Die Götter der Dona Gracia - Peter Prange - E-Book
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Die Götter der Dona Gracia E-Book

Peter Prange

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Beschreibung

Eine starke Frau zwischen Religionen, Liebe und Schuld - der Erfolgsroman vom Bestseller-Autor Peter Prange. Lissabon, 1528. Gracia Mendes ist Jüdin. Aber aus Furcht vor der Inquisition muss sie wie eine Christin leben, stets in der Gefahr, enttarnt zu werden. Gegen ihren Willen wird sie mit einem Mann verheiratet, der scheinbar skrupellos Profit aus der Not seiner jüdischen Glaubensbrüder schlägt. Doch bald wird der vermeintliche Verräter zur großen Liebe ihres Lebens. Unter der grausamen Gewaltherrschaft der Inquisition wird Gracia gezwungen, zusammen mit Tausenden Glaubensbrüdern und -schwestern quer über den Kontinent zu fliehen. Je verzweifelter sie versucht, ihrem Glauben treu zu bleiben, desto tiefer verstrickt sie sich in Schuld an den Menschen, die sie liebt. Doch darf man für die Liebe zu Gott die Liebe zu den Menschen opfern? Der Roman erschien bei Droemer unter dem Titel "Die Gottessucherin"

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Seitenzahl: 1049

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Peter Prange

Die Götter der Dona Gracia

Roman

Historischer Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoVorbemerkungProlog Drei Tauben123Erstes Buch Die Nidda123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839Zweites Buch Prüfungen123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748Drittes Buch Das Erbe1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344Viertes Buch La Senhora123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839Epilog Sabbat123Dichtung und WahrheitDanke

Für meine Schwester Cornelia,

die schon in der Jugend fand,

wonach andere ihr Leben lang suchen.

»Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse,

im Gegenteil: Es ist das Gute.«

Imre Kertész

Es gibt viele Namen für den Einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Christen glauben an die Dreieinigkeit und haben viele Bezeichnungen für ihren Herrn. Für Muslime gibt es den einen einzigen Gott, Allah. Juden aber ist es verboten, den Namen ihres Gottes auszusprechen. Sie benutzen Umschreibungen wie Adonai (der Herr) im Gebet oder Haschem (der Name) in anderen Zusammenhängen.

PrologDrei Tauben

Lissabon, 1496–1522

1

Das Verhängnis begann mit einem Freudentag.

Man schrieb den 28. Juli des Jahres 1496. Dom Manuel, König von Portugal, auch »der Glückliche« genannt, trat aus dem Zelt, das seine Männer im Schatten riesiger Korkeichen errichtet hatten. Voll ungeduldiger Erwartung schaute er über das ausgetrocknete Flussbett des Guadiana, der sein Königreich von den spanischen Landen trennte, in die Ferne. Flirrend vor Hitze erstreckte sich die Estremadura bis zum Horizont, von keiner Menschenseele belebt, öd und leer wie am ersten Tag der Schöpfung.

»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, krächzte Paco, der Hofnarr, »doch leider ist sie nicht der Weiber Art!«

Dom Manuel versetzte dem Zwerg einen Tritt. Seit dem frühen Morgen wartete er schon mit seinem Tross am Ufer des Grenzflusses auf die Ankunft seiner Braut, der spanischen Infantin. Angeblich war Isabella hässlich wie die Nacht und außerdem frömmer als ein ganzes Nonnenkloster. Trotzdem fieberte er ihr entgegen wie ein verliebter Barbier. Denn von ihrem Jawort hing seine Zukunft ab, die Verwirklichung seines großen Traums, die drei Königreiche der Iberischen Halbinsel zu vereinen – unter seiner portugiesischen Herrschaft.

Sollte sie es sich anders überlegt haben?

»Da kommen sie!«

Am Horizont erhob sich eine Staubwolke, die von Minute zu Minute größer wurde.

Dom Manuel wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das musste Isabella sein! Plötzlich fühlte er sich wie ein Bräutigam vor seiner Hochzeitsnacht.

»Musik!«

Trommeln wurden gerührt, Fanfaren zerschnitten die Luft. Hatte sich seine Beharrlichkeit also doch gelohnt! Monatelang hatte Isabella sich gegen die Ehe gesträubt, so dass der spanische König schon seine zweite Tochter in den Handel geben wollte. Doch mit dreizehn Jahren war Maria zu jung, um rasch genug einen Thronfolger zu gebären – ein unkalkulierbares Risiko. Dom Manuel hatte selbst nur deshalb den Thron erlangt, weil es seinem königlichen Bruder nicht gelungen war, vor seinem Tod einen Erben zu zeugen. Isabella hingegen hatte in erster Ehe bereits ihre Fruchtbarkeit bewiesen. Ihr Jawort war für die Zukunft seines Reiches so wichtig wie der Seeweg nach Indien.

»Was habe ich doch für närrische Augen!«, krächzte Paco. »Wo Majestäten die Kutsche einer Prinzessin sehen, erblicke ich nur eine Horde von Reitern!«

Noch bevor Dom Manuel dem Zwerg einen zweiten Tritt verpassen konnte, lichtete sich die Staubwolke. Tatsächlich – weit und breit war keine Kutsche zu sehen, nur sechs Spanier zu Pferde … Aus der Kavalkade, die gerade das Flussbett durchquerte, löste sich ein einzelner Reiter. Vor dem König parierte er seinen Schimmel, salutierte und zog eine Depesche aus dem Ärmel.

»Eine Botschaft für Eure Majestät!«

»Gib schon her!«

Ungeduldig erbrach Dom Manuel das Siegel. Der Brief war von seiner Braut. Kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, war sein Hochgefühl dahin.

»Ich hoffe, es sind gute Nachrichten«, sagte Padre Adolfo, sein Beichtvater, der ihm aus dem Zelt gefolgt war.

Dom Manuel ließ den Brief sinken. »Die Infantin stellt eine Bedingung.«

Padre Adolfo strich sich über die Tonsur und schielte nach dem Schreiben. »Und die lautet?«

»Ich soll es ihrem Vater gleichtun und die Juden aus Portugal jagen. Sie will mein Land nicht eher betreten, als bis es von allen Krummnasen gesäubert ist. Sollte ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen, will sie lieber sterben als mich zum Mann nehmen.«

Der Dominikaner bleckte seine gelben Zähne. »Nun, das scheint mir ein überaus frommer und lobenswerter Wunsch zu sein, zumal …«

»Fromm und lobenswert?«, fiel Dom Manuel ihm ins Wort.

»Ohne Juden wird das Land wie ein Netz ohne Fische sein. Was nützen mir die Schätze der neuen Welt, wenn mir die Händler fehlen, um sie in klingende Münze zu verwandeln?«

»Sind irdische Reichtümer höher zu schätzen als die Verbindung mit dem allerkatholischsten Königshaus? Bedenkt, Majestät, ein vereinigtes iberisches Großreich, zum höchsten Ruhme Gottes …«

Dom Manuel knirschte mit den Zähnen. Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Isabella war der festen Überzeugung, dass ihr erster Mann, ein portugiesischer Prinz, allein deshalb gestorben wäre, weil seine Regierung ebenjene Juden ins Land ließ, die ihr Vater aus Spanien vertrieben hatte. Damit nicht genug, betrachteten auch Dom Manuels Untertanen die »Krummnasen« als Feinde des christlichen Glaubens und hassten sie bis aufs Blut. Ein Scheitern seiner Ehe um ihretwillen wäre eine unvergessliche Schande.

Doch andererseits … Waren die Juden nicht die fleißigsten und geschicktesten Kaufleute und Handwerker im Land? Und verstieß es nicht gegen jede Staatsklugheit, so viele nützliche, fleißige und gewinnbringende Menschen zum Teufel zu jagen? Ihr Verlust wäre eine unheilbare Wunde für sein Reich. Dann würden die Juden, die ja schon das Rauschen eines Blattes erschreckte, wie ihr Lehrer Moses verkündet hatte, sich mit ihren Reichtümern und Fertigkeiten unter den Schutz der maurischen Fürsten begeben, um den verhassten Muslimen zu dienen, den mächtigsten Feinden der Christenheit.

Die Stimme des Narren riss Dom Manuel aus seinen Gedanken.

»Es gibt eine Lösung, Herr. Man muss nur das eine tun, indem man das andere nicht lässt.«

Verärgert fuhr der König herum. »Jetzt ist keine Zeit für Späße! Schweig still oder …«

Bevor der Stiefel ihn traf, kletterte Paco flink wie ein Affe den Stamm einer Eiche hinauf. Die Füße zuoberst, ließ er sich von einem Ast herabbaumeln, das Gesicht dem König zugewandt.

»Es gibt eine Möglichkeit, Herr, das Land von den Juden zu säubern, ohne dass Ihr die Juden verliert.«

»Wie soll das gehen, Narr?«

»Ja mehr noch«, fuhr Paco fort. »Ihr könnt sie ausrotten, mit Stumpf und Stiel, ohne dass sie Euch den Dienst versagen.«

»Willst du dich lustig machen, verfluchter Zwerg?«

Dom Manuel hob den Arm, doch Paco schaute ihn aus so ernsten Augen an, dass er in der Bewegung verharrte. Das Greisengesicht in tausend Falten gelegt, schüttelte der Zwerg den Kopf.

»Niemals würde ich wagen, Herr, Euch zum Narren zu halten. Ich möchte Euch nur helfen, den Wunsch Eurer allerkatholischsten Braut zu erfüllen, ohne dass Ihr Euch eine Blöße gebt.«

Mit seiner knochigen Hand winkte er den König zu sich heran.

»Wenn Seine Majestät mir Ihr gnädiges Ohr leihen möchte …«

2

Einer Feuersäule gleich, stand die Sonne am Himmel und sandte ihre Strahlen auf die Praça do Rossio herab. Von vier hohen Mauerwänden umgeben, herrschte auf dem menschenvollen, abgesperrten Platz eine Hitze wie in Nebukadnezars Feuerofen.

»Was werden sie mit uns tun?«

Philippa konnte kaum sprechen, so trocken war ihr Mund, und vor Schwäche wurde ihr immer wieder schwarz vor Augen.

»Ich weiß es nicht, mein Kind«, erwiderte ihre Mutter.

Philippa zupfte am Mantel ihres Vaters. »Werden sie uns zu den Eidechsen bringen?« Ihr Vater war der Rabbiner, er wusste alles. Aber ihr Vater hob nur die Arme. »Wir sind in der Hand des Haschem. Er wird über uns wachen. Gelobt sei sein Name!«

Es war am Tage des Pessachfestes. Alle im Reich verbliebenen Juden, zwanzigtausend an der Zahl, waren wie Schlachtvieh im Geviert der Praça do Rossio zusammengepfercht, dem größten Platz der Stadt, wo sonst Reitturniere und Zirkusspiele stattfanden. Philippa und ihre Eltern hatten in der Synagoge gebetet, als die Schergen des Königs in das Gotteshaus eingedrungen waren, gerade in dem Augenblick, als der Chasan, der Kantor, vor den Thoraschrein trat, um das Kaddisch als Schlussgebet zu sprechen. Sie waren direkt von der Synagoge zur Praça geschleppt worden, zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Gemeinde. Drei Tage war das her. Drei Tage unter freiem Himmel, bei sengender Hitze in denselben Kleidern, drei Tage ohne einen Bissen Brot und fast ohne einen Schluck Wasser. Niemand hatte mehr die Kraft zu stehen. Die Alten und Kranken hockten an den Mauern im Schatten, die anderen lagen im Staub, schutzlos der Sonne ausgesetzt. Es stank nach Schweiß und Kot und Urin.

»Ich habe solchen Durst«, flüsterte Philippa. »Ich kann gar nicht mehr schlucken.«

Ihre Mutter strich ihr über den Kopf. »Denk an eine Zitrone und stell dir vor, wie du in sie hineinbeißt.«

Während in der Nähe die Kirchenglocken von Santa Justa anschlugen, schloss Philippa die Augen. Tatsächlich, bei der Vorstellung sammelten sich ein paar Tropfen Speichel in ihrem Mund. Aber als sie ihn hinunterschluckte, spürte sie nur umso schlimmer die Leere in ihrem Magen.

»Ich habe Hunger.«

»Klage nicht, meine Tochter«, sagte ihr Vater. »Gott ist gerecht. Er wird für uns sorgen.«

»Warum haben wir dann nichts zu essen und zu trinken?«

»Denk an den Propheten Daniel. Mit Fasten hat er sich auf die Offenbarung vorbereitet.«

»Ich habe solche Angst, dass sie uns zu den Eidechsen bringen.«

Angeblich lagen in Belém schon die Schiffe für sie bereit. Niemand konnte wirklich sagen, wohin sie auslaufen sollten, doch die meisten Juden hatten dieselbe Befürchtung wie Philippa. Es war erst wenige Jahre her, da hatte der spanische König Hunderte ihrer Glaubensbrüder nach São Tomé gebracht, einer einsamen Insel mitten im Ozean, wo es nur Eidechsen gab – und giftige Schlangen.

»Hab keine Angst«, sagte die Mutter. »Vielleicht sind die Schiffe ja unsere Rettung. Hat Gott nicht Noah eine Arche bauen lassen, um ihn vor der Vernichtung zu bewahren?«

Philippa unterdrückte ihre Tränen. Ja, vielleicht würde man sie mit den Schiffen nur außer Landes bringen, nach Frankreich oder Deutschland oder Afrika in die Berberei, um die Bedingung der spanischen Infantin zu erfüllen.

»Da!«, rief Isaak, der Chasan, aus der Synagoge. »Da! Seht nur!« Kaum einen Steinwurf von Philippa entfernt, hatte sich, flankiert von Soldaten, ein Dominikaner in weißem Habit und schwarzer Cappa aufgebaut. Er hielt einen Schlauch Wasser und einen Laib Brot in die Höhe. Als er seine Stimme erhob, schallten seine Worte über den ganzen Platz.

»Kommt her zu mir alle, spricht Christus, der Herr, ihr alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!«

Die Juden starrten ihn mit leeren Augen an. Der Mönch behauptete, im Auftrag des Königs gekommen zu sein. In Dom Manuels Namen forderte er sie auf, sich zum Christentum zu bekennen, versprach ihnen das himmlische Paradies und irdische Ehren, wenn sie freiwillig die Taufe annehmen würden.

Noch während der Dominikaner redete, krochen die ersten Juden zögernd auf ihn zu, auf allen vieren im Staub, wie scheue, hungrige Tiere, die, angelockt vom Duft einer Speise, sich zugleich vor dessen Quelle zu fürchten schienen.

Obwohl Philippa erst zwölf Jahre alt war, verstand sie, was dort vor sich ging. Vor einem halben Jahr hatte der König von den Kanzeln der Kirchen Befehl erlassen, dass alle jüdischen Untertanen binnen sechs Monaten die Taufe empfangen oder Portugal verlassen müssten – bei Androhung der Todesstrafe. Scharen von Juden hatten daraufhin den katholischen Glauben angenommen, andere waren in fremde Länder geflohen. Zwanzigtausend Menschen aber, die Männer und Frauen auf der Praça, waren geblieben, um sowohl ihrer Heimat als auch ihrem Glauben treu zu bleiben. Jetzt war die Frist verstrichen, die Grenze geschlossen, und Hunger und Durst sollte sie zwingen, ihrem Gott abzuschwören.

»Jedem von euch, der sich heute taufen lässt«, rief der Dominikaner, »gewährt Dom Manuel die Rückkehr in seine alten Rechte. Jeder darf sein Handwerk ausüben, jeder Handel treiben wie zuvor. Wer aber Christus sein Herz verschließt und sich weigert, seinem Ruf zu folgen, der ist fortan ein Sklave des Königs, sein persönliches Eigentum, mit dem Dom Manuel verfahren wird, wie es Seiner königlichen Majestät beliebt.«

Der Mönch verstummte, um seine Rede wirken zu lassen.

»Sie wollen unsere Seelen«, murmelte Philippas Vater. »Oder sie schicken uns auf die Galeeren.«

Philippa hörte zwar die Worte, doch berührten die Laute nur ihr Ohr. Von Hunger und Durst gequält, flößte ihr diese Speisung Begierde und Abscheu zugleich ein. Immer mehr Juden scharten sich um den Mönch. Winselnd verlangten sie die Taufe, reckten die Arme in die Höhe nach den Brotlaiben und Wasserschläuchen, von denen die Soldaten all jenen zu essen und zu trinken gaben, die sich zu Jesus Christus als ihrem Erlöser bekannten.

Philippa drehte sich zu ihrem Vater um. Hunger und Durst waren stärker als ihr Abscheu.

»Bitte«, flüsterte sie, »sie geben uns Wasser und Brot.«

»Willst du deine Seele um ein Stück Brot und einen Schluck Wasser verkaufen? Sieh nur, wie sie kriechen im Staub – Würmer vor einer Krähe, der sie sich selbst zum Fraß anbieten.«

Ihr Vater hatte Tränen in den Augen, und seine Lippen zitterten, so sehr schmerzte es ihn, ihr die Bitte zu verwehren. Um ihren Blick nicht länger ertragen zu müssen, verhüllte er sein Gesicht mit dem Mantel.

Die Mutter erkannte Philippas Not. »Ist die Berührung mit ein paar Tropfen Weihwasser wirklich dieses Elend wert?«, fragte sie ihren Mann. »Bitte, habt Erbarmen mit Eurer Tochter!«

»Schweig still, Weib«, erwiderte der Vater in seiner Verhüllung, »oder hast du vergessen, dass wir aus dem Hause David stammen?«

Voller Neid sah Philippa zu, wie die anderen sich am Wasser und Brot der Soldaten labten. Sogar Isaak, der Chasan, war unter ihnen – auch er hatte die Taufe begehrt. Mit verdrehten Augen trank er aus einem Wasserschlauch, während seine Frau Judith gierig ihre Zähne in ein Stück Brot hieb.

Philippa war verzweifelt. Was sollte sie tun? Sollte sie ihrem Vater den Gehorsam verweigern? Oder sollte sie hier verdursten und verhungern?

Da ertönte in ihrem Rücken eine hohe Stimme.

»Schma Jisrael!«

Ein Jude hatte sich aus dem Staub erhoben, ein dunkelhäutiger Morgenländer, den Philippa noch nie gesehen hatte. Der kleinwüchsige Mensch war vom Fasten mager wie ein Skelett. Doch seine Stimme klang so hell und rein wie die eines Sängers.

»Schma Jisrael!«, rief er noch einmal. »Höre, Volk Israel! Im Traum sind mir drei Tauben erschienen. Eine weiße, eine grüne und eine schwarze. Wollt ihr wissen, was sie bedeuten?«

Wie ein Gesang verhallten die Worte in der flirrenden Luft. Die Menschen auf dem Platz hoben murmelnd die Köpfe.

»Ich will es euch sagen«, fuhr der Orientale fort, »die weiße Taube – das sind die treu gebliebenen Juden. Die grüne Taube – das sind die Juden, die im Herzen schwanken. Die schwarze Taube aber – das sind die Juden, die sich vom Glauben ihrer Väter abgewandt haben.«

Er machte eine Pause. Philippa lief ein Schauer über den Rücken.

»Hoch am Himmel zogen die drei Tauben ihre Bahn. Doch gleich traten mächtige Schützen auf, mit Pfeil und Bogen, und streckten sie alle drei zu Boden.«

Ein Klagelaut aus Hunderten von Seelen antwortete dem Orientalen. Der hob seine Arme.

»Aber ich habe noch mehr gesehen. Zwei Berge habe ich gesehen und eine Königin in einem Gewand so weiß wie Schnee. Der eine Berg war Edom, das Reich der Christen, der andere Berg war Israel, das Reich der Juden. Die Königin aber war Esther. Sie hielt eine Schriftrolle in der Hand, in welcher das Schicksal der beiden Reiche aufgezeichnet war.«

Ein Jude nach dem anderen erhob sich aus dem Staub. Auch Philippa stand auf, um den Morgenländer besser zu hören.

»Schma Jisrael! Siebzig Wochen Strafe sind über das Volk Israel verhängt, zur Verbüßung seiner Schuld, so wurde mir offenbart. Dann wird dem Frevel ein Ende gemacht, und die Sünde ist abgetan, und der Messias wird kommen, um die Edomiter zu vernichten. Eine Wasserflut wird sich über ihr Reich ergießen, und der Berg Edom wird in einem gewaltigen Beben der Erde zerbersten. Das Volk Israel aber wird sich erheben, und die weiße Taube wird sich wieder zum Himmel aufschwingen, und die grüne Taube wird die weiße Farbe annehmen.«

Wie einem Erlöser lauschte Philippa dem Mann, zusammen mit den anderen Juden. Die Worte perlten von seinen Lippen auf sie herab wie Regentropfen in der Dürre, wie Manna in der Wüste. So musste es gewesen sein, als Moses vom Berg Sinai gekommen war, um zu seinem Volk Israel zu sprechen.

»Und noch mehr hat mir Esther im Traum geweissagt. Eine Königin wie sie, eine zweite Esther, wird aus eurer Mitte geboren, um euch aus Unterdrückung und Not zu führen, zurück in eure Heimat, zurück zum Ursprung unseres Volkes.«

Ein Gurren erfüllte die Luft, und der Orientale zeigte in die Höhe. Alle Augenpaare folgten seinem Finger.

»Sehet die Tauben am Himmel! Sie werden euch den Weg weisen, den Weg ins Gelobte Land. Dorthin werdet ihr fahren auf den Schiffen eurer Peiniger, in das Land, in dem die Nachkommen Moses’ noch heute leben wie zu unserer Urväter Zeiten, in Erfüllung der heiligen Gebote. Unter sie sollt ihr euch mischen, unter Gottes wahre Kinder, an den Ufern des Flusses Sabbaton, dessen Fluten nur an den Werktagen strömen, am siebten Tage aber stillstehen, während die Mosessöhne ihre Gebete verrichten, um den Sabbat zu heiligen. Dort wird sich euch, am Ende eurer Reise, der Garten Eden auftun, und ihr werdet den Duft von Dattelpalmen und Orangenbäumen und Pinienhainen atmen. Dann wird ewige Gerechtigkeit herrschen, und das Reich des Messias wird sich ausbreiten bis ans Ende der Welt, und alle Völker der Erde werden seine Regierung annehmen und den Gott Israels als den einzigen wahren und Frieden spendenden Gott anerkennen.«

Als der Morgenländer verstummte, war es, als hielte Gott selbst den Atem an. Kein Laut, kein Hauch regte sich auf dem Platz. Philippa blickte zu ihrem Vater. Die Hände zum Himmel erhoben, murmelte er ein Gebet, die vor Glück nassen Augen auf den Orientalen gerichtet.

»Ist das der Messias?«, fragte Philippa.

Noch bevor ihr Vater antworten konnte, gellte ein Ruf über den Platz.

»Misericordia!«

Philippa fuhr herum. Der Dominikaner hatte den Ruf ausgestoßen, und gleich darauf fielen Dutzende von Stimmen in den Schlachtruf ein, von allen Seiten des Platzes.

»Misericordia! Misericordia!«

Im selben Moment brach die Hölle los. Bewaffnete Soldaten, zu Fuß und zu Pferde, preschten zwischen die Menschen. Wahllos griffen sie einzelne aus der Menge heraus, schlugen und hieben auf sie ein, Greise und Kinder, Männer und Frauen ohne Unterschied, trieben sie mit Piken und Schwertern vor sich her, in die Richtung von Santa Justa. An Stricken und Kleidern, an Haaren und Bärten zogen und zerrten sie ihre Opfer die Stufen der Kirche hinauf, um mit ihnen im Dunkel des Gotteshauses zu verschwinden.

Philippa war starr vor Entsetzen. »Was haben sie vor?«, flüsterte sie. »Wollen sie uns – töten?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »schlimmer! Sie wollen uns taufen!« Mit der Faust schlug er sich gegen Brust und Stirn, bevor er die Augen zum Himmel hob, um zu Gott zu beten. »Wer vermag Deinem Zorn zu entkommen, Gott, wenn Dein Volk so viel Schuld auf sich geladen hat? Möge sich an uns erfüllen, was in der Schrift geschrieben steht: ›Denn der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker von einem Ende der Erde bis ans andere, und du wirst dort anderen Göttern dienen, die du nicht kennst noch deine Väter.‹«

Philippa flüchtete sich in die Arme ihrer Mutter, und gleichzeitig erhob sich ein Heulen und Zähneknirschen über dem Platz, wie kein Ohr es je vernommen hatte. Menschen, die sich mit all ihren Kräften aneinanderklammerten, um nicht getrennt zu werden, wurden mit Peitschenhieben auseinandergejagt. Kinder wurden ihren Müttern entrissen, Frauen ihren Männern. Bald war die Praça do Rossio ein wogendes Meer der Verzweiflung. Wie Wahnsinnige irrten Väter umher, auf der Suche nach ihren Angehörigen, Greisinnen setzten sich wie Löwinnen zur Wehr, um ihre Enkel vor dem Zugriff der Soldaten zu retten.

Unbeirrt fuhr Philippas Vater in seinem Gebet fort, um Gottes Strafgericht zu preisen. »›Dort wird der Herr dir ein bebendes Herz geben und erlöschende Augen und eine verzagende Seele, und dein Leben wird immerdar in Gefahr schweben. Tag und Nacht wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. Morgens wirst du sagen: Ach, dass es Abend wäre!, und abends wirst du sagen: Ach, dass es Morgen wäre.‹«

Verzweifelt blickte Philippa sich um. Wo war der Messias? Der fremde Erlöser, der eben noch die Befreiung verheißen hatte?

Als sie den Morgenländer entdeckte, drängte ein Schrei in ihre Kehle und stieg mit solcher Macht in ihr auf, als wollte er ihr die Brust zerreißen, und blieb ihr doch im Halse stecken. Eine Axt, blinkender Stahl in der Sonne, fuhr auf das Haupt des Orientalen nieder und spaltete seinen Schädel in zwei Teile.

»›Also spricht der Herr: Man wird sie hinstreuen vor die Sonne, den Mond und das ganze Himmelsheer … Sie sollen weder aufgesammelt noch begraben werden. Dünger auf dem Acker sollen sie sein. Und besser als das Leben wäre der Tod auch für die anderen, die übrig geblieben sind …‹«

Obwohl Philippa vor Angst kaum einen Gedanken fassen konnte, begriff sie den Zweck des blutigen Schauspiels so deutlich, als wäre er mit Flammen in den Himmel geschrieben: Kein Jude sollte diesen Tag überleben – entweder er wurde als Christ durch die Taufe wiedergeboren, oder aber er ging in den Tod.

»›Wie durch einen Ostwind will ich sie zerstreuen vor ihren Feinden. Ich aber zeige ihnen den Rücken und nicht das Gesicht am Tag ihres Verderbens …‹«

Plötzlich verstummte Philippas Vater in seinem Gebet. Wie eine der zehn Plagen schwärmten überall Mönche und Priester aus. Von allen Ecken und Enden des Platzes kreisten sie ihre Opfer ein. Bewaffnet mit Eimern und Kübeln, gossen sie Wasser über die Köpfe der Juden, die kreischend auseinanderstoben. Wenn nur ein Tropfen ihren Leib berührte, wäre es um ihre Seele geschehen.

»Ich taufe euch im Namen des allmächtigen Gottes – des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Amen!«

Panik überfiel Philippa, und mit ihrer ganzen Kraft riss sie sich aus den Armen ihrer Mutter.

Da aber verdunkelte sich der Himmel vor ihren Augen. Als wäre eine finstere Wolke vor die Sonnenscheibe getreten, hatte ihr Vater sich über sie gebeugt, die Ärmel seines Mantels zu beiden Seiten erhoben, zwei schützende Flügel. Wie ein Todesengel breitete er den Mantel um sie aus, hüllte sie ein, um sie vor der Befleckung durch die Taufe zu bewahren. Zärtlich lächelte er ihr zu, doch aus seinen Augen rannen Tränen.

»Nein!«, schrie Philippas Mutter. »Ich flehe Euch an! Im Namen des Herrn!«

Aber ihr Mann stieß sie zur Seite. »Still, Weib! Ich muss es tun! Um ihrer Seele willen!«

Philippa sah in die weinenden Augen ihres Vaters, während sie seine Hände an ihrer Kehle spürte. Wie ein eisernes Joch schlossen sie sich um ihren Hals.

»Verzeih mir, meine Tochter«, sagte er und drückte zu.

Philippa schwanden die Sinne. Während sie in Ohnmacht fiel, unfähig, sich zu rühren, suchten ihre Gedanken in der Finsternis das Licht, losgelöst von ihrem Körper. Und irgendwann, nach einem Wimpernschlag, der eine Ewigkeit währte, kam die Erkenntnis über sie, hell und klar. Es war der Tag des Pessachfestes, an dem die Juden Opfertiere schlachteten, um den Auszug aus Ägypten zu feiern, die Befreiung aus der Sklaverei. Darum musste ihr Vater sie töten, als sein Opferlamm, um Gottes Willen zu erfüllen …

Auf einmal strömte das Leben in ihren Körper zurück, und mit Händen und Füßen wehrte sie sich gegen die tödliche Umarmung.

»Nein, nein! Ich will nicht sterben!«

Als sie die Augen aufschlug, sah sie im Rücken ihres Vaters einen Soldaten. Groß wie ein Riese wuchs er in den Himmel empor.

»Vater!«, schrie sie. »Hinter Euch!«

Zu spät. Eine Klinge blitzte auf, ein Schwirren war in der Luft, dann fuhr das Schwert zwischen die Mantelflügel, das eiserne Joch löste sich von Philippas Hals, und ihr Vater sank leblos zu Boden.

Gleich darauf ergoss sich ein Schwall Wasser über Philippa und ihre Mutter.

»Ich taufe euch im Namen des allmächtigen Gottes – des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Amen!«

Noch lange Stunden wurden die Juden gegen ihren Willen getauft, ein Unheil so groß und schrecklich wie einst die Zerstörung des Tempels von Jerusalem. In der Verzweiflung, auf ewig getrennt zu werden, taten es viele Eltern Philippas Vater gleich, erdrosselten ihre Kinder und legten dann Hand an sich selbst. Lieber wollten sie den Tod erleiden, als mit ihren Peinigern dermaleinst dasselbe Himmelreich zu teilen. Manche Juden stürzten sich, den Namen des Herrn auf den Lippen, in die Schwerter ihrer Schlächter, andere rannten mit den Köpfen gegen steinerne Mauern an, um sich den Schädel zu zertrümmern, manche entleibten sich noch in den Kirchen, bevor man sie vor das Taufbecken zerren und in das gefürchtete Wasser tauchen konnte. Ihre Leichen wurden von den Christen im Angesicht der überlebenden Juden verbrannt, als sichtbares Zeichen für die Allmacht und Größe des barmherzigen Gottes, vor allem aber zur Warnung all jener, die bereit waren, ihren Glaubensbrüdern in den Tod zu folgen. Denn kein Jude, dessen Leichnam verbrannt wird, wird der Auferstehung der Toten beim Kommen des Messias teilhaftig sein.

Nicht eher sollte das Gemetzel enden, als bis die Sonne im Meer versank und schwarze Nacht sich über die Praça do Rossio senkte. Dann endlich tauchten die Soldaten ihre Schwerter in die Eimer und Kübel mit geweihtem Wasser, um die Klingen vom Blut der Opfer zu reinigen, und steckten sie zurück in die Scheiden. Und wahrlich, am Abend dieses Tages gab es keinen Juden mehr in der Stadt Lissabon. Den Getauften aber, die das Massaker überlebten, wurden christliche Namen gegeben, damit der dreifaltige Gott sie in die Schar seiner Gläubigen aufnehmen konnte und sie fortan in der Gnade Jesu Christi lebten, als fromme Katholiken.

3

»Von diesem Tag an, dem Pessachfest des Jahres 1497, sollte unser Leben nie wieder so sein wie zuvor. Kein Jude im Land durfte sich mehr zu seinem Glauben bekennen.«

Das erklärte Philippa, das Mädchen von einst und nun selbst Mutter der zwölfjährigen Gracia – fünfundzwanzig Jahre nach der gewaltsamen Taufe der zwanzigtausend auf der Praça do Rossio.

»Nie darfst du vergessen, was damals geschah.« Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter zwischen die Hände und blickte sie an.

»Hörst du, mein Kind? Niemals!«

Eine lange Weile blieb Gracia stumm, aufgewühlt vom Bericht ihrer Mutter. Endlich hatte sie das Geheimnis erfahren, das Geheimnis ihres Volkes.

Draußen schlug die Glocke von Santa Justa zur achten Abendstunde. Längst war die Sonne hinter dem Dach der Kirche untergegangen. Wie ein graues Tuch senkte sich die Dämmerung über die Stadt.

»Warum hast du mir nie davon erzählt?«, fragte Gracia schließlich.

»Dein Vater wollte es nicht. Er glaubt, es würde dir schaden. Aber ich meine, du hast das Recht, die Wahrheit zu wissen. Und heute ist der richtige Tag, um alles zu erfahren.«

Obwohl Gracias Wangen noch nass waren von den Tränen, die sie beim Bericht ihrer Mutter vergossen hatte, füllte ihre Seele sich mit Stolz. Morgen war der erste Sabbat nach Vollendung ihres zwölften Lebensjahres. Damit galt sie als erwachsene Frau, in der Gemeinde und vor Gott.

»Zeit fürs Abendbrot.« Ihre Mutter erhob sich von der Erkerbank, auf der sie gesessen hatten, und ging in den angrenzenden Küchenraum, um das Feuer zu schüren. »Gleich kommt dein Vater aus dem Kontor. Du kannst schon mal den Tisch decken.« Doch Gracia rührte sich nicht. So viele Fragen bedrängten ihre Seele, Dinge, die sie nicht verstand. Warum hatten die Juden sich nicht zur Wehr gesetzt? Sie waren zwanzigtausend gewesen, viel mehr als ihre Peiniger, die Edomiter … Wer war der Morgenländer gewesen, der zu den Juden gesprochen hatte? Hatte er den Sabbaton mit eigenen Augen gesehen, jenen Fluss, dessen Fluten nur an den Werktagen strömten, am Sabbat jedoch stille standen? Gracia sah das Bild von dem paradiesischen Garten so deutlich vor sich, dass sie den Duft der Orangen und Pinien und Datteln zu riechen glaubte … Aber gab es diesen Garten Eden wirklich? Und wer sollte die neue Esther sein?

Ihre Mutter zündete die Kerzen auf einem Leuchter an. Der flackernde Schein brach sich in den glänzenden Kacheln an den Wänden. Sie öffnete den Geschirrschrank, um einen Stapel Essbretter daraus hervorzuholen.

»Willst du mir nicht helfen?«

»Sofort«, antwortete Gracia. »Aber vorher musst du mir noch etwas sagen.« Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Was für eine Taube bin ich?«

»Ist das das Einzige, wonach du fragst?«

»Ich will wissen, was ich bin. Eine Jüdin oder Christin? Ich bin doch getauft, genau wie du. Kann ich trotzdem eine weiße Taube sein?«

Ihre Mutter stellte die Essbretter auf den Tisch und gab ihr einen Kuss. »Gott straft keinen Menschen für einen Glauben, der ihm aufgezwungen wurde. Sie haben uns zwar mit ihrem Wasser getauft, aber nur unsere Körper wurden Christen. Unsere Seelen sind jüdisch geblieben.«

Gracia schüttelte den Kopf. »Weshalb musste Großvater dann sterben? Wie konnte Gott das zulassen? Großvater war doch bereit, alles zu tun, um dem Willen des Haschem zu folgen. Wie Abraham, als Gott von ihm verlangte, seinen Sohn zu opfern.« Mit einem Seufzer hob ihre Mutter die Arme. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Vielleicht war es ein Zeichen, dass Gott uns nicht verlassen hatte. Wen Gott straft, den liebt er.«

Die Antwort konnte Gracia begreifen – alle Juden dachten so. Aber wenn ihre Mutter so den Tod ihres Großvaters erklärte, wurde dadurch eine andere Frage nur umso dringlicher.

»Und warum habt ihr zwei dann überlebt, Großmutter und du?«, fragte sie leise.

Ihre Mutter versuchte nicht, ihre Ratlosigkeit zu verbergen.

»Auch das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, es war Gottes Fügung. Allein seiner Gnade verdanken wir unser Leben.«

»Aber wozu?«, wollte Gracia wissen. »Wenn so viele Juden sterben mussten, um Gott zu gefallen – wäre es da nicht besser gewesen, mit ihnen zu sterben? Ich glaube, wenn Königin Esther bei euch gewesen wäre, sie wäre wie Großvater in den Tod gegangen.«

Eine lange Weile dachte ihre Mutter nach, bevor sie eine Antwort gab. Doch als sie endlich zu sprechen anfing, sog Gracia jedes Wort, jede Silbe mit ihrem Herzen auf, um es für immer darin zu bewahren. Als würde sie ahnen, dass sich durch diese Antwort ihr ganzes künftiges Leben entscheiden sollte – ihr eigenes Leben und das Leben Tausender und Abertausender jüdischer Männer und Frauen und Kinder.

»Bist du dir wirklich so sicher?«, erwiderte ihre Mutter. »Du und ich – wir stammen von König David ab, wir sind mit Königin Esther verwandt. Vielleicht hat Gott uns darum auserwählt, am Leben zu bleiben. Irgendjemand musste doch überleben, damit die Prophezeiung sich erfüllt, irgendwann, die Prophezeiung vom Gelobten Land …«

Erstes BuchDie Nidda

Lissabon, 1528–1536

1

Ein azurblauer Himmel spannte sich über den Burgberg von Lissabon, auf dessen Rücken sich majestätisch das Castelo de São Jorge erhob, seit Jahrhunderten Sitz der portugiesischen Könige. Schneeweiße Häuser säumten im Schatten der Burg die schwindelerregend steilen Treppenstraßen, die von den Quartieren der Oberstadt hinunter zur Alfama führten, dem ältesten Viertel der Baixa mit seinem unüberschaubaren Gewirr verwinkelter Gassen und Gässchen, das sich wie ein zuckendes und atmendes Menschennest an das rechte Ufer des Tejo schmiegte.

Folgte man von der Unterstadt aus dem Lauf des mächtigen Flusses, der an manchen Stellen bis zu sechstausend Fuß Breite einnahm, so gelangte man nach reichlich fünf Meilen in den Vorort Belém, wo sich der Hauptankerplatz der Großsegler befand, der Viermastbarken und Sechsmastschoner. Dieser Hafen am äußersten Ende des Abendlandes, auf achtunddreißig Grad nördlicher Breite und acht Grad westlicher Länge gelegen, war das Tor zur Neuen Welt. Von hier aus waren die kühnsten und bedeutendsten Seefahrer der jüngsten Vergangenheit aufgebrochen, Vasco da Gama und Cristoforo Colombo, um den Seeweg nach Indien und den Kontinent Amerika zu entdecken.

Auf keinem Fleck der Erde herrschte größere Betriebsamkeit als hier, unter dem Turm von Belém. Vom Aufgang der Sonne bis zum Einbruch der Nacht mischte sich an den Hafenkais das eintönige Kreischen der Möwen mit dem babylonischen Geschrei der Kaufleute und Makler. Auf Portugiesisch und Spanisch, auf Deutsch und Italienisch, auf Holländisch und Französisch riefen sie einander Angebote und Preise zu, während die Schauerleute den Austausch der Waren besorgten. Schätze aus aller Herren Länder schleppten sie von den vertäuten Segelschiffen an Land: Kisten mit Gold und Silber und Edelsteinen, Ballen von kostbarer Seide und Baumwollstoffen, Fässer mit Indigo-Farben und chinesischem Porzellan, Säcke voller exotisch duftender Gewürze und Kräuter. Und auf all das emsige Treiben schien die Sonne mit einem so strahlenden Glanz, als wollte der Himmel selbst diesen Ort und seine Geschäftigkeit segnen.

Ja, der Segen des einen und allmächtigen Gottes lag tatsächlich über dem Land. Nach der Zwangsbekehrung der Juden auf der Praça do Rossio, mit der König Dom Manuel die Bedingung seiner Braut Isabella zur Einwilligung in die Ehe erfüllte, um durch die Vermählung mit der spanischen Infantin seinen Traum von einem vereinten iberischen Großreich zu verwirklichen, hatte er ein Dekret der Milde erlassen. Darin erteilte er allen gewaltsam getauften Juden in seinem Reich einen Gnadenerlass und bestimmte eine Frist von zweimal zehn Jahren, innerhalb derer sie weder der »Juderei« angezeigt noch vor das Glaubensgericht der Inquisition gezerrt werden durften, um ausreichend Zeit zu haben, sich ihrer alten Glaubensgewohnheiten zu entledigen und in ihren neuen Glauben hineinzufinden. Nach außen hatten diese Neuchristen jüdischer Herkunft, auch »Conversos« oder »Marranen« genannt, alle Pflichten des katholischen Bekenntnisses zu erfüllen, im Kreise ihrer Familien aber lebten sie weiter nach dem Gesetz ihrer Väter. Sogar eine Synagoge konnten sie, gleichsam im Schatten der zweihundert Kirchen der Stadt, ungestraft betreiben, wo sie im Gebet zusammenkamen, um mit Zerknirschung ihren Gott für die Sünde des Götzendiensts, den sie zur öffentlichen Bekundung ihrer Bekehrung an allen katholischen Fest- und Feiertagen in den christlichen Gotteshäusern leisten mussten, um Verzeihung zu bitten. Nur außer Landes durften sie nicht reisen ohne ausdrückliche Bewilligung des Königs.

Auf diese Weise sicherte sich Dom Manuel die Gunst seiner spanischen Gemahlin und band zugleich jene Teile der Bevölkerung an sich, denen sein Königreich einen bis dahin ungekannten Wohlstand verdankte: Ja, er hatte das Land von den Juden gesäubert, sie ausgerottet mit Stumpf und Stiel, ohne dass sie ihm den Dienst versagten. Abgesehen von einigen blutigen Auswüchsen, in denen sich der in tiefem Neid verwurzelte Hass der altchristlichen Bevölkerung auf die rührigen und betriebsamen Scheinchristen entlud – etwa nach einem Erdbeben oder einer Hungersnot, für die man die fluchbeladenen Juden wie für alle Naturkatastrophen verantwortlich machte –, erwies sich dieses Verhältnis für beide Seiten als so vorteilhaft, dass es auch Dom Manuels Nachfolger, König João III., bei seiner Thronbesteigung im Jahre 1521 übernahm, um es auf unbestimmte Zeit hin fortzusetzen, obwohl der Traum vom vereinten iberischen Großreich längst geplatzt war.

Nur einige wenige Juden der Stadt wollten sich nicht mit der heuchlerischen Doppelexistenz abfinden, die die neuen Zeiten ihnen abverlangten. Sie sehnten sich nach einem Leben, in dem sie sich frei und ohne Lüge zu ihrem wahren und wirklichen Glauben bekennen konnten. Zu ihnen gehörte auch Gracia Nasi, Beatrice de Luna mit christlichem Namen, die mit ihren nunmehr achtzehn Jahren von ihrem Vater und der jüdischen Gemeinde dazu ausersehen war, mit dem Kaufmann Francisco Mendes, einem der reichsten und angesehensten Männer Lissabons, den Bund der Ehe einzugehen.

2

»Nein!«, rief Gracia. »Ich will diesen Mann nicht heiraten! Er ist mir zuwider! Ich verachte ihn! Das wisst Ihr ganz genau! Außerdem ist er doppelt so alt wie ich!«

»Die Gemeinde und ich haben es so beschlossen«, erwiderte ihr Vater. »Es ist Gottes Wille! Also wird es geschehen!«

»Gottes Wille? Ihr habt meine Seele an einen Verräter verschachert!«

»Auf dem Sterbebett musste ich deiner Mutter versprechen, einen guten Ehemann für dich zu finden, und wenn morgen die Sonne untergeht, habe ich mein Versprechen erfüllt. Francisco Mendes wird immer für dich sorgen. Die Ketubba, die wir aufgesetzt haben, ist der vorteilhafteste Ehevertrag, der je für eine Braut ausgehandelt wurde.«

»Vater hat recht«, sagte Brianda, Gracias jüngere Schwester.

»Sieh nur die vielen Geschenke. Alle Mädchen in der Stadt beneiden dich.«

Es war der letzte Tag der »Mastwoche«, der Woche, die der Hochzeit vorausging. Seit sieben Tagen wurde Gracia von den Gemeindefrauen mit Kuchen und Naschwerk gefüttert, und am Nachmittag hatten die Vornehmsten der Gemeinde unter Führung von Rabbi Soncino und mit Hilfe von einem halben Dutzend Dienern die Geschenke des Bräutigams gebracht. Auf sämtlichen Tischen und Stühlen stapelten sich nun all die Gürtel und Schleier und Kränze, die Francisco Mendes geschickt hatte.

Gracia wandte den Blick von ihren Reichtümern ab. Sie ekelten sie an.

»Wenn meine Mutter noch am Leben wäre – niemals hätte sie ihren Segen zu dieser Hochzeit gegeben! Mein Großvater stammte von König David ab! Er ist für seinen Glauben in den Tod gegangen!«

»Was willst du damit sagen?«, erwiderte ihr Vater. »Sollen deshalb alle Juden freiwillig sterben? Aus dir redet nicht König David, sondern der Hochmut der Jugend!«

»Nur weil ich Gott dienen will? Und wenn Ihr es zehnmal Hochmut nennt – lieber würde ich sterben, als meinen Glauben zu verraten wie Francisco Mendes. Dieser Heuchler schimpft sich Jude und ist doch ein Freund des Königs. Er geht bei Hof ein und aus, nur um mit den Edomitern unbehelligt seine widerwärtigen Geschäfte zu machen. Dabei nennen sie uns Marranen – Schweine!«

Mit Genugtuung beobachtete Gracia, wie ihr Vater bei dem Wort zusammenzuckte. Doch es dauerte nur einen Wimpernschlag lang, und er hatte sich wieder gefasst.

»Francisco Mendes ist kein Heuchler, sondern klug. Er passt sich den Verhältnissen an, wie jeder vernünftige Mann. Wir müssen den Schein wahren. Das ist unsere einzige Möglichkeit, zu überleben.«

»Den Schein wahren – wie ich das hasse! Unser halbes Leben verbringen wir damit. Wir besuchen ihre Messen, wir gehen zur Beichte, wir fasten an Karfreitag und bitten Gott am Jom Kippur um die Entbindung von den Gelübden. Aber wenn wir den Sabbat heiligen und nicht arbeiten wollen, müssen wir so tun, als wären wir krank! Ihr habt sogar einen Priester gerufen, als Eure Frau im Sterben lag, nur damit kein Christ behaupten konnte, Mutter wäre als Jüdin gestorben!«

Gracia hatte gehofft, dass ihr Vater erneut zusammenzucken würde, doch er hielt ihrem Blick stand.

»Hast du einen Grund, dich zu beklagen?«, fragte er. »Ausgerechnet du? Nur weil wir so leben, wie wir leben, und es stets vermieden haben, Verdacht auf uns zu lenken, konntest du ohne Sorgen aufwachsen. Ja, die Christen warten nur auf eine Gelegenheit, uns Juden etwas anzutun, aber kein Mensch hat dir je ein Haar gekrümmt. Im Gegenteil. Du hast gelebt wie eine Prinzessin. Du hattest immer genug zu essen und besitzt einen Schrank voller Kleider. Die besten Lehrer von Lissabon haben dich unterrichtet. Du kannst lesen und schreiben und sprichst außer Portugiesisch noch Hebräisch und Französisch.«

»Ihr habt Latein und Italienisch vergessen!«

»Und wem hast du das alles zu verdanken? Deinem Großvater aus dem Hause David, der sich freiwillig hat abschlachten lassen, für nichts und wieder nichts? Oder Männern wie Francisco Mendes, die klug und umsichtig gehandelt haben?«

Gracia war so wütend, dass sie kein Wort hervorbrachte. Ach, was hätte sie darum gegeben, wenn ihre Mutter und ihr Großvater noch da gewesen wären. Die beiden hätten sie verstanden und unterstützt … Aber so? Sie wusste, sie war nur ein Mädchen, dessen Meinung nichts galt, und was immer sie vorbringen würde, es würde nichts nützen. Wenn ihr Vater und die Gemeinde beschlossen hatten, dass sie Francisco Mendes heiraten sollte, dann würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als zu gehorchen. Trotzdem: Musste sie sich willenlos in ihr Schicksal fügen? Nur um in der Lüge ein bequemes Leben zu führen? Wenn ihr Vater das glaubte, dann hatte er sich verrechnet! Eine Waffe besaß auch sie, und sie war bereit, diese Waffe zu nutzen.

»Gott sei gelobt, endlich nimmst du Vernunft an«, sagte ihr Vater, der ihr Schweigen als Einverständnis deutete. Und bevor sie etwas einwenden konnte, drehte er sich zu Brianda um: »Bring deine Schwester zur Mikwa, gleich wird es Nacht. Es ist höchste Zeit für das Tauchbad.«

3

Zur selben Stunde betrat am anderen Ende Europas, viele tausend Meilen von Lissabon entfernt, der Dominikanerpater Cornelius Scheppering im schwarz-weißen Habit seiner Ordensgemeinschaft die Zelle seines Glaubensgenerals. Obwohl er schon an die vierzig Jahre alt war, strahlte sein blasses, längliches Gesicht mit den quellklaren Augen und den rosafarbenen Wangen sowie dem blonden, engelsgleich gelockten Haar, das rings um seine Tonsur spross, die Unschuld eines Kindes aus. Drei Wochen war er über Land gefahren, auf holprigen Straßen voller Schlaglöcher und Morast, um mit der Thurn-und-Taxis-Post von Antwerpen nach Rom zu eilen, in die Hauptstadt der Christenheit. Am Mittag war er in der Ordensburg der Dominikaner angekommen, und noch immer spürte er vom Rütteln und Schütteln der endlos langen Fahrt jeden einzelnen Knochen im Leib. Doch nachdem er sich durch nahrhafte Speisen gestärkt, vor allem aber seine Seele durch den Besuch der heiligen Messe sowie das Chorgebet mit seinen Glaubensbrüdern erquickt hatte, wollte er nicht säumen, noch an diesem Abend das Gespräch zu führen, um dessentwillen er die Beschwerlichkeit der Reise auf sich genommen hatte. Die Dringlichkeit seiner Mission duldete keinen Aufschub. Kein Geringerer als Kaiser Karl V. hatte ihn nach Rom geschickt.

»Gelobt sei Jesus Christus.«

»In Ewigkeit. Amen.«

Die Zelle des Glaubensoberen war ein karger, weiß getünchter Raum von wenigen Schritten im Quadrat, und obwohl Gian Pietro Carafa, wie der Ordensmeister mit weltlichem Namen hieß, einem alten römischen Adelsgeschlecht entspross, unterschied sich seine Zelle in nichts von denen der einfachen Brüder. Die einzige Zierde war ein hölzernes Kreuz mit dem leidenden Christus, das als stete Mahnung zu Einkehr und Buße über dem Schreibpult hing.

»Was führt Euch den langen Weg hierher?«, fragte Carafa, nachdem er mit Cornelius den Bruderkuss getauscht hatte.

»Kaiser Karl ist von großer Sorge erfüllt. Seine Heiligkeit der Papst zögert immer noch, dem Begehren seines Glaubensvolkes nachzugeben und die Inquisition in Portugal einzusetzen. Er bittet darum die dominikanische Bruderschaft, als den für das Glaubensgericht zuständigen Orden, ihren Einfluss geltend zu machen, um möglichst rasch …«

»Der Kaiser ist ein Heuchler«, fiel Carafa ihm ins Wort. »In den spanischen Niederlanden, wo er die meiste Zeit residiert, verwehrt er der Inquisition den Zutritt, um zugleich für Portugal ihre Einsetzung zu verlangen.«

»Meine Brüder in Antwerpen sind sich dieses Zwiespalts bewusst«, stimmte Cornelius zu, »und wir leiden darunter wie Ihr. Tatsächlich weiß man nie, wo Karls Glaube aufhört und seine Geldgier beginnt. Doch möchte ich zu bedenken geben, dass die mangelnde seelische Lauterkeit des Kaisers nichts an der Richtigkeit seines Ansinnens ändert.«

»Gewiss, auch Narrenmund tut bisweilen Weisheit kund. Allein, der Wankelmut des Kaisers spiegelt sich wider im Wankelmut seiner Vasallen. Der portugiesische König zeigt sich der Vorstellung eines Glaubensgerichts wenig empfänglich, obwohl in seinem Reich größte Glaubensnot herrscht, vor allem in Lissabon.«

»Ihr meint das Treiben der Marranen?«

»Allerdings. Dabei sollte Dom João eigentlich wissen, dass auch ein König sich nicht gegen Gottes Willen stellen darf. Schon sein Vater wurde für die allzu große Nachsicht gegenüber den Juden mit dem Scheitern seiner Träume vom iberischen Großreich bestraft. Der Sohn ist kein bisschen besser. Ohne eine Hand zu rühren, sieht Dom João zu, wie das freche Judenvolk den heiligen katholischen Glauben beleidigt, vor seiner königlichen Nase! Obwohl sie die Gnade der Taufe empfangen haben, praktizieren sie nach wie vor ihre widerlichen Rituale, um den Gott der Christenheit zu verhöhnen.«

Schon bei der Begrüßung hatte Cornelius Scheppering den Ordensmeister als einen Mann nach seinem Geschmack empfunden. Carafa stand der Glaubenseifer ins hagere Gesicht geschrieben, und je länger er redete, umso mehr verstärkte sich dieser erfreuliche Eindruck zur Gewissheit: Kein Zweifel, hier sprach ein glaubensfester Gottesknecht!

»Jeder Christenmensch, der reinen Herzens ist, wird Eure Worte freudig unterschreiben«, sagte Cornelius. »Umso weniger ist freilich zu verstehen, dass Seine Heiligkeit sich nicht dazu durchringen kann, das Nötige zu tun. Auch wenn der Kaiser vermutlich nur auf das Geld erpicht ist, das sich mit der Inquisition verdienen lässt, hat er immerhin ein redliches Motiv auf seiner Seite – seinen Krieg gegen die Türken, der gewaltige Summen verschlingt.«

Carafa strich sich mit einem Seufzer über das Kinn. »Wir hatten solche Hoffnung, als Alessandro Farnese den Stuhl Petri bestieg. Er hat geschworen, die Inquisition in Portugal einzusetzen. Doch nun, da er als Paul III. auf dem Thron sitzt, erweist er sich als ebenso großer Zauderer wie sein Vorgänger. Statt uns freie Hand zu lassen, macht er allerlei Einwände, faselt von Barmherzigkeit und Nächstenliebe. ›Weil du aber lau bist‹, spricht der Herr, ›werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.‹ Wahrscheinlich meidet dieser Papst die Inquisition nur, weil er selbst vor das Glaubensgericht gehört.«

Heiliger Zorn erfüllte Carafas Miene, und tiefe Falten furchten seine Stirn. Doch plötzlich, als überfielen ihn Zweifel daran, ob er seinem Gegenüber trauen dürfte, verstummte er und trat an sein Pult, um in Papieren zu blättern, die dort lagen.

»Wie ich sehe«, sagte er über die Schulter, »wart Ihr mehrere Jahre in Amerika, um den Heiden dort das Christentum zu bringen. Ein Amt, das allen Glaubensmut erfordert – sehr lobenswert! Wie habt Ihr zu Eurer Berufung gefunden?«

»Lange Jahre bin ich in der Finsternis gewandelt, bevor die Muttergottes mich auf den rechten Weg führte«, erwiderte Cornelius. »Als junger Mann arbeitete ich im Kontor einer Antwerpener Handelsfirma. Die Firma gehörte einem Marranen, doch die Bezahlung war gut, und ich musste meine Mutter ernähren. Damit beruhigte ich zumindest mein Gewissen. Als aber meine Mutter starb, erschien mir an ihrem Totenbett die Jungfrau Maria. Sie trug mir auf, nicht länger für einen Juden zu arbeiten, sonst wäre ich zu ewigem Höllenfeuer verdammt. Noch am Tag der Beerdigung habe ich um Aufnahme in den Orden gebeten. Seitdem versuche ich, im Gehorsam des Herrn zu leben.« Demütig senkte er das Haupt, während Carafa weiter in den Papieren blätterte.

»Der Leiter der Expedition berichtet von geschlechtlichen Ausschweifungen auf der Missionsstation?«

»Wir waren im Reich des Bösen, Ehrwürdiger Vater. Doch mit Hilfe der Jungfrau habe ich allen Anfechtungen widerstanden.«

»Seid Ihr dem Bösen begegnet?«

»Gott hat es mir leichter gemacht, als ich Sünder es verdiene. Manche meiner Glaubensbrüder, würdigere Diener des Herrn als ich, wurden von den Wilden umgebracht. Sie starben mit dem Namen Jesu auf den Lippen. Ich habe sie um ihr Los beneidet.« Carafa legte die Unterlagen zusammen und wandte sich um.

»Wäret Ihr bereit, für unseren Glauben an den gekreuzigten Heiland zu sterben?«

Cornelius Scheppering hob den Blick und sah seinem Ordensmeister fest ins Gesicht.

»Der Tod ist das Tor zum Leben. Wenn der Herr mir ein Zeichen gibt, welches Kreuz ich auf mich laden soll – gewiss! Ich werde nicht zögern, es anzunehmen.«

Carafa nickte. »Dann will ich offen mit Euch reden. Die Verfolgung des Unglaubens ist mein heiliges Ziel. Wollt Ihr mir dabei helfen?«

»Ich würde Gott auf Knien dafür danken.«

»Die Inquisition muss in Portugal Einzug halten, um dem Treiben der verfluchten Marranen ein Ende zu setzen. Das Heil der Christenheit steht auf dem Spiel.«

»Ich bin glücklich, diese Botschaft zu hören. Darf ich fragen, was Ihr zur Erreichung Eures Zieles zu tun gedenkt?«

»›Im Anfang war das Wort‹«, erwiderte Carafa. »Darum will ich vorerst auf die Macht des Logos bauen und lasse Beweise gegen die Juden sammeln. Beweise, denen sich weder der König noch der Papst verschließen kann. Ich werde die Wankelmütigen zwingen, der Inquisition stattzugeben. Ich habe bereits einen Glaubensagenten nach Lissabon geschickt, zur Hochzeit eines reichen Marranen, des größten Kaufmanns der Stadt. Ich bin sicher, er wird uns die nötigen Beweise bringen.«

»Des größten Kaufmanns der Stadt?«, wiederholte Cornelius.

»Sprecht Ihr vielleicht von Francisco Mendes?«

»Wie – Ihr kennt den Mann?«

»Allerdings. Die Firma Mendes war das Handelshaus, in dem ich in Antwerpen tätig war, bevor die Jungfrau mir den Weg gewiesen hat. Die Filiale dort wird von Franciscos Bruder Diogo geleitet.«

»Wahrlich eine himmlische Fügung.« Carafas dunkle Augen glühten, als er seine schwere Hand auf Cornelius Schepperings Schulter legte. »Ich glaube, gemeinsam werden wir in Zukunft noch einiges bewirken. Im Namen des Herrn!«

4

Am Himmel über Lissabon waren schon die ersten Sterne aufgezogen, und abendliche Geschäftigkeit herrschte auf der Straße, als Gracia Nasi zusammen mit ihrer Schwester Brianda das Haus verließ, um sich schweren Herzens auf den Weg zur Mikwa zu machen, zum Badehaus, wo sie das rituelle Tauchbad nehmen sollte. Dienstmägde erledigten ihre letzten Besorgungen, Händler ihre letzten Auslieferungen – jeder hatte es eilig, nur Gracia nicht. Auch wenn sie sich dem Beschluss ihres Vaters und der Gemeinde beugen musste, Francisco Mendes zu heiraten, wollte sie doch wenigstens vor Gott und ihrem Gewissen ein Zeichen setzen, und das Tauchbad in der Mikwa war das größte Hindernis, das dieser ihrer Absicht im Wege stand.

»Worauf wartest du?«, fragte Brianda.

»Ich denke nach«, sagte Gracia.

»Unsinn, es ist beschlossene Sache«, wiederholte Brianda die Worte ihres Vaters und stopfte sich ein Stück vom Kuchen der Gemeindefrauen in den Mund, das sie mitgenommen hatte auf den kurzen Weg von Santa Justa zum alten Judenviertel. »Es hat keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. – Hm, ist der lecker. Möchtest du auch mal probieren?«

Sie bot ihrer Schwester von dem Kuchen an, doch Gracia schüttelte den Kopf. Am liebsten wäre sie davongelaufen – aber wohin? Das Tauchbad konnte sie nicht umgehen. Jede jüdische Braut musste sich am Vorabend der Hochzeit bei Mondaufgang diesem Ritual unterziehen, um sich von ihrer letzten Monatsblutung reinzuwaschen. Nur wenn sie das Bad genommen, den Segen erhalten hatte und noch zwei weitere Male untergetaucht war, war sie koscher, und der Bräutigam durfte ihr in der Hochzeitsnacht beiwohnen.

Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste es irgendwie schaffen, das Tauchbad allein zu nehmen. Ob sie ihre Schwester einweihen sollte?

»Ich will keine schwarze Taube sein«, sagte sie. »Und auch keine grüne.«

»Was redest du da?«, fragte Brianda. Ohne die Antwort abzuwarten, stopfte sie sich den Rest von ihrem Kuchen in den Mund und sagte: »Hör auf zu grübeln, wir müssen uns beeilen. Die anderen warten schon.«

Als sie das Badehaus erreichten, waren dort tatsächlich über ein Dutzend Frauen versammelt. Das rituelle Tauchbad war ein Fest, das Tanten und Cousinen und Freundinnen zusammen mit der Braut feierten. Da für die Reinigung lebendes Wasser vorgeschrieben war, befand sich das Becken in einem unterirdischen Tiefbau, auf der Höhe des Grundwasserspiegels. Eine enge steinerne Treppe führte in die Grotte hinab. Gracia betrat das Gewölbe, das die Frauen auch »Haus der Geheimnisse« nannten, zum ersten Mal. Schwarz und bedrohlich schimmerte das Wasser im flackernden Schein einer Fackel. Erst jetzt wurde ihr die ganze Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens bewusst, und ihr Mut, der sie eben noch im Streit mit ihrem Vater beseelt hatte, war verflogen.

»Hier kannst du die Kleider ablegen«, sagte Sarah, die Gemeindeälteste, und zeigte auf eine steinerne Bank, auf der ein Stapel weißer Tücher lag.

»Ich habe Angst«, flüsterte Gracia, und das war nicht gelogen.

»Das haben alle«, lachte Sarah. »Aber glaub mir, dafür wird die Belohnung, die dich morgen erwartet, umso schöner.«

Die anderen Frauen kicherten und stießen sich an. Während die ersten sich bereits auszogen, spürte Gracia einen Kloß im Hals. Sie konnte unmöglich vor all diesen wachsamen Augen in das Tauchbad steigen, ohne dass ihr Geheimnis offenbar wurde. Doch was konnte sie tun, um sie zu verscheuchen? Sie musste verrückt gewesen sein, als sie Rabbi Soncino belogen hatte. Plötzlich fühlte sie sich, als wäre sie nicht achtzehn Jahre alt, sondern erst acht. Mit zitternden Händen öffnete sie die Knöpfe ihrer Bluse.

Ein paar Frauen waren schon nackt in das Becken gestiegen. Ohne sich voreinander zu genieren, lachten und planschten sie im Wasser. Gracia wusste, wenn ihr jetzt nichts einfiele, würden all diese Frauen gleich ihren Leib abtasten, sie mit ihren Augen und Fingern an ihren geheimsten Stellen berühren. In ihrer Verzweiflung beschloss sie, es mit der Wahrheit zu probieren – der halben Wahrheit zumindest.

»Willst du dich nicht ausziehen?«, fragte Sarah.

Gracia trug noch ein Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte.

»Ich … ich schäme mich«, sagte sie. »Sie … sie können mich doch alle sehen.«

»Ja und?«, erwiderte Sarah mit einem Lächeln. »Du brauchst dich nicht zu schämen, wir sind doch unter uns. Niemand wird dir etwas weggucken.« Dann wurde ihr Gesicht ernst. »Wann hattest du zum letzten Mal deine Blutungen?«

Gracia fühlte, wie sie rot wurde. Doch sie überwand sich und gab dieselbe Auskunft, die sie auch Rabbi Soncino gegeben hatte. Sie hatte die Sache angefangen, um Gott ihren Glauben zu beweisen. Jetzt müsste sie sie auch zu Ende führen.

»Vor … vor einer Woche«, stammelte sie.

»Und hast du seitdem deinen Körper geprüft?«

Sie wusste, was Sarah meinte. Als unrein galt eine Frau für die gesamte Dauer ihrer Regel sowie für weitere sieben Tage. Erst wenn sie nach Ablauf dieser Frist keine Spur von Blut mehr an sich fand, war sie für das Tauchbad bereit. Entsprechend legte der Rabbiner den Tag der Eheschließung fest.

Gracia schluckte. Dann nickte sie mit dem Kopf.

»Und hast du auch alles sorgfältig gewaschen?«

»Ja, jeden Tag. Mit einem weißen Lappen.«

Wieder nickte Gracia, in stummer Erwartung des Unabänderlichen. Wo war ihr Mut geblieben? Wo ihre heilige Zuversicht, vor Gott und ihrem Gewissen im Recht zu sein? Gleich würde Sarah ein Tuch nehmen und damit ihre geheimste Stelle erkunden.

»Bück dich jetzt bitte.«

Sarah hielt das Tuch schon in der Hand. Gracia nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte:

»Ich … ich möchte das Bad allein nehmen. Ich … ich schäme mich so sehr.«

Sarah schaute sie an, als habe sie nicht richtig verstanden. Die anderen Frauen verstummten. Auch Brianda blieb stehen und drehte sich um.

»Das ist unmöglich«, erwiderte Sarah. »Wir müssen bezeugen, dass alles seine Richtigkeit hat.«

»Aber ich habe doch gesagt, dass ich mich geprüft habe.«

»Das reicht nicht. Du könntest ja lügen. Außerdem muss jemand dabei sein, um zu bezeugen, dass du den ganzen Körper unter Wasser tauchst.«

Brianda sah die Bedrängnis ihrer Schwester und kehrte aus dem Becken zurück.

»Ich bleibe bei ihr und prüfe, ob sie untertaucht. Vor mir schämt sie sich nicht.«

»Bitte«, sagte Gracia. »Lasst mich mit Brianda allein. Wir wollen auch alles tun, was das Gesetz verlangt.«

Sarah dachte nach. Gracia schien es eine Ewigkeit.

»Also gut«, sagte die Gemeindeälteste schließlich. »Wenn es dir wirklich so peinlich ist …« Dann klatschte sie in die Hände.

»Raus aus dem Wasser! Zieht euch wieder an!«

Vor Enttäuschung murrend wie die Gäste eines Festes, die ohne Grund nach Hause geschickt werden, bevor die Feier überhaupt begonnen hat, verließen die anderen Frauen das Becken und nahmen ihre Kleider. Nachdem die letzte aus dem Gewölbe gegangen war, wandte Sarah sich noch einmal an Brianda.

»Aber versprecht mir, dass ihr die Vorschriften einhaltet! Kein einziges Haar darf aus dem Wasser ragen!«

5

Gracia fiel ein Stein vom Herzen, als die Schritte der Frauen endlich verklangen und sie mit ihrer Schwester allein in der Grotte war.

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Brianda. »Du schämst dich doch sonst nicht, wenn dich jemand nackt sieht.«

»Bitte frag jetzt nicht«, sagte Gracia. »Bringen wir es hinter uns.« Sie streifte ihr Hemd über den Kopf und stieg in das schwarze Wasserloch. Sie fühlte sich, als würde sie in ein Grab hinabsteigen. Das Wasser war so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekam. Was würde Brianda sagen, wenn sie ihr Geheimnis entdeckte? Ihre Schwester war zwar keine so große Gefahr wie Sarah und die Gemeindefrauen – jedes Stück Kuchen war ihr wichtiger als sämtliche Gebote der Thora zusammen –, doch was Gracia vorhatte, das hatte noch keine jüdische Braut gewagt, solange es eine Synagoge in Lissabon gab. Nur Gottes Wille konnte ihr helfen, damit ihr Geheimnis vor Brianda verborgen bliebe – Gottes Wille oder die Dunkelheit. Außer der Fackel gab es kein Licht in dem Felsgewölbe.

Zum Glück machte Brianda keine Anstalten, mit dem Tuch ihre Scheide zu prüfen.

»Kommst du endlich?«, fragte Gracia, bevor ihre Schwester es sich anders überlegte.

Nackt folgte Brianda ihr in das Becken, um bis zur Hüfte unterzutauchen. Ihr Anblick ließ Gracia für einen Moment die Angst vergessen. Brianda war so schön wie Susanna im Bade – man konnte kaum glauben, dass sie Schwestern waren. Gracias Name bedeutete »Liebreiz«, doch selbst wenn sie ihre teuren und prächtigen Kleider trug, von denen sie tatsächlich mehrere Dutzend besaß, empfand sie sich als so reizlos wie die katholischen Betschwestern, die sonntags in der Kathedrale in der ersten Bankreihe knieten. Brianda hingegen war mit ihren braunen Locken, den grünblauen Augen, dem vollen roten Mund und der hellen Haut eine wahre Augenweide, und obwohl sie zwei Jahre jünger war, überragte sie Gracia mit ihrer schlanken, wohlgerundeten Gestalt fast um Haupteslänge. Warum hatte Francisco Mendes nicht um ihre Hand angehalten?

»Was schaust du mich so an?«, fragte Brianda. »Ich dachte, du hast es eilig.«

Wie die Vorschrift es verlangte, ging Gracia in die Hocke, bis das Wasser ihren Körper umschloss. Dann presste sie die Lippen aufeinander und tauchte den Kopf unter, während Brianda dafür sorgte, dass kein einziges Haar aus dem Wasser hervorschaute.

»Gelobt seiest du, Ewiger, unser Gott«, sprach Brianda beim Auftauchen den Segensspruch, »König der Welt, der du uns geheiligt hast durch deine Gebote und uns befohlen, das Tauchbad zu nehmen.«

Als Gracia zum dritten Mal untertauchte, kehrte ihre Angst zurück. Das Bad in der Mikwa sollte sie von jeder Unreinheit befreien. Aber wie konnte das Wasser sie reinigen, wenn der schlimmste Makel noch an ihr haftete?

»Wenn du mich fragst«, sagte Brianda, »bist du jetzt koscher.« Gracia konnte es kaum glauben – ihre Schwester hatte nichts gemerkt. Hatte die Dunkelheit sie vor der Entdeckung bewahrt? Oder tatsächlich Gottes Wille? Mit einem Gefühl der Erleichterung, das umso größer war, weil sie es so nicht erwartet hatte, stieg sie aus dem Wasser und nahm ein Tuch von dem Stapel, um sich abzutrocknen.

»Was ist das denn?«, fragte Brianda plötzlich. Gracia zuckte zusammen. »Was meinst du?«

»Da, der Fleck auf deinem Tuch! Ist das etwa – Blut?«

»Pssst«, zischte Gracia. »Nicht so laut!«

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Brianda leise. »Hast du etwa noch deine …« Sie verstummte, während ihre Augen größer und größer wurden. »Nein, das kann ich nicht glauben!«

Gracia sah am Gesicht ihrer Schwester, dass die endlich begriff. Das Geheimnis war entdeckt.

»Doch«, sagte sie, und obwohl ihre Knie ganz weich waren, wuchs angesichts von Briandas Entsetzen wieder ihr Mut. »Die zweimal sieben Tage sind noch nicht vorbei.«

»Dann bist du also eine – Nidda, eine unreine Frau?« Gracia nickte, beinahe stolz.

»Bist du wahnsinnig?«, rief Brianda und hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. »Das ist die schlimmste Sünde, die eine Frau begehen kann! Wenn dein Bräutigam dich morgen berührt, droht dir die Geißelstrafe!«