Die Godin - Robert Hültner - E-Book
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Die Godin E-Book

Robert Hültner

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Beschreibung

"Die Godin", ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 1998 und dem Friedrich-Glauser-Preis, ist sein dritter Inspektor-Kajetan-Roman. Diesmal geht es um einen mysteriösen Todesfall im Rotlichtmilieu.
München, 1924: Eine Prostituierte wird ermordet aufgefunden. Paul Kajetan, wegen Ungehorsam aus dem Polizeidienst entlassen, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die Spur führt zunächst zu dem zwielichtigen Varietébesitzer Urban. Bald wird Kajetan in einen gefährlichen Sumpf von Korruption und Waffenschieberei hineingezogen.

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Seitenzahl: 386

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Robert Hültner

Die Godin

Roman

Buch

München, 1924: In einer Sturmnacht flüchtet Paul Kajetan vor dem strömenden Regen in eine Bretterbude am Viktualienmarkt. Drinnen zechen im verborgenen Nachtschwärmer, Gestrandete, Prostituierte, Marktarbeiter. Unter ihnen ist auch die junge Mia, eine Prostituierte, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Bald darauf wird die Frau ermordet. Kajetan, der aufgrund seiner Unbestechlichkeit und mangelnden Respekts gegenüber der bayerischen Obrigkeit seine Anstellung als Gendarm verloren hat, beschließt auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Rasch stößt er auf die Spur eines Verdächtigen, des reichen und zwielichtigen Varietébesitzers Urban, und wird in die gefährlichen Verstrickungen von Waffenhandel und korrupter Politik hineingezogen. Auf der Suche nach dem Mörder der jungen Frau verschlägt es ihn in bayerische Bergdörfer, miefige Kleinstädte und die Hinterzimmer der Lokale des großen, sündigen Münchens. Schritt für Schritt nähert Kajetan sich einer erschütternden Familiengeschichte und stößt dabei auf eine schreckliche Wahrheit …

Autor

Robert Hültner wurde 1950 in Inzell geboren. Er lebt als freier Autor in München und in einem Bergdorf in den südfranzösischen Cevennen. Bevor er sich dem Schreiben zuwandte, war er Schriftsetzer, dann Regieassistent und zog mit einem Wanderkino durch die Dörfer. »Die Godin« ist sein dritter Inspektor-Kajetan-Kriminalroman, für den er sowohl mit dem Deutschen Krimipreis als auch mit dem renommierten Glauser-Preis ausgezeichnet wurde.

Robert Hültner bei btb:

Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski. Roman Walching. Roman Das schlafende Grab. Roman Fluch der wilden Jahre. Roman

Der Hüter der köstlichen Dinge. Roman Inspektor Kajetan und die Betrüger. Roman

4. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe September 1999, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © by Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, Frankfurt am Main, Oktober 1997 Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: SV Bilderdienst Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin RK. Herstellung: Augustin Wiesbeck

eISBN: 978-3-641-18725-5

www.btb-verlag.de

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Nachwort des AutorsDanksagungWorterklärungen

1

Der Wegmacher wollte wieder davon erzählen, wie einmal der Himmel auf Sarzhofen gefallen, der Eglinger Alois dabei zu Tode gekommen sei und das Elend über die Aichingerischen, aber man ließ ihn nicht.

»Es ist doch schon so lang her, Wegmacher«, sagte der Wirt, ohne den alten Mann anzusehen, und hielt einen Bierkrug unter den Zapfhahn.

Der Landthaler spuckte auf den Boden und griff nach den Spielkarten, die der Reither ausgegeben hatte. »Dasselbe mein ich auch«, pflichtete er dem Wirt bei. »Laß uns endlich in Ruh mit der Geschicht. Ein jeder kennt sie.«

Der alte Wegmacher jedoch hörte nicht. Störrisch wiederholte er jene Worte, mit denen alle Geschichten auf dem Land beginnen: »Leut, ich lüg euch nicht an …«

Das Ritual will eigentlich, daß die Zuhörer zunächst lautstarken Zweifel an dieser Behauptung äußern, woraufhin der Erzähler seine Versicherung zu erneuern hat. Doch, wie neugierig man auf das Kommende auch sein mag, so wenig darf auch jener Bekräftigung Glauben geschenkt werden: »Geh zu! Du allerweil mit deiner Fabelei!«

Ein paarmal darf das hin und her gehen. Es hat seine Grenzen aber dann, wenn der Erzählende nicht mehr anders kann, als sich schließlich in die Rolle des gekränkten Wissenden zurückzuziehen, welcher es durchaus nicht nötig hat, seine Weisheiten Unwürdigen mitzuteilen. Doch mit einem gnädigen »Dann red halt, in Gottsnam« wird dies rechtzeitig verhindert.

Die drei Männer dagegen, die sich an diesem Augustabend in der Sarzhofener Gaststätte »Zum Nauferger« zum Kartenspiel getroffen hatten, machten keine Anstalten, ein anderes Spiel zu spielen als jenes, welches der Reither soeben gemischt hatte.

Der Stadler sandte einen geschmerzten Blick zum schwarzgeräucherten Plafond. »Sagt ja auch niemand, daß du lügst, Michl«, stöhnte er, »aber jetzt gibst eine Ruh. Wir spielen Karten.«

»Gewiß wahr, ich lüg euch nicht an …«, wiederholte der Wegmacher Michl. Er knetete seine fleckigen Finger und blickte ins Nichts.

Die Kiefer des Landthaler mahlten. »Streng wird gespielt, habts gehört?« mahnte er die anderen beherrscht. »Einen wenn ich beim Schwindeln erwisch!«

»Freilich.« Der Reither tat unschuldig und gab seinem Nebenmann einen leichten Stoß mit der Fußspitze. »Wer gibt?«

»… es ist gewesen im Vierer Jahr, wie …«

»Deine Goschn, Wegmacher!« fauchte der Landthaler.

»… im Vierer Jahr, wie der Teufelsstein im Schatzberger Wald auf einmal angefangen hat zu schwitzen …«

Zornig wandte sich nun auch der Reither um. »Wir spielen! Hörst nicht? Bring uns nicht draus, sonst werden wir grantig!«

»… auf einmal angefangen hat zu schwitzen, und wie …«

Krachend patschte die geöffnete Hand des Landthalers auf den Tisch. Er stand auf, ging zur Ofenbank und stellte sich breit vor den Alten. Seine zur Faust geballte rechte Hand pendelte drohend. Der Wegmacher duckte sich ängstlich.

Wortlos kehrte der Landthaler an den Tisch zurück.

»Das hat er verstanden«, stellte der Reither befriedigt fest. Der Wirt atmete erleichtert auf, griff nach den gefüllten Krügen und trug sie an den Tisch.

»Wißts ja, wie er ist. Er hört nimmer gut«, versuchte er auszugleichen.

»Der hört ganz gut, da täusch dich nicht«, widersprach der Landthaler ärgerlich.

»Schon«, wußte der Stadler, »aber er kanns nimmer deuten.«

»Was für eine Krankheit das ist«, schüttelte der Wirt den Kopf, »hört und sieht, aber kanns nimmer deuten.«

»Die Krankheit hast du auch hie und da«, stichelte der Stadler boshaft. Der Wirt lachte.

»Aber bloß dann, wenn du ein halbes Jahr bei mir anschreiben laßt, nicht ans Zahlen denkst und allerweil noch eine Halbe willst!«

»Dafür kommst auch in den Himmel, Nauferger. Ist dir das gar nichs wert?«

»Und das verdank ich dann dir, Stadler.«

»So ist es. Selig sind, die die Durstigen tränken, heißts in der Heiligen Schrift.«

»Jetzt spiel!« unterbrach der Landthaler ungeduldig. Der Stadler überlegte einen Augenblick, zog eine Karte und schlug sie auf die Tischplatte.

»Liegt schon!«

Der Landthaler betrachtete mit zusammengekniffenen Augen sein Spiel und überlegte. Er wirkte angestrengt.

»… ich lüg euch nicht an!« brabbelte der Alte.

Das Gesicht des Bauern wurde krebsrot. Heftig stand er auf. Sein Stuhl kippte und polterte zu Boden.

»Wegmacher!« schrie er unbeherrscht. Der Wirt sah alarmiert auf.

»Spinn dich aus, Landthaler«, sagte der Stadler ruhig, »was regst dich denn eigentlich gar so auf?«

»Warum ich mich aufreg?« japste der Landthaler. »Weil ich dem Wegmacher seine erstunkenen Geschichten nimmer hören kann.«

»Hörst halt nicht hin! Aus! Hast doch sonst nichts gegens Geschichtenerzählen!«

Der Landthaler erstarrte. Sein Blick flirrte. Auf seiner Schläfe bildete sich eine wurmartige Geschwulst. »Was … was willst damit sagen?« fragte er rauh.

Der Stadler tat unschuldig. »Gar nichts. Bloß, daß du doch auch hie und da gern Geschichten erzählst.«

»Landthaler! Stadler!! Aufhören!« Der Wirt hatte das Wischtuch zur Seite geworfen, kam an den Tisch geeilt und versuchte, die beiden Männer auseinanderzuzerren. Ein klobiger Faustschlag, der eigentlich dem Stadler gegolten hatte, traf seine Schulter. Er taumelte zurück.

Die Tür der Gaststube fiel krachend in das Schloß.

»Hörts auf!« keuchte der Wirt.

»Das mein ich auch.« Wachtmeister Kaneder trat langsam in die Mitte des Raums, schob seine Brille mit der Fingerspitze zurecht und kratzte sich seinen hinter dem Kragen nässend geröteten Hals. Der Landthaler richtete sich mürrisch auf.

Der Ortspolizist musterte ihn streng. »Wegen was wird da schon wieder gerauft?« Der Bauer schniefte verletzt und schwieg. Langsam griff er in seinen schütteren Schopf und schob einige siechfarbige Strähnen, die ihm über die Stirn gefallen waren, zurück. Kaneder wandte sich mit fragendem Blick an den Stadler. Dieser zuckte die Schultern.

»Nichts«, räusperte er sich, »ich … ich hab ihm bloß gesagt, daß es seltsam ist, daß er allerweil, wenn er mit dem Mischen dran ist, hernach den Herzkönig kriegt.«

Der Reither nickte erleichtert.

»Ist überhaupt nicht wahr«, knurrte der Landthaler.

Kaneder verstand. »Dann sag ich euch, daß jetzt gleich Sperrstund ist und ich den Holzköpfen, die ich das nächste Mal wieder beim Raufen erwisch, eine saftige Straf aufbrenn! Haben wir uns?« Er hob die Stimme. »Ob ihr mich verstanden habt?«

Die beiden Streithähne nickten widerwillig. Der Reither griff nach den Karten, stand auf und legte das Päckchen auf eine Ablage neben dem Schanktisch. »Heut wars wieder gemütlich!« sagte er ernüchtert und griff nach seiner Jacke.

Auch der Landthaler zog sich an. Der Reither befand sich bereits im Hausgang. Wortlos verließen die Bauern die Stube.

Der Wachtmeister wandte sich an den Wirt.

»Und deine gspaßigen Logiergäst? Sind die eigentlich schon daheim?«

»Den Notari von München, meinens? Der ist schon längst oben in seiner Kammer«, sagte der Wirt. »Ist was mit dem?«

Kaneder schüttelte unwillig den Kopf und drehte sich um.

»Und der Wegmacher?« sagte er milder. »Mag Er nicht heimgehen? Zeit ists.«

Der alte Bauer regte sich nicht.

»Keine Geschichterl heut, Wegmacher?«

Der Wachtmeister wartete die Antwort des bockig dreinblickenden Alten nicht ab, kratzte sich wieder hinter seinem Kragen und verabschiedete sich.

Der Alte schwieg auch noch, als ihn der Wirt wenig später vor die Tür führte. Mit unsicherem Schritt trat er aus dem Kegel des von Mücken berannten Hauslichts und verschwand in der Finsternis. Vom fernen Altwasser am Flußgrund quakten Frösche.

Der Wirt drehte den Schlüssel und löschte das Licht. Als er kurz darauf die Treppe zu seiner Schlafkammer emporstieg, sich in ihr entkleidete, das Federbett zurückschlug und sich schwer auf sein Lager fallen ließ, dachte er noch einen kurzen Augenblick an die Geschichte, die der Alte hatte erzählen wollen. Dabei schlief er ein.

2

Als die Magd an diesem Spätnachmittag im August des Jahres 1904 mit käsigem Gesicht zur Reitherin in den Stall trat und ihr stumm den leeren Wassereimer zeigte, wußte die Bäuerin sofort, daß etwas Ernstes geschehen sein mußte. Der Hausbrunnen war nun endgültig trocken, und der in die Tiefe gelassene Eimer scheppernd auf Stein gefallen.

Bald darauf versiegten auch die Brunnen von Wengen und Oberroth. Die erst vor wenigen Jahren verlegte Bleirohrleitung, die das Wasser der Elskirchner Quelle zu den Weilern über dem Inn führen sollte und aus der zuletzt nur noch ein rostig braunes Rinnsal geflossen war, gab schon seit Wochen keinen Tropfen mehr ab. Auch der Gruber hatte bereits aufgegeben und die Hunde, die seine Pumpe antrieben, aus dem Geschirr gelassen.

Als vom Grund des Hungerbrunnens im Wolfspeuntner Wald feuchter, von Mückenschwärmen umtoster Morast glitzerte, erschraken die Bauern zutiefst. Von ihren Vorfahren wußte sie, daß Feuchtigkeit in dieser Grube, die in regenreichen Zeiten stets trocken war, eine noch größere Dürre voraussagte.

Schließlich war auch der Burgstaller Bach ausgetrocknet, und die Mühle im Höllgraben mußte stillgelegt werden. Die Bauern suchten den Pater Prosper auf und baten ihn um die Abhaltung des Regengebets. Kurz flammte der alte Streit zwischen der »Bruderschaft zum guten Tod« und dem »Jünglingsverein« auf, in welcher Pfarrei dieser Gottesdienst abgehalten werden sollte. Die Auseinandersetzung wurde jedoch sofort erstickt, denn kein vernünftiger Mensch konnte widersprechen, daß allein die heilige Elisabeth und damit das alte Elskirchner Gotteshaus zuständig waren.

Das gotische Kirchenschiff war überfüllt, als der aus dem Kloster Sarzhofen herbeigeeilte Augustinerpater das alte Regengebet vortrug. Doch die Orgel, deren Holzverkleidung in der wochenlangen Trockenheit geschrumpft war, gab keinen Ton mehr von sich. Auf der Heimkehr begegneten die erschöpften Wallfahrer den Fuhrwerken der Wasserträger. Auf ihre keuchenden Rösser einschlagend, bis hoch über den Kutschbock in Staub gehüllt, waren sie nahezu Tag und Nacht unterwegs, um das rettende Naß zu den Höfen zu bringen.

Die Gebete waren vergeblich gewesen. Die einst üppigen Bauerngärten verdursteten, das Blattwerk der Obstbäume verlor seinen Glanz. Die Wiesen brannten aus. Die Grasnarbe wurde rissig, schälte sich, hungriges Federvieh kratzte auf der Suche nach Engerlingen den brockigen Boden auf. Aus einst blühenden Feldern wurden staubgraue Äcker. Um die Augustmitte mußten bereits die Heustöcke angegriffen werden, um das Vieh zu füttern. Doch für den Schäfer von Aschpoint stellte sich die Frage, was im Winter werden würde, nicht mehr. Er bestritt, betrunken gewesen zu sein, und gab statt dessen an, von Erschöpfung überwältigt in seinem Karren eingeschlafen zu sein, als seine Herde in die sumpfigen, von den Mäandern des Höllbachs durchzogenen Naßwiesen ausgebrochen war. Erbärmlich waren die Tiere verendet. Man hatte den Schäfer mit Schlägen vom Hof gejagt.

Die neuen Tage zeigten im ersten, zitronenfahlen Licht, daß wieder kein Regen zu erwarten war. Binnen kurzer Zeit wälzte sich erneut schmutzige Hitze über das Land. Übergossen mit glühender Luft lag es um die Mittagszeit längst benommen unter einer brütenden Sonne. Dann und wann schob sich ein heißer Windstoß durch das papieren wispernde Korn und kippte es, ohne Widerstand zu erfahren, aus der mürben Krume.

Nur der Marktflecken Sarzhofen, auf einer kleinen Erhebung zu Füßen des höheren Klosterhangs gelegen, hatte noch Wasser. Die fetten Gärten am Innhang, geschlämmt von einer Ableitung des Klosterbachs, widerstanden der Hitze.

Doch auch hier litten die Menschen unter der Hitze und dem Staub, den das Umland über den Markt geworfen hatte. Die Alten atmeten schwer durch rissige Lippen.

Es war Mittag. Die Menschen, die den baumlosen Platz in der Ortsmitte überquerten, bewegten sich langsam; kein Luftzug regte sich. Es war still. Rufe versanken taub, das Platzen des Kalkputzes von den Häuserwänden klang wie das Brechen verdorrter Äste. Der Wirt des Gasthofs »Zum Nauferger« riß in einem Moment der Verwirrtheit die Tür der Standuhr auf, dessen Ticken ihn zu schmerzen begonnen hatte, und hielt das Werk an.

Am späten Nachmittag schienen Ort und Hügelland friedlich zu dösen. Die Schatten wuchsen. Kaum war die Nacht zum Sonntag hereingebrochen, begann die Erde zu dampfen. Das Pflaster glänzte bleiern, und um Mitternacht stiegen vom Inn violette Nebelschwaden empor. Es wurde augenblicklich kühler. Als sich die letzten Besucher des »Nauferger« auf den Heimweg machten, in der Mitte des Marktplatzes nach oben sahen und betrunken die schneidende Luft kosteten, stand über ihnen, kaum anders als in den Nächten zuvor, der Nachthimmel wie kalt glimmender Granit. Die Tritte der Heimkehrer verloren sich in der Stille. Grillen zirpten kraftlos. Das Land fiel in Schlaf.

Niemand sah, wie kurze Zeit danach im Norden ein tonloses Leuchten über die Hügelketten eilte. Ein ferner, samtener Donner folgte. Nun herrschte völlige Stille. Wieder flammte das fahle Leuchten auf, und wieder, doch nun in kürzerem Abstand, war ein tastendes, zögerndes Poltern, das wie das Fallen eines Holzstoßes klang, zu vernehmen.

3

Es kam kein Tag. Die Sonne kämpfte irgendwo hinter dem östlichen Horizont, warf ein krankes Gelb und erstickte dämmernd. Entlang der Flußlinie hatten sich Schicht um Schicht die fetten Quader einer Wolkenwand in maßlose Höhen getürmt. Noch immer schien die Wand zu wachsen, noch immer stand sie nahezu unbewegt wie eine erstarrte Flutwelle.

Binnen Sekunden platzte das Gebilde. Eigroße Hagelbrocken explodierten auf Pflaster und Dachpfannen, spratzten knallend ab oder durchschlugen die Dächer. Kräftige Laubbäume bogen sich unter den Sturmstößen und brachen ergeben, die Fichten rissen im Fall ihr flaches Wurzelwerk aus dem Erdreich, Scheunen zerlegten sich Brett um Brett oder purzelten wie Würfel über das Feld. Durch die silbrige Schraffur des zur Erde jagenden Eises waberten die Blitze. Das Wettergeläut der Pfarrkirche winselte gegen den Tumult, bis der Orkan unter die zerschlagene Dachhaut des Turmes fuhr, dessen Spitze abriß und Schindeln, Gebälk und Mauerwerk in die Tiefe prasseln ließ. Bedrohlich ächzte das Bundwerk der Stallungen der freistehenden Gehöfte. Die windig gebaute Stallung des Wegmacher-Gütls krachte zusammen und begrub, was darunter lebte.

4

Fast beiläufig hatte sich das Unwetter gelegt. Ohne große Eile war es nach Nordosten gestapft. Der Wind wurde schwächer, dann legte er sich ganz.

Es war still. Das zerdroschene Land rauchte. Die Luft war kühlfeucht und klar und roch nach Winter. Der Himmel blieb grau, von Westen näherte sich ein sanfter Regen. Bis zum Herbstbeginn sollte er sich nicht mehr verziehen.

Natürlich hätte man die Leiche des Fuhrknechts Alois Eglinger irgendwann entdeckt. Wenn nicht an diesem Tag, dann am nächsten. Sie wurde so früh gefunden, weil sich der Nauferger beim Kirchbäck darüber beschwert hatte, daß das sich sulzig zersetzende Eis auf der Gasse zwischen beiden Gebäuden begann, den Weinkeller des Gasthauses unter Wasser zu setzen. So schickte der Kirchbäck seinen Lehrling, und dieser war es, dem diese eigenartige, blaßrot emporgestiegene Fläche aufgefallen war und der, nach wenigen Schaufelstichen, den Körper des Fuhrknechtes entdeckte.

Wachtmeister Sinzinger, den man vom Dach der Ortsgendarmerie holen mußte, wo er die zerschlagenen Dachpfannen inspiziert hatte, begann kurz darauf mit seinen Untersuchungen. Er tat es widerwillig. Irgend etwas sagte ihm, daß diese Angelegenheit unangenehm werden würde, obwohl alles, was ihm aufgeregt mitgeteilt wurde, auf einen Wirtshausstreit mit tragischem Ausgang hindeutete. So etwas kam nicht eben häufig, aber doch hin und wieder vor. Der letzte Mord im Gebiet der Sarzhofener Gendarmerie – eine Magd war im Wolfspeuntner Wald erschlagen und ausgeraubt worden – war lange vor Sinzingers Amtsantritt geschehen, und außer der nie ermittelten Todesursache eines Säuglings in der Nachbargemeinde, den die Mutter, eine unverheiratete und offenbar geistig etwas labile Magd, versehentlich im Schlaf erdrückt hatte, konnte er sich an keinen Fall in dieser Gegend erinnern, der nicht binnen weniger Stunden hatte aufgeklärt werden können.

Der Wachtmeister überlegte, wie er seinen Bericht beginnen sollte. Er war, nachdem er die Leute mit einem »Wenn er schon tot ist, pressierts eh nicht mehr« zu beruhigen versucht hatte, in die Amtsstube gegangen, hatte dort seinen Rock angezogen, seinen Säbel umgeschnallt, seinen Helm aufgesetzt und sich auf den Weg gemacht.

Der Schauplatz des Verbrechens, die vom Marktplatz zum Innhang führende Gasse zwischen dem Gasthaus und der Bäckerei, war nur wenige Minuten von der Station entfernt. Nachdem er die Neugierigen zurückgescheucht und sich schnell vergewissert hatte, daß der Fuhrknecht an mehreren Messerstichen in Brust und Hals gestorben sein mußte, wurden die Umstehenden von ihm befragt, ob einer von ihnen etwas berichten könne, das mit diesem Vorfall zusammenhinge. Man schüttelte den Kopf. Außer dem Wirt hatte sich keiner der Anwesenden in der vergangenen Nacht im Gasthaus aufgehalten. Der Nauferger gab zögernd an, daß der Ermordete am Abend zuvor einige Halbe Bier getrunken, die Gaststätte jedoch kurz nach Mitternacht verlassen habe.

»Als letzter?«

»Ja …« Die Erklärungen des Wirts wurden dadurch unterbrochen, daß der Dorfarzt mit offen fliegendem Mantel durch den Eismorast herbeigeeilt kam und sich wortlos der Leiche widmete. Respektvoll wich die Menge zurück.

Der Wirt fügte noch hinzu, daß der Tote als streitsüchtig gegolten habe und daß es beinahe täglich zu kleineren Auseinandersetzungen, die jedoch schnell wieder beigelegt waren, gekommen sei. Der Doktor unterbrach ihn.

»Der Mann ist seit etwa zwölf Stunden tot«, stellte er fest.

»Haben Sie berücksichtigt, daß er unter dem Eis gelegen ist?«

Der Arzt lächelte nachsichtig. »Ich kann durchaus bis drei zählen, Herr Wachtmeister. Aber …«, er war aufgestanden und wischte sich die Eissplitter vom Knie, »… man braucht mich ja hier nicht mehr, nicht wahr?«

»Ist ja nur eine Frag gewesen, Herr Doktor.«

»Schon recht.« Der Arzt knöpfte sich umständlich den Mantel zu.

Der Gendarm dachte nach. Vor zwölf Stunden. Kurz vor Sonnenaufgang. Was suchte der Fuhrknecht um diese Zeit in der Gasse?

Der Mesner hob den Zeigefinger. »Der Eglinger ist ein rechter Weiberer gewesen«, stieß er eifernd hervor. »Es hat so gehn müssen mit ihm.«

»Was du alles weißt …«

»Ich seh halt auch noch was anderes als Teig und versalzenes Mischbrot, Bäck.«

»Mit dir bigottem Hanswursten red ich gar nicht. Aber, Herr Wachtmeister …«

»Was, Bäck?«

»Der Doktor muß sich getäuscht haben.«

»Warum?«

Der Bäcker fühlte den mißbilligenden Blick des Arztes. »Weil ich … dann ja was gehört haben müßt. Ich bin jeden Tag schon um halb vier wach, auch wenn ich nicht in die Backstuben muß. Ich hätt was hören müssen – aber ich hab nichts gehört. Bloß, wie auf einmal das Wetter angefangen hat, hab ich gehört.«

»Und das hat angefangen, nachdem du aufgestanden bist?«

»Wenig später.«

»Da ist es also schon hell gewesen?«

Der Bäcker schüttelte den Kopf. »Da wär es hell gewesen!« berichtigte er. »Wenn es ein normaler Tag gewesen wär. War es aber nicht. Es war stockfinster.«

Sinzinger verzog nachdenklich den Mund und blickte wieder auf das mit schwarzem Blut besudelte, durchweichte Bündel zu seinen Füßen. Der Tote lag mit dem Rücken nach oben. Die klaffenden, wächsern gerandeten Einstiche waren deutlich zu erkennen.

»Der markiert nimmer«, bemerkte der Schmied-Hansl nüchtern. Die Bäckin kicherte hysterisch. Ein Blick des Wachtmeisters brachte sie zum Schweigen.

»Was ist gestern auf Nacht passiert? Hat einer gesehen, mit wem der Eglinger gestritten hat? – Wirt?«

Der Nauferger schüttelte den Kopf. »Nein. Gestern war er sogar recht gut aufgelegt, der Alois. Hab mich schon gewundert.«

Der Landthaler, den in seiner Jugend ein schwerer Unfall mit dem Heuwagen weißhaarig gemacht hatte, schniefte grimassierend durch die Nase und entblößte seine tabakbraunen Zähne. Er schien zu überlegen, wie er beginnen sollte.

Der Arzt trat einen Schritt vor. »Herr Wachtmeister, ich wollte Ihnen nur noch sagen: Wie ich vorhin an der Gendarmeriestation vorbeigekommen bin, hab ich den Aichinger Martl dort stehen sehen. Er möcht eine Angabe machen, hat er gesagt.«

»Wird nicht so pressieren«, gab Sinzinger unwirsch zurück.

Der Arzt, der sich schon zum Gehen gewendet hatte, wiegte den Kopf und strich sich über seinen grauen Bart.

»Es hätte aber mit der Leiche hier zu tun, hat er gemeint.«

5

Kopiermeister Ostler hatte Grund zu guter Laune. Die deutsche Kinoindustrie hatte nach dem Krieg einen ungeheuren Aufschwung genommen; allein im vergangenen Jahr wurden nahezu sechshundert Filme hergestellt, und bereits jetzt, im Frühsommer 1924, konnte jede Wette darauf eingegangen werden, daß sich diese Zahl heuer noch einmal erhöhen würde. Ostlers Zukunft war gesichert. Vor seinem Häuschen in Planegg blühte der Flieder, und im Biergarten der Münchner Kindl-Brauerei, den er aus alter Anhänglichkeit hin und wieder aufsuchte, obwohl er sich längst nicht mehr dem gemeinen Münchner Proletariat zurechnete, rückten die jungen Frauen näher an ihn heran.

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