Die Glücksritterin - Rosa Sütö - E-Book

Die Glücksritterin E-Book

Rosa Sütö

4,4

Beschreibung

Ein autobiografischer Roman über die abenteuerliche Lebensgeschichte einer modernen Glücksritterin – von der Zeit des Krieges 1942 bis zum Anschlag auf das World Trade Center 2001. Rosa Sütö beschreibt ihre Befreiung aus den prekären Verhältnissen des Flüchtlingsdaseins, in das sie hineingeboren wurde und den Weg zu einem Leben als Millionärin, welches sie mit noch größeren Herausforderungen konfrontiert. Mit ihrer Risikofreude und dem Drang nach Selbstverwirklichung überwindet Rosa die Ängste und Traumata ihrer Kindheit. Sie lernt mit schwierigen Menschen umzugehen. Auf einem schmalen Grat wandelnd, zwischen Höhenflügen und Abstürzen, wünscht sie sich nur die zwei Dinge, die jede Frau will: Den richtigen Mann an ihrer Seite und finanzielle Unabhängigkeit. Doch ob Fernfahrer, Hippie, Millionär oder charmanter Nordspanier - das Glück ihrer Ehen ist nie von Dauer. Als internationale Immobilienmaklerin landet sie schließlich in der Luxusmetropole Marbella an der spanischen Costa del Sol. Aber in der Welt des Geldes ist nicht alles so, wie es scheint... Spannend, emotional, humorvoll und mit Liebe fürs Detail, erzählt die Autorin Rosa Sütö über Beziehungs- und Finanzkrisen, sowie über ihre spirituelle Selbstfindung. Lassen Sie sich berühren und mitreißen von einer Geschichte über die Licht- und Schattenseiten menschlicher Qualitäten.

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Dieser Roman basiert auf wahren Gegebenheiten. Allerdings wurden Namen geändert und die Autorin hat sich die Freiheit genommen, die Ereignisse künstlerisch zu verändern.

DANKSAGUNG

Ich danke meinen Töchtern und meiner Enkelin für ihre Geduld und Hilfe bei der Fertigstellung meines Buches, sowie meinem Schwiegersohn für seine finanzielle Unterstützung.

INHALT

Danksagung

Die Schrottprinzessin

Das Leben im Ghetto

1960 Edwin tritt in mein Leben

Rainer und die wilden Siebziger

Wie Phönix aus der Asche

Divina

Murcia

Drei Engel für Marbella

Nachwort

Vita

Die Schrottprinzessin

Die Saat, die ihr gesät habt ...

Meine Vorfahren kamen Ende des 16. Jahrhunderts als schwäbische Aussiedler mit der 'Ulmer Schachtel' auf der Donau nach Ungarn. Gleich neben der Hauptstadt Budapest ließen sie sich nieder und gründeten mit anderen gleichgesinnten Deutschen eine kleine Gemeinde, die sie „Weindorf“ nannten. Sie bauten Wein an und bearbeiteten fleißig den Ackerboden. In einem Steinbruch klopften sie Steine und in einer Ziegelei brannten sie die Ziegel für ihre Häuser. Einer Großfamilie gleich, kannte jeder jeden und man pflegte mit großer Hingabe Sitten und Gebräuche aus der deutschen Heimat. Alle waren gleich geachtet, ob Arbeiter oder Herr.

Die Winter waren sibirisch kalt, so auch der des Jahres 1942. Meine Mutter lag mit einer schweren Rippenfellentzündung und hohem Fieber in der großen Stube im Bett, als sich meine Geburt einen Monat zu früh ankündigte. Bei ihr war nur meine neunjährige Schwester Mizzi. Als die Wehen immer häufiger wurden, sagte sie zu ihr:

„Mizzi, renn' zur Tante Rosa und sag ihr, es ist so weit. Sie soll auch gleich die Hebamme mitbringen und du bleibst am besten bei Onkel Fritz, um zu übernachten!“

Es war früh dunkel geworden an diesem letzten Tag im Jahr. Von meinem Vater wusste Mutter nicht, wo er sich gerade aufhielt. Sie hatte seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Er war Steuermann auf einem Schlepper auf der Donau und fuhr von Regensburg bis zum Schwarzen Meer, wo er für den 2. Weltkrieg Petroleum transportierte.

Mein ältester Bruder Joshi war achtzehn. Als er erfuhr, dass unsere Mutter im Alter von knapp vierzig Jahren noch einmal schwanger wurde, schämte er sich so sehr, dass er von zu Hause nur noch weg wollte. Daraufhin meldete er sich bei der Donauschifferei zur Lehre an. Er wollte Kapitän werden.

Mein zweiter Bruder Karl war noch keine sechzehn Jahre, als er in den Krieg eingezogen wurde.

Ich war ein Nachzügler, den eigentlich keiner haben wollte. Als meine Mutter feststellte, dass sie nach vielen Jahren mit mir in anderen Umständen war, sagte sie zu meinem Vater:

„Ausgerechnet jetzt, wo man nicht weiß, wie`s weiter geht und was kommt!“

Vater beruhigte sie mit den Worten: „Wirst schon seh`n, das Kind wird dir einmal das Gnadenbrot verdienen!“

So sollte es sein.

Tante Rosa war Mutters Lieblingsschwester und unser aller Lieblingstante, weil sie immer für uns da war, wann immer wir sie brauchten, obwohl sie ihre eigene Familie hatte, ihren Mann Fritz und zwei halbwüchsige Töchter.

In unserem kleinen Lehmhaus gab es nur eine große Stube und eine kleine Küche. Alles spielte sich in diesem einzigen Raum ab. Hier schliefen alle und hier gab es auch den einen Ofen, der alles warm hielt. Mutter sagte immer:

„Arm sein ist keine Schande, aber schmutzig sein!“ Deshalb war bei uns alles immer wie geleckt. Die Fenster blinkten und vom Fußboden hätte man essen können.

Als meine Tante und die Hebamme ankamen, musste alles schnell gehen, weil es Mutter so schlecht ging; sie dachten schon, sie würde dabei sterben. Als ich dann endlich draußen war, gab ich kein Lebenszeichen. Die Hebamme und mein Tante versuchten alles, um mich zum Leben zu bringen. Sie tauchten mich abwechselnd in kaltes und warmes Wasser, dann rieben sie mich mit Schnee ab. Als sie schon aufgeben wollten und dachten: „Na ja, dann eben nicht – ein Esser weniger!“, gab ich mein erstes Lebenszeichen – einen Huster. Dieser Husten sollte mich mein Leben lang begleiten.

Weil ich an einem Silvestertag geboren wurde, wollte Mama mich zuerst auf den Namen Sylvia taufen. Da aber beide - meine Tante und die Hebamme 'Rosa' hießen und sie mir das Leben retteten, nannte sie mich aus Dankbarkeit auch Rosa. Den Namen habe ich gehasst - mein halbes Leben lang - und auch meine späteren Lebensgefährten, werden mir Kosenamen geben, und mich nie 'Rosa' rufen. Es schien, als passte er nicht zu mir und doch ist er passend.

Drei Monate versorgte Tante Rosa meine Mutter und mich, dann zeigte sie meiner Schwester Mizzi, wie sie mich täglich baden sollte, von da an war meine Schwester auch meine kleine Ersatzmutter.

Dann geschah ein Wunder: Vater kam heim. Er erzählte, dass er bei Rumänien, an der breitesten Stelle der Donau, beim Auftanken die Öl-Pipeline mit samt seinem Schiff bombardiert worden war. Um sich zu retten, durchschwamm er das brennende Wasser. Bewusstlos vor Erschöpfung hatte man ihn am Ufer gefunden und ihn ins nächste Hospital gebracht. Dort war er wochenlang im Koma gelegen. Da er keine Papiere bei sich hatte, wusste keiner, wer er war.

Seit Papa wieder daheim war, ging es Mama jeden Tag besser. Er umsorgte sie liebevoll, trug sie auf Händen und wenn es nötig war, sogar bis auf das stille Örtchen, welches hinterm Haus war. Er kochte, putzte, wusch und kämmte Mama, Mizzi und mich. Alkohol mochte er überhaupt nicht, dafür rauchte er sehr viel und trank jeden Tag mindestens drei Liter Milch.

Mama und Papa waren sehr verliebt. Papa erhielt für seinen tapferen Einsatz eine kräftige Entschädigung, wovon sie sich ein neues Haus bauen wollten.

Im Sommer musste Vater wieder auf das Schiff und weil gerade Ferien waren, durften wir alle mit. Er fuhr mit uns von Wien bis ans Schwarze Meer. Meine Mutter war sehr glücklich. Ihr gefiel die kleine Wohnung auf dem Schlepper. Am meisten genoss sie die vorbeiziehenden Landschaften, während sie Wäsche zum Trocknen aufhing. Mein Bruder Karl - der gerade Fronturlaub hatte - und meine Schwester sollten auf mich aufpassen. Plötzlich war ich verschwunden und alle dachten, ich wäre ins Wasser gefallen – es war das erste Mal, dass ich eine Treppe alleine hinauf gekrabbelt war. Stundenlang suchten sie mich auf dem Schiff – nichts. Durch verheulte Augen und getrübten Blick meinte Mutter jedes Mal, wenn ein Gegenstand im Fluss vorbei schwamm:

„Da – da - da schwimmt sie!“

Bis sie völlig durchdrehte und meine Geschwister für ihre Unachtsamkeit Schläge bezogen. Plötzlich hörten sie einen Jauchzer und „Blblblblb!“, sie fanden mich in einem kleinen Winkel unterhalb einer Treppe am Milchtrog, den Vater an Land als Vorrat gefüllt hatte, bevor es auf Fahrt ging. Während sie mich verzweifelt suchten, hatte ich die ganze Zeit mit meinen Fingern von der Milch geschleckt.

*

Als die Russen kamen

Wie das Herannahen eines schweren Gewitters, so schauderhaft hörte sich ab Mitte Dezember 1944 das Grollen der Kanonen von der immer näher rückenden Front an. Nervosität machte sich unter der Dorfbevölkerung breit. Die im Ort stationierten Soldaten verließen vom 23. bis 24. Dezember fluchtartig das Dorf. Budapest wurde am 24. Dezember von den russischen Armeen eingeschlossen. Als am ersten Weihnachtsfeiertag vormittags die Leute aus der Kirche nach Hause gingen, hieß es:

„Die Russ`n kumma, sie san scho`am Zieg`loufa!“ Was heißt:

„Die Russen kommen, sie sind schon beim Ziegelofen!“ (Ein Teilort von Weindorf).

Am zweiten Weihnachtstag kam eine Vorhut russischer Soldaten in unser Dorf. Zwei Tage später folgte eine nicht enden wollende Kolonne. Sie nahmen Quartier in den Häusern, in manchen waren bis zu dreißig Russen untergebracht. Diese Truppen verpflegten sich ausschließlich von den vorhandenen Lebensmittelvorräten. Ein großes Übel war der Wein, welcher in den Wirts- und Bauernhäusern lagerte. Die Frauen hatten große Angst vor den betrunkenen Soldaten. Immer wieder wurden sie zusammengeschlagen und vergewaltigt. Sie versteckten sich in Kellern und hinter Verschlägen.

Mama hielt mich im Arm, ich war gerade zwei Jahre alt, als betrunkene Russen uns im Keller entdeckten. Mizzi war vor Angst barfuß, bei 20 Grad minus in der Nacht, zu den Großeltern geflüchtet. Wahrscheinlich hatten sie vor, auch meiner Mutter etwas anzutun, aber als einer von ihnen mich sah, ging ein Lächeln über sein Gesicht. Er kam auf uns zu und gab mir ein kleines Häschen, welches er bei sich trug. Meine Mutter erzählte mir später, ich hätte ihr das Leben gerettet.

Mitte Juli 1945 kam ein Brief mit der Nachricht, dass Vater in einem Linzer Krankenhaus an Typhus gestorben war.

Inzwischen machte sich Hass breit gegen alles Deutsche. Die Hetzparolen „Hinaus mit den Schwaben“ und „Samt der Wurzel ausrotten!“, machten meiner Mutter Angst. Sie traute sich nicht mehr in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen und verheimlichte so gut es ging, Deutsche zu sein.

Noch im Januar 1946 wollte sie an eine Ausweisung nicht glauben, obwohl andere Deutsche aus den umliegenden Dörfern bereits nach Deutschland unterwegs waren. Erst als im März Beamte zum Erfassen der Einwohner in unser Haus kamen, Plakate mit der Kundgebung über die „Rücksiedlung ins Mutterland“ an den Hauswänden angebracht waren und ab dem 13. April niemand mehr das Dorf verlassen durfte, erkannte meine Mutter den Ernst der Situation.

Am 26. April 1946 wurde in unserer Kirche ein Abschiedsgottesdienst gehalten. Danach gingen alle, einer Prozession gleich, auf den Friedhof, um sich von den Gräbern der verstorbenen Angehörigen, welche die Frauen ein letztes Mal mit den bereits blühenden Frühlingsblumen aus den Gärten geschmückt hatten, zu verabschieden. Auch den zurückbleibenden Verwandten und Nachbarn sagten sie an diesem Tag ein letztes Lebewohl.

*

Transport - Ausweisung

Am 1. Mai überquerten wir endlich die Grenze nach Österreich. Die weitere Fahrtstrecke führte über Wiener Neustadt, Sankt Pölten, Linz, Passau, München, Augsburg und Ulm nach Heidenheim an der Brenz.

In Passau gab es eine Überraschung. Mein Bruder Joshi hatte einen Aufenthalt im dortigen Donauhafen. Er hatte erfahren, dass ein Weindorfer Transport unterwegs sei.

Er erwartete uns auf dem Bahnsteig. Anschließend fuhr er mit seinem Schiff nach Ungarn zurück, dort blieb er sein ganzes Leben lang.

Auf einem Plakat im Münchner Bahnhof stand geschrieben:

„Hüte dich vor Sturm und Wind und vor Zigeunern, die aus Ungarn sind!“

„Na, da werden wir ja schön empfangen!“ meinten die Leute enttäuscht.

„In Ungarn nannten sie uns dumme und stinkende Schwaben, hier nennen sie uns Zigeuner!“

Da sagte einer aus unseren Reihen:

„Klani Leit hot Gott erschoff`n, grossi Ochs`n san a mitg`wochs`n!“ (Kleine Leut` hat Gott erschaffen, große Ochsen sind auch mitgewachsen.)

*

In der neuen Heimat

Heidenheim war amerikanische Besatzungszone. Meine Familie kam in das Lager „Brunnenmühle“.

Um Krankheiten und Seuchen vorzubeugen, mussten alle entlaust und erst mal ärztlich untersucht werden. Als Lagerarzt war damals Dr. Oswald Fladerer tätig, den viele Weindorfer als Militärarzt einer deutschen Einheit, die im Herbst 1944 in Weindorf stationiert war, kannten.

Mir wurden meine blonden Locken völlig abrasiert. Wir saßen während des Transports direkt vor der zugigen Waggontür und ich hatte mir dabei eine schwere Bronchitis zugezogen. Durch hohes Fieber, ständiges Husten und starkes Schwitzen verklebte mein langes Haar völlig. Da half nur ein radikales Abscheren bis zur Glatze. Danach brachten mich Mama und Mizzi ins Lagerhospital. Wieder einmal dachten sie, ich müsste sterben. Fast wäre ich erstickt und durch einen starken Hustenanfall war mein Darm durchgebrochen. Im Krankenhaus fühlte ich mich besser, da bekam ich in dicken weißen Tassen heiße Milch zu trinken. An die Bestrahlungen mit Infrarotlicht kann ich mich auch noch erinnern wie gut sie mir taten!

Tante Rosa's Mann Fritz war kurz vor Ende des Krieges noch an die Front geschickt worden und gefallen. Deshalb war sie viel bei uns, obwohl sie mit ihren Kindern schon nach kurzer Zeit in einem Dorf ein Haus zur Verfügung hatte. Nur wir wohnten noch weiter in den Baracken, die seit Herbst 1946 zu Wohnungen umfunktioniert waren. Von da an hatten wir zwei Schlafzimmer und eine große Stube, die Küche und Wohnraum zugleich war.

Manchmal kamen Nachbarfrauen zu uns und hielten in dem Zimmer, in dem ich schlief, spirituelle Rituale ab, um das Orakel zu befragen, ob ihre Männer noch lebten. Auf eine Kommode stellten sie einen großen Spiegel, davor ein Kruzifix und zündeten links und rechts Kerzen an. Dazu platzierten sie in die Mitte ein Foto des Vermissten. Das Medium flüsterte:

„Ich sehe keinen Sarg ...“

Mama hatte schon bald einen neuen Mann. Er war Serbe und hatte im Krieg bei den Partisanen im Untergrund gekämpft. Sein Name war Josef Nussbrücker. Er hieß mit dem Vornamen genauso wie mein richtiger Vater. Auch er war groß und schlank. Seine spärlichen Haare kämmte er rund um den Kopf, um seine kahlen Stellen zu überdecken. Zeitgemäß trug er einen Hitler-Bart. Seine Frau war im Internierungslager verhungert; der älteste Sohn gefallen. Eine Tochter und der jüngste Sohn waren in Jugoslawien im Kinderheim untergebracht.

Jemand aus seiner Verwandtschaft hatte ihn mit Mutter verkuppelt. Er kam mit einem Rucksack voller Kartoffeln und gab ihr die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Da ich mich an meinen richtigen Vater nicht erinnern konnte, war er sofort von mir als mein neuer Papa akzeptiert. Wann immer ich konnte, saß ich auf seinem Schoß und er sagte liebevoll:

„Meine Prinzessin!“

Inzwischen war aus unserer großen Stube eine Wirtsstube geworden. Abends saßen einige Männer mit meinem Stiefvater zusammen und politisierten über den verlorenen Krieg. Vater sagte immer:

„Wenn die Italiener die Deutschen nicht verraten hätten, hätten die Deutschen den Krieg gewonnen!“

Er erzählte, dass er in Italien die beste Marmelade seines Lebens gegessen hätte ... und noch mehr. Jeden Abend saßen sie, redeten im Halbdunkeln oder spielten Karten. Nebenbei tranken sie Bier oder ein Viertel Wein, rauchten, bis vor lauter Qualm nichts mehr zu sehen war.

Meine Mutter hatte zwar die Konzession zum Ausschenken, durfte aber nur über die Straße verkaufen. Vermutlich hatten Nachbarn sie angezeigt. So kam es, dass die Polizei immer wieder bei uns vorbeischaute. Inzwischen wussten die trinkenden Männer von der Gefahr und wenn ein Polizist in Anmarsch war, versteckten sie blitzschnell die halbvollen Flaschen unter der Bank zwischen den Beinen.

Weil ich ein stilles, liebes und schönes Kind war, nahmen mich immer wieder Gäste gerne auf ihren Schoß und ich schmiegte mich dankbar an. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich meine Mutter bei Zeiten ins Bett gebracht hätte. Die Männer tranken, rauchten, spielten 'Siebzehn und vier' für Geld bis spät in die Nacht. Irgendwann hat mich Mutter daneben schlafend aufgenommen und ins Bett gelegt.

Immer öfter trank Vater über den Durst. Mutter schimpfte, weil er betrunken viel Geld verspielte und er konnte es nicht leiden, wenn sie bei ihm stichelte. Dann trafen zwei Temperamente aufeinander, dass es nur so krachte.

*

Vater hatte gute Beziehungen zu den Bauern auf dem Land. Immer öfter nahm er auch meinen Bruder Karl mit, um auf dem Schwarzmarkt zu tauschen und Geschäfte zu machen. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass man bei uns viel bekommen konnte, was es sonst nirgends gab – Fleisch, Kartoffeln, Zigaretten und Schnaps. Zu dieser Zeit gab es Lebensmittelmarken. Wenn Vater und Karl von ihrer Tour zurückkamen, standen die Leute bei uns Schlange. Oftmals hatten die Menschen kein Geld, um das Erstandene zu bezahlen, dann schrieb Mutter es in einem Schuldenbuch auf, welches mit der Zeit immer dicker wurde. Andere bezahlten mit Reichsmark, die aber keinen Wert hatte, deshalb stapelte sich das Geld in großen Mengen. Nach kürzester Zeit schwammen wir regelrecht in Geld, was natürlich bei einigen Nachbarn den Neid anstachelte und es zu Anzeigen kam.

Razzien von der Kriminalpolizei waren bei uns zu Hause an der Tagesordnung. Immer noch kränkelte ich mit meinem Husten und lag im Bett, deshalb gab Mama mir – als Hausmedizin – immer wieder einen Esslöffel Obstler mit Zucker, den sie anzündete und nachdem er abgebrannt war, steckte sie mir das Zeug in den Mund. Eines Tages kam wieder einmal die Kripo und durchsuchte unsere Schränke. Da fand ein Polizist in Zivil die versteckte Schnapsflasche über dem Kleiderschrank.

„Wusst ich`s doch“ und „Ja, was haben wir denn da?“, hörte ich ihn triumphierend sagen. Als er die Flasche an sich nehmen wollte, hatte ich das Gefühl, dieses verhindern zu müssen und sagte:

„Oh – meine Medizin!“ Auf den erschrockenen Blick des Beamten sagte meine Mutter entschuldigend:

„Sie ist ständig krank mit ihrem Husten, da geb` ich ihr den Schnaps wie Hustensaft!“ Worauf er meine Mutter in Ruhe ließ und sie den Schnaps behalten durfte.

*

Im Ostteil der Stadt war eine Wohnsiedlung für Juden beschlagnahmt worden, die auf die Ausreise nach Israel, England und die USA warteten. Einige von ihnen stammten auch aus Ungarn. Ein paar unserer Frauen hatten weil sie ungarisch sprachen, im Haushalt Arbeit gefunden.

Meine Mutter hatte eine hohe Meinung von den Juden, sie sagte immer:

„Der Jud` sagt, soviel gehandelt ist mehr, als soviel gearbeitet!“ und zeigte bei dem Wort Handeln, mit dem Zeigefinder zuerst auf die Spitze des anderen Zeigefingers und bei dem Wort Arbeit auf die Elle des Arms. Unter diesem Motto machten sie auch Handel mit allem, was ein Jude ihnen anbot; Stoffe, Schürzen und Tischdecken aus Plastik, was gerade das Neueste auf dem Markt war.

Damit ging mein Stiefvater jeden Samstag auf den Wochenmarkt, um an seinem Verkaufsstand Textilien anzubieten.

Einmal kam der Jude zu uns in die Stube und bot einen Stoffballen mit reinster Schurwolle an. Um zu beweisen, dass es tatsächlich so ist, nahm er ein Stück Faden des Stoffes, zwirbelte ihn und zündete ihn an. Wenn er nicht brannte, sollte es reinste Wolle sein. Im guten Glauben haben sie den ganzen Ballen gekauft. Doch als der Jude gegangen war und mein Bruder voller Freude über das gute Geschäft die Rolle bis zur Mitte aufwickelte, kam ein riesiges Loch zum Vorschein. Karl regte sich so sehr über den Betrug auf, dass er ihm sofort nachrannte und ihn zurückholte. Als er ihn am Kragen packte und ihm wütend ins Gesicht zischte:

„Nimm deinen Scheiß Stoff zurück und gib mir das Geld wieder!“, holte dieser eine Pistole raus und drohte:

„Wenn du mich nicht sofort loslässt, erschieß ich dich!“ Erschrocken und ängstlich zugleich versuchten meine Eltern, welche sich die ganze Zeit aus dem Geschehen herausgehalten hatten, auf die beiden beruhigend einzuwirken. Mich hatten sie gar nicht wahrgenommen, weil ich, wie immer, still auf meinem kleinen Hocker in einer dunklen Ecke saß. Wortlos ließen sie ihn wieder gehen und blieben auf dem beschädigten Stoffballen sitzen.

*

Damit ich ja nicht wieder krank würde, zog mich Mutter Sommer wie Winter immer gleich warm an. Selbst im Hochsommer musste ich kratzige Strümpfe tragen und knöchelhohe Schnürschuhe. Sie erzog mich in ständiger Gottesfurcht, deshalb war ich auch sehr schüchtern und voller Angst vor allem.

Im Winter hatte Mutter mir verboten, auf die zugefrorene Brenz zu gehen – ein kleiner Fluss in der Nähe unserer Baracken. Alle liefen Schlittschuh, ich brauchte nur draufzustehen, schon brach ich ein. Eine Frau rettete mich vor dem Ertrinken aus dem Eiswasser und brachte mich heim. Mutter hat mir vor lauter Schrecken und weil ich trotz Verbot aufs Eis ging, ordentlich den Hintern versohlt.

Eines Tages hatten sich alle Lagerkinder meines Alters um mich geschart. Heiner war mein zweitbester Freund nach Adi und provozierte mich:

„Wenn du willst, dass wir deine guten Freunde sind, dann hol uns Geld aus eurer Ladenkasse!“

Die anderen aus der Gruppe nickten zustimmend. Nicht ahnend was ich tat, ging ich in die Wirtsstube, öffnete die Schublade unter dem Tresen und machte den Griff. Geld bedeutete mir noch nichts ... wichtig zu sein und anerkannt zu werden dagegen viel.

Einer der Nachbarn musste es beobachtet haben. Er ging zu meiner Mutter und meinte:

„Deine Rosi verteilt Geld auf der Straße unter den Kindern!“ Worauf meine Mutter meinen Stiefvater anschaute und befahl:

„Jetzt bist du dran!“

Als der mich zu sich rief und mich übers Knie legen wollte, hatte ich große Angst vor ihm. Worauf er nur bemerkte:

„Ich hab` ja nur die Hand erhob´n, da hat sie sich schon in d` Hos`n g`macht!“

Von da an wusste ich, dass das mit dem Geld und Freunden so eine Sache ist. Auch im späteren Leben mache ich meine Erfahrungen damit.

*

Von Anfang an hatten wir in den Baracken eine Wanzenplage, deshalb kamen Kammerjäger vom Gesundheitsamt, um mit chemischen Sprühmitteln alle Räume auszublasen. Dazu mussten die Bewohner auf die Straße. Vater hatte mal wieder zu viel getrunken und war ziemlich aggressiv. Mutter wollte, dass er wie alle auf den Hof geht. Da alles gute Zureden der Kammerjäger nichts half, wurde Mutter wieder ungeduldig und giftig. Als er endlich, wie alle anderen draußen war, kam es zu einem lauten und heftigen Streit. Ich hatte mich aus Scham und Angst um meine Mutter an ihren Rock geklammert, als aus einigen Metern Entfernung auf den Kopf meiner Mutter eine volle Bierflasche zuflog.

„Mama!“, schrie ich heulend, „pass' auf!“

Eine Sekunde lang nahm sie mich neben sich wahr und wich etwas zur Seite. In diesem Augenblick streifte sie die Flasche an der Stirn und Blut strömte über ihr Gesicht und ihre Bluse. Ich hatte ihr wieder einmal das Leben gerettet.

Wortlos nahm sie mich bei der Hand und floh mit mir vor meinem Stiefvater durch die Stadt, hin zu meiner Schwester Mizzi, die bei einer Geschäftsfamilie den Haushalt führte.

Mizzis entsetzter Gesichtsausdruck sagte alles über unseren unerwarteten Auftritt, aber aus ihrem Mund kam nur:

„Was wollt ihr denn hier?“ und „Oh Gott, was für eine Schande, bitte geht, bevor euch meine Arbeitgeber sehen!“, und machte die Türe schnell wieder zu.

Mutter überfiel wieder das Heimweh nach Ungarn und der guten alten Zeit mit unserem überaus „guten Vater, der ganz anders war“. Für mich war das sehr traurig, weil ich mich nicht an ihn erinnern konnte. Nur ein Bild hatte Mutter von ihm bei uns in der Stube hängen. Einmal sagte sie zu mir:

„Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie groß er war und wie schön. Er mochte keinen Alkohol!“

Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, sah ich meinen verstorbenen Vater neben mir am Bett stehen, manchmal auch meinen Schutzengel. Wenn ich träumte, flog ich wie ein Vogel hoch über die Dächer hinweg, weg - weg - am Morgen danach lag ich vor dem Bett auf dem Fußboden. Ich schämte mich sehr, wenn Mama wieder einmal den nassen Strohsack und das Leintuch zum Trocknen in die Sonne hängte. Es fiel mir schwer zu sprechen, ganze Sätze kamen nur abgehackt und sehr schüchtern über meine Lippen.

Dann geschah ein kleines Wunder und etwas, das mir sehr viel Freude machte. In unserer Nähe befanden sich große Fabriken, eine davon war die Verbandsfabrik Hartmann. Die Großmutter der Familie hatte in einem nahegelegenen Waldgrundstück eine wunderschöne Fachwerkvilla. Sie hatte mich laut weinen gehört und war durch das Gejammer neugierig geworden. Sie kam in unsere Stube wie ein Engel – für mich war sie wie eine Lichtgestalt. Sie nahm mich mit in ihre Villa und schenkte mir mein erstes wunderschönes Bilderbuch von Prinzen und Prinzessinnen. Von da an malte ich mir in meinen Träumen aus, so zu leben wie die Personen in diesen Märchen.

*

Alle Jahre wieder ...

Zu Heilig Abend brachte Vater jedes Jahr einen lebenden Karpfen heim, den er selbst zubereitete. Nebenher trank er seinen überaus begehrten Rotwein. Dabei sang er sein Lieblingslied:

„Ja, ja, der Wein ist guat, i brauch kein neien Huat, i setz mein oiten auf, bevor i a Wosser sauf.“

Mutter schwoll die Galle an – stichelte – dann flogen die Töpfe und Teller durch die Luft, das wiederholte sich alle Jahre.

Aber Silvester war das anders. Schon Tage zuvor wurde fleißig an Girlanden gebastelt. Einige Frauen aus der Nachbarschaft, hatten ein großes Geschick und fertigten aus rosa Krepppapier kleine Röschen, um damit auf einem großen Plakat die Worte „Herzlich Willkommen“ und die Jahreszahl zu schreiben. Das haben sie dann über dem Ballsaal – was unsere umgestaltete Wirtsstube war – aufgehängt. An der Decke hing alles voll mit Girlanden, Luftschlangen und Lampions. In einer Ecke direkt neben der Eingangstür und dem Ausschank stand ein großer grauer Kühlschrank gefüllt mit Bier, Wein und Schnaps. Dann kamen die Biermänner mit einer Pferdekutsche, auf der sie die notwendigen meterlangen Eisstangen lieferten, um den Kühlbehälter mit dem zertrümmerten Eis zu füllen.

Für mich war Silvester – obwohl es der Tag meines Geburtstags war – ein Gräuel, weil die Buben Knallfrösche unter meinen Rock warfen. Wenn es sich vermeiden ließ, ging ich möglichst nicht auf die Straße.

Dafür freute es mich umso mehr, dass wir ein Grammophon hatten, das Mutter auf den Eisschrank stellte. Vater hatte mich dazu hinaufgesetzt; ich durfte die Schallplatten für die Tanzmusik auflegen. Mutters Lieblingsmusik war der 'Radezkymarsch' und 'Wiener Blut', ein Walzer von Johann Strauß. Schon mit drei Jahren konnte ich alles tanzen. Auch den Walzer links- und rechtsherum. Das machte den Erwachsenen so viel Spaß, dass sie auch mich zum Tanzen holten. Bei diesen kurzen, fröhlichen und laut juchzenden Vergnügungen, sah ich meine Eltern leidenschaftlich miteinander tanzen.

*

Doch der Alltag kehrte wieder ein. Meine Eltern machten weiter Geschäfte, veranstalteten Bälle auch außerhalb unserer Gastwirtschaft, in Turnhallen und im Konzerthaus der Stadt. Sie engagierten eine aus der Heimat stammende Blaskapelle.

Wenn Vater an der Abendkasse die Eintrittskarten verkaufte, war er wie immer betrunken und gab statt einer Karte oft doppelt oder dreifach, was die Leute natürlich freute. Mich hatte Mutter hinter den Tresen auf eine Kiste gesetzt. Tante Rosa war auch da und machte den Ausschank.

Der Andrang war groß und keiner hatte Zeit für mich. Zu allem Übel musste ich dringend auf die Toilette. Leise wimmerte ich in meiner Not und Tante Rosa fuhr mich an:

„Heulsuse, du nervst, keine Zeit – gib` a Ruh!“

Da ist es passiert. Dann hat sie mich erst einmal verhauen, weil ich nichts gesagt hatte und dann, weil sie mich putzen musste.

*

Im Sommer lagerten Zigeuner und Schausteller neben unseren Baracken am Waldrand auf der Wiese. Sie hatten sich mit ihren Pferden und hölzernen Wohnwagen über Nacht dort niedergelassen. Am nächsten Tag kamen sie zu uns und fragten, ob sie ihre Kunststücke vorführen dürften. Für mich war es Magie, was sie mitten in der Wirtsstube auf den ausgebreiteten Decken zur Schau stellten. Sie drehten Räder und wirbelten durch die Luft. Einer spuckte Feuer und schließlich gab es auch einen Clown, der anschließend mit seinem Hut bei den anwesenden Zuschauern Geld einsammelte.

Ein Künstlerehepaar hatte mich ins Herz geschlossen, deshalb durfte ich bei ihnen im Wohnwagen in einem Stockbett übernachten. Mutter versuchte mich so gut es ging von den unguten Dingen zu Hause fernzuhalten. Deshalb gab sie mich oft zu Bekannten zum Schlafen.

*

Sonntags gab sie mir Geld, damit ich ins Kino ging. Das hat mir sehr gefallen. Ich ging noch nicht zur Schule, aber alleine in die Gloria-Lichtspiele. Am besten gefielen mir Operettenfilme wie „Maske in Blau“, die „Chardasfürstin“ – Filme mit Marikka Röck und Rudolf Schock oder „Land des Lächelns“ und „Granada“ mit Mario Lanza. Die Kostüme und das Ballett in den Filmen begeisterten mich. Ich stand in meinen Hausschuhen nur noch auf den Zehenspitzen, bis sie vorne ein großes Loch hatten. Von meiner Schwester oder Mutter zog ich lange weite Röcke an und drehte mich, bis sie wie ein Teller hochflogen. Ständig schaute ich dabei in den großen Spiegel. Mein Stiefvater war immer gut zu mir, er lachte und sagte:

„Schau mal, wie sie tanzen kann, meine Prinzessin!“

Eines Tages kam eine feine Dame in die Wirtsstube. Sie sah, wie leichtfüßig ich tanzte, daraufhin sagte sie zu meiner Mutter:

„Die Kleine hat Talent, schicken sie Rosi zu mir, ich bin Lehrerin für Ballett und gebe auch Unterricht im Klavier- und Schauspielen.“

Mutter meinte: „Wir haben kein Geld für so was!“

Es war mein größter Herzenswunsch, den sie mir versagte. Ich wollte fürs Leben gern Tänzerin oder Schauspielerin werden. Erst in späteren Jahren erzählte mir meine Schwester Mizzi, dass sie heimlich Ballettunterricht und Klavierstunden nehmen durfte. Statt einer Künstlerin wurde ich Lebenskünstlerin. Es konnte ja nur besser werden.

Trotzdem hing ich sehr an meiner Schwester, sie war alles für mich. Sie war mir näher als meine Mutter. Wann immer sie konnte, nähte sie mir Kleider aus alten Stoffresten. Morgens, bevor ich zur Schule ging, machte sie mir die schönsten Frisuren. Wenn sie mir meine Haare wusch, flocht sie mir anschließend viele kleine Zöpfchen. Oder sie machte mir einen französischen Zopf. Weil sie keine Spielsachen hatte, benutzte sie mich als ihre Puppe. Früher in Ungarn, hatte sie mich sogar mit in die Schule genommen, bis der Lehrer monierte:

„Also, das geht nicht, die Kleine stört den Unterricht!“. Da Mama aber oft nicht da war, musste Mizzi für mich sorgen. Mutter war manchmal tage- oder wochenlang mit Vater auf dem Schiff.

Wieder einmal waren wir nachts allein. Mizzi und ich schliefen bereits. Wir lagen zusammengekuschelt im Bett. Plötzlich stand im dunklen Zimmer ein Russe vor uns. Mizzi zitterte vor Angst. Auch der Russe war erschrocken, als er uns schlafend und allein unter der Bettdecke fand. Er fragte:

„Wo Mama – wo Papa?“. Er blickte in unsere zu Tode erschrockenen Gesichter und begriff, dass außer uns Beiden keiner da war. Kopfschüttelnd ging er nach draußen. Es war zur Gewohnheit geworden, dass Mizzi die ganze Verantwortung für mich trug.

*

Am Mittagstisch gab es strenge Regeln: nicht aufstehen während des Essens, nicht zur Toilette gehen, nicht reden. Ellenbogen haben nichts auf dem Tisch zu suchen. Einmal saßen wir alle gemeinsam zum Mittagessen um den Tisch versammelt. Karl, Mizzi, Vater, Mutter und ich. Es gab mein Lieblingsessen 'Saitenwürstchen'. Alle bekamen ein ganzes, nur ich ein halbes. Bettelnd sagte ich zu meiner Mutter:

„Kann ich bitte auch ein ganzes Würstchen haben?“

Wir Kinder mussten die Eltern in dritter Person ansprechen. Einmal hatte ich aus Versehen „du“ zu ihr gesagt, da hat sie mich angefaucht: „Wer bin ich eigentlich für dich, dass du mich mit 'du' anredest!“

„Ein ganzes Würstchen muss man sich erst verdienen und bekommt es, wenn man groß ist und gearbeitet hat!“, belehrte sie mich.

„Dann geh ich auch arbeiten“, antwortete ich trotzig.

„Wo willst du denn arbeiten, du bist doch noch viel zu klein“, spöttelte mein Bruder Karl.

Der hatte es gut, der war ja auch schon groß. Es ärgerte mich, dass ich die Kleinste war. Keiner nahm mich ernst. Immer hieß es: „Geh weg, das kannst du nicht.“ Oder: „Dafür bist du noch zu klein.“

„Ich geh zu den Juden in den Dienst!“

Das hatte ich von den Erwachsenen gehört. Dienst hieß in diesem Fall, zu den Juden putzen gehen.

„Guat, i pock' dia dei Pinkerl!“

Mama nahm mich beim Wort. Sie packte mir mein Pinkerl. In einem weißblau-karierten Brottuch packte sie mir ein von ihr selbstgebackenes Stück Brot ein. Sie verschnürte es über Kreuz mit zwei Knoten und Karl steckte es an einen Holzstab. Bepackt mit diesem Pinkerl über meiner Schulter ging ich zu den guten Nachbarn, um mich zu verabschieden. Ich klopfte an die Tür. Der Nachbar machte auf und sah auf mich herunter.

„Ja wo willst du denn hin?“, fragte der mich mit einem freundlichen Lächeln.

„Ich geh zu den Juden in den Dienst“, antwortete ich voller Überzeugung. „Ich will mir jetzt auch ein ganzes Würstchen verdienen!“

„Ja aber, bist du dafür nicht noch zu klein?“

Erstaunt und mit einem versteckten Schmunzeln gab er mir zum Abschied die Hand. So machte ich es noch einige Male bei den anderen Nachbarn. Mutig verließ ich unser Barackenlager und überquerte die Straße.

Hinter den Fenstern versteckt, schauten Mutter und die Anderen mir nach. Als ich ein Stück weit gegangen war und über die Steintreppen hinunter an der Brenz entlang die Richtung zu der Judensiedlung einschlug, verließ mich der Mut. Zweifel kamen in mir hoch. Was würde passieren, wenn ich an die Türe eines Juden klopfte und nach Arbeit fragte? Vielleicht war ich doch noch zu klein. Nach einigem Zaudern kam mir die Einsicht, es besser bleiben zu lassen. Ich nahm mir felsenfest vor, dies, wenn ich groß bin zu tun. Bestimmt würde ich einmal viel Geld verdienen, um alles zu haben was ich wollte. Kleinlaut kam ich wieder zu Hause an. Mutter tat, als wäre nichts gewesen. Ich hatte meine Lektion fürs Leben gelernt:

„Man muss sich alles erst verdienen.“

*

Das Leben im Ghetto

1952 sind wir umgezogen. An das andere Ende der Stadt, wieder in Baracken und in der Nähe des Waldes. Diese Straße hatte keinen guten Ruf. Hier lebten Außenseiter, Gescheiterte und Spätaussiedler. Langweilig wurde es nie. Es war eine ständige Herausforderung, in diesem Problemviertel unbeschadet zu überstehen.

Hier fand ich meine ersten guten Freunde und Freundinnen. Fanny, meine Nebensitzerin aus der ersten Klasse, lebte mit ihrer Familie ein paar Meter weiter in einem Wohnblock. Wir liebten unser Umfeld und wollten um nichts in der Welt woanders sein. Das Leben war aufregend und spannend, wenn auch oft schmerzhaft und mit allerlei Tabus verbunden.

Durch die Währungsreform hatten meine Eltern ihr ganzes Geld verloren. Übrig geblieben war ein dickes Schuldenbuch. Mutter hatte inzwischen eine Konzession für ein Kolonialwarengeschäft und einen Getränkehandel. Sie durfte nur über die Straße verkaufen und musste sich an Schließzeiten halten. Aber sie brachte es nicht übers Herz, dies auch zu tun. Wieder ließ sie die trinkenden Männer in der Wohnküche Karten spielen. Zu gerne saßen sie bei uns - Mutter und ihren Freundinnen Katrin und Berta sei Dank. Sie amüsierten sich und lachten laut; es wurden viele Witze erzählt. Eine Neiderin und Konkurrentin aus der Nachbarschaft störte das laute Gelächter und sie zeigte sie an. Wieder kam die Polizei und machte Kontrollen. Inzwischen war meine Mutter bei den Beamten gut bekannt.

Vater handelte mit Schrott und Edelmetallen. Er hatte ein Grundstück am Ende unserer Straße gepachtet. Um das Ganze Tag und Nacht zu bewachen, kettete er einen scharfen Schäferhund an eine Hundehütte. Auch Vater hatte ständigen Ärger mit der Polizei. Ab und zu brachten ihm einige seiner Kunden Kupfer oder andere Edelmetalle. Er fragte zwar beim Ankauf nach, ob es auch kein Diebesgut sei, was aber natürlich keiner zugab. Danach lag oft der Verdacht der Hehlerei auf ihm.

Es schien als hätte sich ein Schutzschirm über mich gestülpt. Mädchen und Jungen aus dem Viertel scharten sich um mich. Wir verbündeten uns zu einer Gang, spielten im Wald Räuber und Gendarm. Es dauerte nicht lange und wir fanden unsere Gegner, die am anderen Ende des Waldes wohnten. Die alte Oststadt war ihr Bezirk. Ihr Anführer hieß Fritz. Es war mehr ein Spiel zwischen den Jungen und Mädchen. Wir versteckten uns zwischen Bäumen und Sträuchern.

Fritzle, wie er von allen gerufen wurde, fragte mich eines Tages:

„Gehst du mit mir zum alten Aussichtsturm?“

„Ja!“, nickte ich schüchtern mit dem Kopf.

Er war der Mädchenschwarm. Die Jungens eiferten ihm nach, wollten so sein wie er. Händchenhaltend gingen wir sehr langsam auf dem schmalen Weg durch den Wald. Die Meute hörte man weit weg schreien. Neugierig ließ ich mich von ihm in ein kleines Abenteuer lotsen. Über die wackeligen, vermoosten Steintreppen stiegen wir hinauf. Oben angekommen, legte er seinen Arm um meine Schulter. Vorsichtig und leicht zog er mich an sich heran. Zart küsste er mich auf meinen Mund. Ich war wie gelähmt, fühlte mich wie in einem Wattebausch; es fühlte sich so süß und unwirklich an. Wir verloren das Zeitgefühl. Danach schwebte ich auf Wolke sieben. Ständig musste ich an Fritzle denken und unseren ersten Kuss. Dann kribbelte ein heftiges süßes Gefühl durch meinen Bauch. Am liebsten hätte ich nie mehr meinen Mund gewaschen. Er hatte mich gefragt: „Gehst du mit mir?“ Irgendwann hatte sich das „Miteinandergehen“ wieder im Sande verlaufen.

Die meisten von uns Kindern mussten um acht Uhr zu Hause sein. Was im Sommer von uns nicht immer genau genommen wurde. Mutter war mit ihrem Laden und ihren sitzenden Kunden abgelenkt, darum hatte ich verglichen mit den Anderen viele Freiheiten.

Zwei Schwestern aus einer Nachbarbaracke hatten sich uns angeschlossen. Vor lauter Spielen im Wald hatten auch sie die Uhrzeit vergessen. Ihr Vater - ein stattlicher alter Nazi - hatte sich eine zweite Frau zulegt. Keiner wusste, was mit der Mutter seiner Kinder geschehen war. Die Mädchen, zehn und zwölf Jahre alt, bildschön mit strahlend blauen Augen und langen blonden Zöpfen, wurden bei geringster Verspätung auf der Straße vor unseren Augen mit einem Lederriemen gezüchtigt. Wie Peitschenhiebe knallte es durch den Abend. Die Stiefmutter sah still und schweigend zu.

*

Nach wie vor lebten Mutter und mein Stiefvater, wie Hund und Katz. Vaters Frühstück bestand aus Paprikaspeck, Zwiebel oder Knoblauch, ein Stück Brot, ein Gespritzter (ein viertel Weißwein mit saurem Sprudel) und ein Stamperl Obstler. Damit wurden seine Hände ruhiger, zitterten nicht mehr so. Dann folgten an die fünfzig Zigaretten auf den Tag verteilt. Es konnten aber auch mehr sein, denn er rauchte ununterbrochen. Oft passierte es, dass er sich eine Neue anzündete, während er vergessen hatte, dass er die Andere noch brennend auf dem Tisch oder irgendwelchen anderen Plätzen abgelegt hatte. Deshalb hatten unsere Möbel überall Brandspuren.

Gegen acht Uhr kam unser Chauffeur, ein junger großer gutaussehender Bursche. Dann fuhren Vater und er durch die Stadt und die umliegenden Dörfer.

„Eisen! Alteisen!“, rief mein Vater immer wieder und bimmelte mit seiner Glocke die Leute zusammen. Bis abends war die Ladefläche des blauen dreirädrigen Opel Blitzes zum Überlaufen voll. Dann luden sie den Schrott auf das dafür gepachtete, eingezäunte Gelände ab.

Vor unserer Baracke hatten wir eine größere Waage. Auf ihr konnte Mutter Schrott in kleineren Mengen wiegen und ankaufen. Nach der Schule half ich im Laden. Ich hasste es, wenn ich Kartoffeln verkaufen musste, weil beim Abwiegen meine Hände schmutzig wurden. Auch Zucker, Mehl und andere Nahrungsmittel waren offen verkäuflich und mussten abgewogen werden. Zigaretten waren in einer größeren Menge in einer ovalen Blechdose verpackt und einzeln verkäuflich.

Jede Baracke hatte drei Wohnungseinheiten mit separaten Eingängen. Normalerweise lebten in jeder Einheit zwei Familien. Aber wir hatten eine ganze Einheit für uns alleine, die durch einen kleinen Flur voneinander getrennt war. Die linke Hälfte wurde als Laden genutzt. Dazu gehörte auch eine angrenzende Wohnküche, wo sich das tägliche Leben abspielte. Am großen Esstisch saßen außerhalb der Mahlzeiten, die trinkenden Gäste und zockten mit Karten um Pfennigbeträge. Unterhalb vom Fenster stand ein zweisitziger alter Diwan. Da saßen meistens die zwei Freundinnen von Mama, Berta und Kathrin. Sie schäkerten mit den Männern, während sie gleichzeitig die Straße im Visier hatten.

Meistens hielten sich dort ein paar Jungs auf, die auf ihren Fahrrädern sitzend, nach mir Ausschau hielten. Dabei pfiffen sie ihre Erkennungsmelodie, um auf sich aufmerksam zu machen.

Kathrin zog mich auf:

„Na welcher ist es denn, der Rothaarige, der mit den schwarzen Haaren oder der Blonde?“

Hatte sie ansonsten einen angenehmen Witz und Charme, um die Männer zum Trinken zu animierten und damit Mutters Umsatz zu steigern, nervte sie mich mit ihrem Gespött doch sehr, hinsichtlich ihrer Einmischung in meine persönlichen Angelegenheiten. Ich fühlte mich ertappt, als ich gerade nach draußen zu den Jungs gehen wollte.

*

Mizzi und ich versuchten Mutter dazu zu bewegen, aus den Baracken auszuziehen - vergeblich - ihre Entscheidung stand fest.

„Hier hab ich meine Freiheit. Ich schau direkt auf die Straße und in den Wald. Außerdem kann ich den ganzen Tag die Eingangstür offen lassen und brauch‘ sie mit keinem anderen zu teilen. Auch den Laden könnt‘ ich nicht betreiben und wir hätten keine Existenz!“

Wenn es ruhig war und Mutter mich im Laden nicht brauchte, hielt ich mich auf der anderen Seite im Wohnzimmer auf. Mutter hatte es, gegen den Willen von Vater, neu eingerichtet. Gekauft hatte sie die Möbel bei Tante Rosas Kindern. Die hatten sich inzwischen in einem größeren Dorf ein Haus gebaut. Freunde und alle Familienmitglieder hatten beim Bauen geholfen. Jetzt machten sie Geschäfte mit Möbeln und Textilwaren. Bei ihnen konnte sie alles was sie benötigte kaufen und auf Raten abstottern.

„Rosi!“, hörte ich meine Mutter nach mir rufen.

„Ja!“, widerwillig rief ich zurück. Sie störte mich bei meinen Hausaufgaben.

„Geh` schaun und pass auf, do san zwa Buam, dene trau i net! Die legn zuam Zeug vom andern obn drauf!“, flüsterte sie kurz darauf durch die geöffnete Türe. Ich sollte nach den Jungs draußen vor der Tür sehen, damit sie nichts klauten und von dem vorher gekauften Haufen Alteisen zu ihrem mitgebrachten dazulegten. Mutter musste noch eine Kundin im Laden bedienen und konnte sich nicht zerreißen, wie sie immer sagte.

Draußen standen zwei Jungs, ein rothaariger Dicker und ein Dünner mit struwweligen dunklen Locken. Sie waren eifrig dabei, ihren Schrott zu wiegen. Dann warteten sie bis Mutter ihnen das ersehnte Geld für ihr Gebrachtes gab. Sie waren aus der Oststadt und sollten in meinem späteren Leben noch eine große Rolle spielen.

*

Immer noch galt meine ganze Leidenschaft den Filmen. Nach wie vor ging ich jeden Sonntag ins Kino. Jetzt in Begleitung meiner Freundinnen Fanny, Biggy und Gitta. Da unser eigenes Umfeld ziemlich desaströs war, hatten es uns schnulzige Heimatfilme wie: „Am Brunnen vor dem Tore“ mit Sonja Ziemann oder „Die Försterchristl“ mit Johanna Matz angetan. Anschließend spielten wir die Filme nach.

Die Kostüme dazu liehen wir uns aus Mutters Laden. Sie kaufte von Leuten, die in Geldnot waren getragene Kleider für ein paar Pfennige oder für eine Flasche Bier. Hinterher schlug sie ein paar Pfennige oder Mark obendrauf und verkaufte sie wieder.

Am Waldrand bauten wir eine Bühne auf. Decken oder alte Leintücher waren unsere Vorhänge, die wir mit Stricken von Baum zu Baum befestigten. Ein paar niedrige Hocker dienten als Sitzplätze.

Es kamen viele Kinder aus der Nachbarschaft. Natürlich kassierten wir auch Eintrittsgeld in Form von Pfennigen oder Hosenknöpfen. Es war wie ein stilles Übereinkommen, dass ich immer die Hauptrolle spielte. Sogar singen musste ich, obwohl ich keine schöne Stimme hatte. Es klang als würde die Knef singen, kratzig. Ich wollte nicht, aber alle schrien:

„Sing du, sing du!“

*

Meine Eltern galten - gegenüber den anderen - als reich. Sie waren die Könige des Moabits – so wurde unser Viertel genannt. Meine Mutter war die Mutter für alle. Dick war wieder das Schuldenbuch. Immer wenn man kein Geld hatte, ging man zur „Lissl“ einkaufen. Auch spät abends klopften sie noch ans Fenster:

„Ich will nur 'ne Flasche Bier und Zigaretten!“, „ich zahl am Ende des Monats, wenn ich Geld krieg'!“

Am Monatsende machten sie einen großen Bogen um unseren Laden. Wenn sie mich auf der Straße von der Ferne sahen, wechselten sie die Seite und taten, als würden sie mich nicht sehen. Weil die Schuldner sich nicht mehr bei ihr blicken ließen, jammerte Mutter mir die Ohren voll:

„Die Lieferanten kumma und woin ia Göd. Kaner kummt und zoit. Rosi, geh' kassiern. Sog', wenn's a nua a Mark is', des is besser ois goa nix. Fia jede zein Mark derfst ani b'hoiten.“ Sie schickte mich zum Geldeintreiben. Für jede zehn Mark dürfte ich eine behalten.

Gleich in der nächsten Baracke lebte eine schwäbische Frau mit vier Kindern. Auch sie hatte regelmäßig anschreiben lassen. Oft hörte ich Mutter und Tante Rosa verwundert über sie reden. Tante Rosa wohnte wieder bei uns, weil Mutter sie im Haushalt brauchte.

„Zu ihr kummt immer so a feiner Mann. Der hat sogar jedes Mal, wenn er zu ihr geht, einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit Krawatte an. Er kauft jedes Mal vorher ein, wenn er zu ihr geht und bringt ihr was zum Essen mit.“

„Des versteh' i net. Die is so dreckig und dumm. Neulich hat die mi im hinter‘n Garten doch tatsächlich gfragt, was das für schöne Blumen san und hat auf die blühenden Kartoffeln gzeigt.“

Dies war natürlich eine Todsünde, weil ein Garten schon immer ein Muss der Beiden war, ohne Garten ging gar nichts. Sogar im Lager in der Brunnenmühle hatten wir einen Gemüsegarten hinter der Baracke. Jetzt hatten wir noch zusätzlich einen vor dem Eingang, links und rechts vom Weg, mit Rosen und einem bunten Blumenbeet.

Die Frau war groß und hager. Sie sah sicherlich älter aus, als sie war. Sie trug immer schwarze lange Röcke und ihre ungekämmten fettigen Haare hielt sie unter einem dunklen Kopftuch bedeckt. Wenn sie ihre schmalen verbitterten Lippen zum Sprechen öffnete, zeigten sich einige unappetitliche braune Zahnstumpen. Zu ihr ging ich sehr ungern. Es stank aus ihrer Wohnung bis auf die Straße nach Urin und Fäkalien. Die Frau und ihre vier Kinder - jedes von einem anderen Mann - waren total verwahrlost. Die Kleinen - zwischen einem und acht Jahr alt - waren kaum bekleidet, hatten nie Unterhöschen an. Sie ließen ihre Notdurft einfach laufen. Ihre Mutter kümmerte das nicht.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube klopfte ich an ihre Tür, doch keiner machte auf. Eigentlich war ich erleichtert. Es kostete mich viel Überwindung, dieses Ansprechen auf das ausstehende Geld und das Betteln um eine kleine Zahlung:

„Und wenn es nur eine Mark ist“, sagte ich, so wie Mutter es wollte.

Am nächsten Morgen hörten wir laute Sirenen. Wir rannten alle auf die Straße, um nachzusehen was passiert war. Ein großer grüner Kasten- und einige Polizeiwagen mit Blaulicht standen vor dem Barackeneingang dieser Frau. Auch einige Reporter waren da. In einem großen Skandalblatt konnte man am darauffolgenden Tag lesen:

„Blutbad“ und „Mann erschlug vier Kinder mit Axt!“.

Der feine Herr war verrückt geworden. Er wurde abtransportiert und in einer Irrenanstalt untergebracht.

Sonntags nach dem Frühstück machte Vater seine Tour. Er sagte zu Mutter:

„I geh in d' Kirch'n.“

„Jo, bstimmt wo kanni Glocken, sondern Glaser aneinander klinga!“ („Bestimmt, wo keine Glocken, sondern Gläser aneinander klingen.“)

Dann warteten wir, Mutter und ich, auf das gemeinsame Mittagessen. Er kam aber nicht. Mutter schwoll wieder einmal die Galle an.

„Rosi, geh schaun wo er bleibt. Sicher is er wieder net an d' Glockn vorbei kumma und is bicka blim. Pass a bisserl auf, wievü er trinkt und wievü Göd er verspüt. Und sog er sui ham kumma!“

Ich sollte Vater suchen gehen und ausspionieren, wie viel er trinkt und wie viel Geld er beim Kartenspiel verliert.

Die 'Glocke' war eine Wirtschaft mit einer Fleischerei dabei. Sie wurde von Bekannten aus einem Nachbarort aus Ungarn betrieben und war gleich in der nächsten Straße um die Ecke. Sie war für Vater zur zweiten Heimat geworden. Hier traf er sich mit Gleichgesinnten um, ohne Kontrolle von Mutter, Karten spielen und trinken zu können.

Vater saß mit drei Männern am Stammtisch. Etwas zögerlich trat ich in die dunkle, verrauchte Wirtsstube. Es roch nach abgestandenem verschütteten Bier. Hinter dem Tresen stand die dicke Wirtin. Unsicher ging ich auf Vater zu. Er war ganz ins Kartenspiel vertieft. Die Männer spielten wie immer 'Siebzehn und Vier'. Jeder hatte ein Viertele Wein und einen Stamper Klaren neben sich stehen. Auf dem von Kippen überquellenden Aschenbecher qualmte eine abgelegte Zigarette. Vater blickte kurz über seine Brille, als ich auf ihn zuging. Unterhalb seinem linken Auge steckte immer noch ein Splitter von einer Verletzung aus dem zweiten Weltkrieg. Wenn die zugewachsene kleine Beule tränte, war das ein Zeichen, dass er etwas zu viel getrunken hatte.

„Setz dich“, er zeigte auf den Stuhl neben sich.

„Stich!“, er warf eine Karte ins Spiel. Die anderen konterten und gaben sich gegenseitig die Schuld, die Karten nicht richtig gemischt zu haben.

„Willst ein paar Saftwürstl?“, fragte er mich nebenbei mit schwerer Zunge. Zur Wirtin rief er:

„Bring meiner Kleinen ein Paar Würstl!“

Er wusste, dass er mich damit kaufen konnte. Für Mutter und meine Geschwister war er ein Tyrann. Zu mir war er gut.

„Ja! Mutter sagt du sollst heimkommen. Das Essen ist fertig“, sagte ich leise, um beim Spiel nicht zu stören.

„Darfst mich bei Mutter net verraten.“

Ich hatte es mir fest vorgenommen, es nicht zu tun. Genüsslich aß ich die Saitenwürstchen und machte mich anschließend auf den Heimweg.

Mutter wartete schon.

„Na, is er wieder bsoffen?“ Sie fragte mich so direkt, dass ich nicht ausweichen konnte. Ich hatte Vater versprochen, ihn nicht zu verraten. Sie ließ nicht locker, bis sie es von mir heraus gepresst hatte.

„Ihr dürft mich nicht verraten!“, flehte ich sie an. „Nicht, dass Ihr es von mir wisst.“ Ich kam in einen Gewissenskonflikt. Lügen sollte ich nicht, verraten aber auch nicht. Eigentlich wollte ich Frieden stiften. Der Streit war allerdings vorprogrammiert.

Vater kam spät. Wir lagen schon im Bett. Die Haustüre war verschlossen. Er schnallte und klopfte an der Tür. Mutter wusste, dass er einen in der Krone hatte und ganz dicht hinter der Tür stand. Sie stieß die Tür nach außen voller Wucht auf.

„Kannst net a bisserl vorsichtiger aufmachen!“, lallte er und schickte einen Fluch hinterher. Beinahe wäre er gestürzt.

Er bekam die ganze Wut einer kleinen, aber inzwischen starken Frau zu spüren. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm, sie wusste, er hatte stark abgebaut und hatte nicht mehr viel entgegenzusetzen. Tagelang lief er noch mit einer ramponierten Nase herum. Mutter behauptete, sie hätte nicht gewusst, dass er so dicht hinter der Türe stand.

Unsere Eingangstür war tagsüber geöffnet. Deshalb konnte jeder bei uns ein- und ausgehen, wie er wollte. Otto stand - ohne anzuklopfen - vor mir im Wohnzimmer. Mit seiner Mutter und seinem Stiefvater wohnte er im letzten Wohnblock auf der linken Straßenseite. Er war ein Inzuchtjunge und sah aus wie ein Albino. Ich lernte gerade für die Schule und er war mir etwas lästig.

Otto kam meistens zu der Zeit, während sein richtiger Vater - der auch gleichzeitig sein Großvater war - seine Tochter besuchte, während ihr Mann seiner Arbeit nachging.

Er setzte sich unaufgefordert zu mir an den Tisch, auf den gegenüberstehenden Stuhl. Man sah ihm seine geistige Behinderung an. Seine ganze Gestalt, die weißen Haare und seine totenblasse Haut, zeigten ihn zerbrechlich, ja fast durchsichtig. Er saß nur da und schaute mir stumm zu. Mir war die Situation ziemlich unangenehm. Was für eine arme Kreatur. Manchmal hatte ich den Eindruck, als nützte er meine Gutmütigkeit aus. Er schien in mich verliebt zu sein.

„Wirst du mich einmal heiraten?“ Dabei formte er seine schmalen Lippen zu einem verschmitzten Lächeln und zeigte seine spitzigen Mäusezähne. Einerseits ekelte ich mich, andererseits hatte ich Mitleid mit ihm. Die ganze Zeit lächelte er mich mit seinen wässrig-blauen Schlitzaugen an.

Um die peinliche Situation zu beenden, erhob ich mich und ging zum Radio, das in der Ecke auf einer Kommode stand. „Fraulein, Fraulein ...“, klang es auf deutsch-amerikanisch melodisch vom Luxemburger Sender AFN. Ich konnte kaum erwarten erwachsen zu werden. Zum Glück kam Fanny durch die Tür, um mich abzuholen. Mit schlechtem Gewissen und unter einem fadenscheinigen Vorwand habe ich Otto abgewimmelt.

Draußen warteten bereits Gitta, Biggy und Uli, ein Junge der einst Kinderlähmung hatte und gehbehindert war. Er hatte am gleichen Tag wie ich Geburtstag. Auch sein Vater war im Krieg gefallen. Er war der einzige Junge in unserer Mädchenclique und gehörte wie selbstverständlich dazu. Wir hatten uns verabredet und wollten gemeinsam auf das Frühlingsfest zum Rummelplatz; der lag gegenüber auf der anderen Straßenseite, der parallel verlaufenden Hauptstraße auf den Seewiesen.

Die laute Musik tönte bis zu uns herüber. Ein völlig neuer amerikanischer Sound. Die neueste Attraktion war ein großes sich drehendes Holzrad, das ebenerdig angebracht war. Darauf sollte man so lange Rock'n Roll tanzen - während sich das Rad immer schneller drehte - bis man den Halt verlor und herunterfiel. Wer als letztes noch oben war, hatte gewonnen.

Ein Sänger mit einer Schmalzlocke vor seiner hohen Stirn, prangte auf einem riesigen Poster an der großen Zeltwand. Darüber stand in riesigen Lettern: „BILL HALEY AND HIS COMETS“ und „Rock Around The Clock!“

Der Rhythmus ging mir sofort in die Beine. Es machte etwas mit mir, ich wollte mehr davon. Es war, als öffnete sich für mich ein neues Zeitfenster.

*

Im November 1956 - Aufstand in Ungarn

Mutter, Vater und Tante Rosa lauschten gespannt den Nachrichten im Radio vom Aufstand der Ungarn.

Mutter machte sich große Sorgen um das Wohl von Joshi, seiner Frau und ihren Kindern. Mein ältester Bruder hatte Marie, als er achtzehn Jahre alt war, aus einem Kinderheim in Wien heraus geheiratet; sie war sechzehn. Kurz danach bekamen sie hintereinander vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter.

Ein letztes Mal keimte in Mutter die Hoffnung auf, dass sie vielleicht doch noch zurück nach Ungarn könnte.

An meinen ältesten Bruder Joshi konnte ich mich nicht erinnern. Erst in meinem späteren Leben habe ich ihn nur kurz, bei zwei seiner Besuche mit seinem Schiff in Regensburg, gesehen. Er sah ganz anders aus als wir im Westen. Schlecht ernährt, ungepflegt und seine roten Haare waren wild gelockt, seine Haut blass und übersät mit Sommersprossen, die Zähne braun verfärbt. Das kam vom vielen Mokka, den er den ganzen Tag auf dem kleinen Herd seiner kleinen Schiffsküche vor sich hinköcheln ließ, um ihn über den ganzen Tag verteilt zu trinken und dazu rauchte er dutzende filterlose schwarze Zigaretten.

Mutter erzählte manchmal von ihm. Dass er während des zweiten Weltkrieges als Revolutionär im Zentrum von Budapest Hetzparolen gegen das Regime gehalten habe und sehr intellektuell wäre. Wäre er auf einer öffentlichen Straße an mir vorbei gelaufen, ich hätte meinen eigenen Bruder nicht erkannt.

*

Wir amerikanisieren uns

Mein Bruder Karl hatte bei einer Tanzveranstaltung im Konzerthaus ein einheimisches Mädchen kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie war aus gutem Hause und die einzige Tochter. Mutter war sehr stolz auf ihn, denn er war ihr Lieblingssohn. Er war der Einzige von uns Kindern, der ihr ähnlich sah. Sein glänzendes, rotblondes, gewelltes Haar bändigte er, indem er es mit 'Brisk' einem Haarfett und einem Haarnetz am Kopf anklebte. Beide waren noch minderjährig, noch keine einundzwanzig Jahre alt. Schon gleich danach war Carla von Karl schwanger. Carlas Eltern und Verwandtschaft waren geschockt. Ihr Onkel war Stadtrat und die Familie fromme Protestanten. Um die Schande eines unehelichen Kindes von einem ungarischen Flüchtling zu vertuschen, wurde schnellstmöglich - bevor man etwas von der Schwangerschaft sieht – geheiratet.

Karl war gelernter Maurer und auch sonst handwerklich sehr geschickt. Ein glücklicher Umstand für Carla und ihre Eltern. Sie konnten billig ein eigenes Haus bauen und gemeinsam unter einem Dach leben.

Carla hatte in Boston, USA, Verwandtschaft. Als diese erfuhren, dass ein Junge aus einer Flüchtlingsfamilie eingeheiratet hatte, erhielten wir regelmäßig Care-Pakete. Beim Auspacken der modischen Kleider und Schuhe lachten wir alle. „Wia Tschinong.“, machte Mutter sich lustig und verglich die spitzigen Pumps mit Gondeln aus Venedig. Von da an trug ich nur noch Kleider aus Amerika.

Alles schien sich zu verändern. Hatte Mutter früher Suppen, Brote und Nudeln selbstgemacht, kochte sie jetzt überwiegend Päckchen-Suppen. Brot und Nudeln holte sie fertig aus ihrem Laden. Statt selbst aufgebrühten Bohnenkaffe, gab es Fertigpulver von 'Maxwell'.

Mutter freute sich über diese Erleichterung. Vorher musste sie stundenlang kochen. Weil sie nebenher Kundschaft zu bedienen hatte, war das Feuer im Herd ständig erloschen und die zu garende Mahlzeit wieder kalt geworden. Vater wurde unausstehlich, wenn er gegen zwölf Uhr mittags seine Tour unterbrach und das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand.

Eine Hoover-Waschmaschine erleichterte ihr den Montag, der immer der Waschtag war. Danach hingen im Vorgarten Mutters und Vaters riesige Unterhosen zum Trocknen auf meterlangen Wäscheleinen.

*

Mizzi hatte Robert – einen Ur-Schwaben - auf ihrer Arbeitsstelle in einem Maler-Betrieb kennen und lieben gelernt. Neben seinem Job als Anstreicher malte er mit Ölfarben auf Leinwand die schönsten Landschaftsbilder. Mizzi und Robert sangen so schön im Duett, dass ich einmal dachte, die Musik käme aus dem Radio. Die beiden passten wunderbar zusammen. Sie war brünett, beinahe schwarzhaarig mit hellblauen Augen, groß und schlank. Sie sah Audrey Hepburn sehr ähnlich. Er war ein blonder Kleiderschrank. Ein Typ wie Curt Jürgens - der Schauspieler aus „Des Teufels General“. Als auch sie von ihm schwanger wurde, wohnten die Beiden vorerst unverheiratet bei uns in der Baracke.

Mizzi war perfektionistisch. Sie hatte den Putzteufel im wahrsten Sinne des Wortes. Damit machte sie nicht nur mir das Leben schwer. Dann kam ihr Sohn Peter zur Welt. Es war das erste Baby, das ich auf meinen Armen hielt. Er war unser Sonnenschein. Leider wollte die Familie von Robert das Kind lieber für sich alleine haben. Die beiden heirateten erst, als Peter zwei Jahre alt war. Nur die engsten Familienmitglieder waren anwesend. Mizzis Hochzeitskleid war kurz und aus schwarzem Taft. Nach der Hochzeit zogen Mizzi und Robert in ihre erste eigene Wohnung in die Oststadt. Nach kurzer Zeit war sie wieder schwanger.

Die Rückkehr von Margarete und Jakob

Mein Stiefvater hatte drei Kinder in Jugoslawien zurückgelassen. Oft hat er voller Stolz vom Ältesten geredet. Er war im zweiten Weltkrieg gefallen. Mit körperlichem Einsatz und einer Panzerfaust jagte er einen feindlichen Panzer in die Luft. Das einzige Bild von ihm stand auf dem Nachtisch meines Stiefvaters. Es zeigte einen aufrechten schönen SSSoldaten in Uniform, dekoriert mit dem 'Eisernen Kreuz'. Er wirkte darauf wie ein Heiliger.

Seine Frau und Mutter seiner Kinder war in einem Internierungslager verhungert, deshalb waren seine Tochter Margarete und der jüngere Sohn Jakob in einem Kinderheim in Belgrad/Jugoslawien untergebracht. Jetzt kamen sie zu uns und ich hatte zwei Geschwister mehr.

Mutter hatte mit Margarete große Probleme. Morgens schlief sie fast bis zum Mittag. Wenn Mutter sie zur Hausarbeit einspannen wollte, hatte sie tausend Ausreden, warum sie es nicht tun konnte. So kam es, dass Mutter sie aus dem Haus ekelte. 30 km weit weg von zu Hause - in Ulm – fand sie eine Arbeit. Ein kinderloses Fabrikanten-Ehepaar stellte sie als Hausmädchen ein. Sie musste die Villa sauber halten und kochen. Das klappte wunderbar. Plötzlich war Margarete das perfekte Dienstmädchen mit schwarzem Kleid und weißem Schürzchen.

Ich kam mit Margarete besser zurecht, als mit meiner richtigen Schwester. Der Altersunterschied war nicht so groß, sie war nur sechs Jahre älter als ich. Nach einiger Zeit durfte ich sie ab und zu am Wochenende in Ulm in der Villa besuchen. Sie hatte ein kleines Appartement im Kellergeschoss. Wir waren wie Freundinnen. Sie nahm mich mit, wenn sie am Samstagabend zum Tanzen ging. Ich bewunderte sie. Sie hatte viele Verehrer. Sie war ein Typ wie Ava Gardner und sie hatte etwas Besonderes an sich. In Ulm waren amerikanische Soldaten stationiert. Auf allen großen Tanzveranstaltungen waren sie gegenwärtig. Die Musikbands, egal ob Deutsche oder Amis, spielten Blues, Swing und Boogie. Am Ende des Abends gingen wir in eine Ami-Bar. Bei schummrigem Licht tanzten Paare eng umschlungen Steh-Blues. Eine Drei-Mann-Combo holte alles aus ihren Instrumenten heraus. Ihre Musik heizte die Stimmung an und der Blues ging ins Blut. Mich holte ein junger Deutscher zum Tanz. Im Halbdunkel sah ich älter aus. Margarete hatte mir ein blaues Kleid und Pumps geliehen. Der Nachtclub war zum Platzen voll. Die Pärchen rieben sich Rücken an Rücken während sie tanzten. Aus irgendeinem Grund kam es plötzlich zum Tumult. Es gab eine Schlägerei und ein Schwarzer zog ein Messer. Dann Schreie - Körper fielen hin und her. Es war zu voll. Keiner konnte ausweichen, keiner umfallen. Die Türe wurde von außen aufgestoßen und MP's (amerikanische Militärpolizei) kämpften sich mit gezogenen Gummiknüppel den Weg frei. Sie machten eine Razzia.

Ich war erst vierzehn und Minderjährig. Margarete zog mich an der Hand aus der Meute und rannte mit mir über eine enge Treppe ins Kellergeschoss. Sie steckte mich in die Toilette.

„Bleib da drin bis die MP wieder weg ist!“ und ging wieder nach oben.

Nachdem ich keine Schreie mehr hörte und es schien, als hätte sich die Gefahr wieder verzogen, ging ich mit schlotternden Knien wieder nach oben.

Am Montagmorgen danach saß ich wieder in meiner Schulbank. Ich dachte an das vergangene Wochenende. Das war für mich Abenteuer pur und bereitete mir ein angenehmes Prickeln. Ich wollte mehr … Später erzählte ich Fanny, Gitta und Biggy von meinen nächtlichen Ausflügen und wurde dafür von ihnen ziemlich bewundert.

Es war das achte und letzte Schuljahr und ich war erleichtert darüber, endlich nicht mehr in diese Schule gehen zu müssen. Die einheimischen Mitschülerinnen konnten mich nicht leiden und ich sie auch nicht.

*

1957 Frühreif und Halbstark

Mutter bat einen Kunden, der bei Siemens als Pförtner arbeitete, für mich zu protegieren; mit Erfolg. Mit vierzehn Jahren durfte ich bei Siemens eine kaufmännische Lehre beginnen. Keine richtige, weil dort nur männliche Lehrlinge ausgebildet wurden. Ich entschied mich, meine Lehre auf freiwilliger Basis zu durchlaufen. Als Hilfskraft im Büro fing ich im Versand an. Später kam ich in die Poststelle. Dadurch, dass ich die Post in alle Abteilungen brachte, war ich in kürzester Zeit im ganzen Betrieb bekannt.

Primitive Anmachen von - für mich alten - Männern trieb mir oft die Schamröte ins Gesicht. Es war kein gutes Gefühl, welches mir die neue Arbeitswelt bot.

Meine Arbeit begann morgens um 7.00 und endete abends um 18.00 Uhr. Auch samstags wurde bis mittags gearbeitet. Es gab vierzehn Tage Urlaub. Mein gesamtes Gehalt gab ich meiner Mutter. Für die Woche erhielt ich von ihr fünf Mark Taschengeld.