Die gordische Schleife - Bernhard Schlink - E-Book

Die gordische Schleife E-Book

Bernhard Schlink

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Beschreibung

Georg Polger hat seine Anwaltskanzlei in Karlsruhe mit dem Leben als freier Übersetzer in Südfrankreich vertauscht und schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Bis zu dem Tag, als er durch merkwürdige Zufälle Inhaber eines Übersetzungsbüros wird ­ Spezialgebiet: Konstruktionspläne für Kampfhubschrauber. Polger gerät in einen Strudel von Ereignissen in dem Freund und Feind ununterscheidbar sind.

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Seitenzahl: 321

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Bernhard Schlink

DiegordischeSchleife

Roman

Die Erstausgabe erschien 1988

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: André Derain,

›Paysage à Cassis‹, 1907

Copyright © 2014, ProLitteris, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21668 4 (20.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60394 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erster Teil

[7] 1

Georg fuhr nach Hause. In Aix verließ er die Autobahn und nahm die Landstraße. Von Marseille bis Aix ist die Benutzung der Autobahn umsonst, von Aix nach Pertuis kostet sie fünf Franc. Das ist ein Päckchen Gauloises.

Georg zündete eine an. Die Fahrt nach Marseille war ein Fehlschlag gewesen. Der Chef des Übersetzungsbüros, von dem er manchmal Arbeit bekam, hatte keine für ihn gehabt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Sie anrufe, wenn was für Sie da ist. Zur Zeit kommt nichts rein.« Monsieur Maurin hatte sorgenvoll geschaut – vielleicht stimmte, was er sagte. Das Büro gehörte ihm, lebte aber von den Aufträgen der Flugzeugwerke Industries Aeronautiques Mermoz S.A. in Toulon. Wenn das europäische Gemeinschaftsprojekt eines neuen Kampfhubschraubers, bei dem Mermoz den französischen Part spielte, stockte, gab es für Maurin auch nichts zu übersetzen. Oder Maurin hatte wieder einmal bessere Konditionen aushandeln wollen, und Mermoz hielt ihn zur Strafe knapp. Oder hatte die alte Drohung wahr gemacht und eigene Übersetzer eingestellt.

Als es hinter Aix den Berg hochging, stotterte der Motor und ruckte der Wagen. Georg brach der Schweiß aus. Nur das nicht, nur das nicht auch noch. Erst vor drei Wochen hatte er den alten Peugeot gekauft, seine Eltern aus Heidelberg hatten ihn besucht und ihm das Geld gegeben. »Wenn [8] du’s für die Arbeit so nötig brauchst, mein Junge«, hatte sein Vater gesagt, als er die zweitausend Mark in die Dose auf dem Küchenschrank tat, in der Georg sein Geld verwahrte. »Du weißt, daß Mutter und ich dir gerne helfen. Aber jetzt, wo ich in Rente bin und deine Schwester das Kind hat…«

Dann kam, was Georg schon tausendmal gehört hatte: Ob er keine andere Arbeit finden könne, nähere und bessere, warum er den Beruf als Rechtsanwalt in Karlsruhe aufgegeben habe, ob er nun, wo es mit Hanne aus war, nicht nach Deutschland zurück könne, ob er seine Eltern im Alter im Stich lassen wolle, daß es im Leben noch etwas anderes gebe als Selbstverwirklichung. »Soll deine Mutter alleine sterben?« Georg schämte sich, weil er über die zweitausend Mark froh und ihm alles, was sein Vater sagte, egal war.

Der Tank war fast voll, und erst unlängst hatte Georg Öl nachgefüllt und den Filter ausgewechselt. Es durfte nichts kaputt sein. Georg hörte beim Weiterfahren auf den Motor wie eine Mutter auf den Atem ihres fiebernden Kindes. Der Wagen ruckte nicht mehr. Aber war da nicht ein Klopfen? Ein schleifendes, knirschendes Geräusch? Drei Wochen lang hatte Georg es genossen, ohne Angst vor kleinen wie großen Pannen zu fahren. Jetzt ging das wieder los.

In Pertuis parkte Georg, kaufte auf dem Markt ein und trank in der Bar ein Bier. Es war Anfang März, noch blieben die Touristen aus. Der Stand mit provençalischen Gewürzen, Honig, Seife und Lavendelessenz, im Sommer bis zum Ende des Markts von Deutschen und Amerikanern umringt, war schon abgeschlagen. In anderen Buden wurde [9] die Ware weggepackt. Unter schweren Wolken war die Luft warm. Wind kam auf und knatterte in der Markise. Es roch nach Regen.

Georg lehnte neben dem Eingang der Bar an der Mauer, das Glas in der Hand. Er trug Jeans, eine abgewetzte braune Lederjacke über blauem Pullover und eine dunkle Mütze. Die Haltung war entspannt, von weitem hätte er ein junger Bauer sein können, der auf dem Markt seine Geschäfte abgewickelt hat und den Mittag genießt. Von nahem zeigte sein Gesicht harte Falten auf der Stirn und um den Mund, eine tiefe Kerbe im Kinn und nervöse Müdigkeit in den Augen. Georg nahm die Mütze ab und fuhr mit der Hand über den Kopf. Das Haar war dünn geworden. Georg war in den letzten Jahren gealtert. Davor hatte er einen Bart getragen und hätte alles zwischen fünfundzwanzig und vierzig sein können. Jetzt sah man ihm die achtunddreißig an und noch ein paar Jahre mehr.

Die ersten Tropfen fielen. Georg ging nach innen und traf Maurice, Yves, Nadine, Gérard und Catrine. Auch sie schlugen sich mehr schlecht als recht durch, nahmen Gelegenheitsjobs, lebten von Frau oder Freundin, Freund oder Mann. Gérard und Catrine waren am besten dran, er hatte ein kleines Restaurant in Cucuron und sie Arbeit als Buchhändlerin in Aix. Als draußen der Regen rauschte und einer nach dem anderen eine Runde Pastis bestellte, wurde Georg wohler. Er würde es schon schaffen, sie alle würden es schaffen. Immerhin waren zwei Jahre vergangen, seit er Karlsruhe verlassen hatte. Die hatte er durchgehalten. Und er hatte die Trennung von Hanne verkraftet. Als Georg die Berge hochfuhr, die das Tal der Durance im Norden [10] begrenzen, brach die Sonne durch. Von der Höhe geht der Blick in die weite Senke, in die das Gebirge des Lubéron nach Süden ausläuft, Weinberge, Obst- und Gemüsefelder, ein Weiher, einzelne Bauernhöfe, ein paar kleine Städtchen, nicht größer als Dörfer, aber mit Schloß, Kathedrale oder den Resten einer Befestigung. Eine kleine Welt, wie man sie als Kind träumt und mit Spielzeug baut. Georg liebte sie auch im Herbst und im Winter, wenn das Land braun liegt und der Rauch über die Felder zieht und aus den Kaminen steigt. Jetzt freute Georg sich auf das Grün des Frühjahrs und das Leuchten des Sommers. Auf dem Wasser des Weihers und auf den Gewächshäusern blitzte die Sonne. Ansouis tauchte auf, trutziges Städtchen auf einsamem Bergkegel. Über eine zypressengesäumte Rampe und eine hohe steinerne Brücke führt ein Weg zum Schloß. Georg fuhr unter der Brücke durch, bog nach rechts und später noch mal nach rechts in einen überwucherten, geschotterten Weg. Sein Haus lag vor Cucuron in den Feldern.

2

Vor zwei Jahren waren Georg und Hanne eingezogen. Der Abschied von Karlsruhe war nicht gut gewesen; Streit mit dem Rechtsanwalt, mit dem Georg zusammengearbeitet hatte, Tränen und Vorwürfe von Hannes Exfreund, Krach mit den Eltern, Angst vor dem Abbruch aller Brücken. Was ein befreiender Aufbruch aus der heimatlichen Enge und den Zwängen des Berufs hätte sein sollen, wurde fast zur Flucht. In Paris, wo sie zunächst Fuß fassen wollten, fanden [11] sie keine Arbeit, wohnten in schauerlichen Absteigen, und ihre Beziehung schien am Ende. Cucuron war ein neuer Anfang. Georg kannte und liebte das Städtchen von einer Urlaubsreise und hoffte auf einen Job in Aix oder in Avignon. Die ersten Wochen wurden wieder schlimm. Aber dann bekam Georg eine Aushilfsstelle als Filmvorführer in Avignon, und sie fanden das Haus.

Ihnen gefiel, daß es einsam lag, an einem Südhang, umgeben von Kirsch- und Zwetschgenbäumen, Melonen- und Tomatenfeldern. Daß Balkon und Garten von morgens bis abends Sonne hatten, daß es unter dem Balkon, der über die ganze Breite des ersten Stocks führte, aber schattig und kühl war. Daß zwei Zimmer unten und drei oben viel Platz boten. Daß am Haus ein Anbau war, den Hanne als Atelier benutzen konnte. Sie zeichnete und malte.

Sie holten ihre Möbel und Hannes Staffelei aus Karlsruhe. Georg legte einen Kräutergarten an, Hanne richtete das Atelier her. Als Georg im Kino nicht mehr gebraucht wurde, fand Hanne eine Aushilfsstelle in einer Druckerei. Dann halfen beide bei der Ernte. Im Winter bekam Georg die ersten Übersetzungsaufträge von Maurin. Aber das Geld reichte nicht hinten und nicht vorne, und Hanne fuhr für zwei Monate zu ihren Eltern nach Karlsruhe. Die waren reich und wollten ihre Tochter gerne unterstützen, aber nicht in Paris oder in Cucuron und nicht mit Georg. Aus den zwei Monaten wurden vier; Hanne kam nur über Weihnachten zurück und dann noch mal, um ihre Sachen zu holen. Den Lieferwagen, in den sie Schrank, Bett, Tisch und Sessel, vierzehn Kartons und die Staffelei lud, fuhr der neue Freund. Hanne ließ Georg die zwei Katzen.

[12] Georg hatte mit fünfundzwanzig seine Heidelberger Schulfreundin und Jugendliebe Steffi geheiratet, war mit dreißig geschieden und in den nächsten Jahren mit dieser und jener Frau mal kürzer und mal länger zusammengewesen. Mit fünfunddreißig hatte er Hanne getroffen und gedacht: Sie ist die Richtige.

Er entwickelte gerne Theorien. Über das Heiraten von Schulfreundinnen und Jugendlieben, die Zusammenarbeit zwischen Rechtsanwälten, über Raucher und Nichtraucher, Macher und Grübler, natürliche und künstliche Intelligenz, über die Anpassung an gegebene Verhältnisse und das Aussteigen aus ihnen, über das richtige Leben. Besonders gerne über Beziehungen. Ob sie besser sind, wenn sich beide Knall auf Fall ineinander verlieben oder wenn die Liebe langsam wächst. Ob sie nach dem Gesetz ablaufen, nach dem sie antreten, oder ob tiefgreifende Veränderungen möglich sind. Ob ihre Qualität sich daran zeigt, daß sie halten, oder daran, daß sie sich gewissermaßen erfüllen und enden. Ob es im Leben die richtige Frau beziehungsweise den richtigen Mann gibt oder ob man mit verschiedenen einfach verschiedene Leben lebt. Ob beide ähnlich sein sollen oder gerade nicht.

Theoretisch war Hanne die Richtige. Sie war ganz anders als er, nicht intellektuell und diskursiv, sondern spontan und direkt, eine wunderbare Geliebte und zugleich eine anregende und selbständige Partnerin bei der Planung gemeinsamer Projekte. Sie hilft mir, dachte er, alles das zu machen, was ich immer machen wollte, mich aber nicht getraut habe.

Allein mit zwei Katzen, dem Projekt eines Buchs, bei [13] dem er die Geschichte schreiben und sie die Bilder hatte zeichnen wollen und das in den Anfängen steckengeblieben war, einem zu großen Haus und zu großen Kosten war Georg nicht mehr nach Theorien. Als Hanne ihn verließ, war Februar, die Nachbarn erinnerten sich an keinen kälteren, und oft wußte Georg nicht, woher das Geld für das Heizöl kommen sollte. Manchmal hätte er sich gerne mit Hanne über das Scheitern ihrer Beziehung auseinandergesetzt. Aber sie antwortete nicht auf seine Briefe, und das Telephon hatte man ihm abgestellt.

Er schaffte es über den Rest des Winters und durch das nächste Jahr. Vielleicht hätte er von dem, was er an Maurins Aufträgen insgesamt verdiente, gerade leben können. Aber darauf, ob und wann die Aufträge kamen, war kein Verlaß. Er schrieb Briefe an Gott und die Welt, bewarb sich um literarische Übersetzungen, technische Übersetzungen, irgendwelche Übersetzungen, bot französischen Rechtsanwälten seine deutschen Rechtskenntnisse und deutschen Zeitungen Berichte aus der Provence an. Nichts. Daß ihm dabei reichlich Zeit blieb, nützte ihm auch nichts. Zwar hatte er Reportagen, Erzählungen und Krimis im Kopf, die er schreiben wollte. Aber im Kopf war stärker als alles andere die Angst: Wann ruft Maurin wieder an? Oder, wenn das Telephon gerade abgestellt war: Wann soll ich anrufen? Übermorgen, hat er gesagt. Aber wie, wenn er morgen Aufträge bekommt und mich nicht erreicht? Hält er sie für mich bis übermorgen oder gibt er sie sonstwem? Also doch morgen anrufen?

Er wurde unleidlich wie alle unglücklichen Menschen. Als bleibe ihm die Welt etwas schuldig und als müsse er sie [14] das spüren lassen. Manchmal haderte er mit ihr mehr und manchmal weniger. Wenn er drei Briefe an potentielle Auftraggeber geschrieben und zur Post gebracht hatte, drei unwiderstehliche Briefe, wenn er einen Auftrag erledigt und das Geld in der Tasche hatte und abends bei Gérard im ›Les Vieux Temps‹ saß, wenn er Freunde fand, die sich ähnlich durchschlugen und ihre Hoffnungen nicht verloren, wenn er seinen Kräutergarten versorgte, wenn das Feuer im Kamin brannte und das Haus nach dem Lavendel roch, den er draußen geschnitten und in den Abzug gehängt hatte, wenn Besuch aus Deutschland kam, richtiger Besuch, nicht jemand, der sein Haus als Absteige auf der Durchreise nach Spanien benutzte, wenn ihm eine Idee für eine Geschichte einfiel, wenn er nach Hause kam und der Briefkasten voll war – nein, er war nicht immer unglücklich und unleidlich. Im Herbst warf die Katze des Nachbarn, und Georg holte sich einen kleinen schwarzen Kater mit vier weißen Pfoten. Dopy – die anderen beiden hießen Schneewittchen und Sneezy. Auch Schneewittchen war ein Kater, ein ganz weißer.

Als Georg von Marseille nach Hause kam und aus dem Auto stieg, strichen ihm die Katzen um die Beine. Sie fingen genug Mäuse in den Feldern. Aber sie brachten die Mäuse ihm und wollten das Futter aus der Dose.

»Hallo, Katzen. Da bin ich wieder. War nichts mit Arbeit, war heute nichts und ist morgen nichts. Interessiert euch nicht? Stört euch nicht? Schneewittchen, du bist so groß und so alt, du solltest verstehen, daß es ohne Arbeit kein Futter gibt. Dopy, bei dir ist das etwas anderes. Du bist klein und dumm und weißt nichts.« Georg nahm ihn auf [15] den Arm und ging zum Briefkasten. »Schau dir das an, Dopy, wir haben einen dicken, fetten Umschlag bekommen, und den dicken, fetten Umschlag hat uns ein dicker, fetter Verleger geschickt. Jetzt muß nur noch eine dicke, fette, gute Nachricht drinstehen.«

Er schloß die Haustür auf, die zugleich Küchentür war. Im Kühlschrank standen eine halbvolle Dose Katzenfutter und eine halbvolle Flasche Weißwein. Georg gab den Katzen und schenkte sich ein, stellte die Musikanlage an, machte die Tür vom Kaminzimmer zur Terrasse auf und nahm Glas und Umschlag nach draußen zum Schaukelstuhl. Dabei redete er weiter mit den Katzen und mit sich. Er hatte es sich im letzten Jahr angewöhnt. »Der Umschlag kann einen Moment warten. Er läuft nicht davon. Habt ihr schon mal einen Umschlag gesehen, der läuft? Den es stört, wenn er warten muß? Wenn eine gute Nachricht drinsteht, soll der Wein zum Feiern zur Hand sein und bei schlechter Nachricht zum Trost.«

Georg hatte einen französischen Roman gelesen, der ihm gefallen hatte und von dem es keine deutsche Übersetzung gab. Ein Roman, der das Zeug zum Szene- und Kultbuch hatte. Ein Roman, der bei ebendiesem Verlag ins Programm paßte. Georg hatte das Buch und eine Probeübersetzung hingeschickt.

Sehr geehrter Herr Polger, besten Dank für Ihre Sendung vom… Mit Interesse haben wir… greifen Ihre Anregung gerne auf… paßt in der Tat in das Programm unserer Reihe… Verhandlungen mit Flavigny… Was Ihr Angebot einer Übersetzung angeht, müssen wir Ihnen [16] leider… Seit vielen Jahren sind wir einem Übersetzer verbunden, der… bitten um Ihr Verständnis… In der Anlage reichen wir Ihnen die freundlicherweise überlassene…

Schweinehunde. Nehmen meine Idee und servieren mich ab. Fühlen sich nicht verpflichtet, mir Geld zu geben, eine andere Arbeit anzubieten oder auch nur in Aussicht zu stellen. Zwei Wochen habe ich an der Probeübersetzung gesessen, zwei Wochen für nichts und wieder nichts. Schweinehunde. Georg stand auf und gab der Gießkanne einen Tritt.

3

Mit den Schulden, dachte Georg, ist es wie mit dem Wetter. Ich fahre von hier nach Marseille, fahre hier bei strahlender Sonne los und komme dort in strömendem Regen an, und dazwischen sind über Pertuis einzelne Wolken, über Aix ist eine geschlossene Wolkendecke, und bei Cabriès fallen erste Tropfen. Oder ich sitze hier auf der Terrasse, und zuerst scheint die Sonne vom klaren blauen Himmel, dann ziehen einzelne Wolken auf, dann viele, dann tröpfelt und schließlich schüttet es. Beidemal vergeht eine Stunde, eine Stunde im Auto oder eine Stunde auf der Terrasse. Und für mich ist völlig gleichgültig, ob ich vom guten ins schlechte Wetter fahre oder ob ich bleibe und das Wetter schlecht wird. Die Wolken sehen nicht anders aus, und ich werde so oder so naß. Sie haben gut reden, die Eltern oder die Freunde, wenn sie mich warnen, weitere Schulden zu machen. Stimmt. [17] Manchmal mache ich sie. Aber meistens wachsen sie einfach über mir und türmen sich zu einem höheren und höheren Berg. Wie sie mehr werden, ist für mich völlig gleichgültig. Der Effekt ist derselbe.

Er kam von Gérard und Catrine nach Hause. Er hatte schon off bei ihnen anschreiben lassen. Aber er hatte ihnen auch schon off zurückgezahlt. Wenn er einen Auftrag erledigt und sein Geld bekommen hatte, ließ er mehr liegen als den Betrag der Rechnung. Wie kleinlich Leute sein können, ärgerte sich Georg. Gérard hatte ihm Fettucine mit Lachs und Wein, Kaffee und Calvados gebracht, als Georg nach der Enttäuschung ins ›Les Vieux Temps‹ kam. Dann hatte er die Rechnung gebracht und sich zwar nicht geweigert anzuschreiben, aber ein Gesicht gezogen und eine Anspielung gemacht. Das ließ Georg nicht auf sich sitzen; er legte alles und noch mehr auf den Tisch. Es war Geld, mit dem er eigentlich die Telephonrechnung hatte bezahlen wollen.

Am nächsten Morgen machte er sich daran, das Atelier aufzuräumen. Er hatte Holz für den Kamin bestellt, das am Nachmittag gebracht und hier gelagert werden sollte. Bestellt und zum Glück schon bezahlt. Er konnte sich nicht mehr erinnern, aus welcher dummen Laune heraus er die Bestellung aufgegeben hatte. In den Wäldern um Cucuron lag mehr als genug Bruchholz.

Georg ging nicht gerne ins Atelier. Hier war die Erinnerung an Hanne besonders gegenwärtig und schmerzhaft. Hannes großer Arbeitstisch am Fenster, den sie zusammen gebaut und auf dem sie zusammen geschlafen hatten, zur Einweihung und zur Prüfung der Standfestigkeit. Die Skizzen zum letzten großen Ölbild an der Wand. Hannes [18] vergessener Arbeitskittel am Haken. Da im Atelier auch der Heizungskessel stand und Bücherkartons lagerten, konnte Georg es nicht gänzlich meiden. Aber er hatte es einstauben und verkommen lassen.

Das wollte er ändern. Er kam nicht weit. Am Ende waren die Bücherkartons akkurat aufeinandergeschichtet, war Platz für das Holz geschaffen und lag Hannes Arbeitskittel im Abfall. Aber sonst – was sollte er auch mit dem Atelier?

Als ein Auto kam, war es weder das Holz noch die Post. Herbert, ein anderer Deutscher, der in Pertuis wohnte, eigentlich malen wollte, aber durch immer neue widrige Umstände daran gehindert wurde, schaute vorbei. Sie tranken eine Flasche Wein und redeten über dies und das. Über die neuesten widrigen Umstände.

»Übrigens«, sagte Herbert beim Abschied, »ich wäre froh, wenn du mir mit fünfhundert Franc aushelfen könntest. Da ist diese Galerie in Aix, und…«

»Fünfhundert Franc? Tut mir leid, aber da ist gar nichts drin.« Georg zog die Schultern hoch und zeigte seine leeren Hände.

Herbert reagierte pikiert. »Ich dachte, wir wären Freunde.«

»Selbst wenn du mein Bruder wärst – ich kann dir schlicht nichts geben, ich habe nichts.«

»Na, die nächste Miete und den nächsten Wein wirst du schon zahlen können. Sei wenigstens ehrlich und sag, daß du mir nichts geben willst.«

Das Auto mit dem Holz kam. Ein verkratzter und verbeulter Lieferwagen mit offener Ladefläche und [19] Fahrerhäuschen, bei dem die Türen fehlten. Ein Mann und eine Frau stiegen aus, beide schon alt, er hatte nur einen Arm.

»Wo möchte Monsieur sein Holz geschichtet haben? Gutes Holz, trocken und duftet. Haben wir dort drüben gesammelt.« Der Mann wies mit der Hand auf die Hänge des Lubéron.

»Was bist du doch für ein verlogenes Arschloch.« Herbert setzte sich ins Auto und fuhr davon.

Das alte Paar mochte Georg nicht für sich arbeiten lassen. Aber er konnte die Frau nicht davon abhalten, das Holz an den Rand der Ladefläche zu schleppen, und den Mann nicht, es im Atelier zu schichten. Er hetzte mit vollen Armen von ihr zu ihm.

Über Mittag fuhr er nach Cucuron. Es erstreckt sich über zwei benachbarte Hügel, den einen krönt die Kirche, den anderen die Ruine der Burg. Um das halbe Städtchen führt noch die alte Mauer, Häuser lehnen sich daran oder stützen sich darauf. Wenn Georg mit dem Auto über die holprigen Wege fuhr und mehr noch, wenn er den halbstündigen Marsch durch die Felder machte und Cucuron dann in den Blick kam, ocker in der Sonne leuchtend oder grau unter die Wolken geduckt, immer behäbig, heimelig, verläßlich, dann stellte sich wieder das gute Gefühl ein, das er Vorjahren bei seinem ersten Besuch gehabt hatte.

Vor dem Stadttor liegt der étang, ein großer, rechteckiger, ummauerter, von alten Platanen gesäumter Teich. An der stadtzugewandten Schmalseite ist der Marktplatz, daneben stellt die ›Bar de l’Etang‹ vom Frühjahr bis zum Herbst die Tische raus. Hier ist es im Sommer kühl; im Herbst lassen die Platanen die Blätter rechtzeitig fallen, und man kann [20] noch in der letzten Sonnenwärme draußen sitzen. Auch dieser Platz war heimelig. In der Bar gab’s Sandwiches und Bier vom Faß und trafen sich alle, die Georg kannte.

Diesmal stellte sich das Behagen auch nach dem dritten Bier nicht ein. Georg ärgerte sich immer noch über Gérard und Herbert. Überhaupt die ganze Misere. Er fuhr nach Hause und legte sich mit schwerem Kopf zum Mittagsschlaf. Ob ich auch so werde wie Herbert? Oder bin ich schon so?

Um vier Uhr weckte ihn das Telephon. »Bulnakof Traductions. Spreche ich mit Monsieur Polger?«

»Ja.«

»Monsieur Polger, wir haben vor einigen Wochen hier in Cadenet unser Übersetzungsbüro eröffnet, und die Geschäftsentwicklung ist, Gott sei Dank, stürmischer als erwartet. Wir suchen Mitarbeiter und sind auf Sie aufmerksam gemacht worden. Sind Sie interessiert?«

Georg hatte den Hörer verschlafen abgenommen. Jetzt war er hellwach. Nur die Stimme stolperte noch. »Sie meinen… ich soll für Sie… ob ich interessiert bin? Ich glaube schon.«

»Schön. Unsere Adresse ist Rue d’Amazone, gleich über dem Platz mit dem Tambour, Sie finden das Schild am Haus. Schauen Sie doch in den nächsten Tagen mal vorbei.«

4

Georg wäre am liebsten sofort hingefahren. Er verbot es sich, verbot es sich auch am Mittwoch und am Donnerstag [21] und beschloß, am Freitag morgen um zehn Uhr dort zu sein. Jeans, blaues Hemd und Lederjacke, eine Mappe mit Papieren und Materialien von Maurin unterm Arm, sich an Aufträgen interessiert, aber nicht darauf angewiesen zeigen – er entwarf seinen Auftritt.

Alles klappte. Georg rief am Freitag morgen an, vereinbarte zehn Uhr, parkte auf dem Platz mit dem Denkmal für den kleinen Tambour, ging die Rue d’Amazone hoch und klingelte um fünf nach zehn unter dem Messingschild mit der Aufschrift ›Bulnakof Traductions S.A.R.L.‹.

Im zweiten Stock stand die Tür offen, es roch nach Farbe, und im frisch gestrichenen Vorzimmer arbeitete eine junge Frau an der Schreibmaschine. Braunes Haar bis auf die Schultern, braune Augen, beim Hochschauen ein freundlicher Blick und ein leichtes Lächeln.

»Monsieur Polger? Nehmen Sie doch kurz Platz, Monsieur Bulnakof empfängt Sie sofort.« Sie sagte ›Polschär‹ und ›Bülnakof‹, aber ein Akzent war nicht zu überhören, Georg konnte ihn nur nicht einordnen. Kaum saß er auf einem der fabrikneuen Stühle, ging die andere Tür auf, und zwei Zentner lärmende Geschäftigkeit und Leutseligkeit platzten in den Raum, Bulnakof mit rotem Kopf, spannender Weste und schreiender Krawatte.

»Wie schön, daß Sie den Weg zu uns gefunden haben, mein junger Freund. Ich darf doch ›mein junger Freund‹ zu Ihnen sagen? Wir kommen kaum nach mit der Arbeit, und ich sehe, auch Sie haben Ihren Packen Arbeit und tragen ihn mit sich und plagen sich mit ihm – aber nein, Sie plagen sich nicht, Ihnen geht die Arbeit leicht und schnell von der Hand, Sie sind jung, und ich war’s auch, nicht wahr?« [22] Dabei hielt er Georgs Hand in seinen beiden, drückte sie, schüttelte sie, ließ sie nicht los, als er ihn ins Zimmer zog.

»Monsieur Bulnakof…«

»Lassen Sie mich die Tür zu meinem Boudoir schließen und einige Worte zur Einführung – ach was, gehn wir gleich medias in res: technische Übersetzungen, Handbücher zur Textverarbeitung, Buchführung, Kunden-, Mandanten-, Klientenverwaltung und so fort, kleine, handliche, freundliche Programme, aber dicke Bücher. Sie verstehen? Sie haben Erfahrung mit der Technik, mit dem Computer, gehen vom Englischen ins Französische und vom Französischen ins Englische, arbeiten schnell? Schnell arbeiten, das ist das A und O bei uns, und wenn Ihr Diktiergerät und unsere nicht kompatibel sind, geben wir Ihnen eins von uns mit, und Mademoiselle Kramski tippt, und Sie schauen’s durch und dann geht’s raus – cito, cito, war das nicht das Motto Ihres großen Friedrich? Sie sind doch Deutscher, aber vielleicht war’s auch nicht Ihr großer Friedrich, sondern unser großer Peter, ist auch egal, Sie sagen gar nichts, stimmt was nicht?«

Bulnakof ließ Georgs Hand los und schloß die Tür. Auch hier der Geruch nach frischer Farbe, neuer Schreibtisch, neuer Schreibtischstuhl und neue Sitzgruppe, zwei über die lange Wand gemauerte Simse, darauf hohe Aktenstöße und darüber mit Reißzwecken aufgehängte Konstruktionszeichnungen. Bulnakof stand vor dem Schreibtisch, schaute Georg wohlwollend und besorgt an und fragte noch mal: »Stimmt was nicht, mein junger Freund? Sie zögern wegen der Bezahlung? Ah, das ist ein heikles Thema, wem sagen Sie das, und mehr als fünfunddreißig Centimes kann ich [23] auch nicht zahlen. Ich weiß, damit wird man nicht reich, wird kein Krösus, aber bleibt auch kein Diogenes, nicht daß ich meinte, Sie wären einer, ist nur so eine Redensart.«

Fünfunddreißig Centimes pro Wort – soviel zahlte ihm Maurin allerdings erst jetzt nach einem halben Jahr, und dazu würden die Fahrten nach Marseille wegfallen, und tippen sollte er auch nicht selbst. »Monsieur, Sie haben mir einen überaus liebenswürdigen Empfang bereitet, und ich freue mich über Ihr Interesse an meiner Arbeit. Ich will die Kapazitäten gerne freimachen und freihalten, müßte Ihnen allerdings fünfzig Centimes in Rechnung stellen. Sie können sich das überlegen und mich bei Gelegenheit wieder telephonisch kontaktieren, gegenwärtig scheinen Ihre und meine Vorstellungen über die Modalitäten einer Zusammenarbeit nicht zu harmonieren.« Was für eine gestelzte Antwort, aber Georg war zufrieden mit sich und stolz, daß er sich nicht billig machte. Hol’s der Teufel, wenn’s nichts wurde.

Bulnakof lachte. »Man kennt seinen Wert? Man fordert seinen Preis? Das gefällt mir, mein junger Freund, gefällt mir. Fünfundvierzig Centimes sag ich da doch einfach, und darauf biete ich Ihnen meine Hand und geben Sie mir Ihre, und wir sind im Geschäft. Topp.«

Georg bekam einen Packen mit den Seiten vom Umbruch eines Handbuchs. »Erste Hälfte nächsten Montag und der Rest am Mittwoch? Und da ist noch was, eine IBM-Konferenz in Lyon am nächsten Donnerstag und Freitag, und wenn Sie mit Mademoiselle Kramski hinfahren und die Feder und die Ohren spitzen, mithören und mitschreiben, uns dar- und vorstellen könnten, tausend Franc pro Tag und die [24] Spesen, und diesmal wird nicht gefeilscht und nicht gehandelt, das geht in Ordnung? Und Sie entschuldigen mich jetzt bitte?«

Im Vorzimmer sprach Georg mit Mademoiselle Kramski über die Fahrt. Er hatte es vorher nicht bemerkt oder seine gute Laune sah es jetzt in sie hinein – sie war hübsch. Eine weiße Bluse mit weißer Stickerei, weißer Paspel über der Brust und kurzen Ärmeln, der eine hochgeschlagen, der andere aufgeknöpft. Sie trug keinen Büstenhalter, hatte kleine, feste, hohe Brüste und auf den braunen Armen schimmerten die Härchen golden. Der Kragen war abgerundet, lieb, und die oberen Knöpfe waren offen, frech, und wenn sie lachte, lachten die Augen und die Kehle gluckste hell. Wenn sie nachdachte – nehmen wir den Zug oder das Auto, und wann fahren wir los, am besten am Mittwoch abend, wenn das Tippen und die Korrekturen des Handbuchs fertig sind –, hatte sie über der rechten Braue, gleich neben der Nase, ein kleines zitterndes Grübchen. Georg machte einen Witz, ein dicker Sonnenstrahl fiel zwischen den beiden Türmen der Kirche durch, und in seinem Licht schüttelte Mademoiselle Kramski lachend den Kopf, und im schwingenden Haar tanzten die Funken.

5

So wie in den nächsten Tagen hatte Georg noch nie gearbeitet. Nicht vor den Staatsprüfungen, nicht als Anwalt. Nicht nur weil das Handbuch dick war und ihm das Übersetzen aus der englischen in die französische [25] Computersprache nicht leicht fiel, nicht nur wegen des nächsten und übernächsten und überübernächsten Auftrags und des Geldes. Er platzte vor Energie, wollte es sich und Bulnakof und der ganzen Welt zeigen. Am Samstag abend bei Gérard ein Essen, von dem er gleich nach dem Kaffee und ohne Calvados aufbrach, am Sonntag morgen ein kurzer Spaziergang, nur weil er über die Übersetzung der HELP-Funktion lieber im Gehen als im Sitzen nachdachte, sonst saß er im Zimmer oder auf der Terrasse am Schreibtisch und vergaß dabei sogar das Rauchen. Am Montag morgen hatte er zwei Drittel des Handbuchs übersetzt und diktiert, fuhr nach Cadenet, pfiff und sang und schlug den Rhythmus auf dem Lenkrad, traf weder Monsieur Bulnakof noch Mademoiselle Kramski, gab die Kassette einem jungen Mann, der kaum den Mund aufbrachte und nur »Merci« rausspuckte, und machte sich an den Rest. Dienstag nacht war er fertig, am Mittwoch morgen frühstückte er mit frischem Brot, Eiern, Speck, gepreßtem Orangensaft und Kaffee auf dem Balkon und ließ sich die Sonne auf den Rücken brennen. Er hörte den Zikaden zu und den Vögeln, roch den Lavendel und sah über das grüne Land nach Ansouis, die Burg wuchtig im Dunst. Er packte für die Konferenz den Anzug ein und war um zehn in Cadenet.

Monsieur Bulnakof strahlte über sein dickes, rotes Gesicht. »Sehr schön, die Übersetzung, mein junger Freund, sehr schön. Ich habe alles durchgesehen, Sie müssen sich um die Korrekturen nicht mehr kümmern. Trinken Sie einen Kaffee mit mir, gleich kommt Mademoiselle Kramski, und Sie können aufbrechen.«

»Und das letzte Drittel?«

[26] »Das schreibt die Kollegin von Mademoiselle Kramski, und ich mache wieder die Korrekturen. Schauen Sie, daß Sie nach Lyon kommen, heute abend ist der Empfang des Bürgermeisters, da sollten Sie nicht fehlen.«

Woher er stamme, wollte Monsieur Bulnakof wissen, und was er gelernt und gearbeitet habe und warum er aus Karlsruhe nach Cucuron gezogen sei. »Ja, wenn man jung ist. Aber ich habe mein Büro auch nicht mehr in Paris führen mögen und hierher verlegt, kann Sie schon verstehen.«

»Sie selbst stammen aus Rußland?«

»Dort geboren, aufgewachsen in Paris, aber zu Hause nur Russisch gesprochen. Wenn der russische Markt mal für unsere Waren, auch Computer und Programme, geöffnet wird – ich hoffe, daß ich das noch erlebe. Apropos – hier zwei Umschläge, der eine für Ihre Arbeit und der andere mit Ihren Spesen, vorschußhalber. Und da kommt sie auch schon.«

Sie hatte ein leichtes Kleid an, blaßblau und -rot gestreift, große blaue Blüten darauf, hellblauer Gürtel und dunkelblaues Halstuch. Das Haar fiel dicht und ordentlich gekämmt vom linken Scheitel, wieder lag die Freundlichkeit im Blick, und als sie sich über das väterliche Getue von Monsieur Bulnakof freute, der sie und Georg wie seine beiden Kinder auf eine weite Reise schickte, versteckte sie den lachenden Mund hinter der Hand. Georg sah, daß ihre Beine ein bißchen kurz geraten waren, und fand, daß sie auf hübsche Weise erdnah dastand, irgendwie praktisch. Er war verliebt, wußte es nur noch nicht.

Sie nahmen ihren grünen 2 CV. Im Auto, das in der Sonne gestanden hatte, war es heiß, bis sie mit offenem Verdeck [27] und offenen Fenstern durch das Land fuhren. Es zog; hinter Lourmarin hielt Georg an, holte ein Halstuch aus seiner Reisetasche und band es um. Das Radio spielte ein verrücktes Potpourri, Themen von Vivaldi bis Wagner in swingendem und poppigem Sound und mit Übergängen, die kleine Kunstwerke öligen Kitschs waren. Sie wetteten um das jeweils nächste Thema, und am Ende schuldete sie ihm drei und er ihr fünf petits blancs. Dann hatten sie die Höhe vor Bonnieux erreicht, auf der Bergkuppe schimmerte das Städtchen in der Mittagssonne, sie kurvten durch die engen Straßen und fuhren durch die Weinberge hinunter zur Route Nationale. Sie redeten über Musik, über Filme, wo und wie sie wohnten, und beim Picknick erzählte er von Heidelberg, Karlsruhe und seinem Leben als Anwalt und mit Hanne. Er wunderte sich selbst über seine Offenheit; ihm war eigentümlich zutraulich, zugleich fröhlich zumute. Als sie weiterfuhren, duzten sie sich, und sie schüttete sich aus vor Lachen, daß ihr Name in Deutsch so hart und spitz klingt.

»Nein, Françoise, das kommt darauf an, wie du ihn aussprichst, der Schluß kann wie eine Explosion klingen oder wie ein Hauch«, er machte es vor, »und… und… ich würde dich auf deutsch auch gar nicht Franziska nennen.«

»Sondern?«

»Braunauge. Du hast die braunsten Augen, in die ich je gesehen habe, und auf französisch kann man daraus keinen Namen machen, aber auf deutsch, und den würde ich dir geben.«

Sie sah vor sich auf die Straße. »Ist das ein Kosewort?«

»Ein Wort für jemanden, den man mag.«

[28] Sie sah ihn ernst an. Das Haar fiel ihr ins Gesicht und verdeckte das eine Auge halb. »Ich fahre gerne mit dir über Land.«

Er bog auf die Autobahn ein, hielt an der Mautstation, , zog eine Gebührenkarte und fädelte sich in den Strom der Autos ein.

»Erzählst du mir eine Geschichte?«

Er erzählte ihr das Märchen von der Gänsemagd, die Reime sprach er ihr erst auf deutsch, dann auf französisch, er konnte sie auswendig. Als die falsche Braut ihr Urteil sprach: splitternackt ausziehen, in ein Faß mit spitzen Nägeln stecken und von zwei Pferden gaßauf, gaßab zu Tode schleifen, seufzte sie erschrocken. Sie ahnte, daß der alte König sagen würde: »Das bist du und hast dein eigen Urteil gefunden, und so soll dir geschehen.«

Bis Montélimar erzählte sie ihm ein polnisches Märchen, in dem ein Bauer den Teufel übers Ohr haut, dann schwiegen sie und hörten im Radio Mozarts Flötenquartette. Als Georg merkte, daß Françoise eingeschlafen war, stellte er die Musik leise und freute sich an der Bewegung des Autos, dem Fahrtwind im Gesicht, an Françoise an seiner Seite, ihrem leichten Schnarchen und zufriedenen Schmatzen, wenn ihr der Kopf zur Seite sank und sie ihn wieder aufrichtete und anlehnte.

In Lyon waren die Hotels besetzt, sie mußten zehn Kilometer in die Berge fahren und fanden auch dort nur ein Doppelzimmer. Françoise hatte Schmerzen im Nacken, und Georg massierte sie. Umziehen, in die Stadt fahren, essen und auf dem Empfang mit diesem und jenem stehen und reden – sie trennten sich, aber manchmal suchten sich ihre [29] Blicke durch den weiten Saal des Rathauses. Auf der Heimfahrt kam dichter Nebel auf, und Georg fuhr ganz langsam, tastete sich von Katzenauge zu Katzenauge. »Es ist schön, daß du neben mir sitzt.«

Dann lagen sie nebeneinander im Bett. Françoise erzählte von einer Freundin, die aus Liebeskummer nach Amerika gegangen war und sich dort sogleich unglücklich in einen Libanesen verliebt hatte. Als sie sich zum Nachttisch hinüberbeugte und das Licht ausmachte, legte er den Arm um ihre Taille. Im Dunkeln kuschelte sie sich an ihn. Er streichelte sie, und dann küßten sie sich und konnten gar nicht genug kriegen.

Als sie miteinander geschlafen hatten, weinte sie leise.

»Ist was, Braunauge?«

Sie schüttelte den Kopf, und er küßte ihr die Tränen vom Gesicht.

6

Sie kamen erst am Montag morgen nach Cadenet zurück. Am Freitag war die Tagung vorbei; sie fuhren bis St.Lattier, aßen dort im ›Lièvre Amoureux‹ und schliefen bis in den hellen Samstag, suchten im Michelinführer das ›Les Hospitaliers‹ in Le Poët-Laval, wieder ein Lokal mit einem Stern, und übernachteten dort auf Sonntag. Die letzte Nacht verbrachten sie unter freiem Himmel bei Gordes; sie mochten vom Picknick nicht aufbrechen, der Abendwind war lau, der Himmel voller Sterne, und in der Kühle vor Tagesanbruch schliefen sie aneinandergeschmiegt unter den [30] Decken, die Françoise im Auto dabei hatte. Von da waren es zwei Stunden Fahrt bis Cadenet; die Sonne schien und die Luft war klar und die Straße frei. In den kleinen Städtchen, durch die sie kamen, gingen an den Geschäften die Läden hoch, die Bars und Bäckereien hatten schon die Türen auf, und die Menschen trugen ihre Brote nach Hause. Georg saß am Steuer, Françoise’ Hand lag auf seinem Schenkel. Er schwieg lange und fragte sie dann: »Ziehst du zu mir?«

Er hatte einfach die Vorfreude auf seine Frage und ihre Antwort ausgekostet. Er wußte, daß sie ja sagen würde, daß zwischen ihnen alles stimmte. Überhaupt – das ganze Leben stimmte wieder.

Die Tagung war ein Erfolg gewesen; er war locker und kompetent aufgetreten, ihm waren gescheite Fragen und witzige Antworten eingefallen, er hatte nicht nur Bulnakofs, sondern auch seine eigene Karte verteilt, und ein auf Computer-Leasing und Software-Haftung spezialisierter Anwalt aus Montélimar wollte mit ihm wegen deutsch-französischer Fälle in Kontakt bleiben. Der Xerox-Vertreter hatte sich verblüfft gezeigt, als Georg von seiner TEXECT-Übersetzung erzählt hatte. »Das liegt doch schon seit einem Jahr übersetzt vor!« Aber sei’s drum, das war nicht sein Problem – in der Jackentasche fühlte Georg Bulnakofs Umschlag mit sechstausend Franc.

Und neben ihm saß Françoise. In der zweiten Nacht, der von Donnerstag auf Freitag, hatte er die Brücke seiner Vorsicht und Vorbehalte hinter sich verbrannt. Das war seine Brücke gewesen: Wenn’s nur die eine Nacht war oder nur die paar Tage sind – was soll’s, ich nehm’s mit, und ich paß auf, daß ich mich nicht verliebe und nicht verliere. In der [31] Nacht war er aufgewacht, saß auf dem Klo, stützte die Arme auf die Knie und den Kopf auf die Hände, dachte nach, war traurig. Dann kam Françoise, stellte sich neben ihn, er lehnte den Kopf an ihre nackte Hüfte, sie strich mit den Händen durch sein Haar und sagte »Georg« statt wie sonst »Georges«. Das klang holprig, aber es machte ihn zutraulich und zufrieden. Er hatte ihr erzählt, daß seine Eltern und seine Schwester ihn Georg gerufen hatten, auch noch die Freunde auf dem Gymnasium und an der Universität, bis nach dem Anwaltspraktikum in Frankreich Georges oder Schorsch daraus geworden war. Er hatte ihr überhaupt viel von seiner Kindheit, Schul- und Studienzeit, von der Ehe mit Steffi und den Jahren mit Hanne erzählt. Sie hatte immer weitergefragt.

Daß sie nicht viel von sich berichtete – sie ist halt eine Stille, dachte er. Es war auch nicht so, daß sie wenig geredet hätte. Sie beschrieb haarklein, wie sie von Paris nach Cadenet gezogen war, die Wohnung gefunden und eingerichtet hatte, sich in der neuen Umgebung zurechtfand, was sie an den Abenden und Wochenenden machte und wie sie anfing, Leute kennenzulernen. Auf seine Fragen beschrieb sie auch Bulnakofs Büro in Paris, seinen Herzinfarkt vor einem Jahr und seinen Entschluß, weniger und anderswo zu arbeiten. Er hatte sie dabeihaben wollen und ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte. »So ohne weiteres geht man nicht von Paris nach Cadenet, weißt du?« Wenn sie redete, dann meist schnell, quirlig und lustig, und Georg lachte viel. »Du lachst mich aus« – sie machte einen Schmollmund, legte die Arme um ihn und gab ihm einen Kuß.

[32] Sie waren früh in Le Poët-Laval gewesen, und als sie ihre Taschen ins Zimmer getragen hatten, konnte es ihnen nicht schnell genug gehen, bis sie zusammen im Bett waren. Mit einem Griff zog er Pullover, Hemd, T-Shirt über den Kopf, mit dem nächsten streifte er Hose, Unterhose, Socken ab. Sie liebten sich, schliefen ein, wachten auf, und im Küssen und Berühren wurde ihre Lust wieder wach. Sie kniete auf ihm, bewegte sich langsam und hielt inne, wenn seine Erregung stark wurde. Draußen dämmerte es, ihr Gesicht und ihr Körper schimmerten matt, und er konnte sich nicht satt sehen an ihr und mußte doch immer wieder die Augen schließen, weil ihn die Liebe und der Genuß so erfüllten. Obwohl sie da war, sehnte er sich nach ihr. »Wenn ich ein Kind von dir bekomme – nicht wahr, du bist dann bei der Geburt dabei?« Sie sah ihn ernst an. Er nickte, ihm liefen die Tränen, er konnte nicht sprechen.