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Peter Pranges großer Erfolgsroman über zwei Künstlerleben. Als Laura Paddington bei einer Londoner Vernissage Harry Winter begegnet, beginnt die große Liebe der jungen Malerin zum berühmten Außenseiter unter den Künstlern. Gemeinsam erleben sie den Rausch der Künstlerfeste im Paris der 30er Jahre, flüchten dann in ein Dorf nach Südfrankreich. Das ist der Beginn einer Odyssee durch Europa, bei der sie ihren Traum gegen die Barbarei verteidigen müssen. Der Bestseller über die Kunst der großen Liebe, die Grenzen der Phantasie und die Macht der Leidenschaft.
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PETER PRANGE
Himmelsdiebe
ROMAN
FISCHER E-Books
»Niemals nüchtern sein!«
M. E.
»Meine Kunst ist weiser als ich.«
L. C.
Dem Andenken einer Jahrhundertliebe gewidmet
Für Ernst Hüsmert,
der mir als Erster die andere Seite gezeigt hat
Die nachfolgende Geschichte ist keine Tatsachen-Biografie, sondern ein Roman auf der Grundlage eines historischen Stoffes. Die darin dargestellten Handlungen und Konflikte sind zum großen Teil frei erfunden. Rückschlüsse auf die wahren Vorkommnisse und Begebenheiten, insbesondere die Privatsphäre der beteiligten Personen betreffend, sollen in keiner Weise nahegelegt oder ermöglicht werden. Die Namen sämtlicher Handlungsträger sind Erfindungen des Autors. Alle intimen Szenen sowie die Dialoge und die Darstellung der Gefühlswelt des gesamten Handlungspersonals sind reine Fiktion.
London 1937
Laura liefen die Augen über. In was für eine Welt war sie da hineingeraten?
Sie sah die Bilder an den Wänden zum ersten Mal. Und doch war es, als wären sie ihr seit Urzeiten vertraut. Eine unwirkliche, überwirkliche Traumwelt tat sich vor ihr auf, ein Spiegellabyrinth ihrer eigenen Sehnsüchte und Ängste. Dunkle Wälder, die verschlungene Pfade in das Dickicht der Lüste wiesen … Fleischfressende Blüten, die in erschreckender Schönheit auf ihre Beute lauerten … Paradiese des Verbotenen, die bevölkert waren von Vogelwesen mit drohenden Augen und Pferdefüßen … Abgründe der Glückseligkeit, über die räuberische Nachtigallen wachten …
»Ich glaube, wir kennen uns«, sagte jemand hinter ihr in fürchterlichem Englisch mit deutschem Akzent. »Haben wir nicht schon mal miteinander geschlafen?«
Laura fuhr herum. Aus der Menge der Ausstellungsbesucher trat ein Mann auf sie zu, wie eine Erscheinung aus jener Welt, in die sie gerade hinabgetaucht war. Groß und schlank wuchs er vor ihr aus dem Boden, gewandet in ein schwarzes Cape, hager, in aufrechter Haltung, ein Gesicht wie Cäsar, mit weißem Haar und doppelt so alt wie sie.
»Der Große Zauberer …«, flüsterte sie.
»Wie bitte?«
Mit spöttischem Lächeln erwiderte er ihren Blick, die unglaublich hellen, fast kalten blauen Augen sezierend auf sie gerichtet. Laura erfasste ein Brennen, als hätte jemand ihr Innerstes entzündet. Ja, das war er, der Große Zauberer, von dem sie als Kind geträumt hatte: der Mann, der sie verwandeln würde – der Mann, dem sie niemals begegnen durfte.
Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft fasste sie sich und erwiderte sein spöttisches Lächeln.
»Ja, ich erinnere mich«, sagte sie, »wenn auch nur flüchtig. Haben Sie nicht versucht, mich zu befriedigen?«
Für einen Moment schwoll sein schmales, römisches Gesicht an wie ein gigantischer Ballon, und statt ihr eine Antwort zu geben, explodierte seine Nase.
»Eine Erinnerung an meine Soldatenzeit im Krieg«, sagte er, nachdem er sich geschnäuzt hatte. »Bei der Inspektion einer Kanone hat mich der Rückstoß erwischt. Seitdem kommt es manchmal zu solchen Detonationen.«
»Und ich dachte schon, Sie wollten nachholen, was Sie damals versäumt haben?«, sagte Laura mit einem Grinsen.
Lachend reichte er ihr die Hand: »Darf ich mich vorstellen? Harry Winter.«
Bei der Nennung seines Namens zuckte sie zusammen. Mein Gott, das war der Mann, zu dessen Ehren die Ausstellung veranstaltet worden war! Der Schöpfer der Bilder an den Wänden, die den kahlen, schmucklosen Raum der Themse-Galerie in einen Tempel rätselhafter Zeichen und Symbole verwandelten! Der berühmt-berüchtigte Harry Winter!
Zögernd streckte sie ihm den Arm entgegen. »Laura Paddington.«
Mit ruckendem Vogelkopf trat er auf sie zu. Laura gab sich Mühe, das plötzliche Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. Was würde passieren, wenn dieser Mann sie berührte? Vielleicht würde er sie in eine Kröte verwandeln, als Strafe für ihre Respektlosigkeit?
Bevor er ihr die Hand geben konnte, klingelte jemand mit einem Glas, und das Gesumm in der übervollen Galerie verstummte.
»Bitte entschuldigen Sie mich.« Mit bedauernder Geste deutete er auf die erwartungsvollen Gesichter ringsumher. »Meine Beerdigung kann offenbar nicht länger warten.«
»Ihre was?«, fragte Laura.
»Meine Beerdigung«, wiederholte er. »Ich habe beschlossen, mich heute zu Grabe tragen zu lassen. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ehre des letzten Geleits erweisen. – Aber das ist doch kein Grund, sich zu erschrecken«, fügte er hinzu, als er ihr Gesicht sah. »Mors porta vitae. Die Wiederauferstehung ist im Preis inbegriffen.«
»Na, hab ich zu viel versprochen?«
Geraldine, Lauras beste Freundin und Kommilitonin aus der Kunstakademie von Professor Bonenfant, führte sie durch das Gewühl der Vernissagegäste. Frauen in Kleidern, die tiefer ausgeschnitten waren, als die frühe Tageszeit erlaubte, standen neben demonstrativ gelangweilten Männern herum, die ausnahmslos so taten, als würden sie sich für die Bilder an den Wänden noch weniger interessieren als für die Dekolletés ihrer Begleiterinnen. Das Einzige, was sie miteinander zu verbinden schien, waren die Sektgläser in ihren Händen.
»Und was kommt jetzt?«, wollte Laura wissen, als Geraldine neben einer Säule stehen blieb, von wo aus sie auf eine kleine Bühne blicken konnten, auf der ein goldener Altar aus Pappmaché aufgebaut war, mit einem Tabernakel als Aufsatz.
Geraldine schüttelte den aschblonden Pagenkopf und zog ihr Gouvernantengesicht. »Warte nur ab.«
Laura hatte eigentlich gar keine Lust auf die Matinee gehabt, und noch beim Frühstück war sie unschlüssig gewesen, ob sie ihre Freundin überhaupt begleiten sollte. Wozu sollte sie sich Bilder anderer Künstler ansehen? Sie war selber eine Künstlerin! Doch Geraldine hatte ihr ein Spektakel in Aussicht gestellt, das ihr den Atem rauben würde. Außerdem hatten ihre Eltern ihr den Besuch der Ausstellung kategorisch verboten. Laura sollte in drei Wochen am Hof debütieren, und ihr Ballkleid war immer noch nicht fertig.
»Wie gefällt er dir?«, fragte Geraldine, als Harry Winter die kleine Bühne betrat.
»Von wem redest du?«
»Tu nicht so scheinheilig! Von IHM natürlich.«
»Ach so.« Laura zuckte die Schultern. »Ein schöner Mann ist er nicht gerade. Aber er versteht es großartig, gut auszusehen.«
»Kein schöner Mann? Angeblich hat er mehr Frauen zugrunde gerichtet als Bilder gemalt.«
»Dann muss er wirklich ein Künstler sein.«
»Pass auf, die Vorstellung beginnt.«
Als Laura sich wieder nach vorne wandte, trat eine elfenhafte, zerbrechlich wirkende junge Frau mit einer Mähne aus goldenen Locken zu Harry Winter auf die Bühne. Laura runzelte die Stirn. Sah sie wirklich, was sie sah? Die Frau trug ein fast durchsichtiges Kleid aus beiger Seide und darunter – NICHTS! Durch den hauchdünnen Stoff waren ganz deutlich die Spitzen ihrer Brüste zu erkennen und auch die dunkle Wölbung ihrer Scham. Mit wehenden Schleiern umtanzte sie Harry Winter. Die grünen, staunenden Augen unverwandt auf ihn gerichtet, griff sie unter sein Cape und holte aus dem Dunkel darunter einen Gegenstand hervor, der auf den ersten Blick wie ein nackter muskulöser Unterarm aussah, sich in Wahrheit aber als etwas entpuppte, wofür Laura nur das Wort Priapus einfiel. Von irgendwoher ertönte ein Harmonium, und während die Akkorde anschwollen, hob die Elfe den künstlichen Phallus in die Höhe, küsste ihn unter Tränen und verschloss ihn dann in dem Tabernakel auf dem Altar.
»In pace requiescat«, verkündete sie mit trauerumflorter Stimme, als die Orgeltöne verebbten. »Möge er ruhen in Frieden.«
Eine unbekannte Erregung erfasste Laura. Der Skandal ihres Lebens war, dass sie noch Jungfrau war. Alle ihre Versuche, dies zu ändern, waren an der Schüchternheit der infrage kommenden Kandidaten gescheitert. Sie hatte bisher noch nicht mal einen erwachsenen nackten Mann gesehen – außer vielleicht im Zeichensaal, aber das zählte nicht. Jetzt begriff sie mit jeder Faser ihres Leibes, warum sie unter diesem Defizit so sehr gelitten hatte. Das Organ, das die Elfe auf der Bühne gerade mit ergreifend zärtlicher Wehmut in dem Tabernakel einschloss, schien auf geradezu perfekte Weise für jenen Dienst geschaffen, den die Natur dafür vorgesehen hatte.
»Sag mal, machen die sich lustig über uns?«, fragte Laura.
»Das kann man bei Harry Winter nie wissen«, erwiderte Geraldine. »Manchmal sind seine Scherze reiner Blödsinn, manchmal bitterer Ernst. Meistens aber beides gleichzeitig.«
»Dann kann ich für ihn nur hoffen, dass seine Elfe den Schlüssel nicht verliert«, sagte Laura.
»Den Schlüssel zum Tabernakel?« Geraldine schaute sie mit hochgezogenen Brauen von der Seite an. Dann grinste sie über das ganze Gesicht. »Na, du bist ja ganz schön beeindruckt.«
»So ein Blödsinn!«, zischte Laura.
»Blödsinn? Aha!«
»Pssssst!«
Während Laura ihrer Freundin die Hand vor den Mund hielt, trat Harry Winter an den Rand der kleinen Bühne, und ohne eine Miene zu verziehen, hob er die rechte Hand, um ein Gelübde zu leisten, mit der feierlichen Ernsthaftigkeit eines Priesters.
»Ich habe beschlossen, mich künftig nur noch zwei Dingen zu widmen«, erklärte er, »der Kunst und dem Krieg. Noch diesen Monat werde ich nach Madrid aufbrechen, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Wir werden die Barbaren dieser Welt besiegen. Mit dem Gewehr – und mit meinen Bildern!«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, da brandete so lauter Applaus auf, als würde der Schlachtenlärm des spanischen Bürgerkriegs mitten in London ertönen.
Kaum war Harry Winter von der Bühne verschwunden, leerte sich die Galerie, als würde ein riesiger Staubsauger das Publikum aus den Ausstellungsräumen saugen. An der Garderobe herrschte dafür umso dichteres Gedränge. Es war schon fast Herbst, die Damen mussten ihre Dekolletés mit wärmenden Nerzen verhüllen, um keinen Husten zu riskieren, bevor die Ballsaison anfing.
»Kommst du noch mit in die Akademie?«, fragte Geraldine, während die Garderobiere den beiden jungen Frauen die Mäntel reichte. »Professor Bonenfant gibt einen Empfang. Er meint, Harry Winter würde vielleicht auf einen Sprung vorbeischauen.«
Laura zögerte einen Moment. Dann streifte sie ihren Mantel über und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Ich hab noch einen Termin. Du weißt schon«, fügte sie hinzu, als ihre Freundin nicht gleich verstand, »beim Arzt.«
Geraldines Gesicht verdüsterte sich. »Immer noch wegen derselben Sache?«
»Ja«, nickte Laura, dankbar, dass Geraldine das hässliche Wort nicht ausgesprochen hatte. »Immer noch wegen der Sache.«
Geraldine holte tief Luft. »Ist es so schlimm?«
Bevor Laura antworten konnte, zerschnitt die verzweifelte Stimme einer Frau den Stimmenteppich im Foyer.
»Du darfst mich nicht verlassen!«, rief sie. »Wir gehören zusammen! Auch wenn du nicht mehr mit mir schläfst!«
Die Frau hatte französisch gesprochen, doch so viel Französisch verstand auch Laura. Verwundert drehte sie sich um. In der Glastür, die den Ausstellungsteil der Galerie mit dem Vorraum verband, stand Harry Winter. Vor ihm am Boden kniete die Elfe. Sie trug jetzt ein hautenges feuerrotes Kleid, das vom Busen bis zu den Knien aufgeschlitzt war und unter dem sie ebenso deutlich erkennbar nackt war wie zuvor unter ihrem durchsichtigen Seidengewand. Ihre Lockenpracht war zerzaust, die verängstigten Augen standen voller Tränen. Während die übrigen Ausstellungsgäste so taten, als wäre nichts, um sich mit gesteigerter Emsigkeit ihrer Garderobe zu widmen, konnte Laura nicht den Blick von dieser Frau lassen, die mit beiden Armen Harry Winters Beine umklammerte wie eine orientalische Sklavin.
»Bitte, lass mich nicht allein! Ich liebe dich! Mehr als mein Leben!«
»Warum weinst du?«, erwiderte Harry Winter, gleichfalls auf Französisch, während er behutsam ihre Hände nahm, um ihr vom Boden aufzuhelfen. »Du hast alles von mir gelernt, was Liebe ist.«
»Aber ich muss dir etwas sagen! Etwas Schönes!«
»Nein, Florence. Unsere Zeit ist vorbei. Du bist jung und hübsch, du kannst dir die Männer aussuchen. Also, steh auf und mach dich an die Arbeit!«
Laura war entsetzt. Wie konnte dieser Mann in der Öffentlichkeit über so intime Dinge reden? Gleichzeitig war sie fasziniert von seiner Ruchlosigkeit. Was für ein freier Geist … Während sie noch versuchte, ihre Empfindungen zu sortieren, kehrte Harry Winter der Elfe den Rücken und kam auf sie zu.
»Ich werde zwar von irgendeinem Professor erwartet«, sagte er, jetzt wieder in seinem grauenhaften Englisch. »Doch lieber würde ich den Abend mit Ihnen verbringen, Miss Paddington. Darf ich Sie zum Essen einladen?«
Laura dachte keine Sekunde nach. »Aber natürlich«, sagte sie. »Vorausgesetzt, es ist kein französisches Lokal.«
»Oh, Sie hassen gutes Essen? Wunderbar – ich auch!«
Mit einer Verbeugung bot er ihr seinen Arm an. Doch Geraldine hielt sie zurück.
»Hast du vergessen, dass du noch einen Termin hast?«
Laura sah erst ihre Freundin an, dann Harry Winter, der sie mit spöttischer Aufmerksamkeit musterte, ohne sich im Geringsten um die Elfe zu kümmern, die gerade mit lautem Schluchzen zurück in die Galerie verschwand. Laura spürte, wie ihr Herz jubelte, obwohl sie gleichzeitig vor Angst kaum sprechen konnte. Sie wollte, sie musste diesen Mann kennenlernen! Er war der Mann, auf den sie schon immer gewartet hatte.
»Nun, Miss Paddington?«
»Der Arzt soll sich gedulden«, beschied sie ihrer Freundin. Dann wandte sie sich zu Harry Winter. »Was stehen wir hier noch herum?«, fragte sie und hakte sich bei ihm unter. »Gehen wir! Ich kenne ein hervorragendes Lokal, ganz in der Nähe. Mit so schlechtem englischen Essen, dass wir ungestört von irgendwelcher Kauakrobatik miteinander reden können.«
Das Restaurant war ein übervoller, lauter Pub, in dem es wahlweise Fisch und Chips oder Roastbeef mit Minzsoße gab. Harry und Laura hatten sich für Fisch und Chips entschieden. Eine gute Wahl. Obwohl sie schon über eine Stunde am Tisch saßen, hatten sie keine Minute mit Essen vergeudet.
»Aber Sie haben ja gar nichts angerührt«, sagte der Kellner, als er ihnen den Kaffee brachte.
Harry leerte seinen Teller in einen Sektkübel, ohne Laura auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er hörte weder das Lärmen an der Theke noch das Tellerklappern an den Nachbartischen. Er konnte nichts anderes als sehen. Laura war eine deliziöse Miniatur, so schön, als habe er sie selbst in einem seiner Träume geboren: ein helles ovales Gesicht, zwei große schwarze Augen, ein voller, dunkelroter Mund, der sich in das bezauberndste Lächeln verwandeln konnte, das er je gesehen hatte. Vor allem aber faszinierte ihn die naive und gleichzeitig schamlose Art, mit der sie sich bewegte und sich hin und wieder eine ihrer schwarzen Locken aus der Stirn blies, als könne sie damit alle Wirklichkeit vertreiben. Sie war eine Windsbraut – Kindfrau und Femme fatale in einem. Mein Gott, was für eine Lust musste es sein, mit diesem Geschöpf sein Gelübde zu brechen …
»Haben Sie keine Angst, sich mit Gott anzulegen? Oder mit der Polizei?«, fragte sie.
Sie sprach in einem fast unverständlichen Kauderwelsch aus Englisch und Französisch. Doch Harry mutete es an wie eine nie gehörte Ursprache. Ihre dunkle raue Stimme klang, als würde darin ein unendlicher Reichtum an Erfahrung mitschwingen. Dabei war sie höchstens zwanzig.
»Gott ist mein ältester Freund«, erwiderte er. »Wir treffen uns einmal die Woche, um Schach zu spielen. Obwohl der alte Mistkerl ständig mogelt.«
»Dann bin ich gespannt, was er beim nächsten Mal zu Ihrem Auftritt in der Galerie sagen wird.«
»Wer sich nicht traut, sich mit Gott anzulegen, ist kein Künstler. Und wer Angst hat vor der Polizei, taugt nicht mal zum Anstreicher.« Harry nahm einen Schluck von seinem Kaffee, dann wechselte er das Thema. »Sie sind mir übrigens noch eine Auskunft schuldig. Wen haben Sie mit dem Großen Zauberer gemeint?«
Laura zögerte einen Augenblick. Mit Entzücken stellte Harry fest, dass sie errötete.
»Ein Traum meiner Kindheit«, erklärte sie. »Fast jede Nacht erschien mir der Große Zauberer im Schlaf. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er mich aus meinem Körper befreit. Und mich in ein Wildpferd verwandelt – oder zumindest in einen Jungen.«
»Ein wunderbares Motiv für ein Bild.« Vor Begeisterung griff Harry nach ihrer Hand. »Haben Sie mal versucht, es zu malen?«
»Woher wissen Sie, dass ich Künstlerin bin?«, fragte sie.
Harry hatte es nicht gewusst, nur gehofft. »Ihre Haut verrät Sie«, sagte er. »Sie kommt zu oft mit Terpentin in Kontakt.« Warm und trocken lag ihre Hand in der seinen, ohne dass Laura den Versuch machte, sie ihm zu entziehen. Am liebsten hätte er sie geküsst. Doch er wusste, was dann passieren würde. Also legte er ihre Hand brav zurück auf den Tisch. »Erzählen Sie mir von Ihrer Malerei. Was sind Ihre Motive – ich meine, außer Fisch und Chips?«
»Professor Bonenfant lässt uns immer nur Äpfel malen«, sagte sie, während sie auf ihre vereinsamte Hand schaute. »Immer wieder denselben Apfel, bis er völlig verschrumpelt und verfault ist. Dann gibt’s den nächsten.«
»Was das wohl zu bedeuten hat?«, fragte Harry.
Mit einem Grinsen blickte Laura zu ihm auf. Offenbar hatte sie die Anspielung verstanden.
»Weshalb haben Sie eigentlich dieses komische Gelübde abgelegt?«, wollte sie wissen. »Weil Sie schon so alt sind?«
»Dann wäre das nichts, worauf ich stolz sein könnte«, seufzte er. »Nein, im Gegenteil. Ich bin es leid, ständig von Dada herumkommandiert zu werden. Er schert sich einen Dreck um mein Alter. Nie gibt er Ruhe, immer ist er auf der Suche.«
»Dada?« Laura runzelte die Stirn.
»Mein Alter Ego. Das Vogelwesen auf meinen Bildern. Außerdem … – Aber das kann ich nicht sagen, ohne zu erröten.«
Wieder wärmte dieses Lächeln ihr Gesicht. »Hab schon verstanden. Möge er ruhen in Frieden …«
Harry war jetzt so begeistert, dass er seine Hände unter die Schenkel klemmen musste. Vorsicht: Erektionsgefahr! Nur über seine Augen war er nicht Herr. Obwohl er ihnen befahl, sich abzuwenden, saugten seine Blicke sich an Laura fest. Was für eine Küsserin würde sie wohl sein? Küsste sie nach Taubenart, ohne Hintergedanken? Oder bevorzugte sie vielleicht mondäne Küsse?
»Haben Sie schon mal was von Sigmund Freud gelesen?«, fragte er.
»Nein. Aber umso mehr Spaß macht es, über ihn zu reden.«
»Dann muss ich Ihnen ja nicht erklären, was Sublimation ist«, sagte er. »Mein Leben lang habe ich meine Kräfte in der Liebe vergeudet, nun will ich mich endlich auf meine Kunst konzentrieren. Und auf meine Mission. Die Freiheitskämpfer in Spanien brauchen meine Bilder.«
»Sie meinen, was Mönche können, das schaffen Sie auch?«
»Was wissen Sie über Mönche?«
»Ich wurde im Kloster erzogen. Eine Zeit lang wollte ich sogar Nonne werden, Nonne oder Heilige. Aber sie haben mich von der Schule geworfen. Ich galt als unerziehbar. Sie hielten mich für übergeschnappt, weil ich immer nur in Spiegelschrift schrieb.« Laura blies sich eine Locke aus der Stirn. »Doch jetzt sitzen wir hier schon über zwei Stunden, und Sie haben mir immer noch keinen Antrag gemacht. Was ist der Grund für Ihre Unhöflichkeit?«
Harry musste laut lachen. »Das ist nicht persönlich gemeint«, erwiderte er. »Nur, die Liebe hat mir nichts mehr zu bieten. Ich habe schon alles erlebt, was es auf diesem Gebiet zu erleben gibt. Das einzige Abenteuer, das mich noch interessiert, ist die Kunst.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Hatte er sie beeindruckt? Ohne zu fragen, nahm Laura eine Zigarette aus seinem Etui, steckte sie mit seinem Feuerzeug an und fing gleichfalls an zu rauchen.
»Meinen Sie das wirklich im Ernst?«, fragte sie und blies ihm unverwandten Blicks den Rauch ins Gesicht.
Harry kannte dieses Spiel. Schon seine Mutter hatte ihn, wann immer sie ihn in Verdacht gehabt hatte, er würde lügen, gezwungen, ihr in die Augen zu sehen, und jedes Mal hatte er ihrem Blick standgehalten, sodass sie ihm hatte glauben müssen – egal, ob er gelogen oder die Wahrheit gesagt hatte. Doch der Blick aus den großen schwarzen Kinderaugen, mit dem Laura ihn jetzt prüfte, war viel schwerer auszuhalten. Er hatte das ungute Gefühl, dass dieses Mädchen ganz genau wusste, was er selber ganz und gar nicht wusste – nämlich, was er eigentlich von ihr wollte.
»Das fragen Sie, obwohl Sie in meiner Ausstellung waren?«, erwiderte er. »Jedes meiner Bilder ist der Beweis, wie ernst es mir ist.« Laura zuckte nur die Schulter. »Ich bin in keiner Ausstellung gewesen.«
»Wollen Sie mich beleidigen?«, rief er so laut, dass ein paar Köpfe sich nach ihm umdrehten. »Was haben Sie dann den ganzen Vormittag in der Galerie getrieben?«
Sie machte einen Zug an ihrer Zigarette. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, erklärte sie: »Ich bin in Ihrer Seele spazieren gegangen.«
Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Etwas Intelligenteres hatte noch kein Kritiker je über seine Ausstellungen geschrieben. Er war über ihre Antwort so beglückt, als hätte sie ihm einen Kuss gegeben – nicht nach Taubenart, sondern sehr mondän. Eine Weile blieb er stumm, um den Zauber ihrer Worte zu genießen.
»Und?«, fragte er schließlich. »Ist das nicht viel spannender als der Austausch von Körpersäften?«
Laura verzog immer noch keine Miene. »Gehört in der Kunst nicht beides zusammen?«
Abermals fehlten Harry die Worte. War der Teufel in die Gestalt dieses Mädchens geschlüpft, um ihn zu verführen? Was Laura sagte, entsprach seiner eigenen Auffassung von Kunst und Leben auf geradezu wundersame Weise. Jedes Bild, das Wahrheit für sich in Anspruch nehmen konnte, war nichts anderes als ein Traumbild seines Schöpfers. Noch mehr beeindruckte ihn aber, dass Laura sich der Bedeutung dessen, was sie da so beiläufig von sich gab, überhaupt nicht bewusst zu sein schien. Wie ein Kind, das mit traumwandlerischer Sicherheit die schwierigsten mathematischen Gleichungen löst, ohne die geringste Ahnung von seinem Genie zu haben.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte er. »Von Ihrem Apfelprofessor? Sie sind viel zu jung für diese Dinge.«
Laura nahm den Löffel aus dem Senftopf und fing an, damit ihre Serviette zu bemalen. »Als ich Ihre Bilder sah«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm, »war es wie ein Wiedererkennen. Als würde ich eine Welt betreten, in die ich längst hineingeboren war.«
Eine Weile sprach sie kein Wort, um schweigend zu malen, als wäre sonst niemand im Raum.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Harry, als sie mit ihrem Senfgemälde fertig war.
Wortlos schob sie ihm die Serviette zu. Ihre Zeichnung stellte einen Mann mit wehendem Haar dar. Auf der Höhe seines Herzens leuchtete ein Mond aus seiner Brust, der eine dunkle zerklüftete Landschaft beschien, wo flügelschlagende Reiher giftige Nattern verschlangen.
»Sie hätten eine bessere Ausbildung verdient als Äpfelmalen«, sagte Harry. Vor Aufregung hatte er ganz vergessen zu rauchen. Die Asche hing wie ein krummer Wurm an seiner Zigarette, und die Glut war bis auf den Filter heruntergebrannt.
»Worüber denken Sie nach?«, wollte sie wissen.
»Wie wir die Zeit nutzen können«, erwiderte er. »Ich werde noch eine Woche in England sein. Was schlagen Sie vor?«
»Eine Woche?« Laura zögerte keine Sekunde. »Dann müssen Sie unbedingt Cornwall sehen.«
»Gut«, sagte Harry. Er drückte seine Zigarette aus und stand auf. »Wann fahren wir los? Jetzt gleich? Mein Galerist hat mir sein Auto geliehen. Es steht in einer Garage am Piccadilly Circus. Ich glaube, das ist nicht weit von hier.«
Er hatte Widerspruch erwartet, vielleicht sogar Empörung. Doch Laura hatte nur ein Bedenken: »Und Florence?«
Harry trat auf ihre Seite des Tisches, um ihr vom Stuhl aufzuhelfen, und lächelte sie an, so großartig er nur konnte. »Welche Florence?«, fragte er zurück. »Ich bin ein freier Mann.«
Noch in derselben Nacht kamen sie in Cornwall an. Der Gasthof, den sie angesteuert hatten, klebte wie ein Taubennest am Rand einer Felsenklippe hoch über dem Meer und hatte drei Zimmer. Zehn Minuten hatten sie gebraucht, um den Wirt aus dem Bett zu klingeln. Jetzt standen sie an der Rezeption. Während Harry die Anmeldeformulare ausfüllte, griff Laura zum Telefon und ließ sich mit London verbinden.
»Um Himmels willen – wo bist du?«
Die Stimme ihrer Mutter, die so klar und deutlich zu vernehmen war, als stünde sie neben ihr, schnappte fast über. Laura hielt sich den Hörer vom Ohr, damit ihr Trommelfell keinen Schaden nahm.
»In Cow’s Creek. Ich kann nichts dafür, dass der Ort so heißt.«
»Komm auf der Stelle zurück! Dieser sogenannte Künstler ist ein gemeiner Sittenstrolch! Dein Vater und ich haben uns erkundigt!«
»Ich kann dich nicht verstehen, Mama. Es rauscht so in der Leitung. Aber mach dir keine Sorgen. Geraldine und ich haben ein Zimmer nur für uns allein. Außerdem sind alle Schüler aus meiner Klasse mit dabei. Mr. Amrose, der Bruder des Galeristen, du weißt schon, hat hier einen Gasthof.«
»Du sollst auf der Stelle zurückkommen, hab ich gesagt! Wenn dein Vater das erfährt – nicht auszudenken! Er kriegt einen Herzinfarkt!«
»Die Verbindung ist fürchterlich, Mama, ich kann dich kaum noch hören.«
»Wenn du morgen nicht wieder da bist, sag ich deinem Vater Bescheid. Dann hast du ihn auf dem Gewissen! Willst du das?«
»Ich muss jetzt Schluss machen, Mama. Ich melde mich wieder bei euch, spätestens in einer Woche.«
Ohne die Antwort ihrer Mutter abzuwarten, hängte Laura den Hörer auf die Gabel. Das wäre geschafft! Doch wie würde es jetzt weitergehen?
»Wir brauchen zwei Zimmer«, erklärte Harry in seinem grauenvollen Englisch.
Gähnend griff der Wirt zum Schlüsselbrett. Sein Bademantel hatte das gleiche gelb-rote Streifenmuster wie die Tapetenwand hinter der Rezeption.
»Zwei Zimmer?«, fragte Laura. »Sind Sie ein Anstreicher, der sich vor der Polizei fürchtet?«
Wortlos reichte Harry ihr den Füller. Laura runzelte die Stirn. Wollte er wirklich, dass sie in zwei getrennten Zimmern schliefen? Oder wollte er nur den Schein wahren? Unsicher unterschrieb sie das Formular, das auf ihren Namen ausgestellt war.
Eine schmale Stiege, die nur von einer flackernden Funzel beschienen war, führte hinauf in den ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz öffnete der Wirt die Türen zweier nebeneinanderliegender Zimmer, um sich dann mit einem anzüglichen Grinsen zu verdrücken. Eine schwarze Katze beäugte sie von ihrem Schlafplatz auf einer Bank. Laura spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Welchen Vorwand würde Harry sich wohl einfallen lassen, um sie in ihr Zimmer zu begleiten? Plötzlich bekam sie Angst. Diesem Mann warfen sich wunderschöne, halbnackte Frauen zu Füßen, und sie war nur ein ahnungsloses Mädchen.
»Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht«, sagte Harry.
»Wie bitte?« Laura glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Vielleicht sehen wir uns ja in unseren Träumen.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, war er in seinem Zimmer verschwunden, zusammen mit der Katze, die hinter ihm durch den Spalt gehuscht war. Gleich darauf wurde von innen ein Schlüssel umgedreht.
Gleichzeitig erleichtert und enttäuscht, blickte Laura auf die geschlossene Tür. Wollte er sich über sie lustig machen?
Irritiert trat sie in ihr Zimmer. In der Kammer roch es nach Bohnerwachs und frisch gewaschener Wäsche, und über dem Bett hing, als einziger Schmuck im Raum, ein kleines schwarzes Kruzifix an der gekalkten Wand – die Wirtsleute mussten Katholiken sein. Laura streifte die Schuhe ab und spitzte die Ohren. Sollte auch sie den Schlüssel umdrehen? Wenn sie abschloss, war er gezwungen anzuklopfen. Dann konnte sie sich so viel Zeit nehmen, wie sie wollte, um ihm zu öffnen – wenn überhaupt. Die Vorstellung, ihn zappeln zu lassen, gefiel ihr. Allerdings, wenn sie abschloss, konnte es sein, dass er sie für eine prüde kleine Klosterschülerin hielt und auf der Stelle kehrtmachte.
Was zum Teufel sollte sie tun?
Als sie das Bett aufschlug, hörte sie durch die Wand Schritte. Offenbar hatte er sich noch nicht schlafen gelegt. Während nebenan die Dielen knarrten, wechselten in Laura mit jedem seiner Schritte Bangigkeit und Mut.
Nein, sie würde die Tür nicht abschließen. Sie löschte das Licht, zog sich nackt aus und schlüpfte unter die Decke.
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie spürte das raue Leinen auf ihrer Haut, und eine wunderbare Erregung durchrieselte ihren Körper. War das alles wirklich und wahrhaftig wahr? Sie in einem einsamen Gasthof, zusammen mit Harry Winter? Oder träumte sie das alles nur und würde gleich in ihrem Mädchenzimmer aufwachen, in dem düsteren, bedrohlichen Palast ihrer Eltern?
Silbriges Mondlicht schien in ihre Kammer, sanft bauschten sich die Vorhänge im Nachtwind vor dem Fenster. Vom Strand wehte das Rauschen der Brandung herauf, während nebenan immer noch die Bohlen unter den Schritten dieses Mannes knarrten, den sie erst seit wenigen Stunden kannte.
Wer war dieser Mann? War er wirklich der Große Zauberer, der sie befreien würde? Aus ihrem Körper und ihrem kleinen, erbärmlichen Leben? Oder war er ein gemeiner Sittenstrolch, wie ihre Mutter sagte?
Mit leisem Rasseln schlug irgendwo im Haus eine Uhr. Wohlig gähnend zog Laura sich die Decke über die Schultern. Sie war so müde, dass sie die Augen nicht länger offenhalten konnte. Seit zwanzig Stunden hatte sie nicht mehr geschlafen. Die Bilder des vergangenen Tages kehrten zu ihr zurück, wie aus einer anderen Welt. Der Schleiertanz der Elfe … Die Wehmut im Gesicht der Frau, als sie den Priapus küsste … Diese unglaublich hellen, fast kalten blauen Augen, mit denen Harry Winter die Menschen sezierte … Seine Reden über Dada und Gott …
Die Erinnerungen hallten in Laura nach wie in einem neuen, ungebrauchten Musikinstrument, dem man die allerersten Töne entlockt hatte. Plötzlich wurde es ihr zu heiß, ungeduldig streifte sie die Decke vom Leib. Sie hatte gehört, erotische Anziehung sei ein chemischer Vorgang, doch Chemie war in Wahrheit Alchemie, und damit kannte ein Zauberer sich aus. Sein Gelübde fiel ihr ein. Würde er es für sie brechen? Sie wagte kaum, es sich vorzustellen, und konnte doch an nichts anderes denken. Sie würde sich fühlen wie eine Königin.
»Laura …?«
Leise pochte es an der Tür. Erschrocken fuhr sie im Bett auf. Draußen dämmerte bereits der neue Tag.
War sie etwa eingeschlafen?
»Laura …«
Während er ihren Namen wiederholte, öffnete er einen Spalt weit die Tür. Laura biss sich auf die Lippe. Warum ertönten keine Fanfaren? Warum wurden keine Trommeln gerührt? Zitternd griff sie nach dem zerknüllten Laken, um ihre Blöße zu bedecken. Doch kaum hatte sie die Hand gehoben, ließ sie sie wieder sinken. Nein, wenn sie durch diesen Mann zur Königin werden sollte, wollte sie ihn wie eine Königin empfangen. Während eine Gänsehaut ihren ganzen Körper überzog, richtete sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer Matratze auf und blickte erhobenen Hauptes zur Tür.
»Schämen Sie sich nicht?«, zischte er durch den Spalt. »Ich weiß, dass Sie nackt sind.«
Laura holte tief Luft. Da ging die Tür auf, und Harry trat herein. Doch statt sie anzuschauen, bedeckte er mit der einen Hand seine Augen und warf ihr mit der anderen den Staubmantel zu, den sie bei der Ankunft an der Rezeption abgelegt hatte.
»Ziehen Sie sich bitte an«, sagte er. »Ich muss Ihnen etwas zeigen. Ich warte so lange draußen.«
Damit trat er wieder hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich.
»Mistkerl!«
Leise fluchend griff Laura zu ihren Kleidern.
Von wegen Sittenstrolch …
Harry Winter wartete draußen in der Morgendämmerung. Eingehüllt in sein schwarzes Cape, lehnte er an dem schlammbespritzten Vauxhall seines Galeristen und rauchte eine Zigarette.
»Oh, eine Nonne«, sagte er mit seinem spöttischen Lächeln, als sie in der Tür erschien, und schnippte die Zigarette fort. »Da lacht mein katholisches Herz im Leibe!«
Laura warf den Kopf in den Nacken und stapfte aus dem Haus. Sie hatte ihren Schal wie einen Schleier um das Haar gebunden, sodass keine einzige Strähne darunter zum Vorschein kam, und mit einem Stück Bindfaden das Kruzifix aus ihrer Kammer an ihrer Halskette befestigt. Jetzt prangte es wie ein Amulett der Unberührbarkeit auf ihrer Mantelbrust – eine unübersehbare Reminiszenz an die vergangene Nacht, die keine gewesen war.
»Ich hoffte, damit Ihren schlechten Geschmack zu treffen«, sagte sie. »Umso schöner, wenn mir das gelungen ist. Aber warum jagen Sie mich zu dieser nachtschlafenden Zeit aus dem Bett? Wollen Sie Beeren sammeln fürs Frühstück? Oder vielleicht Kühe melken?«
»Pssst … Kommen Sie einfach mit!«
Ohne sie um Erlaubnis zu fragen, nahm er ihre Hand und zog sie mit sich fort, in Richtung zweier keltischer Megalithen, die sich wie ein gigantisches steinernes Tor über der Steilküste erhoben. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, folgte sie ihm. Warum zum Teufel tat sie das?, dachte sie, als sie an seiner Hand durch das Tor auf die andere Seite trat. Der Mistkerl hatte sie die ganze Nacht vergeblich warten lassen und hätte eine Bestrafung verdient. Mehr über ihre eigenen Gedanken stolpernd als über die Wurzeln und Steine auf dem schmalen Trampelpfad, stieg sie mit ihm die Klippen hinunter zum Strand. Obwohl sie ziemlich wütend war, musste sie grinsen. Er in seinem schwarzen Cape und sie mit ihrem weißen Schleier – sie sahen wirklich aus wie Pater und Nonne.
»Was soll ich hier?«, fragte sie, als er sie auf halber Höhe des Hanges aufforderte, auf einem Felsvorsprung Platz zu nehmen.
»Nichts«, sagte er. »Oder genauer: Alles! Sie sollen sehen.«
Frierend in ihrem dünnen Mantel, unter dem sie nur ein bisschen Unterwäsche trug, setzte Laura sich an seine Seite. Nebelfetzen hingen zwischen den Dünen und über dem Fjord, den die bewaldeten Felsen wie zwei riesige Arme umschlossen. In der Ferne glitten schemenhafte Fischerboote über das Wasser, die vom nächtlichen Fang heimkehrten, begleitet vom einsamen Kreischen der Seevögel. Auf einmal, leise, ganz leise, glaubte Laura ein Flüstern zu hören. Was war das? Land und Meer verschmolzen in den grauen Schwaden der Morgendämmerung zu einer Traumlandschaft, in der die Seelen der Dinge zu sprechen anfingen, mit seiner, Harry Winters, Stimme.
»Die Natur ist ein Tempel, wo jede Säule lebt und zu uns redet mit geheimnisvollen Zungen …«
Während er die Worte murmelte wie ein Priester, verwandelte sich vor ihren Augen die Welt in ein magisches Reich, voller Geister und Fabelwesen. Noch nie gesehene Formen und Figuren tauchten aus dem Zwielicht auf, Schatten und Schimären, wimmelnde Rieseninsekten, wuchernde Farne und Blätter, tanzende Kobolde und Feen, die sich wieder und wieder aus sich selbst gebaren, unendlich wie das Licht und die Dunkelheit. Laura wagte kaum zu atmen. Alles sah sie auf einmal vor sich, das Sichtbare und das Unsichtbare, in einem einzigen, allumfassenden Blick: Tod und Leben, Vergehen und Entstehen, Fäulnis und Keimen. Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland. Ja, Harry Winter war der Große Zauberer, und seine Kunst war das Sehen. Vor ihren Augen verwandelte er alles, was war. Jedes Ding bekam eine neue Gestalt, eine nie geahnte Bedeutung. Es war, als würde er für sie die Welt aufs Neue erschaffen.
»Von wem haben Sie gelernt, so zu zaubern?«
»Von meinem Vater«, erwiderte Harry. »Er war Taubstummenlehrer – und ein begeisterter Hobbymaler. Jede freie Minute verbrachte er mit der Staffelei im Freien. Doch alles, was er malte, musste streng nach der Natur sein. Die Natur war für ihn alles, und Kunst galt nur, wenn sie die Natur wiedergab. Bis er eines Tages, ich war noch keine zehn Jahre alt, eine Landschaft malte, in die der Ast eines Baumes hineinragte und so den ganzen Anblick verdarb. Da geschah das Ungeheuerliche! Zum ersten Mal im Leben verriet mein Vater die Natur, indem er den Ast in dem Bild unterschlug. Aber dieser Verrat quälte ihn so sehr, dass er die ganze Nacht kein Auge zutat, und als er am nächsten Morgen immer noch darunter litt, hatte ich eine Idee. Ich ging in den Keller und …«
»Nicht sagen!«, fiel Laura ihm ins Wort. »Ich weiß, was Sie getan haben!«
»Da bin ich aber gespannt!?«
»Sie haben eine Säge geholt und den Ast abgeschnitten. Damit die Natur wieder mit dem Bild übereinstimmte.«
Harry drehte sich zu ihr um und sah sie mit seinen hellen blauen Augen an. Doch diesmal lag kein Spott in seinem Blick, nur grenzenloses Staunen.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Das war nicht schwer zu erraten«, behauptete sie. »Eine andere Möglichkeit gab’s doch gar nicht.«
»Sie haben recht«, erwiderte Harry. »Eine andere Möglichkeit gab es nicht.« Immer noch hielt er die sezierenden Augen auf sie gerichtet. »Das war mein Urerlebnis. Damals habe ich eines für immer begriffen.«
»Nämlich?«
»Dass die Vorstellungskraft mächtiger ist als jede Wirklichkeit.«
Laura schaute ihn an wie eine Erscheinung. »Was sagen Sie da?«, flüsterte sie.
Der Gedanke verwirrte sie so sehr, als wären eins und eins plötzlich nicht mehr zwei, sondern drei oder zehn oder fünftausendeinhundertsiebenundzwanzig. Dabei brachte er doch nur eine Wahrheit zum Ausdruck, die, einmal ausgesprochen, niemand leugnen konnte, der seine fünf bis sechs Sinne beisammen hatte.
»Vernünftige Menschen«, fuhr Harry fort, »passen ihre Vorstellung der Wirklichkeit an, unvernünftige Menschen hingegen versuchen, die Wirklichkeit ihren Vorstellungen anzupassen. Weshalb wirkliche Kunst, ob im Leben oder in der Malerei, immer von unvernünftigen Menschen stammt.«
Noch während er sprach, erfüllte Laura die Ahnung einer bislang ungeahnten Macht. Nichts war unmöglich, wenn das Unvernünftige das wirklich Vernünftige war! Eine fast unsinnige Hoffnung stieg in ihr auf, und schneller, als sie denken konnte, fragte sie:
»Was meinen Sie – können Sie mir beibringen, auch so zu sehen?«
Harry wiegte den Kopf. »Haben Sie nicht selber gesagt, Sie sind unerziehbar? Keine Angst«, fügte er rasch hinzu, als er ihr Gesicht sah. »Unerziehbare Schüler sind die einzigen, denen man was beibringen kann. Aber vorher muss ich eines wissen. Warum malen Sie?«
Laura schaute wieder aufs Meer. Am Horizont lösten sich die ersten Nebelfelder auf, und ein zartrosa Schein kündete vom Aufgang der Sonne. Angesichts dieses Schauspiels, das sich seit Millionen von Jahren täglich wiederholte und doch großartiger und eindrucksvoller war als jedes Schauspiel, das je ein Mensch auf einer Bühne oder Leinwand inszeniert hatte, fühlte Laura sich plötzlich ganz klein.
»Weiß ein Dieb«, fragte sie leise, »der im Himmel auf Raubzug geht, mit welcher Beute er zur Erde zurückkommt?«
Aus Angst, etwas Dummes gesagt zu haben, wich sie seinem Blick aus. Doch sie glaubte zu spüren, dass Harry neben ihr nickte.
»Ein Künstler darf nur wissen, was er nicht will«, sagte er. »Wenn er weiß, was er sucht, ist er kein Künstler.«
»Ich will aber etwas finden!«, rief sie und schaute ihn an.
Harry erwiderte ihren Blick. Er schien von ihrer Antwort maßlos enttäuscht.
»Und – was wollen Sie finden?«
»Mich selbst!«, rief Laura. »Die Gesichter meiner Seele! Die Gesichter, die ich noch nicht kenne. Die Gesichter, die man mir verboten hat. Weil ich es nicht länger aushalte in dem einen engen Leben!«
Eine Weile sagte er gar nichts. Sein Schweigen war so intensiv, dass Laura schlucken musste. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass sie unter ihrem Mantel fast nackt war, und sie begriff, warum er sein seltsames Gelübde geleistet hatte: Er wollte damit die Realität korrigieren, wie durch das Sehen … Im selben Moment nahm Harry, ohne die Augen von ihr zu lassen, ihr Gesicht zwischen seine Hände, der Schleier rutschte von ihrem Haar, und als wäre es die einzig vernünftige Antwort, die es auf ihre stumme Frage gab, küsste er sie.
Als Laura die Augen wieder aufschlug, glaubte sie, in seinem blauen Blick zu schwimmen. Ein erregender Gedanke blitzte in ihr auf. War er der Einzige, der zaubern konnte?
Als wäre sie der Leibhaftige, stieß Harry sie zurück. Er sprang auf und machte mit den Fingern ein Kreuzzeichen in ihre Richtung.
»Vade retro, satana!«
Lachend kletterten sie die Klippe hinauf. Laura freute sich auf das Frühstück, mit frischem Brot und dampfendem Kaffee. Ihr Magen war ein einziges großes Loch. Komisch. Hatte man solchen Hunger nicht erst nach einer Liebesnacht? So stand es jedenfalls in den Romanen.
»Vielleicht werde ich ein paar Tage länger bleiben«, sagte Harry, als sie am Felsrand das steinerne Tor erreichten, das zurück zum Gasthof führte. Die Nebelschwaden hatten sich inzwischen aufgelöst, der Fjord lag im hellen Sonnenschein zu ihren Füßen, und das Wasser in der Bucht glitzerte, als würden sich darin Abermillionen Fische tummeln.
»Du willst noch bleiben?«, fragte Laura und nestelte an ihrem Kruzifix. »Bei mir?«
»Nein, bei der Katze!«, lachte Harry. Dann wurde er ernst. »Herrgott noch mal – natürlich bei dir. Bei wem denn sonst? Alles, was ich hier tue, ist doch ein einziger verzweifelter Antrag. Hast du das nicht gemerkt?«
Laura war glücklich wie ein Kind, das am Geburtstagsmorgen aufwacht und die verpackten Geschenke sieht. Doch lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, als Harry einzugestehen, wie viel ihr seine Worte bedeuteten.
»Hast du keine Angst«, spottete sie, »dass deine Kameraden in Spanien ohne dich den Krieg verlieren?«
»Das werden sie nicht wagen«, erwiderte er. »Sie wissen genau, meine Bilder bewirken mehr als tausend Kanonen, und warten deshalb mit der Offensive auf mich. Aber zum Teufel – was ist das?«
Laura blickte in die Richtung des Gasthofs. Im Hof stand ein Polizeiwagen mit vergitterten Fenstern. Dahinter, in der Haustür, erkannte sie den Wirt, im Gespräch mit zwei Beamten. Der eine trug eine Uniform, der andere einen Trenchcoat.
»Wonach suchen die wohl?«, fragte Harry und kratzte sich die Nase.
»Vielleicht nach ein paar entsprungenen Anstreichern?«, meinte Laura.
Noch während sie sprach, kamen die Polizisten auf sie zu. Der uniformierte Beamte tippte mit zwei Fingern gegen seinen Helm.
»Constabler Baxter«, stellte er sich vor. »Sind Sie Harry Winter?«
»Allerdings«, bestätigte Harry in seinem grauenhaften Englisch. »Warum?«
»Dieses Telegramm ist heute Morgen aus London gekommen.« Der Constabler zog einen Umschlag aus seiner Uniformjacke. »Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor – wegen Unzucht.«
Harry war zu keiner Antwort fähig. Während sein Gesicht anschwoll wie ein Ballon, um in einem lauten Nieser zu explodieren, wurde Laura blass. Sie hatte keinen Zweifel, wer dahintersteckte.
»Hat zufällig ein Mr. Paddington die Anzeige erstattet?«, fragte sie.
Der Polizist warf einen Blick auf das Telegramm. »Richtig. Woher wissen Sie das?«
»Mr. Paddington ist mein Vater!« Sie schlug mit dem Handrücken auf das Telegramm. »Was soll der Quatsch? Nur weil ich minderjährig bin? Mr. Winter hat sich nichts zuschulden kommen lassen! Wir haben in getrennten Zimmern geschlafen! Nicht wahr, Harry?«
Der putzte sich gerade die Nase.
»Ich weiß«, erwiderte der Polizist, »wir haben mit dem Wirt gesprochen und die Zimmer überprüft.«
»Na also! Dann lassen Sie uns jetzt gefälligst frühstücken!« Sie schob den Beamten beiseite und nickte Harry zu. »Komm«, sagte sie auf Französisch. »Hier stinkt’s!«
»Findest du? Ich dachte, das wäre die Landluft.« Er steckte sein Taschentuch ein und reichte ihr den Arm. »Ja, gehen wir. Bevor der Kaffee kalt wird.«
Sie wandten sich zum Gasthof. Der Wirt, der sie vom Eingang aus beobachtete, wischte sich die Hände an der Schürze ab und öffnete die Tür.
Doch sie hatten noch keine zwei Schritte getan, da versperrte der Polizist ihnen den Weg.
»Es steht Ihnen natürlich frei zu tun, was Sie wollen, Miss Paddington«, sagte er, »aber Mr. Winter bleibt hier!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hielt er Harry am Arm zurück.
»Was fällt Ihnen ein?«, protestierte Harry. »Sie haben kein Recht, mich anzurühren!«
»Wir wollen Ihnen die Landluft nicht länger zumuten«, erklärte der Zivilbeamte, der bisher geschwiegen hatte, in fließendem Französisch. »Zu Ihrem Verständnis, Mr. Winter«, fügte er sodann auf Englisch hinzu, »die Klage lautet nicht auf Verführung Minderjähriger, wie Sie offenbar vermuten, sondern auf Pornografie, in Verbindung mit Gotteslästerung.« Er nahm seinem Kollegen das Telegramm aus der Hand, faltete es wieder zusammen und ließ es in der Brusttasche seines Trenchcoats verschwinden. »Nach unseren Informationen waren bei dem Vorfall rund zweihundert Personen anwesend, die die Sache jederzeit bezeugen können.«
Laura begriff. Der Auftritt in der Galerie … Harry war genauso sprachlos wie sie. Mit großen Augen und offenem Mund stand er da, ohne dass ein Ton über seine Lippen drang. In seinem schwarzen Cape sah er aus wie ein Zauberer, dem ein Kunststück misslungen war und dem man nun den Applaus versagte.
»Mr. Winter«, sagte der Zivilbeamte, »hiermit teile ich Ihnen mit, dass man Sie zum ›unerwünschten Ausländer‹ erklärt hat. Sie haben achtundvierzig Stunden Zeit, England zu verlassen.« Er gab dem Constabler mit dem Kopf ein Zeichen. »Abführen!«
Am Abend war Laura wieder in London. Doch nicht bei ihren Eltern, sondern bei Geraldine. Sie hatte ihrer Freundin vor der Kunstakademie aufgelauert, um sich für ein oder zwei Nächte bei ihr zu verstecken, bevor sie auf die große Reise ging.
»Bist du wahnsinnig?«, fragte Geraldine, als sie von ihrem Plan erfuhr.
»Ich bin noch nie so vernünftig gewesen«, erklärte Laura. »Außerdem, du hast mich doch selber zu seiner Ausstellung geschleppt. Keine Ruhe hast du gegeben, damit ich ihn kennenlerne.«
»Als Künstler – ja! Aber doch nicht als Mann!« Verständnislos schüttelte Geraldine den Kopf. »Und du willst wirklich mit ihm durchbrennen? Mit einem wildfremden Menschen?«
»Wenn sie Künstler aus England jagen, habe ich hier nichts mehr verloren. – Darf ich?«
Ohne die Erlaubnis ihrer Freundin abzuwarten, biss Laura ein Stück von der Wurst ab, die auf einem Tisch zwischen Geraldines Malutensilien lag, und spülte mit einem Schluck Wein nach, der nach Terpentin schmeckte. Egal – Hauptsache Alkohol! Laura war nie zuvor Auto gefahren, und heute hatte sie eine Strecke von dreihundert Meilen zurückgelegt. Nachdem die Polizisten mit Harry verschwunden waren, hatte der Wirt den Schmied aus dem Dorf geholt. Der Schmied fuhr auch einen Vauxhall und hatte ihr beigebracht, wie man das Auto bediente.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie. »Geld, Kleider – vor allem meinen Pass. Du findest ihn in der Mittelschublade meines Schreibtischs. Am besten gehst du jetzt gleich. Um diese Zeit sind nur die Dienstboten im Haus. Meine Mutter spielt heute Bridge, der Abend ist ihr heilig, und mein Vater kommt nicht vor neun aus der Firma.«
»Wo wollt ihr überhaupt hin?«, fragte Geraldine.
»Ich gehe mit Harry nach Spanien.«
»Um Gottes willen! In Spanien ist Krieg! Sämtliche Faschisten und Kommunisten Europas schlagen sich da die Köpfe ein.«
»Hier ist auch Krieg! Mein Vater hat Harry angezeigt! Sie haben ihn abgeführt wie einen Verbrecher!«
»Ist dir eigentlich klar, auf was du dich einlässt? Was erwartest du von diesem Mann?«
»Ich will von ihm Sehen lernen! Sehen und Malen und Leben!«
»Leben?« Geraldine lachte laut auf. »Er hat geschworen, keine Frau mehr anzurühren!«
Laura blies sich eine Locke aus der Stirn. »Als Kind wollte ich Nonne oder Heilige werden. Jetzt habe ich endlich die Chance! Wer weiß, vielleicht lerne ich sogar die Kunst der Levitation!«
»Du lernst höchstens die Kunst des Verhungerns«, erwiderte Geraldine und nahm gleichfalls einen Schluck von dem Wein. »Herrgott, Laura – in drei Wochen ist Hofball. Du wirst dem König vorgestellt. Deine Eltern haben dafür Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt.«
Statt einer Antwort verdrehte Laura die Augen. Ihre Eltern hatten in der Tat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt – doch nur, um sich ihre eigenen Träume zu erfüllen. Ihr Vater hatte in seinem Leben mehr Geld verdient, als er ausgeben konnte, und bereits ein Schloss gekauft – mit so vielen Erkern und Türmchen und Spitzbogen, dass zwei Dutzend Angestellte nötig waren, um den scheußlichen alten Kasten instand zu halten. Lauras Mutter, die eine Vorliebe für Tüll hatte und jedem erzählte, dass sie in ihrer Jugend mit Schriftstellern verkehrt habe, war zwar nur die Tochter eines Landarztes, behauptete aber, vom österreichischen Kaiser Franz Joseph abzustammen. Um endlich die Wirklichkeit ihren Träumen anzupassen, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, Laura mit einem Lord oder Earl zu verheiraten.
»Die begehrtesten Junggesellen von London prügeln sich schon jetzt um deine Tanzkarten«, sagte Geraldine. »Ich wette, du wirst auf dem Ball ein Dutzend Anträge bekommen.«
»Mit den versnobten Milchgesichtern würde ich höchstens in den Sandkasten gehen, aber nicht ins Bett. Außerdem habe ich schon einen Antrag. Das genügt.«
Geraldine schüttelte den Kopf. »Tu nichts, was du später bereust«, sagte sie. »Harry Winter könnte dein Vater sein!«
»Nur wenn du glaubst, was in seinem Personalausweis steht«, erwiderte Laura. »In Wirklichkeit ist er viel jünger als ich. Er ist in der Zukunft geboren!«
»Du bist ja nicht mehr bei Trost!« In ihrer Erregung nahm Geraldine einen Lappen und fing an, ihre Pinsel zu reinigen. »Und was ist mit deiner Untersuchung?«, wollte sie wissen. »Du hast selber gesagt, wie dringend die Sache ist. Du darfst das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Sache hat möglicherweise einen sehr ernsten Namen. Soll ich ihn aussprechen, damit du Vernunft annimmst?«
»Halt sofort den Mund, ich warne dich!« Laura sprang auf, und ohne auf die Pinsel zu achten, nahm sie Geraldine in den Arm und drückte sie an sich. »Bitte, du musst mir helfen. Du bist meine einzige Freundin.«
»Ach Laura …«
Unsicher erwiderte Geraldine ihren Blick. Doch bevor sie etwas sagen konnte, wurden draußen Schritte laut, und im nächsten Moment flog die Wohnungstür auf.
Laura fuhr herum. Herein rauschte ein in Tränen aufgelöster Tüllengel, zusammen mit einem bocksbeinigen Teufel, dem zwei Hörner aus der Stirn zu wachsen schienen. Ihre Eltern.
»Gott sei Dank«, riefen die zwei wie aus einem Munde und stürzten sich auf sie. »Gott sei Dank, du bist noch da!«
Wo war Laura?
Ihre Freundin Geraldine, die mit ihrem Pagenkopf und dieser entsetzlichen Vernünftigkeit in ihrem Pferdegesicht auf Harry wie die Erzieherin eines Mädchenpensionats wirkte, hatte ihn benachrichtigt, dass seine Windsbraut nach London zurückgekehrt sei – in die Obhut ihrer Eltern. Sie habe auch den Vauxhall mitgebracht, hatte Geraldine hinzugefügt und ihm den Schlüssel gegeben. Der Wagen stehe in der Garage am Piccadilly Circus und könne dort jederzeit abgeholt werden.
Würde er die Windsbraut jemals wiedersehen?
Er hatte Laura aufsuchen wollen, um zu erfahren, was geschehen war. Er konnte nicht glauben, dass sie freiwillig zu ihren Eltern zurückgekehrt war – das wäre glatter Verrat gewesen. Doch die zwei Polizisten, die ihn rund um die Uhr bewachten, bis er das Land verließ, hatten ihm unter Androhung einer Geldstrafe, die seine finanziellen Mittel überstieg, verboten, sich dem Schloss, in dem William Lloyd Paddington seine Tochter gefangen hielt, auf weniger als hundert Schritt zu nähern.
Harry hatte nur eine Möglichkeit, sich zu rächen: durch Entzug seiner Kunst. Zusammen mit Bertram Amrose, dem Kurator seiner Ausstellung und Besitzer der Galerie, hängte er nun unter Aufsicht der zwei Polizisten seine Bilder von den Wänden, um sie in Kisten zu verpacken und zurück nach Paris zu expedieren.
»Wollen Sie die Ausstellung wirklich abbrechen?«, fragte Bertram Amrose, der mit seiner schwarzen Hornbrille, dem schwarzen Anzug und den glänzenden schwarzen Haaren aussah wie ein Hornkäfer auf zwei Beinen. »Bitte, Mr. Winter, ich beschwöre Sie! Lassen Sie Ihre Verehrer nicht büßen für die Ungerechtigkeit, die man Ihnen angetan hat.«
»Ein Land, das mich wie ein Ungeheuer behandelt, hat meine Bilder nicht verdient«, sagte Harry. »In Deutschland fing es auch damit an, dass man mir Pornografie vorwarf. Dabei hatte ich nur Adam und Eva zitiert – ein Bild von Albrecht Dürer! Deshalb bin ich ausgewandert, lange bevor dieser österreichische Anstreicher in Deutschland an die Macht kam.«
»Aber London ist doch nicht Berlin!«
»Wenn Sie mich fragen, steht England heute genauso am Rand des Faschismus wie damals Deutschland. Das gilt übrigens auch für Frankreich. Da wurde ich auch schon verfolgt, von meinem eigenen Schwiegervater! Er hat einen Steckbrief auf mich ausstellen lassen!«
»Florences Vater? Ich wusste gar nicht, dass er Politiker ist.«
»Er ist ein hohes Tier bei der Pariser Polizei, also sozusagen Faschist von Beruf. Obwohl Florence und ich nie heiraten wollten, hat er uns zu der Ehe gezwungen, deren Ende wir in Ihrer Galerie begangen haben. Weswegen ich jetzt wiederum Ihres Landes verwiesen werde. Ja, die Kreise schließen sich, die Schlinge zieht sich immer weiter zu. Wie eine Seuche breitet die Barbarei sich aus, in ganz Europa.«
»Werden Sie von London direkt nach Madrid reisen?«
»Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber heute als morgen die Uniform anziehen, um mit meinen Kameraden in Spanien zu kämpfen«, erklärte Harry. »Kunst und Geist gegen die Barbarei! Aber vorher muss ich noch nach Köln.«
»Um Himmels willen«, rief Bertram Amrose. »Was wollen Sie in Deutschland? Die Nazis haben Sie auf die Liste der entarteten Künstler gesetzt.«
»Das betrachte ich als die ehrenvollste Auszeichnung, die heutzutage einem Maler zuteilwerden kann!«
»Sie sollten es lieber als Warnung betrachten! Wenn Sie Angst vor dem Faschismus in England haben – die Deutschen werden Ihnen zeigen, was Faschismus wirklich heißt.«
»Ich fahre nicht zum Vergnügen dorthin zurück. Ich will mich von meinem Sohn verabschieden. Seine Mutter, meine erste Frau, ist Jüdin. Bis jetzt hat Bobby bei seinen Großeltern gelebt, um seine Druckerlehre zu beenden. Aber als Halbjude wird ihm in Deutschland der Boden unter den Füßen heiß. Er hat ein Visum für Amerika beantragt.«
Voller Misstrauen schauten die Polizisten zu ihnen herüber. Hatte das Wort Deutschland ihren Verdacht erregt? Oder das Wort Jude? Als Harry ihre Blicke mit einer Grimasse erwiderte, wandten sie sich vor Verlegenheit den Resten seiner Ausstellung zu. Während sie die Bilder an den halbleeren Wänden anstarrten, kopfschüttelnd und mit verrenkten Hälsen, weil sie nicht wussten, wo oben und unten war, schlugen sie sich mit ihren Gummiknüppeln immer wieder in die Hände. Als würden sie sich innerlich für die Niederschlagung eines Streiks oder Aufstands rüsten.
Harry musste an sich halten, um sich nicht zu übergeben. »Wenn ich nur wüsste, welches Schwein mich verraten hat«, sagte er und nahm das nächste Bild von der Wand, bevor die Polizisten es mit ihren Blicken besudelten.
»Wahrscheinlich ein Spitzel von Lauras Vater«, meinte Bertram Amrose. »Mr. Paddington ist ein sehr reicher und mächtiger Mann.«
»Ich glaube eher, es war diese Geraldine«, sagte Harry. »Sie ist die geborene Gouvernante. Außerdem mag sie mich nicht, das spüre ich genau. Aber klären Sie mich auf. Wie funktioniert so was bei Ihnen in England? Ich meine, wenn ein Mädchen aus gutem Hause, das mit einem Ausländer durchgebrannt ist, in den Schoß der Familie zurückkehrt?«
»In der Regel ganz einfach.« Bertram Amrose nahm die Brille ab und putzte die Gläser. »In drei Wochen ist Hofball. Soweit ich weiß, gibt Laura Paddington dort ihr Debüt. Danach wird es etwa zwei Monate dauern, bis die Times ihre Verlobung mit irgendeinem Lord oder Earl verkündet.«
Harry verstaute das Bild behutsam in einer Kiste und bedeckte es mit einer Schicht Holzwolle. »Ja«, sagte er, während er Hammer und Nägel nahm, um die Kiste zu verschließen, »das Leben ist ein Jeu de vérité.«
»Ein was?«
»Ein Wahrheitsspiel. Darin zeigt sich immer ganz von alleine, wie es wirklich ist.« Mit einem einzigen Schlag versenkte er den ersten Nagel. »Aber vielleicht ist es ja besser so. Ich weiß nicht, ob ich mein Gelübde gehalten hätte, wenn sie mitgekommen wäre, außerdem wäre es eine entsetzliche Verantwortung gewesen, ich meine, sie ist ja noch ziemlich jung …«
Seine eigenen Worte ekelten ihn so sehr an, dass er mitten im Satz verstummte. Was für ein gottverdammter Lügner er war! Seine sämtlichen Bilder hätte er in die Themse geschmissen, wenn Laura dafür bei ihm wäre. Während er einen Nagel nach dem anderen in die Kiste hämmerte, sah er sie vor sich. Mutterseelenallein saß sie im Turmzimmer ihres elterlichen Schlosses. Umgeben von gesichtslosen Augen, die aus der Dunkelheit auf sie starrten. Ein Kerker aus Blicken und Angst.
Dafür sollten die Faschisten büßen! In Spanien würden sie bezahlen, was sie diesem Mädchen angetan hatten!
In stummer Wut schlug Harry den letzten Nagel ein. Dann rüttelte er noch einmal an den Latten, um ihre Festigkeit zu prüfen.
»Weg damit!«
Während Bertram Amrose die Kiste hinaustrug, nahm Harry ein Blatt Papier. Er musste sich von alledem erholen, und die Kunst war seine einzige Zuflucht, die einzige Wirklichkeit, in der er es länger als fünf Minuten aushielt, ohne verrückt zu werden.
Ohne einen Plan oder eine Absicht begann er zu zeichnen. Nur ein vager, unbestimmter Wunsch führte seinen Stift: der Wunsch, Laura irgendwie zu helfen, sie aus ihrem verfluchten Kerker zu befreien.
Wie hatte sie ihn genannt? Der Große Zauberer?
Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
»Bin ich das?«, fragte eine raue, dunkle Frauenstimme.
Als Harry aufsah, blickte er in dasselbe Gesicht, das er soeben gezeichnet hatte. Ein junges, hellhäutiges Mädchen mit langen, schwarzen Locken, noch schwärzeren Augen und einem vollen roten Mund: eine deliziöse Miniatur, die sich gerade in ein Wildpferd verwandelte.
»Und deine Eltern?«, wollte Harry wissen.
»Welche Eltern?« Laura erwiderte spöttisch seinen Blick. »Ich bin eine freie Frau!«
Irritiert, beinahe erschrocken, runzelte er die Stirn, und das Lächeln verschwand von seinen Lippen. Laura glaubte nicht richtig zu sehen. Sie hatte erwartet, dass er sie mit offenen Armen empfing – und jetzt dieses Gesicht! Konnte er sich nicht vorstellen, was sie riskiert hatte? Als sie ihren Eltern erklärt hatte, dass sie London in vierundzwanzig Stunden verlassen würde, um Harry nach Spanien zu folgen, hatte ihre Mutter einen Nervenzusammenbruch erlitten, und ihr Vater hatte nur einen einzigen Satz gesagt: »Dann wird dein Schatten die Tür unseres Hauses nie wieder verdunkeln.« Obwohl der Notarzt ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert hatte, war sie gegangen. Sie hatte die Aufregung genutzt und war verschwunden, als die Sanitäter mit der Bahre aufkreuzten. Nie hätte sie dazu den Mut gehabt, wenn sie Harry nicht begegnet wäre.
War es das, wovor er jetzt zurückschrak? Aus Angst, dass sie ihm womöglich eines Tages vorwerfen würde, sie aus ihrer alten, behüteten Welt gerissen zu haben?
Als wolle er ihre Vermutung bestätigen, sagte er: »Du bist kaum älter als mein Sohn Bobby. Zu ihm würdest du viel besser passen.«
»Dein Sohn heißt Bobby? Ein schöner Name. Aber nicht so schön wie Harry.« Sie zeigte auf das Bild, in dem er sie in ein Wildpferd verwandelt hatte. »Oder will der Große Zauberer seinen Zauber wieder rückgängig machen?«
Statt einer Antwort küsste er sie.
»Irgendjemand ist immer das Opfer«, flüsterte sie. »Lass uns noch heute aufbrechen. Je früher wir England verlassen, desto besser.«
»Hast du denn überhaupt keine Angst?«, fragte er. »Nicht mal vor dem Krieg?«
»Nein«, sagte sie. »Ich laufe ja nicht davon – und erst recht nicht deinetwegen. Ich tue es nur für mich.«
Endlich kehrte sein Lächeln zurück. »Die Windsbraut wird zur Kriegsbraut. Ich sehe das Bild schon vor mir, ich muss es nur noch malen. Für unsere Freunde in Spanien.«
Sie machte sich von ihm los. »Schließen wir einen Vertrag. Ich schenke dir meine Jugend, dafür bringst du mir bei, wie man zaubert.«
»Willst du nicht erst mal kochen lernen?« Als er ihr Gesicht sah, nickte er. »Du meinst es also wirklich ernst?«
»Was für eine blöde Frage! Und ob ich es ernst meine! Ich will alles von dir lernen, was du weißt. Um endlich Sehen zu lernen! Und Malen! Und Leben! Zusammen mit dir!«
»Psst«, machte Harry und legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Nicht so laut!«
Er deutete mit dem Kopf auf die Polizisten, die sie vom Flur her beäugten. Sie hatten Laura noch nicht erkannt, aber wenn sie eins und eins zusammenzählten, würden sie gleich nach ihrem Ausweis fragen. Zum Glück kam in diesem Augenblick Mr. Amrose die Treppe herauf und verwickelte die zwei Beamten in ein Gespräch.
»Also gut, abgemacht«, sagte Harry auf Französisch. »Aber nur unter einer Bedingung.«
»Nämlich?«
»Dass du mein Gelübde respektierst.« Er nahm ihr Kinn und blickte ihr in die Augen. »Du kannst mich in deinen Träumen haben. Da kannst du meine Frau und Geliebte sein. Aber nur da.«
»Bild dir ja nichts ein«, erwiderte Laura. »Ohne dein Gelübde hätte ich mich gar nicht in dich verliebt. Pass du lieber auf Dada auf. Damit er dir nicht über den Kopf wächst.«
»Und noch was«, fügte Harry hinzu, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Ich werde niemals ›Ich liebe dich‹ zu dir sagen.«
»Gott sei Dank!«, lachte Laura. »Ich hasse Männer, die so kitschiges Zeug reden.«
Paris 1937–1938
Kann ein Mensch irgendwo auf der Welt einsamer sein als in Paris?