Die große Chance - Fernand Schmit - E-Book

Die große Chance E-Book

Fernand Schmit

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Beschreibung

Welche Lehrer und Lehrerinnen träumen nicht von einer neuen Schule, die sie selbst gründen? Das ist doch Illusion, oder? Was aber passiert, wenn der Zufall solchen Menschen zu sehr viel Geld verhilft und sie einen verwegenen Entschluss fassen, das ist spannend zu erfahren für alle, die überzeugt sind, dass wir in der Schulentwicklung einen großen Sprung nach vorne vor uns haben. Oder nie wieder springen werden!

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Über den Autor

Der Autor ist Gymnasiallehrer und befindet sich offiziell seit 2013 im Ruhestand. Er setzte seine Arbeit jedoch fort und befindet sich im 54. Berufsjahr, darunter schon 5 Jahre in Ägypten. Weitere werden folgen. Zu Bildung und Schule entstanden nicht nur Unterrichtsmaterialien (insbesondere zum Thema Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung), sondern auch Bücher, zuletzt „Deutschland muss nicht verdummen“. Ein 700 Seiten starkes Werk über einen afrikanischen Arzt und Dichter erschien im Mai 2021. Intensive Berührung hatte der Autor neben dem von ihm teilweise mit entwickelten Globalen Lernen auch mit der Philosophie, der Zoologie, Primatologie, auch der Parasitologie, der Afrikanistik und schließlich mit vielen Sprachen. Allein als Lehrer für afrikanische Sprachen war er dreißig Jahre tätig. Schmit weiß nur zu gut, dass Lehrer und Lehrerinnen heutzutage so gut wie nichts mehr zum Thema Unterricht und Schule lesen und beschloss deshalb, seine Vorstellungen, wie die Schule von heute aussehen könnte, in Romanform erscheinen zu lassen. Eine Antwort erwartet der Autor zu Lebzeiten nicht mehr, möchte aber an der Diskussion teilnehmen. Diskussion? Wenn es denn eine gäbe ... oder hat sie zaghaft begonnen?

Im vorliegenden Roman

Haben sich Hans und Johanna entschlossen, einen immensen Lottogewinn in die Gründung einer neuen Schule zu investieren. Mit dem Geld könnten sie sich eigentlich alle Träume erfüllen. Diese Geschichte muss somit zwangsläufig jeden Menschen provozieren: Spinnen die?

Für Maivi

die es in der Schule einmal besser haben wird.

Gehe auf den Charakter des Schülers ein und beachte seine Begabungen, Neigungen und seine bisherige Lerngeschichte!

nach H. Brunner 1957: Altägyptische Erziehung

(4000 Jahre vor unserer Zeitrechnung …)

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Epilog des Hans

Nachwort

1.

„Jeder würde das Gleiche sagen, wie ich es jetzt dir gegenüber tue: Du bist bescheuert, wenn du das ernst meinst mit dem vielen Geld. Wie kann man die Chance seines Lebens auf diese Weise verspielen und einen ganzen Jackpot aus dem Fenster werfen, weil man unbedingt eine Schule gründen und bauen will, mit allem Drum und Dran. Bist du blöd, sag mal? Kauft euch ein Haus in Norwegen und habt ein schönes Leben. Und euren Kindern könnt ihr auch noch jedem ein schönes Haus hinstellen. Also komm! Seid nicht so verrückt!”

Hans sah erst seinen Kollegen Till an, der soeben mit ihm geschimpft hatte, dann seine Frau Johanna, dann blickte er zu Boden, dann aus dem Fenster in weite Ferne, so als hätte die Rede seines Kollegen ihm die Augen womöglich geöffnet, als hätte er Zweifel bekommen, zumindest, als sei er nachdenklich geworden. Aber sein Entschluss stand fest. Und den hatten er und seine Frau gründlich ausdiskutiert. Es gab dabei keine Unstimmigkeiten. Der Entschluss stand so fest, wie der große Gewinn Wahrheit war. Zweiundvierzig Millionen Euro. Welche Lehrerin, welcher Lehrer dieser Welt, käme da nicht auf ganz ähnliche Gedanken? Zumindest für Augenblicke.

„Was willst du trinken? Einen Campari-Soda? Oder einen Gin-Tonic mit einem leckeren Heide-Gin aus Ramelsloh? Oder ein simples Bier?”

„Ach, mach dir keine Umstände. Womöglich bietest du noch ’n Caipirinha an! Lass man mal.“

„Caipi? Kannst du haben. Sofort. Kannst schon mal das Eis crashen. Ich trink’ einen mit. Ist doch immer wieder mein Lieblingsgetränk, auch wenn der Zucker darin niemals gut sein kann für einen intakten Organismus wie unserer! Und du, Liebe? Was mach’ ich für dich?“

„Ich trink’ gerne einen Weißen. Da ist noch ’ne Flasche Calvet.“

„Das geht in Ordnung, Schatz. Hadir ya habibti. Ach ja, die ägyptischen Reste. Das muss mal aufhören. Wir sind hier in Deutschland und hier wird Deutsch gesprochen! Haha, da fällt mir ein, meine Klassenlehrerin Frau Heimberg. Ich kam gerade nach Deutschland und sollte da sofort eingeschult werden, mitten in die 4. Klasse rein. Und die Heimberg, gell, die hatte ’nen Rochus auf mich. Beim kleinsten bisschen ging es los: Das kannste wohl in Luxemburg machen, aber nicht hier in Deutschland! Ja ja, das waren doch noch Zeiten. Heute reichen gleich die Väter dieser Schüler eine Klage ein. Da kriegste gleich noch ’n Verfahren an den Hals. Sie haben meinen Sohn verunglimpft, nur weil er Ausländer ist! Ich bring’ Sie vor den Kadi! Und so geht das dann. Nee, nee, Frau Heimberg konnte ihre völkische Haltung noch voll ausleben. Und blieb gesund dabei. Obwohl. Gesund? Wenn die anfangen wollte, auf der Blockflöte was vorzuspielen, dann musste sie immer erst ihre Kehle saubermachen. Und das war vielleicht eklig, sag’ ich euch. Wie sie da in eins ihrer Taschentücher gerotzt hat. Minutenlang. Den Rotz dann fein säuberlich eingeschlagen und in ihrer Handtasche verstaut hat. Erst danach ging’s los. Mit Frühtau zu Berge und so. Das war ja echt noch ganz schön. Später erfuhr ich, dass es ja Lieder aus Schweden sind. Haha. Die Gedanken, die

sind frei. Das ist zwar umstritten, aber ursprünglich wohl auch aus Schweden. Jedenfalls lustig. Oder?”

„Und dann hast du beschlossen, Lehrer zu werden. Kann man das so sagen?“

„Nee, das kam viel später. Zwar hatte ich gute Lehrer auf dem Gymnasium. Die hätten schon mal als Vorbilder getaugt. Aber nee, ich hab’ die Pubertät auch voll durchlaufen und bin nicht gleich vernünftig auf die Welt gekommen. Da gab es lange Phasen, die ganz anders geprägt waren. Indianerleben mit allem Drum und Dran. Die Wissenschaft, die Sprachen der Welt, der Traum von Tanganyika. Kein Gedanke ans Lehrersein. Erst im frühen Studium. Und sehr plötzlich. Und nur durch den direkten Kontakt mit dem Beruf. Mit großen Erfolgen und verdammt guten Erfahrungen. Ja, und dann war es klar. Raus aus der reinen Wissenschaft, raus aus dem Medizinstudium, ade der Traum von einem tanganyikanischen Pass. Nur noch Lehrer werden wollen und nix anderes!“

„Apropos Wumms! Schönes Wort vom Scholz. Ach je, wo wir überall einen Wumms gebrauchen könnten! Ich sag’s dir. So viele Wümmse gibt es gar nicht. Und du, Johanna, du bist ja auch Lehrerin geworden. Sicher aber hast du eine ganz andere Geschichte.“

„Ja, klar waren die Beweggründe bei mir ganz andere. Im intellektuellen Bereich sollte es ja schon was sein. Psychologie. Medizin. Wissenschaft. Architektur. Vor allem Letzteres habe ich nicht intensiv genug verfolgt. Wäre für mich eventuell besser gewesen als Lehrerin.“

„Also ganz und gar nicht. Wenn ihr das mit dem Schulprojekt wirklich durchziehen wollt, dann muss sich jemand sogar sehr intensiv um den Architektenkram kümmern. Und holla! Wer dann, wenn nicht du? Die stille Leidenschaft, gepaart mit den Erfahrungen als Lehrerin. Wenn das nix wird, was dann?“

„Das hab’ ich noch gar nicht so auf’m Schirm. Aber ... das könnte was sein. Ja, das könnte wirklich was sein. Nur glaubst du, da lässt mich ein ausgereifter Architekt ran? Auch wenn es nur ums Mitmachen geht. Das macht doch keiner.“

„Oh doch. Der Vorwurf, dass in Deutschland keiner eine Schule bauen kann, die dem modernen Lernen gerecht wird, den haben einige wahrgenommen. Und die werden eventuell sogar dankbar sein für jede zielführende Diskussion, für jede Idee“, sagte Till.

„Noch schlimmer! Ohne genau diese Konstellation werden wir dieses Projekt gar nicht erst anfangen. Die Architektur ist weitaus bedeutender als alle wahrhaben wollen. Das wäre nicht mal ’ne halbe Sache, wenn nicht auch da die Revolution stattfinden würde“, sagte Hans. „Die Millionen sind nur gut eingesetzt, wenn genau das und noch viele andere Dinge zum neuen Konzept passen.“

„Na, dann, liebe Johanna, kommst du ja noch auf deine Kosten, was deine Leidenschaft für die Architektur betrifft. Hast du schon Vorstellungen?“

„Wenn denn wirklich klar umrissen ist, wie eine moderne und wegweisende Schule aussehen kann, dann wird sich diese Frage ganz konkret stellen. Aber schon jetzt ist klar, dass viele Dinge, die wir jetzt immer noch massenhaft in Deutschland haben, einfach nicht gehen. Neubauten müssen darauf Rücksicht nehmen und alte, bereits bestehende Schulbauten sollten einer Revision unterzogen werden, um zu schauen, wie eine Umgestaltung, eine Meliorierung in jeder Hinsicht durchgeführt werden kann. Das kostet Geld! Aber es stimmt nicht, dass sich eine gute Schule überhaupt nicht um die Schulgestaltung kümmern muss. Man braucht Raum, man braucht neuen Raum, man braucht angepasste Räumlichkeiten, die das neue Lernen widerspiegeln. Das hat auch Signalwirkung. Sonst könnte man ohne Weiteres einen Gottesdienst in einer Tiefgarage stattfinden lassen. Oder?“

Hans hatte inzwischen für jeden einen Caipirinha gemacht und kam mit den drei Gläsern aus der Küche zurück, alle säuberlich auf einem Tablett serviert, das beide Eheleute aus den Jahren in Ägypten mitgebracht hatten und auf dem in Arabisch stand: Schön, dass ihr gekommen seid.

„Na ihr zwei. Immer noch beim Thema?“, fragte sie.

„Wir können das gerne wechseln. Kein Problem. Ich kann euch beraten, wie ihr die Millionen in Aktien anlegt und daraus noch zehn Millionen mehr macht. Eine halbe Million für mich, wenn es klappt. Das reicht mir für ein Häuschen im Grünen. Oder ich gebe euch Tipps, was ihr jetzt gleich mal tun könnt, um den Gewinn zu genießen. Dinge, die ihr niemals bereuen würdet. Und die euch locker 90 % vom Gewinn unangetastet ließen.“

„Zum Bleistift?“, fragte Hans.

„Ha, da wäre doch als Erstes mal die Erfüllung deines Traumes. Zum Bleistift. Ihr fliegt einfach nach Iquitos, kauft da ein Amazonas taugliches Boot, das Johanna gut bedienen kann, und dann kannst du den Amazonas runter schwimmen, während sie dich mit diesem Boot begleitet. Abends an einer Sandbank anlegen, Zelt aufbauen, genießen. Und morgens wieder rein in den Bach und in Strommitte weiter Richtung Manaus. Oder noch weiter. Hey? Wie wäre das? Wolltest du doch immer schon machen!“ „Schön! Machen wir vielleicht sogar. Aber dann sind erst 10.000 Euro weg von dem Geld. Also wie weiter?“

„Langsam, langsam. Ihr wolltet doch immer schon ein Niedersachsen-Haus im Grünen mit eigenem Pool. Dahinter ein schönes Gelände für euren Wunschzoo: ein Esel, zwei Ziegen, drei Gänse. Wieso übrigens nicht zwei Esel? Wieso nur einen? Na gut, egal. Also das wäre mein nächster Vorschlag. Ja und dann geht es erst richtig los. Ich kenne euch ja. Für euch allein könnt ihr ja kaum was behalten. Also macht ihr dann die große Liste, wer was und wie viel bekommt. Da sind denn aber ganz schnell zehn Millionen weg. Eure Schule bekommt natürlich auch eine Spende. Eine Million für Geräte, die der Bewegung dienen. ‚Bewegte Schule’ darf das dann anschließend heißen.“

„Das ist toll. Siehste, du findest auch, dass man bezüglich Schule investieren muss.“ „Ja, finde ich, aber muss es denn so viel sein? Ist das nicht Sache der Gemeinde, des Landes, der Gesellschaft? Ich jedenfalls berate dich in deiner eigenen Sache. Verzeihung, in eurer eigenen Sache. Nach dem Amazonas-Abenteuer kauft ihr euch kleine Häuser in euren Lieblingsländern, also in Schweden, in Norwegen, in Kanada, in Ägypten, in Tanzania, sodann in Neuseeland, in Portugal, in Florida, in Grönland. Du sprichst doch Kalaallisut oder wie das heißt? Wie spricht man das aus?“

„So ähnlich wie Kalláchisutt. Bleib gerne bei Grönländisch.“

„Ok. Jedenfalls, kannste dann alles ausprobieren. Die anderen Sprachen da, die kannst du ohnehin. Beziehungsweise du auch Johanna.“

„Übrigens: Prost!“, unterbrach ihn Hans. Der Caipi schmeckte hervorragend. Draußen hatte es locker noch 30 Grad an diesem frühen Abend. Die Türen zum Garten waren offen, im Hintergrund spielte Stan Getz und sang Astrud Gilberto. Es war halt eine echte und lockere Gartenpartystimmung, die unsere drei Freunde umgab. Im Grunde eine Art Luxus, wie man sie in Hollywoodfilmen so gerne sieht.

Ob rein historisch gesehen irgendwelches Aushecken von revolutionären Ideen und Plänen immer bei solchen Anlässen und bei so einer Atmosphäre zustande gekommen ist, das sei zu bezweifeln. Aber Hans hatte es natürlich auch schon ganz anders erlebt. Da saßen dann revolutionswillige Kollegen – es handelte sich etwa um ein Viertel des Kollegiums – beisammen in der Kneipe oder Gartenwirtschaft und diskutierten heiß über die Schule von morgen. Was gab es da nicht alles an Ideen! Das ging bis hin zum Erwerb eines Gebäudes auf dem Lande, in dem (ähnlich dem früher üblichen Landheim) das Lernen in Klausur stattfinden sollte, wobei Klausur nicht wörtlich bedeutete, dass alle in engen Räumlichkeiten eingeschlossen lernen mussten. Ganz im Gegenteil. Im Nachhinein konnten alle Beteiligten in späteren Jahren feststellen, dass vieles davon umgesetzt worden war. Die Schule von 1990 war nicht mehr die Schule von 1970. Aber, und nun kommt es, die Schule von 2020 war auch nicht mehr die Schule von 1990, leider jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. Wo waren der ganzheitliche Ansatz geblieben, das Aufsuchen außerschulischer Lernorte, der Projektunterricht, das fächerverbindende Arbeiten, das Fördern kreativer Alternativen, das dialogische Prinzip, der intensive Methodenwechsel, das Bemühen um didaktische Perfektion, die Anerkennung vieler Ergebnisse aus der Hirnforschung, sodann auch die konstruktive Zusammenarbeit mit den Eltern und mit außerschulischen Experten, das Festlegen von Werten und von Zielen, die Erziehung zu Verantwortung, überhaupt: wo war denn der ganze Ansatz ‚Erziehung‘ geblieben? Hatte nicht jemand wie Michael Winterhoff neulich gemahnt, der Reifezustand vieler Sechzehnjähriger läge auf dem Niveau von manchmal nur eineinhalb Jahre alten Kindern?

Konnte man nicht all überall beobachten, dass Winterhoff recht hat? Man ging ihm trotzdem an den Kragen, aber Eigenschaften wie Verantwortung, Eigenverantwortlichkeit und Respekt, ohne die man nicht auskommt – wo waren sie geblieben? Oder gehörten diese Menschen, die sich da im Garten über alles den Kopf zerbrachen, schon wieder zur Generation ‚alles wird verraten‘, so wie wir es früher mit der Generation über uns auch bereits erlebt hatten? Hier in diesem Garten allerdings waren alle – auch nach langem kritischem Abwägen – der Meinung, dass es diesmal etwas anderes war. Aber auch das hinterfragten sie mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, dass genau das die Generation vor uns auch schon festgestellt hatte, nämlich dass es doch dieses Mal etwas anderes sei. Festhalten können wir an dieser Stelle, dass hier und jetzt und noch mal genau in diesem Garten die vollkommene Überzeugung vorhanden war, dass alles eine neue und nie dagewesene Qualität erreicht hatte. Wenn man denn überhaupt den zweideutigen Begriff der Qualität bemühen wollte. Ja, anders war es. Anders. Aber niemand sonst schien das so zu sehen und es zum Thema zu machen. Zum ganz großen Thema, denn nicht durch eine wie auch immer geartete Islamisierung des Abendlandes (was für ein Quatsch) war dieses Abendland in Gefahr, sondern durch die sich einschleichende Verdummung in der Gesellschaft. Es war überall zu beobachten. Aber nirgendwo war es ein Thema in den Gruppen und Gremien, konkret: in den Kollegien. Sind die blind?

„Also, du kannst auf mich zählen, Hans. Wenn du das wirklich ernst meinst und die Mäuse auf diese Weise auf den Kopf hauen willst, dann bin ich dabei. Und ich denke, es werden noch einige hinzukommen. Menschen meine ich, nicht Mäuse. Steinbeck: Von Menschen und Mäusen. Wie witzig. Also, was kann schon passieren, als dass das Geld dann weg ist und mangels Anerkennung und Unterstützung das Projekt endet und am Schluss ein Altenheim aus dem fertigen Schulbau wird?“, sagte Till.

„Das finde ich nun aber richtig lobenswert von dir. Wenn du und gerade du nicht angetan gewesen wärst von der Idee, dann wäre ich doch schon ganz schön irritiert gewesen. Du hast natürlich recht, wenn du andeutest, dass da noch einige hinzukommen müssen. Nicht, dass ich das erwarte, nein, eher nicht, aber notwendig ist es. Daran kann alles schon mal scheitern, bevor es überhaupt begonnen hat. Dann wäre eine schöne große Villa am Strand von Bohuslän doch eher am Platze gewesen“, sinnierte Hans.

„Ha, in die du dann alle Schüler in den Ferien einladen kannst, um ihnen all das zukommen zu lassen, was du unter Bildung und Ausbildung verstehst, unter Lernen also.“

„Lach nicht“, sagte Hans, “aber solche Pläne hatten wir als Junglehrer durchaus. Ich weiß noch, wie ein Trupp von uns auf der Schwäbischen Alb unterwegs war, um ein großes Gelände und einen großen Hof ausfindig zu machen für genau dieses externe Lernumfeld, von dem man sich so viel versprochen hat damals. Ach je, da war die Bärbel dabei und sogar die Margret, die gar nicht mehr lebt, die Mechthild und die Irmgard und der Wolfgang und ich glaube sogar der Hans-Ulrich und wer weiß, wer noch alles“, schwärmte Hans mit abwesendem Blick.

„Jetzt mach gerne da einen Punkt. Du willst doch wohl nicht mit uralten Vorstellungen an dieses Projekt rangehen. Was damals vielleicht geboten war, muss doch heute nicht immer noch von Bedeutung sein!“, unterbrach ihn Till.

„Ist es so einfach? Ich habe sehr intensiv bei den alten Ägyptern nachgeforscht, den wirklichen Erfindern der Schule. Imhotep und so. Ich habe bei Brunner nachgelesen und muss sagen, dass die Frage nach dem immer Gültigen durchaus gestellt werden darf. Nein, muss. Natürlich ist es legitim zu sagen, dass unsere Vorstellung von Lernen im Sitzen zumindest in dieser extremen Form auf den Müll gehört, aber wenn es darum geht, wie gelernt werden soll und was gelernt werden soll, dann stellt man fest, dass es eine riesige Menge an Dingen gibt, die damals wie heute aktuell sind. Viele Fragen und manche Antworten sind über viertausend Jahre alt. Und das alles sollte man nun verknüpfen mit dem, was heute über das Lernen und die gute Schule bekannt ist. Da gehören ganz viele Aspekte rein. Dem entsprechen wir aber nun ganz und gar nicht. Und die Diskussion darüber findet nicht mehr statt. Momentan wird sie auch erstickt durch die Diskussion um die Digitalisierung. Dabei kann und muss man doch alles miteinander verknüpfen. Oderrr?“, Hans machte ein Gesicht mit einem Fragezeichen darin.

„Komm, mach uns mal noch einen Caipi. Und frag deine Frau, ob sie auch will. Die will bestimmt. Schau mal, wie sie uns beneidet, weil wir so zufriedene Gesichter machen. Also drei Caipi. Für drei zufriedene Gesichter!“, lachte Till.

Der Abend wurde spät. Erst um Mitternacht schwang sich Till auf sein Rad und fuhr heim. Vielleicht schob er auch, wegen der Caipis. Gut, dass es Freitagabend war und man am Folgetag nicht so früh rausmusste. Die drei Partyfans hatten verabredet, demnächst eine richtige Gartenparty zu veranstalten, um dann auf geschickte Weise das Gespräch auf das neue und angedachte Projekt zu lenken. Unverbindlich. Nur erst einmal die Idee streuen, war der Plan. Im Idealfall würden dann einige aus dem Kollegium von ganz allein kommen und Fragen stellen. Dann konnte man ja irgendwann einen Info-Abend machen. Das war die Idee.

2.

Im Garten wüteten die Ameisen. Zuerst waren sie an mehreren Stellen unter den Terrassenfliesen hervorgekommen, hatten da kleine Sandhäufchen hingelegt. Sie waren aber sehr höflich. Kaum eine verirrte sich auf den Tisch und versuchte auf diese Weise, ein Stück vom Käse abzubekommen. Auch krabbelten sie nicht an einem hoch und bissen auch nicht in die Füße, selbst wenn man keine Schuhe anhatte. Aber dann hatte Johanna sich doch beraten lassen und eine gewisse durchsichtige Masse in die Öffnungen gefüllt, die sie dann verfütterten und damit ihre Larven ins Jenseits brachten. Ergebnis: Sie zogen um und hatten nun überall auf der Wiese kleine Sandhäufchen geschaffen. Auch in der langen Hauseinfahrt waren sie präsent. Die gleichen Sandhäufchen wie auf der Terrasse. Nicht schlimm natürlich, aber es entstanden grundlegende Fragen. Die erste war, inwiefern man doch bitte mit ihnen Seite an Seite leben sollte. Die zweite, ob es fair war, sie mit irgendwelchen Mitteln zu vertreiben. Und die dritte, inwieweit wir es zugelassen haben, dass Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit alles vertreiben sollen, was doch bloß Natur ist. Koexistenz war doch schon immer eine brillante Lösung.

Hans ertappte sich bei noch weit merkwürdigeren Dingen. Er hatte sich eine Zwille zugelegt. Wozu denn bitte eine Zwille? Er liebte diese Zwille genauso wie Pfeil und Bogen, weil er in der Jugend gelernt hatte, mit beidem außerordentlich gut umgehen zu können. Also zum Beispiel erinnerte er sich daran, wie er, voll angeberisch natürlich, auf dem Schützenfest von Hannover auf genau den Stand zuging, der anbot, mit Pfeil und Bogen auf Luftballons zu schießen. Statt mit dem Luftgewehr. Er ließ sich Pfeil und Bogen geben, schoss aber nun nicht wie geplant, sondern zog die große Show ab. Alle Festgäste vor der Schießbude mussten aus dem Weg gehen, bis alles frei war. Dann ging er auf die andere Seite bis vor die gegenüberliegende Bude. Von da aus schoss er. Und traf den Ballon. Der platzte auch wie geplant. Hauptgewinn! Freie Auswahl! Aber die Show war noch nicht zu Ende. Er ging und gab die Utensilien zurück und verzichtete großzügig auf den Preis. Er habe nur schießen wollen. Sprach’s und verschwand.

Ja und jetzt die Zwille. Mit der er ebenfalls sehr genau treffen konnte, wenn er wollte. Doch wozu?

Tauben! Da kamen immer so fette entlaufene Zuchttauben, so ekelige dumme Vollhühner, die den anderen Vögeln und den Eichhörnchen das Futter wegaßen. So was kam ja nun schon mal gar nicht infrage. Doch was tun? Manchmal genügte das laute Öffnen der Terrassentür. Dennoch: Eine Zwille musste her. Aber nicht, um die Taube zu verletzen natürlich, sondern nur zu erschrecken. Das wiederum ging hervorragend mit einer Erdnuss. Da er sehr genau zielen konnte, platzierte er die Nuss ganz dicht neben die Taube. Und da es beim Aufprall ein Knirschen gab, weil das bei Erdnüssen eben so ist, erschrak die Taube und floh. Sie kamen immer seltener. Zum Schluss bedauerte Hans sogar die selten gewordenen Besuche, denn es machte Spaß, Tauben zu erschrecken! Mit Erdnüssen!

Aber im Übrigen war er eigentlich noch ganz dicht. Sein Garten war durchaus auch immer ein Objekt des Neids. Ihm gelang es, auf die natürlichste Weise all die Organismen, die ein Mensch im Garten gerne nicht hätte, weitgehend außen vor zu lassen. Alle Nachbarn benutzten Püderchen und Mittelchen und Tricks, um Schädlinge und Schnecken und so was loszuwerden. Er aber ließ seinen Garten, wie er war, pflanzte nach alter afrikanischer Tradition sehr viel durcheinander und erlaubt es allem Getier, sich darin aufzuhalten. Und hatte nie Probleme. Sein Garten war immer auch ein kleiner Zoo, ein Stück richtiger Natur. Auch hielten sich Pflege und Nichtpflege die Waage. Das Argument, so viele Gärten gäbe es auf der Welt gar nicht, um mit ihnen die Natur zu retten, ließ er nicht gelten. Klar fanden die großen Sünden ganz woanders statt, aber wenn ein jeder Einzelne seiner kleinen Verantwortung nachkäme, so sagte er immer, dann könnte sich das Ergebnis wirklich sehen lassen. In seiner Erinnerung geisterte dazu auch ein ganz toller Unterrichtsfilm, ein Trickfilm, herum. Der hieß ‚Mein kleiner Garten‘ und zeigte einen liebevollen Gartenbesitzer, der eines Tages erleben muss, wie ein rücksichtsloser Unternehmer alles vergiftet und zerstört. Bis eines Tages dieser Unternehmer selbst betroffen ist und ihm ein Licht aufgeht.

Und auch auf Kongressen und Fortbildungen hatte es Hans nicht an Fantasie gefehlt, auf relativ drastische Weise vor Augen zu führen, wie wir hier in der Verantwortung stehen. Damals schon wurde das Autofahren und seine Umweltbelastung diskutiert. Aussteigen und Auto verkaufen, schlugen einige vor. Er aber wies nach, dass es viel mehr bringt, wenn jeder Einzelne und jede Einzelne das eigene Verhalten ändert, deutlich mehr als wenn einige wenige Menschen radikal verzichten. Wenn bei uns vierzig Millionen Pkws jährlich im Durchschnitt 15.000 Kilometer fahren, verbrauchen sie entweder 60.000.000.000 Liter Treibstoff oder 30.000.000.000, eine enorme Ersparnis. Wenn aber sagen wir 5 % aller Menschen, die eigentlich Autos fahren, nun ganz verzichten, brauchen die anderen immer noch 57.000.000.000 Liter.

Eine andere Rechnung, die er aufmachte, war die vom Totschlag, wenn auch kein gewollter Totschlag. Die Umweltbelastung durchs Autofahren wurde hochgerechnet für alle damals weltweit fahrenden etwa 450 Millionen Pkws und ihren Treibstoffverbrauch. Prozentual trägt das zu etwa 12 % zum Klimawandel bei. Wenn nun durch diesen Wandel Dürren, Überschwemmungen, Wetterkatastrophen und andere Sachen entstehen, kommen dadurch in circa 80 Jahren insgesamt circa 16 Milliarden Menschen um (durch Verhungern, Katastrophen, Nahrungskriege, Klima bedingte Aggressionen). Dann ist jeder Mensch, der Auto fährt, für den Tod von ungefähr 12 % davon verantwortlich, also 1.760.000.000, geteilt durch 450 Millionen ergibt ganz rund gerechnet 4 Menschen, die man dadurch indirekt tötet. Auch wenn Mathematiker an der Rechnung Schwachstellen finden würden – im Prinzip aber wird klar, was gemeint ist.

In der Art machte er gerne klar, dass die eigenen Entscheidungen immer Auswirkungen auf andere Menschen und andere Teile der Welt haben. Manche seiner Zuhörer notierten sich gerne und eifrig seine Beispiele, um sie selbst weiterzugeben oder zu benutzen. Andere fühlten sich provoziert und hatten das Bedürfnis zu streiten. Wieder andere warfen ihm Sarkasmus vor. Er fand alle drei Reaktionen prima.

Wir waren aber bei den Ameisen stehen geblieben. Diese erinnerten ihn an eine nicht ganz freiwillige Studierphase, die er in Schweden absolvierte. Wie war das gekommen? Langes Wandern, immer querfeldein durch Sümpfe und Moore mit ungeeignetem Schuhwerk, hatten dazu geführt, dass an beiden Füßen je eine Mammutblase entstanden war. Sehr schmerzhaft. So musste er gezwungenermaßen auf dem Waldboden liegen und warten, bis sein Kumpel Alex ihm Essen brachte oder gesammelte Beeren. Was macht man da, um nicht bloß einfach herumzuliegen? Ganz einfach: Die Ameisen beobachten. Stundenlang. Und er entdeckte, was man erst viele Jahre später in wissenschaftlichen Werken nachlesen konnte, nämlich dass Ameisen kein perfekter Organismus sind, in dem alle Individuen zielgerichtet kooperieren. Er konnte sehen, wie die eine von ihnen eine Tannennadel in Richtung Nest transportierte, einer zweiten begegnete, die Nadel übergab und diese zweite dann aber die Nadel ganz woanders hinbrachte. Oder zwei von ihnen eine Beute beinahe zerrissen, weil jede in eine andere Richtung zog.

Doch Ameisen waren nicht sein größtes Interessengebiet. Das waren dann schon eher die Primaten, allen voran die vier großen Menschenaffen. Und an erster Stelle unsere vermutlich sieben Millionen Jahre alte Geschichte. Auf dem Weg bis zu uns Heutigen kannte er fast jeden ausgegrabenen Schädel, jeden Knochen, jeden Zahn, jedes Artefakt, kannte fast jede Frage, die man sich im Zusammenhang mit unserer Abstammung stellte. Homo sapiens beschäftigte ihn mehr als alles andere auf dem Planeten, bis hin zu den großen Frauen und Männern, die den philosophischen Zugang gesucht hatten und suchten. Homo sapiens war das größte Experiment, das sich die Natur vorgenommen hatte. Das Wort Natur gehörte allerdings in Anführungsstriche, denn die Natur als solche gab es gar nicht. In vielen Sprachen, wohl in den meisten Sprachen, gibt es gar kein Wort für Natur. Und das Wort Experiment meint im Grunde, dass in der Evolution alles ausprobiert wird, was nur geht, die Ergebnisse negativ selektiert oder aber nobilitiert werden. Der aufrecht gehende intelligente Affe ist also nur eine logische Folge dieses Experimentierens. Und schließlich war auch die Erfindung der Schule nur eine logische Folge, die sich die Gesellschaft erarbeitet hat, um die soziale Seite des hochkomplexen Zusammenlebens in den Griff zu bekommen, auch die geistige Seite natürlich. Oder soll man sagen ‚kultürlich‘? Der Weg vom funktionalen Lernen zum intentionalen Lernen war bereits vollzogen.

Und weil es so unglaublich viel zu fragen gab und so unglaublich viel zu lernen und zu verstehen, war die Schule der zentrale Ort des Lernens und des Lebens: Hartmut von Hentigs ‚Haus des Lernens‘ und das ‚Ber Ankh‘ der Ägypter, das ‚Haus des Lebens‘. Und da war er zu Hause, der Hans. Schule war sein Leben, weil dort alles vorkam und vorkommen durfte, weil dort auch alles angesprochen werden konnte, was das Leben bereithielt. Kein Wunder, dass Hans und Johanna auf diese saublöde Idee kamen, die ganzen vielen Millionen in eine Schulneugründung zu investieren.

3.

Till hatte natürlich nicht dichthalten können, weshalb etliche Kollegen und Kolleginnen in den nächsten Tagen von der Neuigkeit erfuhren, vom großen Gewinn also, den Hans und seine Frau gemacht hatten und von der Idee, das Geld so scheinbar selbstlos für andere zu investieren. Sie suchten allesamt und auffallend oft die Nähe von Johanna und auch Hans, um mehr herauszubekommen oder auch, um im Gespräch das Ganze für sich erst einmal zu ordnen, denn der Plan roch doch ganz schön nach fixer Idee, nach einer bescheuerten Idee sogar, für manche sicher auch nach Sensation. Und bestimmt gab es einige mehr unter ihnen, die am liebsten den Vorschlag gemacht hätten, sich das noch einmal zu überlegen, abzuklären, ob man auf diese Weise nicht viel Geld in den Sand setzt, ob man nicht was viel Besseres und womöglich Effektiveres mit dieser Summe anfangen konnte.

Auf jeden Fall – die Gespräche in der Schule in den folgenden zwei Wochen unterschieden sich auffallend von denen davor. Pädagogische Diskussionen gab es in der Schule eigentlich schon lange nicht mehr. Doch das hatte sich schlagartig geändert. Selbst als die Inhalte langsam wieder wegrutschten und erneut die seit vielen Jahren gewohnte Stille zum Thema Pädagogik und Lernen eintrat, war es doch anders. Und zwar dann, wenn irgendwo etwas vorkam, das mit Lernproblemen, Verhaltensproblemen, Planungsmängeln, Raumnot, Mangel an Lerninseln, Knappheit der Lernmittel usw. zu tun hatte, dann nämlich machten die Kollegen passende Bemerkungen wie: Na, das könnt ihr ja dann in eurer neuen Schule anders machen! Oder so ähnlich. Und das war immerhin eine erfreuliche Nebenentwicklung. Es wurden auf wundersame Weise Dinge bewusster wahrgenommen und reflektiert. Immerhin. Und die Bemerkungen waren meist auch keineswegs ironisch, was man ja durchaus erwarten könnte. War es vielleicht doch so, dass tief drinnen in den Lehrkräften ein Restbewusstsein vorhanden war, das nun zu läuten begann, weil man daran erinnert wurde, es könnte alles noch ganz anders sein, viel besser sein? Hatte Hans mit seiner Idee vielleicht letztendlich in eine Art Wespennest gestochen? Positiv gesehen: unangenehme Gedanken und versteckte Probleme, verborgene Skepsis, all das begann zu stechen. Wir würden es ja sehen.

Zunächst aber war der Nachmittag dieses Tages ausgebucht, denn die vielfältigen Vorbereitungen für den folgenden Schultag konnten nicht verschoben werden. Johanna wurde sogar ein wenig wehleidig und sagte: „Na, im Grunde haben wir uns da was Unmögliches vorgenommen, denn schau mal, was wir alles zu tun haben. Das wird so bleiben, das ganze Schuljahr über. Und in den Ferien sollten wir uns ein wenig erholen. Oder?“ „Na klar doch, Liebste. Ich habe für mich selbst auch überlegt, mich teilweise beurlauben zu lassen. Das sollte finanziell gehen. Und ich sollte es auch machen. Und du auch, wenn du willst. Alles andere ist illusorisch.“

„Magst du einen Kaffee, mein geliebter kleiner Lehrer? Was machst du eigentlich gerade? Lass mal sehen.“ Johanna legte ihm den Arm um die Schulter und warf einen neugierigen Blick auf den Bildschirm. „Ich will morgen in der 8 den guten alten Treibhauseffekt verständlich machen. Und ich dachte mir, ich fang’ bei den Leuten selbst an. Als Einstieg dachte ich, könnte das Uralt-Experiment vom Ditfurth passen, du weißt, da wo er mit einer Sauerstoffmaske in diese Kabine da steigt, von unten Kohlenstoffdioxid hochsteigen und von oben Lampenlicht reinlässt. Nach kurzer Zeit hat er da in dieser Telefonzelle über 40° und würde obendrein ohne die Maske ersticken. Das will ich zeigen, aber erst mal nix dazu sagen. Danach dann kitzele ich den Transfer raus und komme beim Treibhauseffekt an, wenn es gut geht. Und nun geht es ja hoffentlich recht schnell, bis die Wirkung des Gases erkannt wird und wir zum Hauptteil kommen, der Frage, mit welchem Anteil meine Familie daran beteiligt ist. Das ist das Arbeitsblatt aus dieser Horlemann-Reihe ‚Global denken, lokal handeln'. Na ja, und so weiter. Johanna fiel sofort ein, was ihr das letzte Mal bei einem ähnlichen Thema passiert war, nämlich das schnelle Kurzschließen mit dem Parteiprogramm der Grünen. „Ach das ist ja das, was die Grünen da immer machen!“, kam es dann aus den Mündern einiger aus der Schülerschaft. „Wie vermeidest du das, Hans?“, fragte sie.

„Kann mir natürlich passieren. Wäre ja weder wirklich schlimm noch verboten. Aber ich will ja, dass sie etwas lernen, was bei uns verdammt noch mal zu kurz kommt: Sich zuhören lernen und sachlich abwägen, um sich dann eine eigene Meinung zu bilden. Ich will nicht, dass das geschieht, was man Reaktanz nennt nach dem Motto ‚Ach, das ist ja von den Grünen. Na, das ist ja n’ Scheiß!’

„Ist ja nicht einfach“, bemerkte Johanna. „Da landest du schnell beim Adolf. Pass nur auf! Es war nicht alles schlecht bei Hitler. Der hat auch Gutes gemacht.“

„Da will ich natürlich nicht hin. Aber es ist schwierig. Wenn wir das mit der Reaktanz ernst meinen, dann müsste es theoretisch auch gehen zu sagen: Herr Höcke, in diesem Punkt gebe ich Ihnen recht, auch wenn alles andere furchtbar ist, was Sie sagen, und niemals Wirklichkeit werden darf. Aber dann biste ja schon bei deinen Freunden unten durch. Trotzdem, sich ernst nehmen, sich zuhören, sachlich sagen können: Das da ist eine Forderung, die es auch schon im Hitler-Deutschland gab und die höchst gefährlich, rassistisch und schlimm ist, so weit sollten wir gehen können. Zuhören, Verstehen, Abwägen, Streiten, sich eine Meinung bilden, Handeln – das alles müssen wir lernen. Nicht nur die Jungen, auch wir Alten. Bei den Lakhota beginnt der Redner, auch die Rednerin, mit „Iŋska, hört meine Rede! Ich spreche!“ „Ach du mit deinen Lakhota immer. Aber stimmt ja. Das Zuhören haben wir alle ganz schön verlernt.“

„Stimmt. Du hast mir lange nichts mehr ins Ohr geflüstert. Was wolltest du mir denn mitteilen? Zuflüstern, besser gesagt?“, fragte Hans ganz offen. Johanna beugte sich zu ihm, umarmte ihren Hans ganz zärtlich und raunte ihm ins Ohr: „Wenn du jetzt zu viele Vorbereitungsarbeiten für morgen machst, Geliebter, dann verpasst du was. Ich weiß nämlich eines. Wir gehen heute nicht so spät ins Bett. Heute mal schon vor elf und nicht erst nach elf.“

4.

Inzwischen hatten Hans und Johanna auch Herbstferien gehabt und konnten diese zwei Wochen sehr gut nutzen, um ihre Idee von der Modellschule, die sie in die Tat umsetzen wollten, in eine erste Planungsphase eintreten zu lassen. Es ist wie beim Bücher schreiben: Womit fängt man an? Was ist buchstäblich der allererste Satz? Nun, dieser erste Satz sollte schon mal zünden. Erstens. Und sodann, zweitens, Auskunft darüber geben, worum es in diesem Buch geht. Und genau so wollten die beiden Schulgründer vorgehen. Ihr erster Akt in diesem Tun sollte ordentlich aufwühlen, fast für eine Skandalzeile in der örtlichen Presse sorgen, und dann aber zweitens allen Interessierten mitteilen, was jetzt geschehen würde. Und die Mitarbeiterin der Zeitung vor Ort brauchte gar nicht erst eingeladen zu werden. Sie hatte ohnehin Wind bekommen vom plötzlichen Geldsegen in diesem großen Ausmaß des im Ort nicht völlig unbekannten Paares. Sie rief an, um zu fragen, ob sie denn einen Korb bekäme, wenn sie darum bitten würde, den beiden einen kurzen Besuch abzustatten. Ein Mini-Interview sollte dabei herauskommen. Auf Seite 2 sei noch ein wenig Platz, weil der geplante Artikel zur lokalen Förderung von Solarpaneelen die Leute nicht mehr sonderlich interessierte, somit dieser Artikel gekürzt werden müsste. Na klar könne sie kommen, teilten Johanna und Hans mit. Das lief ja in ihren Augen wie geschmiert mit der Publicity. Klara Knittel kam, wie verabredet. Sie absolvierte ein Volontariat bei der Zeitung, hatte aber Größeres im Sinn. Es war 15 Uhr an diesem Freitag, was aber bestens passte, die junge Frau zum selbst gebackenen Zwetschgenkuchen mit Sahne einzuladen. Das nahm diese auch gerne an und meinte, genau der Kuchen sei eigentlich ihr Lieblingskuchen. Hefeteig, ziemlich dünn, darauf viele Zwetschgen, möglichst leicht säuerliche noch, obendrauf ein wenig Zucker und etwas Zimt. Bei 160° in die Röhre für gut 20 Minuten, bis der Teigrand beginnt, schon deutlich braun und knusperig zu werden. Nach dem Abkühlen dann – mit lecker Schlagsahne – ran an die Versuchung!

Und weil das Interview noch vor dem Kaffeetrinken stattfand, verzögerte sich der zu erwartende Zungenorgasmus doch recht deutlich. Das war zwar allen nicht recht, aber was die junge Redakteurin da zu hören bekam, erregte sie, und zwar überraschenderweise, denn ihr war ihre eigene Schulzeit auf einem recht bekannten Gymnasium noch in bester Erinnerung.

„Sie wollen die ganzen 42 Millionen dafür hergeben? Nee, ne, nich wirklich?“, entfuhr es ihr. „Ja, zugegeben, eine kleine Summe, so vielleicht dreitausend Euro sind für Ahmed in Aswan gedacht. Er ist ein Freund, Felluka-Kapitän, und er hat keine Arbeit. Und mit dem Geld kann er sein Boot auf dem Nil so richtig flott machen und dann neugierige Reisende herumsegeln und ihnen in seinem guten Englisch sehr viele Dinge von heute und von früher erzählen. Diese drei Riesen, die würde man abzweigen. Na ja, und vielleicht noch in die Ausbildung des siebzehnjährigen Mahmoud investieren, der zwar intelligent, aber zu schüchtern sei, sich so richtig um Arbeit zu kümmern. Den wolle man in eines der Ausbildungszentren der reichen Familie Es-Sewedy schicken, damit er dann gleich mal seine Großfamilie mit ernähren kann.

„Oh, ich war mal in Ägypten, letztes Jahr erst. Tolles Wetter da in Hurghada. Die Männer sind aber nicht alle nett gewesen. Ein bisschen aufdringlich, zumindest viele. Und mit dem Manager hab’ ich Ärger gehabt. Der meinte, ich könne zum Frühstück nicht schon halb nackt daherkommen. Halb nackt! Der Spinner. Ich war zwar sehr knapp bekleidet, hatte da aber ein weißes Strickmäntelchen drüber. So sehr durchsichtig war das jetzt aber auch nicht, muss ich sagen. Na ja.“

„Da halten wir uns mit einem Kommentar raus. Wir haben so etwas zuhauf gesehen und müssen sagen, dass man da nicht auftreten sollte wie in Malle am Strand. Bei uns regt man sich auf, wenn eine Frau im vollen Nikab daherkommt, und dort möchte man so herumlaufen, wie man es von der Ostsee kennt. Das ist nicht so gut. So kommt es ja auch, dass viele Männer gerade dort im Raum Hurghada etwas respektlos sind. Das ist übrigens im übrigen Ägypten meist ganz anders, selbst wenn im Ägyptischen Museum die Mädels aus Russland und Umgebung in völlig unpassender Strandkleidung da durchlaufen. Höflich, wie die Kairoer sind, sagen die nichts, aber betroffen sind die allemal. Und noch ein heißer Tipp: Fahren Sie das nächste Mal hin, wohin Sie wollen, nur nicht in die Gegend von Hurghada. das ist nicht Ägypten, landschaftlich nicht und von einem Teil der Leute her auch nicht. Tun Sie sich Kairo an. Tauchen Sie da ein. Gehen Sie nach Zamalek und saufen Sie regelrecht das Treiben dort. Vergessen Sie den Khan Khalili Markt nicht. In entsprechender Kleidung natürlich. Gehen Sie nach Alt-Kairo, auf die Zitadelle, nach Maadi, zum Jazz ins Kempinski, zum heimlichen Whisky in den Pub 28, nach Downtown, nach Garden City, am Nilufer entlang, auf die Terrasse vom Sofitel, ins charmante Longchamps, zur 154. in Maadi, machen Sie eine Felukkafahrt auf dem Nil, gehen Sie mit einem zielstrebigen und schützenden Anti-Touristen-Blick durch Khan Khalili, gehen Sie ins Sha’a 27 in Garden City, zur Wissa Wassef School mit fantastischen Wandteppichen, zu den Pyramiden sowieso, fahren Sie mal inkognito mit dem Taxi durch Dar es Salaam, reisen Sie nach Luxor, gönnen Sie sich eine Nacht im Old Cataract in Aswan, besuchen Sie die Oase Siwa, vergessen Sie nicht ...“ „Jetzt aber langsam zum Mitschreiben! Ich komme nächstes Mal auf Sie zu, wenn ich wieder hinreise“, ereiferte sich Klara Knittel, die vermutlich begabte Volontärin.

„Sorry Frau Knittel, mit uns geht es manchmal durch, wenn Ägypten das Thema ist. Es ist eine einmalige und super tolle Gesellschaft, wie wir sie in vielen anderen und ebenfalls tollen Ländern so nicht antrafen. Aber Verzeihung. Sie kamen ja wegen einer anderen Sache. Also, Hans, halt den Mund jetzt!“, sagte er zu sich selbst in scharfem Ton, allerdings mit einem Grinsen, das fast bis zu den Ohren reichte. Manchmal war er ein Schelm.

Am nächsten Tag lautete die Schlagzeile:

Die Millionen lieber in Deutschland investieren und nicht in Ägypten! Ganz neue Schule in Planung.

Über Nacht steinreich! Hans und Johanna Bergmann konnten ihr Glück nicht fassen. Nachdem sie in ihrem Leben nun wirklich niemals Glück mit Erbschaften oder sonstigen Gewinnen hatten, schlug es urplötzlich voll zu. Ganze zweiundvierzig Millionen Euro. Das reicht, um sich die abendliche Zigarette mit einem Zehneuroschein anzuzünden, könnte man sagen. Die beiden rauchen allerdings nicht. Aber was wollen sie dann mit so viel Geld? Jeder Leser und jede Leserin wird sofort denken: Na, das ist kein Problem. Ich bin sofort bereit, einen Teil davon zu übernehmen. Das geht aber nicht, denn dieses Lehrerehepaar ist fest entschlossen, mit dem ganzen Geld eine neue Schule zu gründen, eine regelrechte Modellschule. Sie soll so aussehen, wie sie es nach unglaublich langer Erfahrung, nach viel Nachdenken und Beobachten, nach vielen Tausend Seiten Studium, von John Hattie bis in die Steinzeit, eben für angebracht halten. Wir sind gespannt.

Und so weiter, eine halbe Zeitungsseite lang. Mit Bild der beiden. Na, wenn das nicht Publicity erzeugt! Aber sicherlich sofort auch die Gegner auf die Bühne rufen könnte.

Dessen ungeachtet machten sich Johanna und Hans sofort an die Arbeit. Als Erstes war einmal die gesamte Rechtslage genau abzuklopfen. Ob so was überhaupt geht, mit wem man reden muss, welche Anträge zu stellen sind, was genau zu beschreiben ist, also einen Konzeptentwurf zu Papier zu bringen, Partner zu suchen, um Sympathien im Kultusministerium zu ersuchen, eventuelle Bauherren zu finden, auch ein Grundstück natürlich, eventuell auch einen bereits vorhandenen Gebäudekomplex zu erwerben, um ihn umzubauen, zu überlegen, wie man rechtzeitig interessierte Lehrerinnen und Lehrer mit dem Projekt bekannt macht. Und viele andere Dinge. Viele Gespräche sollten stattfinden mit Leuten, die bereits ähnliche Schulneugründungen durchgeführt hatten. Erfahrungen sammeln, wo immer es nur ging, so hieß die Devise zu Beginn. Allein schon die Entscheidung, welches der erste Schritt sein musste, erschien den beiden als Herausforderung. Rasch wurde klar, dass bedeutende Dinge so komplex waren, dass die beiden unmöglich ganz allein dafür verantwortlich zeichnen konnten.

Ein Teil der Schritte war allerdings vorgezeichnet. Als Erstes sollte das Kultusministerium dafür gewonnen werden. Es ging dabei nicht um irgendwelche Zusagen, denn es war nicht verboten, eine neue Schule irgendwo hinzusetzten, nein, es ging darum, dass auch im Ministerium erst einmal Sympathien entstehen mussten. Schließlich sollte die Schule irgendwann ja auch staatlich anerkannt werden. Wenn unsere gesamte Bildungslandschaft in Deutschland ein riesengroßes System ist, ungeachtet der Länderhoheit, dann mussten wirklich alle ins Boot, auch dann, wenn sie das Projekt nur innerlich abnicken würden. So ging es also ganz klar darum, das Konzept möglichst schon mit etlichen Details zu konzipieren, eine Art Dossier zu schreiben. Damit hatten Hans und Johanna die gesamten Ferien zu tun. Eigentlich eine schnelle Sache, aber das lag daran, dass beide über viele Jahre Zeit hatten, über viele Sachen nachzudenken. Es ging also relativ fix, alles zu Papier zu bringen. Diskutieren konnte man das Ganze später dann auch noch. Und diese Diskussion wollten sie mit möglichst vielen Leuten führen. Ihre eigenen Vorstellungen konnten noch so detailliert und dezidiert sein – man übersah immer irgendwas. Und das musste nicht sein.