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Die schicksalhafte Familiengeschichte in Zeiten der Entscheidung - berührend, lebensnah, historisch genau. Seit Generationen leben die Isings im Wolfsburger Land, fernab der Welt und doch mitten in Deutschland. Alles verändert sich für die Familie, als auf Hitlers Befehl eine gigantische Automobilfabrik entstehen soll, um den "Volkswagen" zu bauen. Kinderärztin Charly und Filmproduzentin Edda, Autoingenieur Georg und Parteisoldaten Horst – sie alle müssen sich entscheiden: Mache ich mit? Beuge ich mich? Oder widersetze ich mich? Mut, Verzweiflung, Verrat und Liebe im Zeichen des Nazi-Regimes: bewegend schildert Bestseller-Autor Peter Prange die deutsche Jahrhundert-Tragödie und den Weg einer Familie, deren Mitglieder so unterschiedlich sind, wie Menschen nur sein können. Der Auftakt des großen Zweiteilers "Eine Familie in Deutschland": "Zeit zu hoffen, Zeit zu leben". Wenn Prange deutsche Geschichte erzählt, wird sie für uns gegenwärtig. Klug und wahrhaftig beschreibt er Menschen, die sich in schweren Zeiten bewähren müssen und die doch einfach so sind wie wir.
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Seitenzahl: 961
Veröffentlichungsjahr: 2018
Peter Prange
Erstes Buch: Zeit zu hoffen, Zeit zu leben 1933 – 1939
Richtfest im Wolfsburger Land: für seine Kinder hat Hermann Ising auf angestammtem Grund ein neues Haus gebaut. Denn es geht aufwärts mit Deutschland. Sohn Georg arbeitet als Autoingenieur, Horst ist glühender Hitler-Verehrer, Edda zieht es zum Film, und Charly liebt ihren Beruf als Kinderärztin. Die Zeichen des neuen Regimes in Berlin stehen auf Aufbruch: Hitler plant eine riesige Fabrik, um ein Auto für alle Deutschen zu produzieren – direkt im Heimatort der Isings. Während Horst eifrig nach einem Parteiamt strebt, fragt sich Georg, um welchen Preis es ihm gelingen wird, am »Volkswagen« mitzubauen. Edda sieht als Filmregisseurin nur Glanz und Erfolg des Regimes. Charly dagegen begreift, dass ihre Gefühle für den Mann, den sie liebt, auf einmal verboten sind. Wie so viele fragt sie sich, was sie tun soll. Mitmachen, schweigen oder sich auflehnen?
Der Auftakt des großen Zweiteilers ›Eine Familie in Deutschland‹.
Weitere Titel von Peter Prange:
›Unsere wunderbaren Jahre‹
›Das Bernstein-Amulett‹
›Himmelsdiebe‹
›Die Rose der Welt‹
›Ich, Maximilian, Kaiser der Welt‹
›Die Philosophin‹
›Die Principessa‹
›Werte: Von Plato bis Pop – alles, was uns verbindet‹
Die Website des Autors: www.peterprange.de
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Peter Prange ist als Autor international erfolgreich. Er studierte Romanistik, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Perugia und Paris. Nach der Promotion gewann er besonders mit seinen historischen Romanen eine große Leserschaft. Seine Werke haben eine internationale Gesamtauflage von über zweieinhalb Millionen verkaufter Exemplare erreicht und wurden in 24 Sprachen übersetzt. Mehrere Bücher wurden verfilmt bzw. werden zur Verfilmung vorbereitet. Der Autor lebt mit seiner Frau in Tübingen.
Für uns Nachgeborene, die wir uns unserer selbst so sicher sind.
»Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ›Was ist deutsch?‹ niemals ausstirbt.«
FRIEDRICH NIETZSCHEJENSEITS VON GUT UND BÖSE, 1886.ACHTES HAUPTSTÜCK. VÖLKER UND VATERLÄNDER
Die nachfolgende Geschichte ist, obwohl angelehnt an historische Ereignisse, frei erfunden. Rückschlüsse auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit der geschilderten Personen sollen in keiner Weise nahegelegt oder ermöglicht werden. Die Handlungsstränge der Geschichte sind ebenso wie die Lebenswege der Protagonisten Erfindungen des Autors. Dies gilt insbesondere für deren Verstrickungen in der Nazizeit und die Schilderung ihrer Privatsphäre. Alle intimen Szenen sowie die Dialoge und die Darstellung der Gefühlswelt des gesamten Romanpersonals sind reine Fiktion.
»Da aber nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.«
EVANGELIUM NACH MATTHÄUS, KAPITEL 4, VERS 8–9
1933/1934
Fallersleben, ein kleines Städtchen im Wolfsburger Land, fernab der Welt und doch mitten in Deutschland gelegen, zählte im Jahre 1933 wenig mehr als zweitausend Einwohner. Es gab zwei Kirchen, ein Amtsgericht und ein Forstamt, dazu als einzige Attraktionen ein Schloss und ein Brauhaus sowie ein Schwefelbad für Heilkuren gegen Rheumatismus und Hauterkrankungen, und hätte nicht August Heinrich Hoffmann, der Dichter des »Deutschlandlieds«, der aus einer Laune des Schicksals heraus einst in dieser Ödnis das Licht der Welt erblickte, den Namen seines Heimatortes dem eigenen Allerweltsnamen hinzugefügt – kaum jemand hätte Notiz von diesem Flecken Erde genommen, wo die Menschen nahezu unberührt von der modernen Zeit lebten wie ihre Vor- und Vorvorfahren. Noch immer bestimmte die Landwirtschaft den Alltag, und von der industriellen Revolution, die sonst in weiten Teilen Deutschlands seit nunmehr einem Jahrhundert das Leben von Grund auf umgestaltete, zeugten hier, zwischen grauen Äckern und endlosen Viehweiden, nur eine Kaligrube sowie eine Handvoll mechanischer Fabrikationsbetriebe zur Verarbeitung von Agrarprodukten wie Kartoffeln, Zuckerrüben und Getreide.
Die Hauptstadt Berlin war darum weit, und selbst an diesem 30. Januar, an dem der Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Adolf Hitler durch den greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Kanzler ernannt wurde, war von den dortigen geschichtsträchtigen Ereignissen, in denen viele den Beginn einer besseren Zukunft, manche aber den Anfang eines vielleicht schrecklichen Endes erblickten, kaum etwas zu spüren. Hier, in Fallersleben, interessierte man sich an diesem verhangenen, nasskalten Tag nur für ein Ereignis, das Richtfest, zu dem der Zuckerbaron Hermann Ising, Herr über hundert Arbeiter und Betriebsbeamte und damit bedeutendster Agrarökonom im Landkreis, geladen hatte, um nach Fertigstellung von Rohbau und Dachstuhl seines neuen Wohnhauses am Rübenkamp die Segenssprüche der Zimmerleute entgegenzunehmen. In Scharen strömte man von den umliegenden Dörfern und Höfen zu dem dreigeschossigen, in solidem Fachwerk ausgeführten Gebäude, das an Größe und Stattlichkeit im ganzen Landkreis nur von der Wolfsburg selbst übertroffen wurde, dem jahrhundertealten Schloss und Stammsitz der Grafen von der Schulenburg, denen das Land gehörte, so weit das Auge reichte. Allein die Tatsache, dass in diesen notgeplagten Zeiten, da Armut und Hunger im Reich regierten, jemand ein so kühnes Unternehmen in Angriff nahm, war ein Zeichen der Hoffnung. Solcher Wagemut verdiente größten Respekt, und den wollte man mit seiner Anwesenheit bekunden. Außerdem galt der Bauherr als spendabler Mann, dessen großzügige Wesensart in vollkommener Weise dem Reklamespruch entsprach, den sein Großvater zur Gründung der Fallersleber Raffinerie ersonnen hatte:
Zucker schadet? Grundverkehrt! Zucker schmeckt, Zucker nährt!
Das Richtfest versprach also Freibier und Essen bis zum Platzen, und das wollte sich niemand entgehen lassen.
Als wollte der Himmel seinen Segen zu dem Ereignis geben, riss über dem nahe gelegenen Klieversberg die Wolkendecke auf, und ein paar zögerlich blasse Sonnenstrahlen schienen auf den Dachfirst mit dem Richtkranz und der rotweiß im Wind flatternden Hakenkreuzfahne, als Hermann Ising, ein vierundfünfzig Jahre alter, etwas rundlicher, untersetzter Mann, der sein blondes Haupthaar wie früher schon sein Vater und Großvater in der Mitte gescheitelt trug, in der goldgelben Uniform eines Ortsgruppenleiters auf die Freitreppe des imposanten Rohbaus trat und das Wort ergriff, um vor den im Hof versammelten Gästen den Handwerkern zu danken und zugleich den eigenen Hoffnungen Ausdruck zu verleihen, die er für sich und seine Familie mit dem Umzug in das neue Haus verknüpfte.
»Ob er es wohl ausnahmsweise schafft, sich mal nicht am Hintern zu kratzen?«, fragte seine Tochter Charlotte, die sich, seit sie in Göttingen Medizin studierte, Charly nannte und jetzt zusammen mit ihrem Verlobten Benjamin Jungblut ein wenig abseits der übrigen Gesellschaft das Geschehen verfolgte.
»Warum in aller Welt sollte er das tun?«, erwiderte Benny verwundert.
»Wegen seiner Hämorrhoiden. Ist dir das noch nie aufgefallen?« Während er lachend den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Ich bin nur gespannt, ob er den Mut hat, sein Versprechen wahrzumachen.«
»Welches Versprechen?«
»Sich bei seinem Architekten zu bedanken!« Kaum waren ihr die Worte rausgerutscht, hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Sie hatte sich vorgenommen, nichts von dem Versprechen zu verraten, das sie ihrem Vater abgenommen hatte – es sollte ja eine Überraschung sein.
Doch Benny zuckte nur gleichgültig die Achseln. »Der Architekt legt darauf nicht den geringsten Wert.«
»Unsinn! Du hast wunderbare Arbeit geleistet. Darauf musst du doch stolz sein!«
Unwillig schüttelte er den Kopf. »Stolz wäre ich, wenn ich euer Haus so hätte bauen können, wie ich es in Dessau gelernt habe. Aber dein Vater wollte ja unbedingt Fachwerk. Als lebten wir noch im Mittelalter.«
»Mein armer, armer Schatz.« Charly gab ihm einen Kuss. »Nur leider ist Fallersleben nicht Dessau, und ein Gesamtkunstwerk à la Bauhaus passt nun mal nicht so ganz in unser Nest. – Aber schau nur! Gleich passiert es!«
In der Tat, Hermann konnte sich kaum noch beherrschen. Während er in seiner Rechten den Stichwortzettel für seine Rede hielt, zuckte seine Linke immer wieder in Richtung Gesäß. Ausgerechnet heute plagten ihn die Hämorrhoiden, als hätte ihm jemand Pfeffer in den Arsch gerieben, der Drang, sich Abhilfe zu schaffen, wuchs mit jeder Sekunde, und die Unmöglichkeit, sich in der Öffentlichkeit zu kratzen, machte es nur noch schlimmer. Außer Nachbarn, Freunden und Verwandten befanden sich unter den Gästen angesehene Honoratioren des Landkreises, an ihrer Spitze der Landrat, dazu Bankdirektor Lohmann, dessen Raiffeisenkasse das für den Hausbau nötige Geld vorgestreckt hatte, sowie Theobald Witzleben, der alte, in Ehren ergraute Pastor der Michaeliskirche, und natürlich Kreisleiter Sander, der einst als Turnlehrer der »Eulenschule« der Fallersleber Jugend den Purzelbaum und das Völkerballspielen beigebracht hatte. Sogar Graf von der Schulenburg hatte sein Kommen angesagt, zusammen mit seiner Frau. Allerdings würden die Herrschaften erst später erscheinen, nach dem offiziellen Teil, wenn die Reden gehalten waren, um sich möglichst zwanglos »unters Volk« zu mischen, wie der Graf sich bei der Einladung ausgedrückt hatte.
Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft konzentrierte Hermann sich wieder auf seine Ansprache. Er dankte den Maurern und Zimmerleuten genauso wie den Schreinern und Glasern und stellte den Dachdeckern ein Fass Bier in Aussicht für den Fall, dass die Familie zum Frühlingsanfang in ihr neues Haus einziehen könnte.
Hatte er jemanden vergessen?
Ein Blick auf seine Tochter genügte, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Voller Erwartung schaute Charlotte zu ihm auf. Das Versprechen, sich öffentlich bei ihrem Verlobten zu bedanken, war Hermann nicht schwergefallen, Benjamin Jungblut hatte sich eine solche Auszeichnung redlich verdient. Als zwischen den Jahren der Frost eingesetzt und alle Planungen über den Haufen zu werfen gedroht hatte, hatte der junge Itzig mit Engelszungen auf die Handwerker eingeredet und sie dazu gebracht, trotz des Kälteeinbruchs die Arbeit fortzusetzen. Hermann hatte sich die Nennung seines künftigen Schwiegersohns deshalb bis zum Schluss aufbewahrt.
»Und nun möchte ich noch jemanden würdigen, dem mein ganz besonderer Dank gilt. Denn wie heißt es schon in der Bibel? ›Die Letzten werden die Ersten sein.‹«
Er wollte Benno, wie er den Verlobten seiner Tochter nannte, um den eigentlichen Vornamen ebenso zu vermeiden wie die nicht weniger undeutsche Koseform, gerade zu sich rufen, da sah er seinen Sohn Horst. Zusammen mit seiner frisch angetrauten Frau Ilse, einer ehemaligen Arbeiterin der Zuckerfabrik und örtlichen BdM-Leiterin, überwachte er das Spanferkel, das an einem Bratspieß brutzelte, und wartete mit einem Glas Schnaps in der Hand auf das Ende der Rede. Dabei zog er ein Gesicht wie früher als Kind, wenn er fürchtete, eines seiner Geschwister könnte ihm den Sonntagspudding wegschnappen. Hermann ahnte den Grund. Horst hatte sich bei Kreisleiter Sander um den Posten des HJ-Bannführers beworben – das war praktisch so viel wie Standartenführer! –, und damit seine Kandidatur keinen Schaden nahm, hatte er ihn inständig darum gebeten, Benjamin Jungblut nur ja nicht in Sanders Beisein zu erwähnen.
Hermann wusste, egal, was er tat, eines seiner Kinder würde er jetzt enttäuschen, entweder seine jüngere Tochter oder seinen zweitgeborenen Sohn. Unentschlossen zupfte er an seiner Armbinde. Seit Horst dem Kinderwagen entstiegen war, litt er darunter, dass er hinter seinen beiden Schwestern Charlotte und Edda, vor allem aber hinter seinem älteren und begabteren Bruder Georg zurückstand. Während seine Geschwister das Gymnasium beziehungsweise Lyzeum in der Kreisstadt Gifhorn besucht hatten, hatte es für Horst nur für die Fallersleber Mittelschule gereicht. Als Hermann nun das bange Flehen in seinen Augen sah, siegte in ihm das Mitleid über die Gerechtigkeit. In der Hoffnung, dass Lotti ihm verzieh, steckte er seinen Stichwortzettel ein, er konnte den Architekten nicht öffentlich loben, ohne Horst zu schaden, der Name war schließlich gemeingefährlich, und statt mit irgendwelchen Extratouren seinem Zweitgeborenen die Möglichkeit zu nehmen, sich in der Partei jenes Ansehen zu erwerben, das ihm sonst so oft verwehrt blieb, wandte er sich an den Menschen, bei dem er in kritischen Situationen stets Halt und Zuflucht fand: an seine Frau Dorothee. Mit dem kleinen Willy, dem gerade drei Monate alten Nachzügler der Familie, auf dem Arm stand sie bei ihrem Bruder Carl und nickte ihm mit ihrem stets etwas wehmütigen Lächeln zu. Er nahm ein gefülltes Schnapsglas von dem Tablett, das zu diesem Zweck vor ihm bereitstand, und während er ihr zuprostete, formten seine Lippen ganz von allein die richtigen Worte.
»Mein letzter und wichtigster Dank gilt meiner lieben Dorothee, der ich alles schulde, was ich bin und habe!« Er hob sein Glas in die Höhe, damit die Gäste es ihm gleichtaten. »Auf meine Frau! Auf die Familie! Auf dass sich alle unsere Lieben unter dem Dach unseres neuen Hauses vereinen, um in Frieden und Eintracht hier zusammen zu leben, mit Kind und Kindeskindern, nach Altväter Sitte, voller Zuversicht und Glauben an die neue Zeit. Prost!«
»Prost! Prost!«, schallte es zurück.
Die Gläser waren noch nicht geleert, da fing der kleine Willy auf dem Arm seiner Mutter so laut an zu schreien, als wolle auch er seine Zustimmung zur Rede seines Vaters bekunden. Beifall brandete auf, und wie auf ein Zeichen drehten sich alle zu dem kleinen Schreihals herum. Was für ein prächtiges Kerlchen hatte Hermann Ising doch auf seine alten Tage noch mal gezeugt! Kreisleiter Sander lachte sein meckerndes Lachen, Bankdirektor Lohmann lüftete wohlgelaunt seinen Hut, und der alte Pastor Witzleben, den man anstelle seines Nachfolgers, des allzu linientreuen Superintendenten Wedde, eingeladen hatte, lächelte sein Butterkuchenlächeln.
»Und natürlich auch ein kraftvolles Prosit auf unseren Jüngsten!«, rief Hermann, dem vor lauter Rührung über sein spätes Vaterglück beinahe die Tränen kamen. »Auf eine glorreiche Zukunft! Mit Gottes Segen – Sieg Heil!«
»Nun, Schwesterherz, bist du glücklich?«
Dorothee, die nach dem Dienstmädchen Bruni Ausschau hielt, weil am Büfett bereits die Schnittchen zur Neige gingen, drehte sich zu ihrem Bruder herum, der zu dem Richtfest aus Berlin angereist war, obwohl Reichstagspräsident Hermann Göring ihn persönlich zur Vereidigung der neuen Regierung eingeladen hatte, die heute in der Hauptstadt stattfand. »Regierungen kommen und gehen«, hatte Carl bei seiner Ankunft gesagt, »aber so ein Haus, das ist doch was für die Ewigkeit.« Dorothee hatte sich über seine Entscheidung von Herzen gefreut, nach dem frühen Tod der Mutter hatte sie ihren jüngeren Bruder an deren Stelle großgezogen, war ihm Mutter und Schwester zugleich gewesen. Die Opfer, die sie gebracht hatte, hatte Carl ihr auf seine Weise gedankt: Mit vierundvierzig Jahren war er preußischer Staatsrat, Dekan der juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und galt als der brillanteste Jurist im Reich. Doch die Frage, die er ihr gerade gestellt hatte, erinnerte sie schmerzlich daran, um welchen Preis ihr Leben erkauft war.
»Glücklich? Ach Carl, wer ist das schon?«
»Das sagst du an einem solchen Tag? Das gefällt mir aber gar nicht!«
Unter seinem prüfenden Blick war sie für einen Moment versucht, ihm ihr Herz auszuschütten. Ausgerechnet das neue Haus, um das jeder im Landkreis sie beneidete, war der Grund, weshalb sie sich noch mehr Sorgen machte als sonst. Doch als der kleine Willy einen Nieser tat, fing sein Onkel an, Faxen zu machen, wackelte mit den Händen an den Ohren und kitzelte das winzige Näschen, was der kleine Willy mit einem glucksenden Lachen quittierte.
»Das ist ja ein richtiger Wonneproppen«, sagte Carl und wiederholte den Versuch, der prompt ein erneutes Glucksen hervorrief. »Ich bin sicher, der wird euch noch viel Freude machen. Und was für ein kräftiges Stimmchen der kleine Mann hat«, fügte er hinzu, als Willy plötzlich wieder wie am Spieß zu schreien anfing.
»Ich wollte, es wäre nicht ganz so kräftig.« Dorothee versuchte Willy zu beruhigen, doch der krähte nur noch lauter. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass er irgendwie anders ist als seine Geschwister. Auf jeden Fall ist er viel anstrengender.«
»Das ist der Zahn der Zeit«, erwiderte Carl. »Auch du wirst leider nicht jünger. Schließlich ist es zwanzig Jahre her, dass du deine anderen Kinder großgezogen hast. Kein Wunder, dass es dir heute schwerer fällt als früher. – Apropos Kinder: Wo steckt eigentlich Georg? Den habe ich noch gar nicht gesehen.«
»Ich weiß auch nicht«, sagte Dorothee, »eigentlich müsste er längst da sein. Hoffentlich ist nichts passiert.«
»Kein Grund zur Sorge«, erwiderte ihr Bruder. »Georg war noch nie der Pünktlichste. Arbeitet er noch immer in diesem Frankfurter Konstruktionsbüro?«
»Zu Hermanns Leidwesen ja.«
»Also nach wie vor kein Interesse an der Zuckerfabrik?«
Dorothee schüttelte den Kopf. »Er ist von seiner jetzigen Arbeit wie besessen.«
»Ach ja«, seufzte Carl, »die Jugend und ihre Träume.«
Georg hatte ausgerechnet, dass er für die Strecke von Frankfurt bis Fallersleben bei vernünftiger Fahrweise mit einem einzigen Zwischenhalt auskommen müsste, doch kurz nach Braunschweig, keine dreißig Kilometer vor dem Ziel, war ihm der Sprit ausgegangen und er hatte sein Motorrad noch einmal auftanken müssen. Offenbar hatte er allen guten Vorsätzen zum Trotz wieder zu viel Gas gegeben. Christiane, seine Begleiterin, hatte die Pause genutzt, um in einem Gasthof die Toilette aufzusuchen.
Während der Tankwart Benzin nachfüllte, blickte Georg auf seine Armbanduhr. Das Richtfest war sicher schon in vollem Gange. Trotzdem hatte er es nicht eilig. Seine Mutter hatte am Telefon angedeutet, dass es zu Hause Probleme gebe, und auch wenn er nicht wusste, was für Probleme das waren, war er überzeugt, dass sie vor allem ihn betrafen. Einmal mehr würde sein Vater ihn drängen, sich endlich zu entscheiden. Bei der Vorstellung erlosch auch der letzte Funke Vorfreude auf die Heimat in ihm, es gab ohnehin nichts, was ihn nach Hause zog, und er wünschte, er wäre langsamer gefahren. Am besten so langsam, dass er gar nicht erst ankam.
Als er Fallersleben nach dem Abitur verlassen hatte, um an der Technischen Hochschule in Aachen Maschinenbau zu studieren, hatte er den Auszug aus der heimatlichen Enge wie eine Befreiung empfunden, und seit er in Frankfurt lebte, war die Sache endgültig entschieden: Keine zehn Pferde würden ihn je wieder zurück ins Wolfsburger Land bringen, wo es nichts als Gegend gab. In Frankfurt hingegen gab es nicht nur wunderbar schöne Frauen mit wunderbar lockeren Sitten, dort gab es vor allem auch den genialsten Ingenieur Deutschlands, seinen Freund Josef Ganz, der ein Auto entwickelte, wie die Welt noch keins gesehen hatte, und er, Georg Ising, hatte als sein engster Mitarbeiter daran wie kein anderer Teil. Doch jedes Mal, wenn er nach Hause kam, nahm sein Vater ihn ins Gebet, damit er sich zur Nachfolge bereit erklärte, obwohl sein jüngerer Bruder Horst sich nichts sehnlicher wünschte, als eines Tages als Zuckerbaron durch Fallersleben zu stolzieren. Dabei hatte Georg sich das Dilemma selbst zuzuschreiben. Als Student hatte er eine Zentrifuge für die Raffinerie konstruiert, um sich für den monatlichen Wechsel von zu Hause erkenntlich zu zeigen. Damit hatte er falsche Hoffnungen geweckt, gegen die er nun immer wieder ankämpfen musste. Aber er war fest entschlossen, sich nicht rumkriegen zu lassen – weder diesmal noch irgendwann sonst.
Nein, in seinen Adern floss kein Zuckerrübensaft, sondern Benzin! Seit er mit Onkel Carl zum ersten Mal auf der Berliner Avus gewesen war, wusste er, was sein Lebenszweck war: Autos konstruieren, dafür und für nichts anderes war er auf der Welt!
Wann würden seine Eltern das endlich begreifen?
»Ich könnte ihn umbringen«, knurrte Charly.
»Von wem redest du?«, fragte Benny.
»Von meinem Vater natürlich. So ein Feigling!«
»Jetzt reg dich nicht auf. Hauptsache, ich bekomme pünktlich mein Geld.«
Charly schüttelte ihren blonden Bubikopf, so dass die glatten, kurzen Haare nur so flogen. »Fast könnte man glauben, du wolltest den Nazis recht geben mit ihren Hetzreden. Geld ist doch nicht alles! Papa hatte mir fest versprochen, sich bei dir zu bedanken. Öffentlich!«
»Viel wichtiger ist, dass er mir den Auftrag zu meinem ersten eigenen Haus gegeben hat. Gegen den erklärten Protest deines Herrn Bruders übrigens, wie du dich vielleicht erinnerst.«
»Was für eine Heldentat! Schließlich bist du sein künftiger Schwiegersohn.«
»Richtig. Dass dein Vater in unsere Verlobung eingewilligt hat, ist nämlich auch nicht gerade selbstverständlich. Da könntest du ruhig ein bisschen gnädiger sein.«
»Mit gnädig ist es nicht getan. Das solltest du besser wissen als jeder sonst!«
Benny biss sich auf die Lippe. Er verstand nur zu gut, was sie meinte. Seine Eltern waren vom Wahlsieg der Nazis so alarmiert, dass sie in Leipzig, wo der Vater als Universitätsprofessor zwei Jahrzehnte lang Kunstgeschichte gelehrt hatte, bereits die Koffer packten, um Deutschland in Richtung England zu verlassen. Die Mutter, eine geborene Holländerin, hatte für Amsterdam plädiert, doch hatte sie sich mit ihrem Wunsch nicht durchsetzen können. Erstens besaß der Vater einen Ruf nach Cambridge, den er mit Rücksicht auf die Familie vor einem halben Jahr zwar abgelehnt hatte, der aber nach wie vor galt, und zweitens lag Amsterdam zu nah an Deutschland, um sich vor Hitler und seiner Bande wirklich sicher zu fühlen. Obwohl Benny seit seiner Verlobung mit der Tochter eines »Nazi-Bonzen«, wie sein Vater sich ausdrückte, mit seinen Eltern regelmäßig in Streit geriet, wenn sie sich sahen oder miteinander telefonierten, drängten sie ihn, zusammen mit ihnen zu emigrieren, bevor es zu spät sei. Doch davon wollte Benny nichts wissen. Er konnte Deutschland nicht verlassen, dafür liebte er Charly viel zu sehr, und die musste erst in Göttingen zu Ende studieren, bevor sie als Ärztin im Ausland arbeiten konnte.
Wie immer, wenn Charly wütend war, lief ihr Gesicht dunkelrot an. »Ich werde ihn zur Rede stellen.« Auf dem Absatz machte sie kehrt und marschierte in Richtung des Bratspießes, wo ihr Vater gerade mit Bankdirektor Lohmann und Pastor Witzleben anstieß, während Horst mit einem Schlachtermesser die erste Portion Spanferkel auf den Teller säbelte, den Kreisleiter Sander ihm erwartungsvoll entgegenstreckte.
»Bist du verrückt?«, fragte Benny. »Willst du ihm vor allen Gästen eine Szene machen?« Er packte sie am Arm, doch wäre es ihm kaum gelungen, sie zurückzuhalten, wäre Edda ihm nicht zu Hilfe gekommen. »Achtung!«, zischte er. »Wir sind im Film!«
Während Charly wie angewurzelt stehenblieb, näherte sich ihre Schwester mit einer Kamera vor dem Gesicht und ihrem Freund Ernst Hartlieb im Schlepptau.
»Bitte einen Kuss, ihr zwei!«, rief Edda ihnen zu. »Szene fünf, die erste!«
Statt der Aufforderung zu folgen, hob Charly abwehrend beide Hände in die Höhe.
»Ach, Mist!« Enttäuscht ließ Edda ihre Leica sinken. »Jetzt hast du die Szene geschmissen! Dabei hatte ich euch beide gerade so schön in Großaufnahme.«
Nur zögernd nahm Charly die Hände wieder vom Gesicht. »Du weißt doch, ich hasse es, gefilmt zu werden!«
»Stell dich nicht so an. Es ist doch nur für das Familienarchiv. Mama hat mich mindestens ein Dutzend Mal daran erinnert, dass ich nur ja die Kamera mitbringe.«
»Als könntest du die je vergessen«, lachte Charly. »Aber jetzt halt endlich die Klappe und lass dich drücken.«
Sie nahm ihre Schwester in den Arm, und Edda erwiderte die Begrüßung so herzlich, dass Benny, der als Einzelkind aufgewachsen war, ein bisschen neidisch wurde. Dabei sahen die beiden so unterschiedlich aus, dass, wer sie nicht kannte, sie kaum für die Töchter ein- und derselben Eltern gehalten hätte. Obwohl Charly so hübsch war, dass die Männer ihr auf der Straße hinterherpfiffen, konnte sie mit ihrem glatten blonden Haar, dem rosigen Teint und dem etwas zu breiten Mund das Erbe ihres Vaters nicht verleugnen, während Edda, die mit ihren achtundzwanzig Jahren nicht nur vier Jahre älter als ihre Schwester war, sondern auch die älteste der Ising-Geschwister, mit ihren kastanienfarbenen Locken, den grünblauen Mandelaugen und den hohen Wangenknochen allein der Mutter nachgeraten schien.
»Seid ihr jetzt erst aus Göttingen gekommen?«, fragte Benny.
»Ja«, sagte Edda. »Ich hatte am Morgen noch eine Altfranzösisch-Klausur, die ich nicht verpassen durfte, ohne meinen Grammatikschein zu riskieren, und als ich endlich fertig war, wurde Ernst noch mal in die Redaktion gerufen.«
»Dabei hatte ich extra den Nachtdienst übernommen, um heute frei zu haben«, ergänzte ihr Freund, ein hagerer, fast kahlköpfiger Theologe von fast zwei Metern Körpergröße, der, statt als Vikar das Pastorenamt anzustreben, nach Abschluss des Studiums ein Volontariat beim Göttinger Volksblatt angefangen hatte, der einzigen sozialdemokratischen Zeitung in der Region.
»Ihr Glücklichen!«, sagte Charly. »So blieb euch Papas Rede erspart.«
»Wie oft hat er sich am Hintern gejuckt?«, wollte ihre Schwester wissen. »Ich habe nur noch das Ende mitbekommen.«
»Du wirst staunen – kein einziges Mal! Er hat sich zusammengerissen und sich auch artig bei allen bedankt, außer bei einem. Dreimal dürft ihr raten, bei wem …«
Plötzlich hielt sie inne. Der Grund dafür war ihr Bruder Horst, der gerade mit einer Flasche Korn die Runde machte, um die Gläser der Gäste nachzufüllen.
»Sieh einer an, das Göttinger Kleeblatt«, grüßte er abschätzig seine Schwestern und deren Begleiter. »Mal wieder vollständig versammelt. Kann man euch eigentlich auch einzeln haben? Oder gibt’s euch nur am Stück?«
»Statt blöde Witze zu machen«, erwiderte Charly, »solltest du dich lieber mal ordentlich rasieren. Ich sehe da noch ein paar Stoppeln auf deiner Oberlippe.«
Edda lachte, und sogar Ernst, der sonst seinem Namen alle Ehre machte, musste grinsen. Wie sein Vater trug Horst das blonde Haar in der Mitte gescheitelt – angeblich, um ihm zu gleichen, das behaupteten jedenfalls seine Schwestern –, doch im Gegensatz zum Vater hatte er sich außerdem ein ebenfalls blondes Hitler-Bärtchen wachsen lassen. Obwohl auch Benny sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte, wäre es ihm lieber gewesen, Charly hätte den Mund gehalten. Er wollte keinen Streit.
Wie nicht anders zu erwarten, blieb Horst die Antwort nicht schuldig. »Das ist deutsche Barttracht«, erklärte er. »Aber wie ich dich kenne, Lottilein, bevorzugst du vermutlich Schläfenlocken. – Übrigens«, wandte er sich an Benny, »wenn der Herr von dem Spanferkel kosten will, sollte er sich beeilen. Der Andrang ist enorm.« Mitten im Satz schlug er sich vor die Stirn. »Ach, wie dumm von mir! Ich vergaß, dass der Herr ja nur koschere Kost zu sich nimmt. Hätten wir daran gedacht, hätten wir natürlich einen Hammel geschächtet.« Triumphierend schaute er in die Runde.
»Was bist du nur für ein Blödmann!«, fauchte Charly. »Man kann sich nur für dich schämen.«
»Schämen ist gar kein Ausdruck«, pflichtete Edda ihr bei.
»Das sagen die Richtigen!« Horst lachte. »Die eine treibt’s mit einem Itzig, und die andere …«
»Müsst ihr schon wieder zanken?«
Benny, der bereits das Schlimmste befürchtet hatte, atmete auf. Das Dienstmädchen Bruni, das länger zur Familie gehörte als die Geschwister und angeblich schon früher jeden Streit zwischen ihnen fünf Meilen gegen den Wind gerochen hatte, war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Jetzt klatschte sie in ihre großen Hände, als wolle sie eine Schar Hühner vom Hof in den Pirk treiben. »Ab in die Küche mit euch, ihr Mädchen! Die Schnittchen sind alle, und eure Mutter hat nur Ilse zur Hilfe! – Und du, Horst, kümmere dich um den Schnaps! Die Männer haben nichts mehr zu trinken!«
Wie alle Räume in dem kalten, feuchten Rohbau war auch die Küche noch nicht tapeziert, und die Einrichtung bestand nur aus ein paar Stühlen und einem Biertisch, an dem die Mutter gerade Brote schmierte, als die Schwestern hereinkamen. In einer Ecke schlief der kleine Willy tief und fest in seinem Stubenwagen.
»Du bist allein?«, fragte Charly. »Es hieß, unsere liebe Schwägerin würde dir helfen.«
»Ilse ist nur kurz Luft schnappen«, erwiderte die Mutter. »Die Schwangerschaft macht ihr ziemlich zu schaffen.«
»Kein Wunder – bei dem Vater! Da würde mir auch übel!«
»Bitte, Charlotte, du weißt, dass ich solche Reden nicht mag. Nimm dir lieber ein Messer und mach dich nützlich.«
Edda schnitt bereits einen Laib Brot auf. »Wo sind Schinken, Wurst und Käse?«
»Sind leider aus«, sagte die Mutter. »Es gibt nur noch Schweineschmalz.«
»Sind die Leute so über das Büfett hergefallen?«
»Kannst du es ihnen verübeln? Ich bin sicher, dass manche seit Weihnachten nicht mehr satt zu essen hatten.«
»Aber warum habt ihr dann nicht besser vorgesorgt?«
»Das musst du deinen Vater fragen. Er hat die Vorräte bestellt.«
»Und dann reichen die Sachen nicht aus? Das verstehe ich nicht. Papa kauft doch sonst immer von allem viel zu viel.«
Die Mutter legte ihr Messer ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Das ist es ja, weshalb ich mir Sorgen machen. Euer Vater ist der großzügigste Mensch der Welt, und wenn er schon anfängt zu sparen …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Charly ahnte, was sie sagen wollte. Benny hatte sich ihr gegenüber oft darüber lustig gemacht, was für ein seltsamer Bauherr ihr Vater sei. Normalerweise würde der Bauherr den Architekten in seinen Ansprüchen bremsen, um Kosten zu sparen. Bei ihrem Vater aber sei es genau umgekehrt, der wolle immer nur das Beste vom Besten, ohne Rücksicht aufs Geld.
»Meinst du, Papa hat sich mit dem Haus übernommen?«
»Das habe ich ihn auch gefragt, aber er bestreitet das. Nur – warum ruft Gustav Lohmann dann fast jeden Tag an? Nicht nur im Kontor, auch privat.«
»Direktor Lohmann von der Raiffeisenkasse?«, fragte Edda. Dessen Sohn Hans, der das Schwefelbad an der Gifhorner Straße betrieb, war seit der Tanzschule in Edda verliebt und würde sie vom Fleck weg heiraten, wenn es Ernst nicht gäbe.
»Ja«, bestätigte die Mutter, »einmal ist er sogar beim Abendessen hereingeplatzt. Stundenlang haben Papa und er geredet, allein, nachdem sie mich aus dem Zimmer komplimentiert hatten.«
»Und trotzdem hat er mir die teure Leica zum Geburtstag geschenkt.« Edda hielt kurz inne, dann sagte sie: »Was meinst du, Mama – wenn ich die Kamera verkaufe und Papa das Geld gebe, würde das ein bisschen helfen?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich lieb von dir. Aber nein, ich denke, so weit sind wir noch nicht. Und vielleicht ist ja wirklich alles so, wie euer Vater sagt, und ich mache mir mal wieder unnötig Sorgen.«
»Sorgen? Was für Sorgen?«
Als Charly sich umdrehte, stand ihre Schwägerin in der Tür. Wie immer hatte Ilse ihr aschblondes Haar zu zwei Schnecken über den Ohren geflochten, und obwohl Horst und sie erst im November geheiratet hatten, zeichnete sich unter dem wallenden Rock, den sie zu ihren Bundschuhen trug, schon jetzt ein Bäuchlein ab.
»Das geht dich nichts an«, sagte Charly. »Eine Familienangelegenheit.«
»Was soll das heißen?« Ilse schnappte nach Luft. »Gehöre ich etwa nicht zur Familie?«
Hermann wusste nicht, wie oft er schon in seine Westentasche gegriffen hatte, um nach der Zeit zu schauen, aber er hielt es keine zwei Minuten aus, ohne den Deckel seiner Taschenuhr einmal aufspringen zu lassen.
»Warum so nervös?«, fragte Direktor Lohmann. »Es klappt doch alles wie am Schnürchen. Oder erwartest du noch jemand?«
Und ob Hermann noch jemand erwartete! Aber Gustav Lohmann war der Letzte, dem er das auf die Nase binden würde. Denn bis jetzt klappte überhaupt noch nichts, und erst recht nicht wie am Schnürchen.
»Entschuldige, Gustav«, sagte er also nur. »Ich habe zu tun.«
Er ließ den Bankdirektor stehen und bahnte sich seinen Weg durch die Gäste. Wo zum Teufel blieb Graf Schulenburg? Wenn der Graf ihn versetzte und er mit dem Geschäft, das er Schulenburg vorschlagen wollte, nicht zu Potte kam, konnte er sein Haus Gustav Lohmann und der Raiffeisenkasse gleich überschreiben, noch bevor die Familie überhaupt eingezogen war.
Hermann spürte, wie ihm der Schweiß an den Achseln herunterlief. Ja, er hatte sich mit dem Bau übernommen, und auch wenn er das Dorothee gegenüber nie zugeben würde, stand ihm das Wasser bis zum Hals. Warum hatte er nur nicht auf Benno gehört? Statt dessen Warnungen zu beherzigen, hatte er jedes Maß verloren. Nichts war ihm gut genug gewesen, alles hatte er immer noch größer und schöner haben wollen, damit die Familie zusammenblieb. Mit dem Haus hatte er verhindern wollen, dass die Kinder – nun, da sie erwachsen waren – sich in alle Welt zerstreuten. Wenn das Haus erst stand, so hatte er gehofft, würde Georg aus Frankfurt zurückkehren, zusammen könnten die Söhne Großartiges leisten, Georg als kaufmännischer und technischer Leiter, Horst als Mann fürs Grobe, er kam gut mit den Bauern zurecht und wusste, wie man die Arbeiter in den Hintern trat. Edda würde sich von ihrem dürren Hungerleider trennen und als Französischlehrerin in der Mittelschule arbeiten, vielleicht würde sie sogar den jungen Lohmann erhören. Und Charlotte schließlich konnte sich im Haus eine Praxis einrichten, in Fallersleben gab es nur einen praktischen Arzt, oder sich im Krankenhaus Am Spieker bewerben, und wenn ihr künftiger Mann ein Büro brauchte, war auch dafür im Dachgeschoss Platz genug …
Hermann hatte sich alles so schön ausgemalt. Doch im selben Tempo, in dem die Baukosten in die Höhe geschossen waren, war es mit der Firma bergab gegangen. Zucker war ein Luxus, den sich in diesen Zeiten immer weniger Menschen leisteten. Die monatlichen Ausgaben von rund dreißigtausend Reichsmark für Löhne und sonstige Betriebskosten wurden von den laufenden Einnahmen kaum noch gedeckt. Dabei belief sich der Endpreis für das Haus, der anfangs mit hundertfünfzigtausend Mark veranschlagt worden war, inzwischen auf mehr als die doppelte Summe – bei gerade mal fünfundvierzigtausend Mark Eigenkapital.
Gustav Lohmann hatte den Braten gerochen, kein Wunder, er konnte die Katastrophe, die sich da anbahnte, ja täglich auf Hermanns Konto verfolgen. Der Bankdirektor hatte ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und gedroht, den Kredit platzen zu lassen – es sei denn, er habe verlässliche Sicherheiten zu bieten. Hermann hatte eine Hypothek auf die Fabrik aufgenommen, aber nicht einmal die reichte aus, um den Fehlbetrag auszugleichen. Er war darum gezwungen gewesen, das waghalsigste Geschäft seines Lebens zu riskieren. Sein alter Freund und Kriegskamerad Wilhelm Bernstein, der Pate des kleinen Willy, der in Berlin eine Kuchenfabrik betrieb und die Mannschaftsmessen und Offizierskasinos fast sämtlicher in der Hauptstadt befindlichen Garnisonen belieferte und deshalb beste Beziehungen zum Reichswehrministerium unterhielt, hatte es für ihn eingefädelt. Die Fallersleber Zuckerfabrik würde künftig die Reichswehr mit Zucker versorgen, als Hauptlieferant der Armee. Das hatte sogar Gustav Lohmann als Sicherheit gereicht. Der Haken an der Sache war nur, dass Hermann aufgrund des Zeitdrucks die Rechnung ohne den Wirt hatte machen müssen: Er hatte den Vertrag unterschrieben, noch bevor er sich rückversichert hatte, dass er ihn auch tatsächlich erfüllen konnte. Weil er künftig Zucker in solchen Mengen produzieren musste, dass er dafür jede verfluchte Rübe des Wolfsburger Lands brauchte, hing jetzt alles davon ab, dass er mit Graf Schulenburg ins Geschäft kam. Spielte der Graf mit, war er gerettet. Wenn nicht, drohte das Haus, das er doch für den Zusammenhalt der Familie gebaut hatte, die Familie zu ruinieren.
Der alte Lübbecke, der als Faktotum der Firma schon über ein halbes Jahrhundert im Dienst der Isings stand, schlurfte in seinen Holzpantinen vorbei.
»Weißt du, wo Horst steckt?«, fragte Hermann.
»Wo soll der schon stecken?« Der alte Lübbecke sog missmutig an seiner Pfeife. »Wahrscheinlich im Hintern von Kreisleiter Sander.«
Hermann hatte keine Zeit, ihn zur Ordnung zu rufen. »Wenn du Horst siehst, sag ihm, er soll zur Fabrik kommen. Sofort! Ich brauche seine Hilfe!«
»Eins muss man Horst lassen«, sagte Ernst. »Bei ihm weiß man wenigstens, was auf einen zukommt.«
»Meinst du nicht, dass du übertreibst?«, fragte Benny. »Nicht alle Nazis sind solche Judenhasser. Horsts eigener Vater ist das beste Beispiel.«
»Nur weil er dich als Schwiegersohn akzeptiert?« Ernst nahm ein Schmalzbrot von dem Tablett, das eine als Dienstmädchen verkleidete Arbeiterin herumreichte, und biss hinein. »Sag selbst, wie viele neue Aufträge hast du? Jetzt, wo dein erstes Haus fertig ist.«
Benny zögerte, er ahnte, worauf sein Freund hinauswollte. »Nur einen«, gab er zu. »Eine Wurstküche für Metzgermeister Schweinske in der Weender Straße.«
»Eine Wurstküche für Metzgermeister Schweinske?«, wiederholte Ernst und schlang sein Brot hinunter, als hätte er den ganzen Tag nichts gegessen. »Na bravo! Das ist alles?«
»Ich … ich hatte noch ein paar andere Aufträge in Aussicht.«
»Und was ist aus denen geworden?«
Benny senkte den Blick. »Haben sich leider zerschlagen.«
»Siehst du?« Zufrieden leckte Ernst sich über die Lippen.
»Aber das hat doch nichts mit Politik zu tun!«, protestierte Benny. »Die Leute haben einfach kein Geld, um Häuser zu bauen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht! Man boykottiert dich! Und das ist erst der Anfang. Hitler hasst euch Juden und wird vor nichts zurückschrecken.«
»Jetzt übertreibst du aber«, erwiderte Benny.
»Von wegen!« Ernst schüttelte den Kopf. »Ich an deiner Stelle würde es so machen wie deine Eltern.«
»Du meinst – auswandern?«
»Andere wären glücklich, wenn sie die Möglichkeit hätten.«
»Aber wir können doch nicht alle hier verrückt spielen, nur weil ein paar Idioten in Berlin …« Benny suchte nach den richtigen Worten, doch konnte er sie auf die Schnelle nicht finden. Stattdessen sagte er: »Wenn du so sicher bist, dass in Deutschland die Welt untergeht, warum bleibst du dann eigentlich noch hier?«
»Wenn ich abhauen könnte, würde ich es tun, lieber heute als morgen – darauf kannst du Gift nehmen. Aber erstens bin ich kein Jude, und zweitens lässt das mein Gewissen nicht zu.«
»Was soll das heißen? Willst du jetzt doch wieder Pastor werden?«
Erneut kam das falsche Dienstmädchen mit dem Tablett vorbei, um Ernst das letzte Schnittchen anzubieten. Offenbar hatte sie gesehen, mit welchem Kohldampf er aß, und hatte Mitleid mit ihm. Ohne sich ein zweites Mal bitten zu lassen, griff er nach dem Brot.
»Für Beten ist es zu spät«, sagte er, »jetzt helfen nur noch Taten.« Er wartete, bis sie wieder allein waren, dann fuhr er fort: »Es gibt nur einen Grund, in diesem Land zu bleiben: um es vor Hitler zu retten. Freunde von mir bauen überall Zellen auf, es wird Flugblattaktionen geben, wilde Streiks, Sabotage.«
»Freunde von dir?«, fragte Benny. »Was für Freunde?«
Ernst legte sein Brot ab und schaute sich um, als habe er Angst, dass jemand sie hören könnte. »Ich bin in die KPD eingetreten«, sagte er.
»Das ist nicht dein Ernst!«, platzte Benny heraus. »Du warst doch schon in der SPD, bevor du laufen konntest.«
»Nicht so laut.« Ernst deutete mit dem Kopf zu Horst hinüber, der mit seiner Kornflasche in der Hand nur ein paar Meter weiter stehengeblieben war und sich neugierig nach ihnen umdrehte. Zum Glück wurde er von einem Gast abgelenkt, der Schnaps haben wollte. »Die Sozis haben die Segel gestrichen«, fuhr Ernst leise fort. »Sie spielen Hitlers Spiel mit, sie haben ihm nicht mehr entgegenzusetzen als ihr Gequatsche im Reichstag. Die Kommunisten sind die Einzigen, die wirklich was tun.«
Benny musste schlucken. »Soll das etwa heißen – du machst da mit?«
»Pssst!« Ernst legte einen Finger an die Lippen. »Kein Wort zu Edda! Sie darf nichts davon wissen!«
»Auch nicht, dass du in der KPD bist?«
»Auf gar keinen Fall! Sie würde sich nur Sorgen machen. Und das will ich nicht.«
Benny holte tief Luft. »Na gut, du kannst dich auf mich verlassen.«
Ernst nahm wieder sein Brot, und während er weiteraß, ließ er seinen Blick über den Hof schweifen. »Schau sie dir nur an, wie sie die Köpfe zusammenstecken«, sagte er voller Verachtung, »die ganze widerliche Bande. Der Zuckerbaron und der Bankdirektor, der Bankdirektor und der Pastor, der Pastor und der Kreisleiter … Am liebsten würde ich eine Bombe werfen!«
»Dann bin ich nur froh, dass du gerade keine zur Hand hast.«
»Aber weißt du, wen ich am allerwiderlichsten finde?«, fuhr Ernst fort, als hätte Benny gar nichts gesagt. Sein Blick wanderte zu einem kleinen, leicht gnomenhaft wirkenden Mann Mitte vierzig, dessen großer, eckiger Kopf in auffallendem Kontrast zu seinem geringen Körperwuchs stand. »Professor Carl Schmitt!«
Benny glaubte, nicht richtig zu hören. »Bist du verrückt? Der Mann ist ein berühmter Gelehrter und der ganze Stolz der Familie. Und außerdem ein fabelhafter Onkel. Er tut für seine Nichten und Neffen einfach alles. Frag Edda! Charly will ihn deshalb auch um Rat bitten.«
Ernst schüttelte den Kopf. »Der Mann ist ein Chamäleon, eine intellektuelle Hure. Der dient sich immer nur der Macht an, ganz gleich, welcher Couleur.«
Benny schaute seinen Freund an. Dass Ernst ein Eiferer war, in politischen Fragen noch mehr als in der Theologie, war nicht neu. Aber so hatte er ihn noch nie erlebt. Fast war er ihm unheimlich.
»Hast du eigentlich schon wegen heute Abend mit Edda gesprochen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
Irritiert erwiderte Ernst seinen Blick. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Also, ich werde mich am Nachmittag hier offiziell verabschieden, um zusammen mit dir nach Göttingen zurückzufahren.«
»Was meinst du mit offiziell?«
»Dass ich danach inoffiziell meiner Herzallerliebsten einen Besuch abstatten werde. In Bayern würde man das Fensterln nennen«, fügte er grinsend hinzu. »Das würde ich dir übrigens auch empfehlen. Immer nur Politik hält doch kein Mensch aus.«
Ernsts Gesicht lief rot an, verlegen schüttelte er den Kopf. »Ich … ich glaube, dazu fehlt mir der Mut.«
Benny musste laut lachen. »Bomben werfen, das ja – aber keine Traute, sein Mädchen zu besuchen!« Er klopfte Ernst auf den Rücken. »Keine Angst! Charlys und Eddas Zimmer liegen im Erdgeschoss. Da brauchen wir nicht mal Leitern.«
Carl Schmitt hasste Schmalzbrote, schon als Kind hatten sie ihm Übelkeit bereitet, doch da von dem Spanferkel nichts mehr übrig gewesen war, als er sich eine Portion hatte holen wollen, hatte er notgedrungen ein paar Bissen davon runtergewürgt. Jetzt revoltierte sein Magen, das Fett stieß ihm auf, so dass er den Geschmack mit Bier runterspülen musste, obwohl er sonst tagsüber nie Alkohol trank und außerdem Bier fast so sehr hasste wie Schweineschmalz. Und für dieses Vergnügen hatte er die Einladung zur Vereidigung der neuen Regierung ausgeschlagen und womöglich den Unmut seines mächtigen Förderers riskiert … Aber er hatte keine Wahl gehabt. Sein Schwager hatte ihn in Berlin angerufen und um Hilfe gebeten – das Wohl und Wehe der Familie stehe auf dem Spiel. Hermann Isings persönliches Schicksal war Carl zwar herzlich egal, auch wenn dieser ihm das Studium finanziert hatte, doch weil das Wohl und Wehe der Familie zugleich das Wohl und Wehe seiner Schwester war, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich nach Fallersleben auf den Weg zu machen.
Ach, Dorothee …
Carl hatte seine Schwester fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Umso mehr bedrückte ihn, in welcher Verfassung er sie angetroffen hatte. Auch mit ihren neunundvierzig Jahren und den silbernen Strähnen in dem brünetten Haar war sie immer noch eine attraktive Frau, doch ihre Schönheit hatte den früheren Glanz gänzlich verloren, war verwelkt und verbraucht. Wie hatte er seine große Schwester geliebt, von Kindheit an, nicht nur wegen ihrer Fürsorge, mit der sie ihn anstelle der Mutter aufgezogen hatte, auch wegen ihres Klavierspiels. Ihr Traum war es gewesen, das Konservatorium in Köln zu besuchen, und sie hatte es sogar geschafft, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, ohne richtige Lehrer, allein mit ihrer Begabung. Carl hatte sich immer vorgestellt, wie sie einst die Konzertsäle der ganzen Welt erobern würde, umjubelt vom Publikum, eine Frau, der Künstler und Dichter zu Füßen lagen. Doch kurz darauf war Hermann Ising in ihrer kleinen, sauerländischen Heimatstadt Plettenberg aufgetaucht, ein plattfüßiger Zuckerbaron auf der Suche nach einer Häckselmaschine … Niemand hatte damals verstanden, wie seine Schwester diesen Mann hatte heiraten können. Doch Carl ahnte den Grund. Sie hatte es für ihn getan. Und darum stand er in ihrer Schuld. Sein Leben lang.
Voller Widerwillen blickte er auf das angebissene Brot in seiner Hand. Er wusste, in Berliner Politikerkreisen wie auch unter Fachkollegen galt er als gefühlskalter Immoralist, der keinerlei Sentimentalitäten duldete, vor allem nicht in Rechtsfragen. Doch dass Dorothee wegen ihm dieses Schmalzstullenleben führen musste, würde er sich nie verzeihen. Als er seinem Schwager zur Geburt des kleinen Willy gratuliert hatte, hatte Hermann ihm gegen die Schulter gepufft und mit einem Augenzwinkern geraunt, dass in seiner Ehe eben noch »Musike« sei. Arme Dorothee. Derlei »Musike« war alles, was von ihrer einst erträumten Karriere als Musikerin übrig geblieben war.
Carl ließ unauffällig den Rest seines Brots in einem Abfalleimer verschwinden, als sein Blick auf eine junge, blondgelockte Schönheit mit vollen, dunkelroten Lippen und einem atemberaubenden Busen fiel. Beim Anblick der aufreizend hübschen Venus hellte sich seine Stimmung schlagartig auf. Unter welchem Vorwand könnte er sich ihr nähern? Leider wurde das schöne Kind von einer ebenfalls blonden, ziemlich bedrohlich wirkenden Matrone in Beschlag genommen, wahrscheinlich der Mutter, sowie einem schmächtigen, weißhaarigen Mann, der wohl der Vater sein musste. Dessen Gesicht kam Carl irgendwie bekannt vor. War das nicht Hermanns Kriegskamerad, der Berliner Kuchenfabrikant? Dann hatte er ja einen guten Grund, die Familie samt der hübschen Tochter zu begrüßen.
Hocherfreut wollte er sich auf den Weg machen, da hielt ihn jemand am Arm zurück.
»Kann ich dich kurz sprechen, Onkel Carl?«
Als er sich umdrehte, stand Charlotte vor ihm. Ihrem Gesicht nach hatte sie etwas auf dem Herzen. »Aber natürlich, meine Liebe«, seufzte er. »Worum geht’s?«
»Nicht hier«, sagte sie. »Lass uns woanders hingehen. Wo uns niemand hört.«
Horst nagte an seinen Nägeln, obwohl diese an den Rändern schon ganz blutig waren, doch er musste sich irgendwie abreagieren. Der Grund für seine Erregung war die idiotische Aufführung, die sein Vater sich zum Empfang des Grafen ausgedacht hatte. Zu ihrem Zweck stand im Hof der Zuckerfabrik, zwischen dem langgestreckten, zweigeschossigen Ziegelsteingebäude und dem alten Wohnhaus der Familie, ein Pferdefuhrwerk mit dem Klavier der Mutter bereit. Arbeiter hatten unter Aufsicht des alten Lübbecke das schwere Instrument auf den Wagen gewuchtet. Angeblich sollte die Aufführung eine Huldigung an den Ort Fallersleben und dessen berühmtesten Sohn sein. In Horsts Augen hingegen war sie ein Schlag ins Gesicht eines jeden anständigen Deutschen, auf jeden Fall aber eine Beleidigung seiner Heimatstadt, die stolz darauf war, dass es in ihren Mauern keine jüdische Gemeinde gab. Auf dem Judenfriedhof war schon seit einer Ewigkeit niemand mehr beerdigt worden, und die einzige lebende jüdische Person war die Frau von Amtmann Scheelhase in der Osloßer Straße. Und da sollte Horst den Kutscher für eine jüdische Sängerin spielen? Nie und nimmer würde er das tun, da konnte sein Vater noch so sehr toben.
»Jetzt steig endlich auf den Kutschbock und fahr los! Die Schulenburgs können jeden Augenblick kommen.«
»Und wenn der Reichspräsident persönlich käme«, erwiderte Horst und spuckte ein Stück Fingernagel aus, »ich fahre kein Klavier für so eine spazieren.«
»Kein Mensch wird ahnen, dass sie Jüdin ist. Sie ist blonder als du!«
»Das ist mir scheißegal! Ich weiß, was ich weiß!«
»Himmel, Arsch und Zwirn! Willst du uns vor den Herrschaften blamieren?«
»Blamieren würde ich uns, wenn ich das Schmierentheater mitmachen würde. Der Graf ist schließlich Parteigenosse!«
»Verdammt nochmal! Entweder, du tust, was ich sage – oder …«
»Oder was? Nein, einen Teufel werde ich tun! Kreisleiter Sander hat mir in die Hand versprochen, dass er meine Kandidatur unterstützt. Glaubst du, das werde ich mir jetzt versauen?«
»Willst du uns deshalb alle ins Unglück stürzen?«
»Nur weil ich bei dem widerlichen Tingeltangel nicht mitmache? Jetzt aber mal halblang!«
»Du ahnungsloser Dummkopf! Du weißt ja nicht, was auf dem Spiel steht!«
»Warum sagst du es mir dann nicht einfach?«
»Dazu fehlt die Zeit. Ich muss heute mit dem Grafen ein Geschäft abschließen. Unbedingt! Sonst reißt sich Gustav Lohmann unser neues Haus unter den Nagel!«
»WAS sagst du da?« Irritiert hielt Horst inne. »Was hat unser Haus damit zu tun?«
Als er seinem Vater ins Gesicht sah, flackerte in dessen Augen blanke Angst. »Alles, mein Junge. Es geht um unsere Existenz. Deshalb bitte ich dich auf den Knien: Tu mir den Gefallen! Glaub mir, der Graf wird begeistert sein. Du weißt doch, wie stolz er darauf ist, dass das Lied der Deutschen in Fallersleben gedichtet wurde, sozusagen auf seinem Grund und Boden.«
Der Vater hatte aufgehört zu brüllen und trug seine Bitte mit so leiser, fast flehender Stimme vor, dass Horst unsicher wurde.
»Soweit ich weiß, hat Hoffmann den Text auf Helgoland gedichtet. So habe ich das jedenfalls in der Schule gelernt.«
»Was spielt das denn für eine Rolle? Hauptsache, er wurde hier geboren! Graf Schulenburg hat dem Heimatverein gerade tausend Reichsmark gespendet, damit das Hoffmannhaus als Gedenkstätte erhalten bleibt.«
»Warum lässt du das Lied dann nicht von jemand Deutschem singen? Ilse bräuchte nur mit dem Finger zu schnippen, und schon wären die Mädchen vom BdM-Chor da.«
»Das geht nicht«, erwiderte der Vater. »Das Geschäft habe ich Onkel Wilhelm zu verdanken, ein riesiger Reichswehrauftrag. Und es ist nun mal sein Herzenswunsch, dass Gisela für den Grafen singt. Das kann ich ihm unmöglich abschlagen. Seine Tochter ist sein Ein und Alles.«
»Was hat Onkel Wilhelm mit dem Grafen zu tun?« Horst schüttelte den Kopf. »Langsam verstehe ich überhaupt nichts mehr.«
»Das brauchst du auch nicht. Setz dich einfach auf den Kutschbock und fahr los!«
»Ohne dass ich weiß, was gespielt wird?« Er spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte. »Aber natürlich, mit Horst kann man es ja machen. Horst war ja schon immer der Trottel, den man einfach rumkommandieren kann, wie man es braucht, ohne was zu erklären. Ganz egal, welche Folgen das für ihn haben könnte …«
Lautes Geknatter unterbrach ihn. Im nächsten Moment kurvte ein Motorrad in den Hof. Das Gesicht des in Lederjacke und Knickerbocker gekleideten Fahrers war von einer verschmutzten Chauffeursbrille verdeckt, im Beiwagen hockte eine Frau mit einer Lederhaube auf dem Kopf.
Als das Motorrad zum Stehen kam, sah Horst, wie die Miene seines Vaters aufleuchtete, als erschiene gerade der Erlöser.
Na klar, der verlorene Sohn kehrte zurück …
Nein, Horst hatte sich nicht getäuscht. Als der Fahrer die Brille abnahm, kam das Gesicht seines Bruders Georg zum Vorschein. Mit einem Siegerlächeln, als hätte er gerade ein Motorradrennen gewonnen, stieg er von seiner Maschine, um seiner Begleiterin aus dem Beiwagen zu helfen. Als diese gleichfalls ihre Kopfbedeckung abnahm, entpuppte sie sich als eine rothaarige, ganz und gar verrucht aussehende Person, wie es sie nur in illustrierten Zeitschriften oder vielleicht noch in Großstädten gab, auf keinen Fall aber im Wolfsburger Land.
»Christiane Höpfner«, stellte Georg sie vor.
»Christiiiiine«, verbesserte diese ihn, »ohne a. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Horst konnte es nicht fassen. Was war sein Bruder doch für ein verkommenes Subjekt! Offenbar kannte er nicht mal den richtigen Namen seiner Begleiterin. Aber statt sich zu entschuldigen, ließ er lachend seine weißen Zähne blitzen, als hätte seine Begleiterin gerade einen Witz gerissen.
»Wie auch immer«, sagte er, »meine Verlobte.«
»Was meinst du?«, fragte Charly, als sie in einer ruhigen Ecke des Hofes eine freie Bank entdeckte. »Wollen wir uns kurz setzen?«
»Gern«, sagte Onkel Carl. »Hier sind wir ungestört.«
Er zog ein frisch gebügeltes Taschentuch hervor und breitete es auf der Bank aus. Zusammen nahmen sie darauf Platz. Charly war nicht nur stolz auf den berühmten Bruder ihrer Mutter – sie liebte Onkel Carl! Als sie und ihre Geschwister noch Kinder gewesen waren, hatte er ihnen die interessantesten Geschenke aus Berlin mitgebracht, Chemiebaukästen für die Jungen, sprechende Puppen für die Mädchen. Immer hatte er Witze gemacht und albernes Zeug geredet, so verwirrend anders als alles, was normale Onkels und Tanten mit Kindern redeten, dass man nie recht wusste, woran man bei ihm war. Später hatte er sie mit Büchern versorgt, »Spielzeug fürs Gehirn«, wie er das nannte, oft von Autoren, mit denen er persönlich befreundet war. Er war der geistreichste und gleichzeitig aufmerksamste Mensch, den Charly kannte. Die hellgrauen Augen in seinem eckigen Gesicht waren zwei rastlos aufmerksame Beobachtungsposten, und wenn er den Mund aufmachte, sprühte er nur so vor Intelligenz. Nichts schien es auf der Welt zu geben, was er nicht wusste und worüber er nicht aus dem Stegreif hätte sprechen können, so dass man sich im Vergleich zu ihm stets hoffnungslos unterlegen, ja manchmal sogar ein bisschen dumm vorkam.
Mit einem spöttischen Lächeln schaute er sie an. »Du siehst aus, als hättest du gerade Verdauungsprobleme. Ich glaube, dein Vater empfiehlt in solchen Fällen einen Schnaps!«
Charly schüttelte den Kopf. »Mir ist gerade nicht nach Späßen zumute, Onkel Carl. Ich brauche deinen Rat.«
Zum Glück war er ein Mann, der rasch umschalten konnte. Noch während er ihren Blick erwiderte, verschwand der Spott aus seiner Miene.
»Wie kann ich dir helfen?«
»Es … es ist wegen Benny.«
»Deinem Verlobten?«
Sie nickte. »Seine Eltern wandern nach England aus, sie haben Angst vor Hitler und der neuen Regierung und wollen, dass auch ihr Sohn das Land verlässt. Was meinst du – sind Juden in Deutschland noch sicher?«
Onkel Carl wiegte den Kopf. »Ich glaube, die Eltern deines Verlobten sind ein bisschen übervorsichtig. Das Deutsche Reich ist ein Verfassungsstaat, da geht alles nach Recht und Gesetz. Das wird sich so schnell auch nicht ändern. – Allerdings …«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
»Allerdings was?«
»›Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‹ – wenn du erlaubst, dass ich mich selbst zitiere.«
Charly hatte mal wieder das Gefühl, zu dumm für ihren Onkel zu sein. »Was willst du damit sagen?«
»Wir leben in aufregenden Zeiten«, sagte er, und während er nachdenklich den Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten gegen den Daumen rieb, wanderte sein Blick in unbestimmte Ferne. »Vielleicht hat der alte Liberalismus tatsächlich ausgedient, und der Leviathan erwacht.«
»Rede bitte deutsch mit mir. Du weißt doch, dass dein philosophisches Kauderwelsch hier keiner versteht.«
»Verzeih.« Als wäre ihm sein Geraune plötzlich selber peinlich, rastete sein Blick wieder ein. »Also, wenn du und dein Verlobter euch gegen alle Eventualitäten absichern wollt, wäre mein einfacher Rat, dass ihr so rasch wie möglich heiratet. Vorausgesetzt natürlich«, fügte er hinzu, »Benjamin Jungblut ist wirklich der Richtige, der sogenannte Mann für’s Leben.« Mit prüfendem Blick fixierte er sie. »Ist er das?«
Bevor sie antworten konnte, wurden Rufe laut. Charly schaute hinüber zum Hof, wo gerade ein schwarzer Maybach vorfuhr, dessen Schlag mit dem Wappen der Schulenburgs geschmückt war.
»Ah, der Graf und seine Frau Gemahlin«, sagte Onkel Carl und erhob sich. »Tut mir leid, Charlotte, ich muss dich verlassen. Dein Vater hat mir einen kleinen Auftrag gegeben.«
Respektvolle Stille trat ein, als Hermann unter den neugierigen Blicken der Festgesellschaft auf die Limousine zueilte, um die sehnlich erwarteten Ehrengäste zu begrüßen. Der Graf und die Gräfin – beide in den jungen Vierzigern, ein Adelspaar wie aus dem Gotha: er im Lodenanzug, sie im Lodenkostüm, beide mit Jägerhut – warteten nicht, bis er den wappengeschmückten Schlag für sie öffnete, sondern verließen ganz formlos und ohne seine Hilfe den Wagen. In seiner Nervosität fiel Hermann nichts Besseres ein, als zu salutieren.
Schulenburg musterte ihn mit einem leicht ironischen Blick.
»Zur Feier des Tages in Uniform?«
Verunsichert wechselte Hermann ins Platt. »Wat mutt, dat mutt …«
Gründlicher hätte der Empfang nicht schiefgehen können! Wieder brach ihm der Schweiß aus, und er verfluchte seinen Entschluss, sich mit Rücksicht auf Horst und Kreisleiter Sander als Ortgruppenleiter ausstaffiert zu haben, statt in schlichtem Zivil zu feiern. Der Graf war zwar Parteigenosse, aber kein fanatischer Nationalsozialist. Nicht anders als Hermann selbst, den Bankdirektor Lohmann im Verein mit der Kreisbauernschaft vor gut einem Jahr genötigt hatte, die Leitung der Ortsgruppe zu übernehmen, um die Interessen der Landwirtschaft vor Ort zu stärken, war auch Schulenburg der Partei nur aus Vernunftgründen beigetreten. Beide dachten sie in Wahrheit deutschnational, doch abgesehen von der bedeutungslosen Bauern- und Landvolkpartei war die NSDAP die einzige politische Kraft, die sich die Förderung des Nährstandes auf die Fahnen geschrieben hatte, und ein bisschen frischer Wind konnte in der Politik nie schaden, zumal die alten Parteien ja nicht imstande waren, eine Regierung zu bilden.
»Ist ja schon gut, mein lieber Ising«, sagte Graf Schulenburg und klopfte Hermann auf die Schulter. »Dann zeigen Sie uns mal Ihr neues Zuhause.«
Er wollte seiner Frau den Arm reichen, doch zum Glück war Schwager Carl auf Zack. Genau im richtigen Moment tauchte er auf, um den Herrschaften seine Aufwartung zu machen.
»Ah, da ist ja mein Lieblings-Staatsrat«, rief die Gräfin, sichtlich entzückt. »Wie schön, Sie wiederzusehen!«
Formvollendet beugte Carl sich über ihre Hand. »Nicht bei weitem so schön wie die Tatsache, dass Sie mich wiedererkannt haben, verehrte gnädige Frau.«
»Sie alter Charmeur! Kommen Sie, Professor, machen wir zusammen ein paar Schritte. Sie müssen mir unbedingt den neuesten Berliner Klatsch erzählen.«
»Es wäre mir eine Ehre. Wenn ich bitten darf?«
»Aber mit dem größten Vergnügen!«
Lachend hakte sie sich bei ihm unter, und zusammen gingen sie davon. Hermann atmete auf. Der erste Teil seines Plans war aufgegangen.
»Das sah ja fast aus wie eine Entführung«, sagte der Graf.
»Um ehrlich zu sein, das war es auch«, erwiderte Hermann und schielte dabei den Rübenkamp hinunter Richtung Fabrik, hoffend, dass auch Teil zwei seines Plans klappen würde. »Ich wollte Sie kurz unter vier Augen sprechen. Um Sie zu fragen, ob Ihr Verwalter Sie schon von meinem Angebot unterrichtet hat.«
Schulenburg hob die Brauen. »Sie meinen, dass ich künftig meine Zuckerrüben nicht mehr an meine Schweine verfüttern soll?«
»Es wäre für Sie von großem Vorteil. Ihre Ernte würde doppelt so hohen Gewinn abwerfen, wenn Sie sie in meiner Raffinerie verarbeiten lassen. Ich habe mir erlaubt, eine kleine Rechnung aufzumachen.«
Hermann zog die vorbereitete Kalkulation aus seiner Brusttasche und reichte sie dem Grafen. Doch statt sie zu nehmen, schüttelte Schulenburg den Kopf.
»Wie stellen Sie sich das vor, Ising? Ich habe die größte Schweinezucht im Land. Ich brauche die Rüben für die Mast. Wenn ich Ihnen die Ernte abtrete, müsste ich sie durch zugekauftes Futter ersetzen. Wo liegt da der Sinn?«
»Darüber habe ich natürlich nachgedacht. Und ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden, die Sie befriedigen wird. Zusätzlich zur Gewinnbeteiligung würde ich mich verpflichten, die gräflichen Wirtschaftsbetriebe mit so viel Melasse zu versorgen, wie Sie für die Mast brauchen. Das Material, das bei der Verarbeitung Ihrer Rüben abfällt, gratis, alles Weitere zum Preis meiner eigenen Gestehungskosten!«
Während er sprach, ertönte von Ferne Musik. Wie auf Kommando drehte der Graf sich um. Von der Zuckerfabrik näherte sich das Pferdefuhrwerk, mit Georg an den Leinen. Am Klavier saß Wilhelm Bernstein und präludierte, während seine Tochter Gisela in Erwartung ihres Auftritts an ihrer Frisur zupfte.
»Oh, was ist denn das?«, fragte Schulenburg.
»Nur eine kleine Überraschung für Sie und die Frau Gräfin«, erwiderte Hermann.
Im selben Moment gab Wilhelm Bernstein seiner Tochter den Einsatz, und mit einer Stimme, die den Grafen sichtlich aufhorchen ließ, sang Gisela das Lied, das der berühmteste Sohn des Ortes vor fast einem Jahrhundert gedichtet hatte, sozusagen auf dem Grund und Boden derer von der Schulenburg.
»Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt …«
Begeistert klatschten die Gäste Beifall, und der Graf strahlte übers ganze Gesicht.
»Was für eine gelungene Überraschung!« Mit einem Schmunzeln drehte er sich zu Hermann um. »Nun geben Sie Ihre Kalkulation schon her, Sie alter Jude«, sagte er und streckte die Hand aus. »Anschauen kann ich sie mir ja mal.«
»Aber sehr gerne.« Eilig reichte Hermann ihm den Bogen. Und während der Graf das Papier einsteckte, fügte er hinzu. »Unser Wolfsburger Land ist vielleicht nicht der Nabel der Welt. Aber was den Deutschen das Leben versüßt und woran sie glauben, das kommt beides von hier.«
Was für ein herrlicher Busen! Georg, der das Fuhrwerk vor der Freitreppe zum Stehen gebracht hatte, kam aus dem Staunen nicht heraus. Unglaublich! Er hatte Gisela Bernstein seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, so dass er, als sie mit ihrem Vater auf den Wagen gestiegen war, sie erst gar nicht wiedererkannt hatte – »Ich bin’s, die kleine Gisela«, hatte sie lachend gesagt, »aber du kannst mich ruhig Gilla nennen, wie alle meine Freunde.« Ihr Aussehen hatte sich ebenso zu ihrem Vorteil verändert wie ihr Name. Aus dem pummeligen Mädchen mit den dicken blonden Zöpfen von einst war eine voll erblühte Frau geworden, die die bewundernden Blicke des Publikums sichtlich genoss. Auch Onkel Carl, der gerade mit der Gräfin herbeikam, schien fasziniert, fast sprangen ihm die Augen aus den Höhlen. Gilla musste Anfang, Mitte zwanzig sein, also genau in jenem gesegneten Alter, in dem eine Frau auf den Gipfel ihrer Schönheit gelangt, bevor sie heiratet und die Schönheit sich in der Ehe verbraucht, mit Kinderkriegen und faltenträchtigen Alltagssorgen. Komisch, Georg hatte eigentlich gedacht, sie wäre deutlich jünger als er, aber da trog ihn seine Erinnerung offenbar … Während Gilla sang, wuchs ihr erstaunlicher Brustumfang bei jedem Atemholen um weitere Zentimeter an. Bei dem Anblick geriet sein Blut fast so sehr in Wallung wie beim Anblick einer wohlproportionierten Automobilkarosserie.
»Was für eine wundervolle Stimme«, sagte er, als Gilla sich unter dem Beifall des Publikums verbeugte. »Machst du das beruflich?«
»Du meinst – Singen?«, fragte sie mit einem Lächeln, das Anlass zu den schönsten Hoffnungen gab.
»Nein, das Verbeugen«, erwiderte er. »Natürlich meine ich das Singen! Du bist eine hinreißende Künstlerin, ich würde wetten, du trittst öffentlich auf. Stimmt’s oder habe ich recht?«
»Könnte schon sein.« Ein zartes Rosa huschte über ihre Wangen, das perfekt zu ihrem Lächeln passte.
Georg war Feuer und Flamme. »Und wo kann man dich bewundern?
»Pssssst«, machte sie mit einem Seitenblick auf ihren Vater. Dann beugte sie sich zu ihm herab, so dass ihr Gesicht fast seine Wange berührte. »Ich singe ab und zu in einer Bar. Allerdings ganz andere Lieder«, fügte sie mit einem so reizenden Augenaufschlag hinzu, dass Georg nur noch eine Frage blieb.
»Und wie heißt die Bar?«
Ihre Antwort ging im Rufen und Klatschen des Publikums unter, das lautstark nach einer Zugabe verlangte.
Georg fasste nach Gillas Hand. »Ich komme bald nach Berlin«, raunte er, »zur Automobilausstellung. Besuch mich da am Stand der Standard-Fahrzeugfabrik. Den findest du ganz leicht, geh einfach dahin, wo sich die meisten Zuschauer drängeln.«
»Willst du mich neugierig machen?«
»Na klar, was denkst du denn?«