass auf dich auf«, sagte Jakob.

»Mach ich.«

KAPITEL 4

New York, 2023

June saß in der Kanzlei »Brown« im vierten Stock eines älteren Hochhauses unweit des Flatiron Buildings in Manhattan, in der 23rd Street. Sie hatte sich einen alten, korpulenten Anwalt hinter einem antiken Schreibtisch vorgestellt. Stattdessen saß ihr ein charmanter, gut aussehender Mann gegenüber, der sie unsicher werden ließ. Walter Brown junior war etwa Mitte vierzig, lächelte sie an, saß in seinem geschmackvoll eingerichteten Büro. Ein cognacfarbener Barcelona Chair stand in einer Ecke, auch sein Schreibtisch sah aus wie ein Designstück. Eine grüne Zimmerpflanze stand in einer Ecke.

Seine Schläfen wurden bereits grau, aber es stand ihm gut und gab seinen dunklen Haaren eine gewisse Frische. Wieso dachte sie das?

»Schön, dass es so schnell geklappt hat«, sagte er. »Ich durfte Ihre Großmutter noch kennenlernen, eine wirklich außergewöhnliche, herzliche Frau.«

»Ja, das war sie. Sie fehlt mir immer noch sehr.«

»Das glaube ich. Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben, ich kann mir vorstellen, wie es Ihnen nach dem Verlust Ihrer Großmutter gehen muss.«

»Danke.« June presste die Lippen zusammen, sie hielt ihre Handtasche auf dem Schoß, knetete die Finger. Es war eine edle, aber nicht prunkvolle Tasche, die ihre Großmutter ihr geschenkt hatte. Sie hatte auf Understatement bestanden.

»Wissen Sie«, fuhr Walter Brown fort, »sie haben uns mehr geprägt, als wir es wahrhaben wollen. Ich meine, mein Vater war ein humorvoller Mann, aber er konnte auch eigen sein, genauso mein Großvater. Und ich fürchte, ich bin das auch, selbst wenn ich nicht genauso werden wollte.«

June horchte auf. Wie offen er über sich sprach. Sehr sympathisch.

»Wer ist nicht eigen?«, entgegnete sie lächelnd. »Meine Großmutter hat gesagt, wer keine Ecken und Kanten hat, ist rund. Und wer möchte schon mit einem Ball zusammenleben?«

Walter lachte, und auch June musste mitlachen. Dann wurde sie plötzlich traurig. Tränen schossen ihr in die Augen. Was war nur los mit ihr?

»Möchten Sie ein Taschentuch?«, fragte der Anwalt sofort, stand auf und reichte ihr eine Packung, die auf einem Beistelltisch lag.

»Danke.« June nahm ein Papiertuch, dabei berührten sich für einen kurzen Moment ihre Hände. Er stand jetzt vor ihr, an seinen Schreibtisch gelehnt, und musterte sie. Er war groß und trieb sicher Sport. Sie schnäuzte sich, und leider klang es laut, fast wie bei einem Mann. Wie unangenehm.

»Entschuldigung«, sagte sie.

»Sie müssen sich für nichts entschuldigen. Soll ich Ihnen jetzt den Brief vorlesen, wie es Ihre Großmutter gewünscht hat nach Bills Tod?«

June nickte und atmete tief durch. Er ging wieder hinter seinen Schreibtisch, nahm eine Akte zur Hand, öffnete sie, sah June noch einmal an und holte einen verschlossenen Briefumschlag heraus. Sie erkannte sofort Großmutters geschwungene Handschrift. Er öffnete den Brief mit einem silbernen Brieföffner, June hielt gespannt den Atem an. Dann zog er mehrere beschriebene Seiten aus dem Umschlag hervor und las: »Meine liebe June, mein Ein und Alles,

wie gerne hätte ich dir diese Situation erspart. Ich habe dich geliebt wie meine Tochter. Du hast mir ein weiteres Leben geschenkt, denn ohne dich hätte ich all das nicht ertragen. Keine Mutter sollte ihr Kind beerdigen müssen. Damals habe ich meinen Beruf aufgegeben, um mich ganz dir zu widmen. Das, was ich als junge Frau nicht konnte oder nicht wollte – den Job aufgeben, für deine Mutter. Glücklicherweise war es mir möglich, als du zu mir kamst, nur noch von den Einnahmen des Restaurants zu leben.« Walter sah vielsagend auf.

»Sie hatte einmal ein Restaurant? Wie schön«, entfuhr es June.

»Das wussten Sie nicht?«

»Nein. Sie hat nie darüber geredet. Ich wusste nur, dass sie exquisit kochen kann.«

Walter las weiter: »Von den Einnahmen unseres Restaurants. Aber dazu später mehr. Jedenfalls scheine ich ein Glückskind zu sein. Das Taste of Freedom in Manhattan wurde früh ein Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle, für viele deutsche Emigranten, und es hat es all die Jahre geschafft, einen hervorragenden Ruf zu wahren. Ich konnte das Haus, in dem sich das Restaurant befindet, dazukaufen.

Dennoch kann ich leider nicht sagen, dass ich immer alles richtig gemacht habe im Leben. Ich hoffe so sehr, dass es dir noch gelingen wird, vor allem in der Liebe. Höre immer auf dein Herz, mein Schatz, dann wirst du den Richtigen zur richtigen Zeit finden.« Wieder sah Walter auf.

Wie unangenehm, dachte June. Es ging ihn nichts an, dass sie Beziehungen hatte, die nicht gut gelaufen waren. Wieso nur hatte sie ihre Großmutter nicht öfter in Liebesdingen um Rat gefragt? Mit Junes Großvater war Luise nicht mehr zusammen gewesen, als June nach dem Tod ihrer Eltern zu ihr gezogen war. Um ehrlich zu sein, wusste June über ihren Großvater so gut wie nichts. War er gestorben? Hatte Luise sich von ihm getrennt? Wieso hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht? Luise war lange alleine geblieben, bis sie Bill kennenlernte, ihre späte Liebe. Aber da lebte June bereits in Berlin.

»Soll ich weiterlesen?«, hörte sie Walter fragen.

June wurde bewusst, dass sie eine Weile schweigend auf den Boden gestarrt hatte. Sie nickte schnell, sah in Walters bernsteinfarbene Augen und bemühte sich, aufgeräumt zu wirken. »Ja, sicher.«

»Meine liebe June, bei einer Frau in meinem Alter sagt man: Sie hat ihr Leben gelebt. Das ist zum einen richtig, zum anderen durfte ich es nicht so leben, wie ich wollte, und das tat unendlich weh. Ich liebe Deutschland, Berlin, meine Heimat, aber ich musste ihr den Rücken kehren.«

»Was?«, unterbrach June ihn verblüfft. »Berlin war ihre Heimat? Großmutter war Deutsche?«, stotterte sie verwirrt.

»Ja«, erwiderte Walter. »Mein Vater hat mir erzählt, dass sie im politischen Widerstand war, aus Deutschland fliehen musste und ins Exil nach New York ging. Viele waren ja damals auf der Flucht.«

Fassungslos nahm sie diese Nachrichten auf. »Im politischen Widerstand? Und sie musste fliehen? Wie schrecklich, dass sie ihre Heimat verlassen musste.«

Er nickte. »Leider ist dies in Europa wieder sehr aktuell. Seit die Russen letztes Jahr in die Ukraine einmarschiert sind.«

»Es ist furchtbar. Wie muss sich ein Leben im Exil anfühlen? Ein Leben in der Fremde, das man aus der Not heraus wählen musste?« Sie sah ihn an. »Lesen Sie bitte weiter«, bat sie aufgewühlt.

»Lange habe ich nach meiner Flucht aus Deutschland gehofft, irgendwann wieder zurückkehren zu können, aber es ging nicht. Ich bin geblieben, in der Fremde. Die mir durch deine Mutter und dich ein Zuhause wurde, ein sicherer Ort, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich konnte dir nicht sagen, dass es dieses Restaurant gibt, ich wollte dir die Geschichte, die dahintersteckt, ersparen. Ich kann dir aber eines sagen: Es hat mich glücklich gemacht, mir das Leben gerettet, und ich hoffe sehr, dass es auch dir Sicherheit geben kann, zumindest finanziell. Es ist mein Erbe, aber nur zu einem Drittel. Auch das Haus in Washington Heights gehört dir nur zu einem Drittel.«

Wieder machte Walter eine Pause. Sie blickten sich einen Moment in die Augen.

»Ich verstehe das nicht. Warum hat sie mir nie etwas von dem Restaurant erzählt? Und wieso soll mir alles nur zu einem Drittel gehören?«

Walter antwortete nicht, sondern las weiter: »Warum das, wirst du dich fragen. Nun, meinen damaligen besten Freundinnen aus Berlin, Maria Kirschbaum und Anni Graf, gehören jeweils ein Drittel des Restaurants und aller Einkünfte. Oder eben ihren Nachkommen, falls sie beide nicht mehr am Leben sind. Und da ich das Haus ebenfalls von den Einnahmen des Taste of Freedom bezahlt habe, steht ihnen auch davon jeweils ein Drittel zu. Meine besten Freundinnen haben mir 1936 je dreihundert Reichsmark überwiesen, um ein Restaurant in New York zu gründen. Ich habe für jede von ihnen ein Konto eröffnet, auf dem sich die Einnahmen der vergangenen Jahrzehnte summiert haben. Du musst also keine Sorge haben, dass Rückzahlungen auf dich zukommen. Eine Zeitlang habe ich versucht, herauszufinden, ob und wo Maria und Anni leben. Doch leider vergebens. Wie so viele Spuren sind die ihren verloren gegangen. Auch habe ich nicht mit all meiner Kraft nachgeforscht, aber es gab Gründe dafür, Gründe, für die ich mich heute zutiefst schäme. June, du bist eine talentierte Journalistin. Ich glaube an dich und bin sicher, dass du sehr gut recherchieren kannst. Bitte suche Maria und Anni beziehungsweise ihre Erben. Denn bei all der Ungerechtigkeit, die der Zweite Weltkrieg über die Welt gebracht hat, soll es am Ende wenigstens zwischen uns gerecht zugehen.«

Walter ließ den Brief sinken. Er räusperte sich. Verwirrt blickte June ihn an. Auch er schien von dieser Bitte nichts gewusst zu haben. Nach einer kurzen Pause erklärte sie: »Ich habe geahnt, dass sie eine außergewöhnliche Persönlichkeit war, aber das … Wie soll ich die beiden finden, wenn meine Großmutter sie schon nicht gefunden hat? Wie soll ich das anstellen?«

Er nickte nachdenklich. »Wird nicht leicht werden. Aber Luise schreibt ja, dass sie die beiden nicht ernsthaft finden wollte. Und wir sind noch nicht am Ende des Briefes. Vielleicht hat sie Ihnen einen Hinweis hinterlassen«, sagte er und las weiter:

»Die Welt muss gerechter werden, und deshalb, mein Schatz, verfüge ich hiermit darüber, dass du dein Erbe nur antreten kannst, wenn du die anderen beiden Restaurant-Besitzer gefunden hast. Ich habe mich immer bemüht, dich zu einem gerechten Menschen zu erziehen, deswegen bin ich sicher, dass du das so siehst wie ich. Wenn du Maria und Anni oder ihre Erben gefunden hast, könnt ihr alles oder nur du deinen Teil verkaufen. Ich hoffe, dass beide es geschafft haben, zu überleben oder auszuwandern. Bitte sei mir nicht böse, dass ich dich mit der Suche beauftrage. Es soll nur ausdrücken, wie sehr ich an deine Kraft und an dich glaube. Und wie sehr ich mir eine Versöhnung mit meinen Freundinnen wünsche, auch post mortem. Ich hoffe nach wie vor, dass sie oder ihre Nachfahren mir verzeihen können.«

»Verzeihen?«, unterbrach June ihn aufgewühlt. »Sie hat sich also mit ihren besten Freundinnen überworfen?«

»Es klingt so. Was auch immer geschehen ist, dieses Zerwürfnis hat sie offenbar bis zu ihrem Tod schwer belastet.«

»Und sie hat mir nicht einen einzigen Anhaltspunkt für die Suche hinterlassen?«

»Moment, es geht noch weiter.« Er las: »In der alten Schatulle in meinem Schlafzimmerschrank habe ich alte Briefe und Aufzeichnungen aufbewahrt. Ich konnte und wollte sie nicht wieder lesen, sie hätten mich zu sehr aufgewühlt. Ich hatte all das so gut in eine Schublade gepackt. Aber vielleicht ist darin ein Ansatz für dich, der dich auf eine Spur bringt. In tiefer Liebe, deine Großmutter.«

June atmete durch. Die alte Schatulle. Als Kind hatte sie diese einmal heimlich geöffnet, doch für eine Sechsjährige waren Briefe und Papiere eher langweilig. June wurde bewusst, wie verkrampft sie die Handtasche auf ihrem Schoß hielt, und lockerte ihre Hände.

Walter sah sie mitleidig an. »Ich schätze, mein Vater hat davon gewusst und sie unterstützt. Wenn ich Ihnen irgendwie weiterhelfen kann … Ich bin jederzeit für Sie da.«

Und das sagt ein wildfremder Mann, der mich nicht kennt, dachte June. Würde Anton das auch so selbstlos anbieten? Großmutter hatte Micha damals nicht gemocht, als June und er sie in New York besucht hatten. Luise hatte nichts gesagt, aber an ihren Blicken konnte June es ablesen. Und Anton hätte sie sicher auch nicht gemocht.

Sie stand auf. »Danke. Kann ich den Brief mitnehmen?«

»Sicher. Ich lasse nur kurz eine Kopie anfertigen.« Walter erhob sich ebenfalls, reichte ihr den Brief. Dabei berührten sich ihre Hände.

»Ich bitte meine Assistentin darum.« Er sah sie an. »Sie schaffen das«, fügte er aufmunternd hinzu.

»Sagen Sie das zu jeder Ihrer Klientinnen, die solche Briefe bekommt?«

»Nein. Nur zu den Besonderen, denen ich es zutraue. Und nur die Besonderen bekommen solche Briefe.« Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten, ein sympathisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Die Küche des Taste of Freedom ist übrigens auch außergewöhnlich.«

June musste unwillkürlich lächeln, spürte die Wärme seiner Finger, ehe sie ihre wieder zurückzog und mit einem »Auf Wiedersehen« sein Büro verließ.

Nachdem seine Assistentin eine Kopie des Briefes angefertigt hatte, verabschiedete sich June von der jungen Frau und trat in den Aufzug. Die Tür schloss sich, und sie fuhr hinunter, lief durch die Lobby und verließ das Gebäude. Draußen atmete sie tief ein und beobachtete die vielen Menschen, die so zielstrebig irgendwohin zu eilen schienen. Plötzlich fühlte sie sich stark, viel stärker als die Jahre zuvor.

KAPITEL 5

Berlin, 1936

Nervös ging Luise die Prachtstraße Unter den Linden entlang, Passanten kamen ihr entgegen, und fast wäre Luise gegen eine Frau gerempelt, so in Gedanken war sie. Vor dem imposanten Gebäude der Staatsbibliothek blieb sie stehen. Sie war schon öfter hier gewesen, um etwas für ihr Studium zu recherchieren, doch heute war alles anders. Wenn herauskam, dass sie ausreisen wollte, würde man Fragen stellen, und dann wäre womöglich ihr Leben in Gefahr. Sie musste vorsichtig vorgehen.

Luise öffnete die schwere Holztür, drinnen im Flur des Gebäudes war es viel kühler und dunkler. Sie ging weiter zur Anmeldung, zeigte einer Angestellten ihren Bibliotheksausweis, trat in den großen Lesesaal. Der Geruch von alten Büchern, den sie so mochte, ummantelte sie, als sie an den Regalen entlangschritt. Zunächst versuchte sie, selbst nach dem Telefonbuch zu suchen, sah in der Kartei nach, konnte es aber nicht finden. Sie musste fragen, trat zu einer grauhaarigen Dame, die gerade zurückgegebene Bücher einsortierte. Sie trug eine Brille auf der Nasenspitze.

»Guten Tag. Haben Sie zufällig das Telefonbuch von New York hier?«, fragte Luise. »Ich kann es nicht finden.«

Die Bibliothekarin musterte sie streng durch ihre Brillengläser. »Was wollen Sie denn damit? Vorhin war schon mal jemand deshalb hier.«

Luise suchte fieberhaft nach einer Ausrede. »Meine Tante. Sie wohnt in New York, und sie ist krank. Ich möchte ihr gerne einen Brief schreiben, aber ich habe ihre Adresse verloren.«

»Soso, die Tante. Ein Adressbuch von New York haben wir. Wohnt sie schon lange da?«

»Äh, ja.«

»Wir haben nur eines von 1925, nur von Manhattan und der Bronx. Wohnt sie zufällig dort?«

Luise zögerte eine Sekunde, lachte dann auf. »Das ist ja ein Zufall, sie wohnt in Manhattan.«

Plötzlich lächelte die Dame wissend. »Kommen Sie mit.« Sie ging durch den altehrwürdigen Lesesaal, ihre Schritte hallten im hohen Raum. Vor einem Regal blieb die Bibliothekarin stehen, zog ein dickes Adressbuch heraus und reichte es Luise. »Viel Glück«, sagte sie milde.

»Danke.« Luise nahm das Adressbuch, setzte sich damit an einen Tisch und las den Titel: »General Directory of New York City embracing the Borrows of Manhattan and the Bronx.« Sie blätterte zu dem Nachnamen »Jonas«. Ihrem Nachnamen. Es war viel verlangt von wildfremden Menschen, aber sie wollte wirklich kein Geld von ihnen. Gut, dass ich das Startkapital für das kleine Restaurant habe, dachte Luise. Und wenn Richard kein Affidavit von George schickt, nehme ich meine Ausreise eben selbst in die Hand.

*

Die Wochen vergingen, die Olympischen Spiele in Berlin waren längst vorbei, viele Hakenkreuz-Fahnen waren geblieben. Und die Übergriffe auf jüdische Bürger nahmen wieder mehr zu. Luise war auf dem Weg zu Jakobs Buchhandlung, bekam es erneut selbst mit. Musste mit ansehen, wie eine junge Frau von der Gestapo abgeführt und unsanft in einen Wagen gestoßen wurde. Luise wollte aufbegehren, aber eine ältere Frau, die entsetzt dazukam, hielt sie am Arm zurück. »Nicht«, flüsterte sie. »Sonst werden sie noch brutaler zu ihr. Oder die nehmen Sie auch noch mit. Die Frau Lewin hat nen Schutzhaftbefehl bekommen und ihn ignoriert, hat se mir erzählt. Vielleicht kommt se ja nur in ein Arbeitslager.«

»›Nur‹ ist gut«, entgegnete Luise aufgewühlt. »Ich habe mehrfach gehört, dass sie dort gequält werden, oft bis zum Tode.«

Sie fühlte sich so machtlos, hätte der jungen Frau so gerne geholfen. Ihren panischen Blick, ihre Augen, die sie stumm um Hilfe anflehten, würde sie nicht vergessen. Der Wagen fuhr ab, sie ging weiter. Durfte sie jetzt überhaupt gehen? Das Land verlassen und alle im Stich lassen? »Es nützt nichts, wenn wir auch sterben«, hatte Richard noch vor seiner Abreise gesagt. »Von New York aus können wir besser helfen.« Hoffentlich hatte er recht. Ihr Richard, der fast immer recht behielt. Dennoch hieß es warten und das, wo Luise so ungeduldig war. Sie hatte mit Jakobs Hilfe einen Brief auf Englisch an eine Familie Jonas in New York geschrieben und um ein Affidavit, nicht um Geld gebeten. Aber der Postbote hatte noch keine Antwort gebracht. Auch nicht von Richard, von ihm hatte sie seit seinem Telegramm, dass er gut angekommen sei, nichts mehr gehört. Keine Antwort auf ihren Brief, den sie danach so kunstvoll geschrieben hatte, um Richard zu beeindrucken. Er schien ihn nicht bekommen zu haben. Oder war er unter dieser Adresse nicht mehr zu erreichen? Luise machte sich Sorgen um ihn. Was, wenn er gar nicht mehr lebte? Sie hatte von Straßenbanden in New York gehört, was, wenn er überfallen worden war?

Luise fröstelte, dabei schien die Sonne. Als sie die Straße überquerte, hörte sie einen Mann hinter sich laute Befehle rufen. Dann: »Heil Hitler!« Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder, drehte sich voll Abscheu zu ihm um. Hocherhobenen Hauptes stiefelte er in die andere Richtung davon. Sie musste weg von hier. Musste die Menschen aufrütteln, von Amerika aus. Hier wurde es lebensgefährlich für Denkende wie sie. Erst letzte Woche hatte sie gehört, dass einer aus ihrem Seminar, ein Widerständler, ins KZ gekommen war.

Aber sie musste auf das Affidavit warten. Erst dann könne sie das Visum beantragen, hatte ihr Richard gesagt. Es war zum Verrücktwerden.

Luise wusste nicht weiter. Als sie kurz darauf in der Buchhandlung ankam, um dort zu arbeiten, beriet sie sich mit Maria und Jakob. Es war gerade kein Kunde im Laden, sodass sie offen sprechen konnten. Maria hatte Informationen eingeholt, wusste von einer Beratungsstelle für Ausreisewillige in Berlin. »In der Martin-Luther-Straße 91, ein Hilfsverein. Davon gibt es jetzt mehrere zu den Auswanderungsberatungsstellen. Eigentlich für Juden, aber das ist sicher egal.«

Schon am nächsten Tag machte Luise sich auf zu der Adresse. Es handelte sich um ein unscheinbares graues Gebäude. In dem kühlen Eingangsbereich warteten die Leute bereits. Die Schlange war mehrere Meter lang, führte die Treppe hoch bis in den ersten Stock. Luise reihte sich am Schluss ein, beruhigte ihre angespannten Nerven, während der Geruch der vielen Menschen ihr in die Nase stieg. Angst und Hoffnung lagen greifbar in der Luft.

Endlich kam sie im ersten Stock an, durfte kurz darauf ein Büro betreten. Hinter dem Schreibtisch saß eine freundliche ältere Dame, sah sie durch ihre Brille ungeduldig an. Luise wurde bewusst, dass sie wenig Zeit haben würde. Sie schilderte rasch ihr Anliegen und wurde sehr nett, aber knapp beraten. Es gab sogar die Möglichkeit, einen Zuschuss für ihre Bahn- und Schiffskarte zu erhalten, ein Glück. Dazu eine Anleitung geeigneter »Übersee-Ausrüstung«.

»Durch die wirtschaftliche Depression der letzten Jahre herrscht fast überall hohe Arbeitslosigkeit auf der Welt. Deshalb sind die Einreisebestimmungen überall so restriktiv«, erklärte die Dame. »Falls Sie sich für ein anderes Land als die USA entscheiden, habe ich hier ein Informationsblatt mit aktuellen Notizen zur Einwanderungslage.« Sie reichte Luise ein Blatt, aber diese wehrte ab.

»Nein, nein, mein Verlobter wartet auf mich in Amerika. In New York.«

»Verstehe.« Die Frau sah sie mitleidig an. »Nehmen Sie die Übersicht trotzdem mit. Vielleicht klappt es ja nicht, Kanada ist gerade für Akademiker völlig gesperrt, steht da.«

Sie deutete auf das Blatt. Luise überflog es, las leise: »Dänemark: Ausländer, die nicht genug Unterhaltsmittel besitzen, werden mithilfe der Polizei des Landes verwiesen. Persien: Vor der Zuwanderung deutscher Arbeitskräfte muss gewarnt werden.«

Luise schluckte. Sie würde nicht willkommen sein, nirgendwo, das wurde ihr klar.

»Hätten Sie denn mit unserem Zuschuss das Geld für ein Visum für Amerika?«

Luise nickte. »Das habe ich.«

»Gut. Dann müssen Sie mindestens drei Tage vor Abfahrt des Schiffes in Hamburg sein, mit allen Papieren und Dokumenten. Sie müssen dort persönlich vorstellig werden, mit Lichtbildern. Beim Konsulat bekommen Sie das Visum, wenn das Affidavit und alles da ist. Vergessen Sie nicht die Dokumente.«

»Welche Dokumente meinen Sie?«

»Die zum Affidavit, die bescheinigen, dass Ihre Verwandten dort finanziell leistungsfähig sind. Eine eidesstattliche Versicherung Ihrer Verwandten, dazu Bescheinigungen der Arbeitgeber, Banken, Versicherungen, sodass man die Richtigkeit der Angaben überprüfen kann. Die Bescheinigung des Arbeitgebers muss Angaben enthalten, ob der Angestellte ganz oder nur einen Teil des Tages arbeitet. Ob das Gehalt für eine Ganz- oder Halbtagsarbeit gezahlt wird. Alle diese Dokumente sollen nicht ans zuständige Konsulat des Einwanderers, sondern an den Antragsteller selbst geschickt werden. Der, also Sie, müssen damit persönlich zum Konsulat. Haben Sie das alles verstanden?«

Luise wurde ganz schwummrig, aber sie nickte.

»Gut, dann viel Erfolg. Schicken Sie bitte den Nächsten rein.«

Mit wackeligen Knien stand Luise auf. Sie hatte das alles nicht in ihr Affidavit-Gesuch an die Familie Jonas in New York geschrieben. War jetzt alles umsonst gewesen? Sollte sie ihnen erneut schreiben? Sie verabschiedete sich leise und ging zur Tür.

»Ach, und lernen Sie die Sprache. Wir bieten Kurse in allen möglichen Sprachen an, auch für Englisch. Wenn Sie die Sprache nicht sprechen, gibt es für Sie kein Vorwärtskommen, glauben Sie mir.«

Erschrocken sah Luise die Dame an. »Ich möchte einen Sprachkurs machen, bitte.«

Die Dame nickte und hielt ihr ein weiteres Informationsblatt hin. Luise nahm es und steckte es ein, bevor sie das Büro verließ.

*

New York, 2023

June hatte das Gästebett in ihrem ehemaligen Zimmer bezogen. Es war immer ihr Besuchszimmer gewesen, wenn sie im Haus ihrer Großmutter übernachtet hatte. Die letzten Jahre hatte Bill es offenbar als Büro genutzt, wie sie anhand der Papiere, Stifte und Ordner mit Versicherungsunterlagen auf ihrem alten Schreibtisch vermutete. Der einfache Holzstuhl war einem rückenschonenden Schreibtischsessel gewichen, den man hoch- und runterfahren konnte. Das Einzige, was Bill verändert hatte, soweit June bisher gesehen hatte.

Sie trug bereits ihren Pyjama, nippte an einem Glas Rotwein und telefonierte mit Anton, der auch gerade hörbar einen Schluck nahm. »Meiner ist erdig im Abgang. Ich bin gespannt auf den Weinkeller deiner Großmutter. Darin befinden sich bestimmt einige Schätze.«

June schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist dir wichtig?«

»Du natürlich viel mehr. Gehst du morgen zum Notar?«

»Der Termin war heute«, erwiderte sie.

»Oh. Und? Was stand in dem Brief deiner Großmutter?«

»Ich erbe das Haus nur zu einem Drittel. Und nur unter bestimmten Auflagen.«

»Nur ein Drittel vom Haus? Wirklich? Und was für Auflagen?« Anton klang enttäuscht.

Hat er so sehr auf das Erbe gehofft? Ist er deshalb noch bei mir?, fragte sich June.

»Erkläre ich dir genauer ein andermal. Ja, wenn, dann nur ein Drittel. Reicht also nicht für eine Villa in Potsdam.« Denn davon träumte er schon länger. Dabei würde ihr ein kleines Haus im Grünen im Speckgürtel von Berlin durchaus reichen. Wobei diese auch sehr teuer geworden waren. »Ist eine lange Geschichte«, wehrte sie ab. »Der Weinkeller ist nicht in meinem Drittel«, fügte sie provozierend hinzu.

Anton räusperte sich. »Das denkst du von mir?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, entgegnete sie müde. »Ich möchte schlafen gehen. Ist zwar noch früh, aber ich habe Jetlag.« Sie nahm erneut einen Schluck Wein, verabschiedete sich und legte auf. Dann stellte sie das Glas auf Bills Schreibtisch und ging in Großmutters Bad. Ihr Parfum stand noch da, Cremes nicht mehr.

Wann hatte sie angefangen, Anton nicht mehr zu vertrauen? Schon vor seinem Seitensprung? Sie schminkte sich mit einem Wattepad ab und betrachtete dabei ihr Spiegelbild. Feine Fältchen hatten sich um ihre Augen eingegraben. Waren die seit Anton mehr geworden?

Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung, im Sowohl als auch