Die große Sache - Heinrich Mann - E-Book

Die große Sache E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Heinrich Manns radikalste Zeitdiagnose der Weimarer Republik.Deutschland Anfang der 1930er Jahre. Oberingenieur Brink prahlt mit der fiktiven Erfindung eines Sprengstoffs und droht damit, dass er mit dieser Erfindung Erfolg haben wird. Schnell kristallisieren sich Gut und Böse heraus. Die atemlose Jagd nach der "großen Sache", in der es kaum moralische Skrupel und Rechtsempfinden gibt, beginnt...-

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Heinrich Mann

Die große Sache

 

Saga

Die große Sache

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1930, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726885705

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

Die große Laufbahn des Reichskanzlers Karl August Schattich vollzog sich in drei Abschnitten. Er kam aus mittleren Stellungen bei der Industrie. Eines Tages durfte er als Abgeordneter die Industrie in der Politik vertreten. Ja, dort gelangte er so schnell, als ob die Republik eigens für ihn errichtet wäre, auf den höchsten Posten. Unmöglich geworden, weil er seiner Auftraggeberin, der Industrie, als Reichskanzler zugewendet hatte aus öffentlichen Mitteln, was er irgend konnte, einmal gleich siebenhundert Millionen, kehrte er in ihre Mitte zurück.

Wir finden ihn in diesem dritten Abschnitt. Jetzt vertrat er umgekehrt bei der Industrie die Politik. Er wurde politischer Berater eines industriellen Konzerns. So konnte er ihm am besten nützen, ohne selbst dabei zu verlieren. Er gehörte sogar zu den vielfachsten Aufsichtsräten, sein jährliches Einkommen sank nie unter 400 000 Mark. Sein Feld waren die Beziehungen – nicht das Wissen um irgendeinen sachlichen Inhalt, nicht die Handhabung der Dinge, nicht, was Arbeit heißt, sondern die Beziehungen. Sein Feld waren Beratungssäle, Konferenztische und die Schlachtordnungen der Klubsessel. Er war ein Menschenbehandler, insoweit sie es zuließen. Sie ließen es aber aus Schlauheit zu, wie sie meinten. Denn so gut wie er hatten auch die anderen ihre Beziehungen, darunter ihn. Einer war immer des anderen Beziehung.

Reichskanzler a. D. Schattich blieb bei dem allen ein Führer, und niemand bezweifelte es. Sein so zeitgemäßer »Verein zur Rationalisierung Deutschlands« umfaßte alle, die, ohne die im Lande bestehenden Einrichtungen gewollt zu haben, jetzt wenigstens den Nutzen für sich beanspruchten. Reichskanzler a. D. Schattich, der Gründer des wichtigen und einflußreichen Vereins, erhielt ihn hauptsächlich dadurch aufrecht, daß er mit allem im ungewissen blieb. Er hatte gelernt, daß die Menschen nichts lieber und länger ertragen als das Unerfüllte, leere Hoffnung und das Wort ohne Sinn. Diese allgemeine Neigung kam seiner eigenen Natur entgegen. Angreifern erklärte er offen: »Ich bin entschlossen, mein Werk nicht dadurch zu gefährden, daß ich mich konkret ausdrücke« – was er auch gar nicht gekonnt hätte.

In Augenblicken, die nicht ohne innere Unsicherheit waren, half ihm eine Art wütender Kühnheit. Oft erhob er Anspruch auf etwas, das er seine überparteiliche Politik nannte – da sah man ihn wild entschlossen, keine Meinung zu haben. Sein Kopf war haarlos. In einem seiner seltenen Zeitungsartikel war er dafür eingetreten, daß erst die völlige Haarlosigkeit, vereint mit der schon üblichen Bartlosigkeit, den modernen Mann mache. Er war nicht durchgedrungen. Sein zugleich hartes und verschwommenes Gesicht nahm seine Zuflucht zu der Haltung staatsmännischer Autorität, um nicht auszusehen wie all und jedes andere Gesicht der deutschen Gegenwart. Die Sorge des Reichskanzlers a. D., sich immer oben zu erhalten, hatte sein Gesicht etwas schmaler gestaltet, als für den Umfang des Körpers passend schien. Aber wer bemerkte dies, außer seiner Frau? Der große Porträtist, der ihn malte, bevor jene siebenhundert Millionen dem Schattichschen Leben einen Bruch zufügten, bemerkte es wohl. Er betonte Schlaffheit und Bleichheit, einen weichen Hals, einen schwammigen Mund, indes er auf den Schenkel des Staatsmannes eine geballte Faust legte.

Während des Abschnittes eins seiner Laufbahn, in den mittleren Stellungen bei der Industrie, hatte Dr. Karl August Schattich nur einen einzigen Anlaß besonderen Stolzes, seine Frau. Sie kam aus einer Familie von alten Reichen und brachte ihm 100 000 Mark Mitgift im Jahre 1911. Es blieb das einzige, was sie ihm jemals bringen sollte, denn der allzu gewohnte Reichtum der Ihren hielt den Gefahren der Zeit nicht stand. Sie verloren fast alles. Nora Schattich, ursprünglich die Gebende, sah sich seitdem in die Lage der unterhaltenen Frau versetzt. Die unvergleichliche wirtschaftliche Überlegenheit ihres Gatten nagte an ihr noch mehr, weil sie überzeugt war, sie stehe als Geist und Mensch turmhoch über Schattich. Tatsächlich durchschaute sie seine persönliche Politik und wußte, was von ihm übrigblieb, wenn man einige Geschicklichkeit abzog. Je mehr sie ihn verachtete, um so mehr bestaunte sie sein unmäßiges Glück. Einmal mußte es sich doch aber wenden, wenn es nicht geradezu ein Glück aus dem Märchen war. Mit großer Neugier wartete Nora Schattich darauf, daß es mit ihrem Gatten anders käme.

Er fühlte ihre Überlegenheit und leugnete sie nicht. Er wußte, daß er seinerzeit nur genehmigt worden war, um hinter die Liebe Noras zu einem hochadligen Offizier den Punkt zu setzen. Schon diese Erinnerung ordnete ihn ihr dauernd unter. Ferner bedrückten auch noch den Erfolgreichen ihre ästhetische Bildung, ihre gesellschaftliche Glätte und ihr damenhaftes Selbstbewußtsein. Sie vertrat die Dame von früher, die jede Tätigkeit, auch die nächstliegende, ablehnt. Sie hatten keine Kinder. Was ihn aber endgültig verhinderte, gegen sie aufzukommen, waren ihre körperlichen Maße, das ausgedehnte und grobe Knochengerüst, ein Eigentum ihrer ganzen Familie. Das feste und weißhäutige Fleisch, das die Knochen der hübschen Person bedeckte, hatte im Lauf der Zeit aufgehört, ihm viel zu sagen; er betrog sie mit anderen. Aber die Achtung vor ihrem Gerüst verließ den mittleren Dickwanst nie. Er blieb ihr gegenüber, wie hoch er auch stieg, der kleine Mann – körperlich, in seiner Rede und nach seiner Herkunft. Nie vergaß er in ihrer Gegenwart, daß sein eigener Vater nur Unteroffizier und Schreiber beim Magistrat gewesen war. In allen anderen Verhältnissen bemühte er sich mit wechselndem Erfolg, an seine Vergangenheit nicht zu erinnern. Am schwersten ward es ihm, wenn er gut gelaunt war; man fand ihn dann leicht gewöhnlich. Dabei belustigte er sich so gern.

Er war der Meinung, daß das Vergnügen für jeden da sei. Die Armen hätten das ihre wie die Reichen. Jeder gelange übrigens im Leben genau dorthin, wo es für ihn das beste sei, und erreiche, was ihm zukomme. Wenn er selbst mit weniger als einer halben Million Jahreseinkommen sich nun einmal nicht zufriedengeben könne, sein alter Freund Birk habe mehr oder weniger genug an einem verschwindenden Bruchteil der Summe und müsse noch froh sein. Denn Oberingenieur Birk hatte schließlich sein Schicksal selbst ausgedrückt in der überwältigenden Zahl seiner Kinder. Genau dies Schicksal gebührte dem Manne, der mit seiner lieben Frau sieben Kinder zeugte. Sechs davon lebten. Schattich hatte sie gezählt und vergewisserte sich manchmal, daß noch alle da waren.

Oberingenieur Birk war ein Mensch voll Seltsamkeit im Gewöhnlichsten. Er arbeitete fast immer, wie jetzt die meisten. Er hatte Kinder, wie wir, und fürchtete den Tod, wie die ganze Natur. Jeden Morgen um sieben ging er mit seinem braven Gesicht zur Arbeit, nicht anders als seine Monteure – jetzt zum Beispiel, da er uns zuerst begegnet, stieg er auf seine 42 Meter hohe Eisenbahnbrücke, sein noch unfertiges Werk. Dabei war er nun über die Mitte der Fünfzig hinaus und behauptete immerhin eine gehobene Stellung in dem Konzern, wo Schattich einer der Führer war. Es lag im Grunde hiermit wie mit seinen sieben Kindern. Hatte man denn mutwillig so viele? Nein; aber Birk sagte sich, was er wußte: wir sollen arbeiten, Kinder haben und sterben. Eins ist nicht trauriger als das andere; wir müssen es nur erträglich machen durch Hingabe und durch Ironie. Beide, Ironie und Hingabe, führten dazu, daß er übertrieb, zu viel arbeitete und zu viele Kinder hatte. Was den Tod betraf –

Er wich ihm nicht mehr ganz entschlossen aus; es war die ewige Klage seiner Frau gewesen. Er setzte sich Betriebsunfällen aus, er, der nichts hinterlassen hätte als eine kaum mittelhohe Versicherung. Er neigte zum ironischen Ertragen des Übels; gerade darum war es mit ihm bergab gegangen in Zeiten, die für Aufstiege wie den des Reichskanzlers Schattich so glänzende Gelegenheiten geboten hatten. 1928 kam noch der Verlust der Frau hinzu. Bevor sie starb, wollte sie ihm eine Art Dank sagen, soviel er verstand. Kein Vorwurf sollte zurückbleiben. Er erwiderte in die Nacht hinein, wo sie halb schon war: »Ich hätte dich ebensogut verlassen und unser Geld durchbringen können. Ich fühle mich in meinem Wesen, als hätte ich noch viel mehr getan.«

Er war seit seiner Jugend ein erfolgreicher Techniker. In Kleinasien und in Rußland hatte er Brücken und Straßen gebaut, zuerst unter der Leitung anderer, dann aber persönlich dazu berufen. Sein Name machte den Weg durch die Welt, den, alle verschiedenen Gebiete unserer Tätigkeit zusammengerechnet, doch nur einige hundert Namen machen. Schon zur Zeit der letzten Pariser Weltausstellung 1900 war Birk so weit, daß er dem obersten internationalen Ausschuß angehörte.

Seine zahlreichen selbständigen Arbeiten hatten ihm ein Vermögen eingetragen, das immer in bürgerlichen Grenzen blieb. Aber es hätte seinen Kindern über die schwierigen Anfänge forthelfen können. Statt dessen verschlang die Inflation 1920-23 es restlos. Damals wunderte Schattich sich nicht schlecht über seinen Jugendfreund. Sie wohnten noch nicht am gleichen Ort, viel weniger im selben Hause wie später; aber sie begegneten einander in Berlin oder sonstwo, und jedesmal ließ Schattich sich berichten, wieviel Birk schon wieder verloren hatte. Schattich selbst fing gerade damals an, groß zu verdienen, und der Vermögensverfall des anderen weckte seine Teilnahme als Gegenbeispiel. Er klopfte Birk auf den Arm, lachte und bedauerte ihn, wie man das tut. Aber seine stille Genugtuung sagte ihm, alles sei in Ordnung und eine innere Gerechtigkeit walte. Daher hütete er sich, Birk jemals finanziell zu beraten; oder höchstens beriet er ihn falsch. Dies bedeutete eine Probe. Hätte Birk noch irgendeine Berechtigung gehabt, zu den Besitzenden zu gehören, würde er den Rat Schattichs nicht befolgt haben.

Im Sommer 1922 gab Birk sein väterliches Erbe aus. Er hatte es immer getrennt, es hatte ihm sowohl sein Studium wie seine ersten Arbeiten ermöglicht. Als alles von ihm selbst Erworbene von selbst zerronnen war, blieben ihm, wie in seiner Jugend, wieder nur die 60 000 Mark, sein Anteil an dem Nachlaß seines Vaters. Jetzt freilich war ihr Wert so sehr verringert, daß er davon mit den Seinen gerade sechs Wochen im Gebirge sich erholen konnte. Dann hatte Oberingenieur Birk als Kapitalist ausgelitten und erwachte als Proletarier.

Er fand es zuerst nicht leicht, mit fünfzig Jahren die gesellschaftliche Klasse zu wechseln. Schon seine Vorfahren in langer Reihe waren wohlhabend gewesen. Jeder hatte wieder mit frischer Kraft zu arbeiten angefangen, aber doch immer geschützt vor der Not und einigermaßen versichert, daß es sich lohnen werde. Das war nun aus, sowohl für Reinhold Birk wie für seine Nachkommenschaft. Zugleich mit dem Geld endete auch die Selbständigkeit. Man konnte nicht länger wie ein Tenor auf gutbezahlte Auslandsgastspiele gehen. Birk mußte sich von seinem Jugendfreund Schattich recht und schlecht anstellen lassen und noch dankbar sein. Im Zusammenhang mit allen diesen Verlusten ging noch etwas anderes verloren: der persönliche Name. Die Berühmtheiten tauchten zu dieser Zeit in das anonyme Heer der Arbeit zurück. Keineswegs, daß sie nicht mehr genannt und gezeigt worden wären, aber es geschah in Gesellschaft tausend anderer. Allein die Zeitschrift dieses Konzerns führte vierzehntägig etwa siebenzig verdiente Techniker aller Grade ihnen selbst und der Mitwelt im Bilde vor.

War der neue Zustand aber schwer, so spannte er dafür doch die Kräfte eines Alternden unverhofft an, machte ihn beweglicher, sorgloser und stellte seine Verbindung mit den jungen Leuten her. Die hatten das Leben nie anders gekannt, als wie es jetzt geworden war. Sie wurden gleich anfangs von ihm dafür geschult, sich nicht zu fürchten, weder vor der ungesicherten Zukunft noch besonders vor der jeden Augenblick drohenden Arbeitslosigkeit. Natürlich fürchteten sie sich dennoch; aber wenn Birk seinen eigenen Schwiegersohn, Emanuel Rapp, ansah – eine Art Bewegungsrausch half dem Jungen hinweg über die Existenzangst. Der Junge hatte ein gutes Dutzend Berufe hinter sich, die Gelegenheitsarbeiten und den Kriegsdienst nicht mitgerechnet. Das war viel, wenn einer nichts gelernt hatte. Beamter des Konzerns war er auch nur ohne geprüfte Vorbildung und durch Zufall geworden. Es gelang vermöge seiner Heirat mit Margo Birk, der Tochter des Oberingenieurs. Warum Margo? Ihre Schwester Inge hätte vielleicht besser zu ihm gepaßt, die war ungehemmter und scheinbar zeitgemäßer als die Träumerin. Aber nur dem Vater gab es zu denken, daß Margo träumte. Die Mutter hielt sich dabei nicht auf. Frau Ella Birk sah, solange sie lebte, keine anderen Unterschiede zwischen ihren Kindern als die mehr oder weniger feste Gesundheit und die Aussichten auf Glück, die jedes von ihnen in sich trug. Sie glaubte nicht, daß alle keß und sachlich sein müßten. Margo schien ihr richtig veranlagt und jedenfalls mehr wert, als nur die Frau dieses Emanuel zu sein. Aber ihr Widerspruch gegen die Heirat war vergeblich gewesen, Birk hatte sich in den Jungen nun einmal verliebt. Die Mutter warf ihm vor, er ziehe ihn allen seinen eigenen Kindern vor. Man konnte es glauben.

Aber was wollte Frau Birk, wenn sie ihrer Tochter den Mann verdachte? Er hatte freilich nichts gelernt, war ein unruhiger Kopf, bisher noch ohne Ausdauer und bestimmte Richtung. Emanuel Rapp fügte dem Hause Birk gewiß kein Mehr hinzu. Aber die Familie von Bottin, aus der Frau Birk kam, war ihrerseits eine völlige Niete, verschuldeter Landadel, der durch die neueren Umschichtungen an Einfluß nicht gerade gewonnen hatte. Auf dem Weg ihres Gatten war sie auch früher nur immer mitgenommen worden, sie hatte ihm nichts nützen dürfen. Nora Schattich förderte wenigstens die Anfänge des großen Mannes, bevor sie gegen ihn in Nachteil geriet. Sie war daheim in Bezirken, zu denen er erst hinstrebte. Ella Birk hätte ihr Leben lang nichts auszuspielen gehabt gegen ihren Mann, als daß sie von Adel war. Glücklicherweise war es unnötig, denn sie liebten einander.

Sie wußte genau, was sie an ihm hatte, an dem Vater ihrer sieben Kinder, das tote mitgerechnet – der sie sonst nicht oft ansah, sie wenig unterhielt und unausgesetzt für sich allein in Entwürfen und schwerwiegenden Ausführungen saß. Er lebte dennoch umgeben von ihnen allen, und das hin und her geleitete Gefühl belebte gleichwohl ihn und sie. Er liebte kleine Kinder, daher hielt sie ihn für gut. In anderer Hinsicht fand sie ihn gar nicht gut: nämlich, weil er ihr so viele gemacht hatte. Sie hätte selbst um keines weniger haben wollen, aber der gewissenlose Birk hatte sie mit der Mutterschaft vielleicht doch nur beschäftigt und sozusagen mattgesetzt? Das war ihm gelungen. Sie durfte nichts mehr kennen, außer dem Dienst an den Ihren – besonders seit dem Verlust des Vermögens. In Stunden der Müdigkeit und Gereiztheit häufte sie alle Schuld auf das Haupt des Mannes – auch die Schuld daran, daß das eine hatte sterben müssen. Er hatte dann ihr ganzes Leben zerstört. Sie saß eine Weile da und war adelig, bis die Kleinsten nach ihr riefen.

Die Umstände erzogen eine schon nicht mehr junge Frau zur Selbständigkeit; eigentlich verlangte Ella Birk nach mehr Führung. Der Mann führte nicht mehr, wie früher – zum Beispiel noch ihr Vater auf Klein-Bottin, ihrem Gute. Die Geldlosigkeit machte alle gleich, auch die Gatten. Sie versuchte, dem Mann ihren guten alten Bruder auf Klein-Bottin vorzuhalten; aber was hieß das, wenn der Bruder ihr nicht einmal mehr die kleine Rente aus dem Familiengut auszahlen konnte. Sie mußte selbst sorgen. Sie hielt den bürgerlichen Stil des Hauses aufrecht mit der Präzisionsmechanik ihres Hausfrauentalentes. Dabei blieb sie sogar elegant. Aber in Augenblicken der Härte sagte sie zu Birk: »Was soll aus uns allen werden, wenn dir etwas zustößt?« Er gab im Inneren zu, daß er sich vor ihr nicht verantworten konnte, daher überließ er ihr seine Einnahmen und vermutete, daß sie irgend etwas erübrigte und in Geschäften anlegte – er ließ dahingestellt, in welchen. Als sie starb, stellte sich heraus, daß sie sich an einem Kino beteiligt hatte und daß sie dort noch Geld schuldete.

Wohin zwei Gatten, deren Jugend zu Ende war, in diesen Zeiten noch gelangten! Eine Frau wie Ella Birk, durch Existenzangst zur Revolte getrieben, brachte es fertig, ihrem Reinhold mit Betrug zu drohen – worauf er ihr den jungen Neger im Café Central empfahl; der werde zwar viel beansprucht. Schon während er dies aussprach, wußte er, daß er hart und taktlos war. Sie fragte: »Warum wolltest du alle die Kinder haben?« Er antwortete: »Damit ich Grund hatte, so furchtbar viel zu arbeiten« – womit er die Selbstsucht seines Gehirnes anklagte. Aber sie mißverstand es. Trotz Ungeduld, Mißverstehen und der manchmal aufdämmernden Feindseligkeit hielten sie zusammen. Die Erinnerung an ihre sorglose Jugend drängte sie aneinander, da konnten keine Vorwürfe sie trennen. Sie litten unter einander und hofften doch, wenn sie getrennt waren, an jeder Straßenbiegung auf das Erscheinen des anderen. Sie liebten einander wohl in den Kindern, aber noch mehr in dem, was sie selbst gewesen waren. Ein Ton von damals, den nur du kennst, ein tieferer Blick in dein gealtertes Gesicht, und alles stand wieder auf. Einer horchte, wenn der andere sprach, auf eine provinzielle Redewendung, die hierherum niemand kannte. Dies alles endete 1928.

Birk liebte kleine Kinder, und in dem fröhlichen Lachen eines kleinen Kindes schien ihm alles überhaupt denkbare Glück der Erde vereinigt. Er bemerkte selbst, daß er schon sehr bescheiden geworden sein müsse hinsichtlich des Glückes. Seine Frau ihrerseits entsetzte sich, wenn sie erfuhr, daß er sogar fremden Kindern oder ihren Eltern geholfen hatte, indes seine eigenen unversorgt waren. Er hätte sich wahrhaftig damit begnügen können, von seinem Fenster aus im öffentlichen Park die Vögel zu füttern. Sie erschrak aber im Grunde über die Nachdenklichkeit, die aus solchen Handlungen sprach. Früher war mit ihm alles nüchterner und stärker zugegangen. Es war leichter faßbar gewesen für Laien.

Dies fand er selbst. Aber sein Dasein als erfolgreicher Techniker erschien ihm nachträglich etwas zu genau ausgerechnet. Er würde, wenn nicht alles Erworbene auf außergewöhnliche Art verlorengegangen wäre, vermutlich sehr reich geworden sein. Ingenieure waren schon hoch gestiegen. Dann, so dachte Birk, waren sie aber kaum noch Ingenieure, und das Vorrecht ihrer hohen Stellung war, daß sie andere verhinderten, für ihre Arbeit den richtigen Lohn zu fordern. Man hatte im Leben die Wahl zwischen Arbeit, Beziehungen und Verbrechen – sagte Birk. Vielmehr, man hatte nicht ganz die Wahl, nur konnte man zwei von ihnen zurückdrängen und in den gebotenen Grenzen halten. Persönlich hatte er sich immer nach Möglichkeit allein der Arbeit anvertraut. Er fand dies auch jetzt noch richtig, sah aber, daß sie zu nichts mehr führte. Das sah jeder.

Jeder sah, daß wir arbeiten müssen ohne Hoffnung auf übertriebene Belohnung. Sie zogen nur nicht die Folgerung, meinte Oberingenieur Birk. Es wäre so einfach, nichts weiter zu verlangen als die Arbeit selbst und unsere ziemlich gleichbemessene Notdurft. Aber sage dies einer den jungen Leuten! Sie sind nicht zufrieden mit einem Dasein, das ihnen von Anfang an restlos abgekauft wird von den großen Gesellschaften. Lebenslang nur der Bruchteil einer Kraft zu bleiben, nie selbst die ganze Kraft – die Aussicht machte sie widerspenstig oder schwach. Birk war eigentlich froh, daß es seinen Schwiegersohn Rapp widerspenstig machte.

Er liebte den Jungen, wie er nie geglaubt hätte, daß wir fremde Daseinsformen lieben und zu den unseren machen können. Tatsächlich hatten die Ereignisse gewollt, daß sein eigenes neueres Schicksal mehr dem der jungen Leute glich als einer Fortsetzung seines früheren. Er sah sich selbst, wenn er wollte, in der Rolle des empörten Jungen, der, endlich der Benachteiligungen müde, irgendein gegen ihn gerichtetes Gesetz über den Haufen wirft. Aber der Siebenundfünfzigjährige hatte doch mehr Lust, diese Rolle dem Dreißigjährigen zu übertragen. Daher hatte Birk sich letzthin sogar etwas ausgedacht, womit er Emanuel Rapp ganz und gar in Aufruhr zu versetzen hoffte. Die Sache lag fertig da und wartete nur auf ihre Gelegenheit. Birk verfolgte im Grunde erzieherische Absichten, gab freilich zu, daß sie gewagt waren. Er gehörte zu den älteren Leuten, die gegen Ende allmählich kühner werden. Dem entsprach die Sache, die er vorhatte.

Ihr letzter Ertrag sollte Freude sein, so meinte er: mehr Freude an dem Leben, wie es nun ist. Er hoffte der Jugend zeigen zu können, daß von den äußeren Bedingungen, die uns die Welt aufdrängt, alles, nur nicht die Freiheit unserer Seele abhängt. Birk trug sich mit drei Forderungen an sich und die Seinen: Lerne verantworten! Lerne ertragen! Lerne dich freuen!

Zweites Kapitel

Die Brücke überspannte alles zwischen der Stadt und den Industriebauten, die eine neue Stadt waren. Die Brücke führte in 42 Meter Höhe über Fluß, Kanal und Schienennetz. Sie bot den umfassendsten Ausblick, wenn jemand inmitten der Arbeiter ihr noch unfertiges Gerüst bestieg. Oberingenieur Birk hatte an schlechten Tagen droben ausgehalten, er stand auch am schönsten Morgen des Mai 1929 auf seiner Brücke. Es war ein erster, später Frühlingstag. Er forderte die Augen heraus, in die Luft zu schweifen; denn die Umrisse aller Gebäude, der alten drüben, der neuen hier, zerflossen darin, sie wurden leicht, und dies erleichterte auch das Herz.

Oberingenieur Birk sah einen Augenblick zu lange in die Frühlingsluft. Die Arbeiter in seiner Nähe retteten sich sämtlich vor dem schwingenden Balken. Ein eiserner Tragbalken, der heraufgewunden wurde, kam ins Schleudern. Es war eine ungeheure Last; von ihr nur gestreift zu werden konnte einen Menschen dauernd arbeitsunfähig machen. Birk wurde gestreift. Er brach zusammen, die Schreckensrufe hörte er schon nicht mehr.

Die Leute, die ihn aufhoben, fanden ihn so bleich mit seinen geschlossenen Augen, daß sie glaubten, es sei mit ihm zu Ende. Unten angelangt, es war schwer gewesen, sah er sie aber an und verlangte, nicht nach Hause, sondern ins Krankenhaus gebracht zu werden. Er wollte zu seinem Sohn in das Krankenhaus links des Flusses, schon in der Industriestadt. Es war übrigens näher, und seine Arbeiter brachten ihn, ohne erst das Krankenauto zu erwarten, auf ihren Händen hin. Sie hätten es für keinen anderen getan. Der junge Arzt untersuchte seinen Vater, als sie allein waren. Er hatte sogar die Oberschwester hinausgeschickt in seiner Erregung, jetzt fand er aber nur Quetschungen. »Ich habe auch nichts weiter«, sagte der Vater.

Auf die wortlosen Fragen seines Sohnes antwortete er: »Ich bin vom bloßem Schrecken ohnmächtig geworden. Es war nicht einmal mein eigener Schrecken – nein, ich dachte, als der Balken auf mich losfuhr, an deine Mutter. Deine Mutter ist tot. Aber wie wäre sie erschrocken! Als ich damals plötzlich operiert werden mußte, rief sie: ›Jetzt geht die Welt unter!‹ Daran dachte ich, wie der Balken kam, und verlor dann auch pünktlich das Bewußtsein – ihr Bewußtsein, sozusagen.«

»Du bist in acht Tagen wieder auf den Beinen«, versicherte der Sohn. »So lange behalte ich dich hier.«

»Nett von dir, Rolf. Übrigens kommt es mir nicht ungelegen, daß ich einmal ausruhen kann.«

»Ich verstehe«, sagte Rolf. Auch er selbst hatte schon verlernt, auszuruhen.

Birk sagte noch: »Der Unglücksfall gibt mir wenigstens Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen. Manche kleinen Pläne kämen sonst nie zur Ausführung. Es gibt im Leben doch noch andere Pläne, als was man zeichnet und ausrechnet.«

Er machte eine Pause, dann bat er den Sohn, zu telefonieren – an die hiesige Leitung des Konzerns natürlich, dann aber auch an die anderen Kinder. Mehrere von ihnen waren in den Büros des Konzerns erreichbar, die älteste Tochter Ella in ihrer Wohnung, die beiden Jüngsten vielleicht in ihren Fortbildungsschulen. Als Rolf schon gehen wollte, äußerte sein Vater einen etwas auffallenden Wunsch.

»Lasse sie nicht glauben, es wäre überhaupt nichts von Bedeutung. Du verstehst –«

Der junge Arzt verstand nicht im geringsten.

»Es wäre doch nicht rühmlich für mich.« Birk schien sich dies erst zurechtzulegen.

»Dreißig Jahre lang hat man sozusagen darauf gewartet, und dann macht man sich lächerlich mit einer Quetschung. Sprich wenigstens von Komplikationen, die du nicht vorhersehen kannst!«

Der Sohn nahm an, daß sein Vater von der Übertreibung materielle Vorteile erwartete. Er kannte ihn noch nicht so, wußte aber schon, wie man jetzt wird.

Es war ein Sonnabend, die Kinder konnten bald kommen. Birk lag die noch übrige Zeit in Gedanken, auch in dem Gedanken an Ella. Sie hieß nach ihrer Mutter, sie war die älteste Tochter, und sie war ihm bös. Er hatte sich als Vater nicht bewährt, wie sie und ihr Gatte meinten. Er hatte die ihr versprochene Mitgift zu nichts werden lassen, denn als sie heirateten, wütete die Inflation. Der Mann wollte es nicht verzeihen, daher auch Ella nicht. Birk hoffte, daß sie es bedauerte; ihn selbst quälte der Gedanke, sooft er für ihn Zeit hatte.

Jetzt fragte er sich, zwischen anderen Sorgen, immer wieder: wird Ella kommen? Er war gewiß, daß Inge und Margo, die mittleren, kamen. War irgend jemand noch pünktlicher, dann sicher Emanuel, der junge Gatte Margos. Birk hatte viele Kinder, die ihn liebten; die eine Ella aber beschäftigte ihn in seiner Lage mehr, als ihr zukam. Daran merkte er, daß es schwer gewesen wäre, plötzlich Abschied zu nehmen.

Er hatte schon einmal sich ohne jede Vorbereitung trennen müssen – von der Kleinen. Sie war lange Zeit die Jüngste gewesen und hieß immer noch die Kleine. Die Eltern hatten das Kind in einem Augenblick, als die Armut unausweichlich schien, in die Lehre gegeben. Es war ein Blumengeschäft, die Kleine trug Kränze aus. An dem Morgen, als sie sterben sollte, war der Kranz besonders schwer; sie kam nicht schnell genug über den Fahrdamm, so erfaßte sie das Lastauto. Der Kranz wurde beschädigt, daher konnte er später ohne Mehrkosten auf ihrem eigenen Sarge liegen.

Birk hatte augenscheinlich Fieber. Gewesenes nahm zu genaue Formen an; das tote Kind trat leibhaftig zu den sechs Lebenden, deren eins ihm auch schon starb. Um so mehr bemühte er sich, zu klären, was er gerade jetzt zum Besten derer, die noch sein waren, vorhatte und sich ausdachte. Er war überzeugt, daß sie eine handgreifliche Lehre brauchten, um ein für alle Male das Leben richtig zu erfassen. Die von ihm geplante konnte schlimm ausgehen, er hatte gezögert, solange er ganz gesund war. Sein jetziger Zustand ließ ihn die Dinge weniger gefährlich sehen.

Die erste, die ankam, war Inge. Er hätte es vorauswissen sollen: Inge, die Leichteste, die Schnellste. Sie rief gleich bei der Tür: »Pappi! Was machst du für Dummheiten!«

So und nicht anders hätte er es sich von ihr gewünscht.

»Inge, mein Liebling«, sagte er leise, ob aus körperlicher Schwäche oder nur infolge seiner Nachdenklichkeit. »Es wurde langweilig, findest du nicht? Etwas mußte geschehen.«

»Dann doch lieber mir!« rief sie bereitwillig.

»Aber Inge, du hast mit deiner vorigen Liebe so schwere Erfahrungen gemacht.«

»Das ist wahr, Pappi. Der Junge war fromm. Stell dir das vor, mal hat er mich ausgesperrt, weil er meinetwegen in die Hölle kommt. Aber er hatte wieder seine bestechende Seite, er konnte so schön pfeifen.«

Sie sprach wunderhübsch, Inge hatte eine Stimme voll Kraft und Klang. Ihr bürgerlicher Vater wußte genau, daß sie in Wahrheit nichts schwernahm; sagte er das Gegenteil, war es ironisch gemeint. Ihm selbst gingen ihre Erlebnisse länger nach als ihr. Er empfand sich als ungehörig, wenn er offen mit ihr über ihre Abenteuer sprach, daher seine Ironie. Indessen war ihm klar genug, daß ein Mädchen, das arbeitete, auch ihrer Natur folgen konnte. Die Natur Inges war, mutig und leicht zu sein.

Margo und ihr Mann trafen gleichzeitig ein. Emanuel Rapp, ein Zeitgenosse, der dem Leben alles mögliche zutraute, schien durch seinen Unglücksfall ergriffen wie nie. Birk neigte sonst zum Zweifel; aber erstens, warum sollte der arme Junge sich anstrengen, um eine zitternde Stimme nachzuahmen, und absichtlich seine Glieder aus der Gewalt verlieren. Außerdem erinnerte sich sein Schwiegervater, daß Emanuel, falls er selbst verschwand, fürchten mußte, abgebaut zu werden. Die ehrlichste Zuneigung war nicht genug, damit wir aneinander hingen. Hinzukommen mußte das Interesse, bei uns Armen! So bedachte Birk, und die Folge war, daß er kränker und verfallener aussah.

Er lächelte aber seiner Tochter Margo zu. Sie überließ ihm die Hand, nach der er verlangte. Ihre forschenden dunklen Augen blieben völlig ernst. Genauso würde ihre Mutter ihn betrachtet haben im Augenblick der Katastrophe, die sie so lange erwartet hatte!

»Ich mache euch die Sorgen nicht gern«, versicherte der Kranke zu seiner Entschuldigung. »Sollte es tatsächlich mit mir aus sein, will ich euch folgendes sagen.«

Hier trat Rolf ein. Der Arzt blieb vor Staunen starr: seine drei Geschwister stehend versammelt um den Vater, der Abschiedsworte sprach – alles wegen einer Quetschung! Andererseits war er überzeugt von der Urteilskraft seines Vaters, kannte auch seine Art, mit Kunstgriffen zu erziehen. Diese Komödie mußte einen Zweck haben – dachte Rolf, da erhielt er auch schon den schnellen Blick, der ihn ermahnte, ruhig zu bleiben.

»Ich will euch sagen«, wiederholte Birk, »daß ihr in der Hauptsache auf euch selbst gestellt sein werdet. Ihr verzieht keine Miene, ihr habt es euch schon gedacht. Mein Schutz, lieber Em, würde dich auch nicht davor bewahrt haben, aus deiner Stellung zu fliegen, wenn du nicht ein Junge wärest, der sich richtig legt.«

»Das walte Gott. Schon mehr als zwanzigmal habe ich mich in allerlei Berufen richtig gelegt.«

»Nun siehst du. Und auch die beiden Mädchen nimmst du leicht noch mit. Außerdem haben sie selbst gerade genug Sinn für die Wirklichkeit.«

»Sei völlig beruhigt!« bat Inge. Ihr glaubte er es.

Margo schwieg. Aber er bemerkte, daß ihre forschenden Augen bereit waren, feucht zu werden. Da fühlte er erst selbst, was es geheißen hätte, diese armen und schönen jungen Leute allein zu lassen. Sie schienen ihm ungewöhnlich schön: blond und vollendet gewachsen die eine, die andere, dunkle, von einer ihm unbekannten Ausgeglichenheit des Leibes und der Seele, Ihnen gesellte sich ein junger Mensch –

Er hörte Margo schluchzen und erschrak. Sie hatte genau in dem Augenblick aufgeschluchzt, als er von ihr zu Emanuel sah. Vielleicht hatte sie Gründe, besondere und schlimme Gründe, den Tod des Vaters zu fürchten. Der junge Mensch, dem sie gehörte, mit seinem glatten Haar und glatten Gesicht! Vom Sport geübt, nicht überentwickelt, nur gelöst und gekräftigt, dazu der Ausdruck von Klarheit und Bereitschaft! So waren wir nie, dachte Birk.

Dafür freilich war so einer ungefestigt – in einer ungefestigten Welt, dachte Birk. Er hatte nicht »fertig« studiert, dazu ließen weder Krieg noch Frieden ihn kommen; auch füllte er keinen Beruf von Natur aus. Jeder andere Junge hätte ihn ersetzen können und er jeden anderen. So waren sie. Wenn es nur nicht ähnlich stand zwischen ihm und Margo, die schluchzte. Waren auch dort beide ersetzbar? Dies befürchtete der Vater, wenn er ansah, was er gegebenen Falles zurückließ.

Nur mit Rolf stand es so günstig wie möglich. Er war der einzige, der sich ohne Zuschuß selbst erhielt. Sein Fach hatte ihn etwas freier erhalten von den Krisen des Erwerbes und denen der Menschennatur. Er ging noch immer dieselbe Bahn, das kannte sein Vater. Das hatte er selbst gehabt, und es langweilte ihn. Die drei Abenteurer standen heute seinem eigenen Empfinden näher. Sie konnten zugrunde gehen, und sie konnten auch sehr glücklich werden. Birk, der für seine Person weder dies noch jenes mehr zu erwarten hatte, liebte es, die ungewissen, erst bevorstehenden Schicksale mitzufühlen. Er war geradezu begierig auf das Verhalten der Kinder bei den Eröffnungen, die er ihnen machen wollte.

»Zur Sache!« sagte er. »Ich habe etwas erfunden. Ihr sollt es verwerten, falls ich nicht mehr dazu komme. Es ist ein Sprengstoff – der stärkste, der bisher erfunden ist. Ein Sprengstoff von äußerster Brisanz wird gerade verlangt, unser Konzern wird ihn euch abkaufen. Ihr seid dann gegen das Schlimmste doch gedeckt.«

Seine Stimme senkte sich, sie sahen, daß er genug gesprochen hatte und einschlafen wollte.

»Großartig!« rief Emanuel gedämpft. »Solch eine Überraschung, und was ist Brisanz?«

»Ich muß mich wundern, Pappi. Damit kommst du erst jetzt? Heimlichtuer?« Das war Inge.

»Ich möchte doch lieber, daß Papa seine Erfindung selbst verwertet«, hörten sie hierauf Margo sagen. Gleich beteuerten die beiden anderen: »Das sowieso. Pappi wird bald gesund werden. Wie lange dauert es, Rolf, bis unser lieber Vater aufgestanden ist?«

Rolf, der von Birk wieder den schnellen Blick erhielt, zuckte die Schultern.

»Das kann man bei diesen Sachen nie wissen«, sprach er und kam sich schon wie ein Schauspieler vor.

»Gott sei Dank! Pappi hat etwas erfunden«, sagte Inge mit einem langen Seufzer. »Ich möchte wohl mal vier Wochen nur Dame sein.«

»Vier Wochen?« Emanuel überzeugte sich, daß die Augen seines Schwiegervaters fest geschlossen waren. »Das ganze Leben lang, mein Kind! Wir alle haben ausgesorgt. Das ist die Erfindung, auf die man wartet, sage ich euch.«

»Warum gerade auf die?« fragte der besonnene Rolf.

»Wie? Ein Sprengmittel von äußerster – Nun also, ein erstklassiges Sprengmittel, ich mache euch damit zu Millionären. Glaubst du es, Margo?«

»Alles!« beteuerte die stille Margo und bekam Leidenschaft. »Ich will alles glauben, wenn dich nur dein Leben wieder freut, Em.«

»Freut es einen von uns?« wollte er wissen. Inge antwortete:

»Man kann sich ausleben. Sonst hat man nichts.«

»Der Sport?« schlug Rolf vor. »Ihr seid doch auf allen Sportplätzen.«

Margo hatte ihre Ruhe ganz verloren.

»Spiele ich zum Vergnügen so schrecklich viel Tennis? Setze ich uns jeden Sonntag den furchtbarsten Autounfällen aus? Das Büro ist nur so drückend, man muß wieder Luft bekommen.«

»Und es läßt uns zu viel Kraft übrig«, erklärte Emanuel. »Wen soll die Arbeit anspannen?«

»Wenn sie nie zu was führt«, erklärte Inge.

»Höchstens zur Entlassung«, schloß Margo. Da machten alle eine Pause.

»Wie lange dauert es, bis man überaltert ist?« fragte einer. Die anderen dachten es gleichzeitig.

Sie schwiegen nochmals. Dann wieder eine Stimme: »Und wer bestimmt über uns? Das ist geheim. Es kann jemand sein, den wir nie zu sehen bekommen.«

Alle drei flüsterten einen Namen: »Karl der Große.«

»Unsinn!« rief endlich Emanuel und schüttelte sich. »Die höchsten Gipfel des Konzerns werden sich gerade mit uns beschäftigen. Dafür sind die unteren Prominenten da.«

»Schattich!« meinten Margo und Inge. Ihr Bruder Rolf vermutete dagegen, daß selbst der frühere Reichskanzler, wenn auch weniger unsichtbar als jene höchste Person, die Karl der Große hieß, in ihr bescheidenes Leben doch schwerlich eingreifen werde.

»Dafür seid ihr noch nicht wichtig genug«, erklärte der Arzt offen.

»Wir sind jung«, sagte Inge tapfer. Margo ergänzte: »Wir brauchen keine Angst zu haben wegen der Arbeitslosenziffer.«

»Aber wir haben doch Angst«, erwiderte Emanuel, verlegen über sein Geständnis. »Unser guter Vater ganz allein hält uns bis jetzt außerhalb der großen Masse. Wenn er nicht mehr da wäre, müßten auch wir, wie alle anderen, acht Tage nach der Entlassung anfangen zu hungern.«

Alle Augen verweilten auf dem bleichen, geschlossenen Gesicht Birks, und im Zimmer war es still.

»Nein«, rief Emanuel stärker, als er vor dem ruhenden Kranken gedurft hätte. »Wir sind jung. Wir wollen nicht nur leben – ohne Angst leben – und leben, ohne uns zu verkaufen. Wir wollen sogar Einfluß und Macht bekommen, bevor es zu spät ist, bevor die große Maschine uns endgültig schluckt! Dafür haben wir jetzt die Erfindung, sie soll alles von Grund auf ändern.«

»Der Sprengstoff?«

»Das Sprengmittel von äußerster – ihr wißt schon. Wie kann Papa die Sorge haben, daß wir künftig noch auf unsere Arbeitskraft allein gestellt sind.«

Er flüsterte eifrig.

»Dann unterschätzt er doch bedeutend die Möglichkeiten, die gegeben sind, wenn man eine solche Erfindung an Hand hat. Papa ist der wertvollste Mensch, den ich kenne, aber er hat zu wenig Selbstvertrauen.«

»Darin ist er alte Schule«, schob Inge ein.

»Er hat die Erfindung gemacht. Ich werde sie richtig aufziehen.«

»Dazu müßte er doch erst – Er überläßt sie uns nur für den Fall, daß er –«

Margo brachte dies kaum hörbar vor. Aber sie hatten verstanden.

Inge sagt schnell: »Pappi wird gesund werden. Dann überläßt er es Em, die Erfindung zu verwerten. Klar, daß nur Em das kann!«

Margo antwortete nicht, denn sie fand dies nicht so klar. Warum fand Inge es? Margo betrachtete die beiden, aber sie schienen gerade gar nichts miteinander zu tun zu haben. Inge war fragend zu Rolf gewendet, Emanuel sah nach, ob Birk wirklich schlief.

»Wir wollen gehen«, sagte Margo. »Sonst wecken wir Papa noch auf. Ich komme später noch einmal«, erklärte sie ihrem Bruder, dem Arzt. »Oder findest du es richtig, daß ich allein hierbleibe und mich still hinsetze?«

Sie tat, als beachtete sie die beiden anderen gar nicht, obwohl sie in diesem Augenblick nur Sinn hatte für das Verhalten ihrer Schwester und ihres Mannes.

»Das ist das beste«, bestimmte Emanuel. »Du bleibst hier. Ich gehe inzwischen in die Afa, ich brauche etwas für das Auto, morgen ist Sonntag.«

»Ich habe denselben Weg«, entschied Inge – und während sie schon ihre Sachen anzog: »Morgen werden wir nicht weit fortfahren, wegen Pappi.«

Sie war unbefangen, sie zeigte sogar Herz. Margo warf es sich vor, daß sie ihrer Schwester nicht mehr traute. Aber so war es nun.

Als Emanuel die Tür schon geöffnet hatte, fiel ihm das Sprengmittel wieder ein.

»Wo ist es denn? Ich muß es den Leuten doch zeigen können.«

Inge meinte: »Sie kennen Papa, sie werden dir glauben. Sage einfach, es ist ein Sprengstoff –«

»Von äußerster –«, fuhr der Junge fort, »von äußerster –«

»Brisanz«, sagte Birk, der die Augen aufschlug.

»Ach, du schläfst nicht?« fragten sie überrascht. »Seit wann bist du wach?« fragten sie. Denn nicht alles, was man sprach, war für die Älteren bestimmt.

»Habe ich geschlafen?« fragte Birk dagegen. »Das letzte, das ich hörte, war: was ist eigentlich Brisanz? Ist das schon so lange her?«

»Nun, Pappi, was ist es denn?« Inge lehnte ihren Kopf an seine Wange, wie sie es seit ihrer Kindheit tat.

»Es heißt nur Sprengkraft, mein Kind. Was soll ein Sprengstoff sonst haben. Verrate es deinem Schwager Emanuel nicht! Aber geh zu meinem Mantel, da steckt es drin!«

»Dir geht es besser nach dem Schläfchen, lieber Vater«, bemerkte der junge Schwiegersohn mit der verführerischen Stimme, die er sich geben konnte. Birk hatte plötzlich die Erkenntnis, daß ein Junge mit solcher Stimme zu allem fähig sei. Wie erst, wenn er ein Wirkungsmittel in die Hand bekam wie jenes, das Inge soeben aus dem Mantel holte. Zu spät, sie holte es schon. Die Bedenken Birks kamen zu spät.

Auf einmal sagte Inge: »Es ist nicht da.«

»Wieso? Es muß dasein.«

»Wie sieht es aus?«

»Oder wie fühlt es sich an?« fragte Emanuel, der hineilte.

»Ein rundes Päckchen – wie eine Bombe«, setzte Birk hinzu, nur um ihnen mehr Eindruck zu machen. Seine Tochter Margo kannte ihn am besten. Sie sagte ihm ins Ohr: »Tu es nicht! Gib ihm den Sprengstoff nicht!«

Er sah sie an. Was ahnte sie?

»Er kommt bestimmt in schlimme Dinge.«

»Em?« fragte Birk.

»Warum nennst du ihn Em? So nennt doch nur Inge ihn«, sagte sie. Da verstand er, daß sie eifersüchtig war.

Der Vater streichelte ihr die Hand. »Keine Sorge, mein Liebling!« Lauter sagte er: »Das Päckchen ist fort? Vielleicht hatte ich es gar nicht bei mir. Ich weiß es nicht, ich habe etwas Fieber.«

Emanuel schrie auf.

»Du hast doch deine Erfindung nicht verloren?«

»Ich hoffe nicht«, erwiderte Birk schwach. »Jedenfalls besitze ich die Formel – am sicheren Ort. Laß mich nur erst gesund werden!«

Hier kehrte Rolf in das Zimmer zurück und meldete: »Draußen steht ein Arbeiter.«

»Freundlich von den Leuten. Sie wollen mir ihr Mitgefühl aussprechen. Darf der Mann zu mir?«

»Du kannst ihn empfangen, Vater, wenn du willst. Aber dann müssen wenigstens Inge und Emanuel fortgehen.«

»Wir gehen schon«, sagte Inge. Sie nahm die Hand des Kranken und küßte sie zärtlich. Der Junge inzwischen tastete nochmals den Mantel ab. Er schien außer sich. Wenn er sich von dem Kleidungsstück schon getrennt hatte, riß er es doch wieder an sich, und jedesmal verzweifelter. Er wollte auch sprechen, schluckte aber nur. Er war jetzt bleicher als Birk in seinem Bett.

Drittes Kapitel

Der eintretende Mann betrachtete den Oberingenieur mit Entsetzen. Margo, die beiseite trat, wurde von ihm nicht beachtet.

»Jawohl«, äußerte er aus tiefer Anschauung, »so muß es kommen.«

Birk sagte: »Es ist noch mal gut gegangen – gerade wie bei Ihnen damals.«

»Das ist was anderes, ich war blau. Ich wäre das ganze Gerüst hinuntergefallen, wenn Sie mich nicht gehalten hätten, Herr Oberingenieur.«

»Seitdem, Laritz, kommen Sie immer nüchtern zur Arbeit. Was bringen Sie mir da mit?«

Denn der Mann wog in seinen kräftigen Händen ein Päckchen.

»Das hab ich gefunden«, erklärte er. »Es lag an der Stelle, wo Sie umfielen, Herr Oberingenieur. Ich denke mir, ob es nicht Ihres ist.«

»Siehst du, Margo? Das ist es. Wenn du dich nicht fürchtest, nimm es und gib es deinem Mann.«

Sie nahm das Päckchen, wog es wie vorher der Arbeiter und legte es unschlüssig weg.

»Sind Sie versichert?« fragte Laritz wieder voll Entsetzen. »Bezahlt die Direktion Ihre Krankheit? Wenn ich an meine Familie denke, im Fall daß mir was zustößt! Die Kinder arbeiten noch nicht.«

»Meine arbeiten schon«, sagte Birk, aber darauf hörte der Arbeiter nicht mehr.

Er war ein junger, gut gekleideter Mann mit rundem Gesicht, und eigentlich hatte er schnelle Bewegungen. Nur hier vor dem Bett des Verunglückten erstarrte er immer gleich wieder.

»Früher dachte ich an keine Unfälle – erst seit damals, als Sie mich grade noch retteten. Schlimm für einen Arbeiter, wenn man erst dran denkt.«

»Meine Frau dachte immer dran«, sagte Birk.

»Und meine?« Laritz fuhr auf, während er sich erinnerte.

Hier wurde geklopft. Gleichzeitig erschien ein Herr im Cut, rundlich, aber behende. In der Hand hielt er die Melone, und auf dem Kopf hatte er kein Haar. Der Ausdruck seines befehlsgewohnten Gesichts wurde beim Anblick des Arbeiters hart genug, daß der Mann den Platz am Bett eilends freigab.

»Alter Freund!« rief der Besucher. Plötzlich zeigte er mit hängender Lippe und schlaffem Hals eine Miene voll Herzlichkeit und Trauer. Die farblosen Augen wurden sogar dummlich. Er streckte dem Kranken beide Hände hin – sah aber dabei ausgezeichnet, daß der Arbeiter sich seitwärts hinausschleichen wollte.

»Bleiben Sie nur!« befahl er, sofort wieder gestrafft.

»Darf ich dir Herrn Laritz vorstellen«, warf Birk ein.

»Herr Laritz, Sie kennen natürlich Herrn Generaldirektor Schattich.«

Dieser für Birk so einfache Vorgang brachte beide aus der Fassung. Der Arbeiter versuchte eine Verbeugung, führte sie aber nicht aus. Der frühere Reichskanzler ließ die Augen umherirren. Dabei entdeckte er eine weibliche Gestalt. Sie saß halb verdeckt vom Vorhang des Fensters. Sie stand auf, da der Herr auf sie zukam, und war nun größer als er. »Entzückend!« bemerkte er eben deshalb. »Deine Tochter ist wieder hübscher geworden, alter Freund.«

Hierauf erging er sich in lauten Klagen über das Unglück seines alten Freundes.

»Ich sitze im Büro, mir kann das nicht passieren, es ist eine Schande«, äußerte er schließlich, gedrängt durch seine eigenen Worte, die sich steigern mußten, um wirksam zu bleiben. So kam es, daß er zu seiner Überraschung auch den Arbeiter mit hineinzog.

»Wenn ihr mal abstürzt oder zwischen was kommt, habt ihr die Sozialversicherungen. Die habt ihr von mir.« Im gehobenen Ton: »Die hat Reichskanzler Schattich gemacht. Vertieft und ausgebaut haben wir sie mal sicher.«

Seine Miene forderte eine Antwort, Laritz gab sie, weil er mußte.

»Es ist nur nicht viel damit los, wenn es Ernst wird. Von den Witwen red ich nicht erst.«

»Meine Witwe bekommt gar nichts!« erklärte der Generaldirektor sofort. »Keinen Pfennig!«

Dies brachte den Mann zum Schweigen. Schattich nutzte seinen Vorteil.

»Ja sehen Sie, mein Lieber, für irgend etwas langt es eben nicht mehr. Meine Frau trägt ausschließlich seidene Strümpfe – Ihre natürlich auch. Das büßen sie dann als Witwen.«

Er hatte dabei ein Gesicht wie jeder gute Mitbürger, dem die bitteren Tatsachen einfallen. Was Laritz immer hätte einwenden wollen, er stutzte und war ergriffen.

Schattich bekam auf einmal sein Cäsarengesicht.

»Mit Rücksicht auf Ihre künftige Witwe sollten Sie auch nicht in KPD-Versammlungen sprechen, Herr Laritz«, sagte er – nichts weiter, aber es war die Enthüllung. Der Arbeiter bekam in diesem Augenblick die Gewißheit, daß der allumfassende Generaldirektor ihn kannte, verfolgte und hier die ganze Zeit mit ihm nur gespielt hatte.

»Grüßen Sie Ihre Frau«, sagte der Generaldirektor und gab ihm die Hand. Laritz schielte nach Birk, ob er recht daran tue, die Hand zu nehmen. Als er sie aber nahm, war er sichtlich geehrt trotz allem. Daher ging er auch frei und schnell ab. Er und Birk winkten einander nur zu.

»Du bist volkstümlich«, bemerkte Schattich, als sie allein waren.

»Dich besuchen die Arbeiter.«

»Dieser kommt auch zu dir, wenn du todkrank bist. Oder, sollte er sich dann noch zurückhalten, kommt er etwas später.«

Schattich verzog den Mund.

»Zartfühlend waren deine Scherze nie, alter Freund.«

Birk sagte aufrichtig: »Meine Gesinnung ist besser. Ich glaube tatsächlich, daß der Mann dich volkstümlicher findet als mich.«

»Menschenbehandlung! Sie brauchen immer eine Enthüllung. Plötzlich muß ihnen klarwerden, daß ich stärker bin als sie. Dafür dient mir meine Personalkenntnis. Unter meinen wenigen positiven Eigenschaften ist die Personalkenntnis«, sagte er mit einem Blick von erstaunlicher Demut. Denn Schattich hielt es für notwendig, den »alten Freund«, der zu viel von ihm wußte, von Zeit zu Zeit zu entwaffnen.

»Zur Zeit der Inflation war ich ein Industriebeamter, aber findig. Ich informierte damals die höchsten Provinzialbeamten über jeden einzelnen der Gegner, die unsere Reichsregierung und die Industrie stören wollten bei der Erhaltung der Sachwerte. Ich erzähle es nur dir, weil du mich schon kennst. Als ich dann selbst Reichskanzler wurde, wußte ich, wie es gemacht wird.«

»Warum weiß ich das nicht?« fragte Birk, immer wieder überrascht von der Überlegenheit der andern.

Schattich erklärte es ihm gönnerhaft. »Du bist nun mal kein Edison.«

»Wirklich?« sagte Birk. »Das müßt ihr erst am eigenen Leibe spüren?« fragte er rätselhaft. Seine Augen schienen im Hintergrunde des Zimmers etwas zu suchen. Gleichzeitig verließ seine Tochter ihren Platz beim Fenster und stellte sich vor einen Tisch, so daß sie ihn verdeckte. Schattich näherte sich ihr.

»Und Sie, Fräulein?«

Da erkannte er sie.

»Nun aber, Sie sind die Verheiratete! Ich hatte Sie die ganze Zeit nicht richtig sehen können. Das freut mich mal wirklich.«

Er redete, nahm ihre Hand und wollte Margo vom Tische wegziehn. Er erreichte nur, daß sie ihm im Kreise folgte und den Tisch von einer anderen Seite verdeckte. Schattich tat, als kümmerte es ihn gar nicht. Er redete bald zu Birk, bald zu seiner Tochter.

»Als junger Mensch war ich depressiv«, sagte er auf gut Glück. »Ich litt am Leben. Einmal fiel ich daher durch das Examen, erinnerst du dich, alter Freund? Die Jahre, gnädige Frau, und natürlich auch die Erfolge stellen uns fest auf unseren Platz.«

Jetzt bemühte er sich, Margo dort festzuhalten, wo sie stand, und um sie herumzuspähen. Sie vereitelte auch dies, und Schattich, der nichts zu merken schien, sprach weiter.

»Sieh mal meinen Verein zur Rationalisierung Deutschlands, alter Freund! Der trägt mich todsicher noch mal an die Spitze der Reichsregierung. Dafür ist er doch da!« erklärte er mit verblüffender Offenheit und hoffte endlich an den Tisch zu gelangen. Aber Margo war nicht zu verblüffen, weil sie die Reden des älteren Herrn überhaupt nicht beachtete.

»Gnädige Frau«, sagte der ältere Herr mit Schärfe. »Ich habe noch immer alles erreicht, was ich wollte.«

Damit tat er einen ihr unerwarteten Griff und hielt das Päckchen in der Hand.

»Ein Ei?« fragte er und wog es. »Ein Schokoladenei? Aber gefüllt, weil es schwer ist. Womit denn gefüllt?«

»Das ist ein Spielzeug für mein Kind« – sie sprach schnell und atemlos, sie flehte. Daher gab Schattich das Päckchen nicht ohne weiteres zurück. Er warf es ein Stückchen in die Luft und fing es statt ihrer, die zu entsetzt war, um zuzugreifen.

Ihr blasser Schrecken war ihm unverständlich, er wandte sein Gesicht, das dumm wurde, Birk zu. Dort begegnete er kalter Erwartung; der »alte Freund« hatte etwas Fremdes, Unheilvolles bekommen, wie er einem auf die Hände sah. Schaudernd erkannte der frühere Reichskanzler, daß in den Menschen, die man am wenigsten fürchtet, immer noch Gefahren liegen. Daher achtete er nicht mehr auf das Päckchen. Margo konnte es ihm fortnehmen und verschwinden lassen.

»Du hast es gut, alter Freund«, versetzte Schattich, unbekannt, warum.

Er mußte es erklären.

»So viele Feinde wie ich kannst du unmöglich haben. Wer alles auf meinen Sturz wartet!« sagte er vertraulich. »Bis zu dem Pfarrer von Sankt Stefan, dem ich es gelegt habe, mich schon um sechs Uhr mit seinem Glockengeläut aufzuwecken! Dauernd muß man Erfolge haben, um nur zu bleiben, wo man ist. Dem Konzern Geschäfte bringen, sonst wirst du abgebaut wie eine vertraglos angestellte Hilfskraft. Von jeder Erfindung, die Geld verspricht, soll man gleich Wind bekommen. Das wird verlangt.« Pause. »Aber deine Sorgen sind es nicht« – mit schnellem Seitenblick.

Er nahm seinen Hut.

»Du mußt einzig bloß zusehen, daß du schnell gesund wirst. So möcht ich auch mal daliegen.«

»Das ist noch leichter, wenn man Geld hat«, versetzte Birk.

Schattich schüttelte ungläubig den Kopf.

»Du willst doch nicht behaupten, daß du grade auf deinem Krankenlager an das Geld denkst? Du Glücklicher hast dein Leben lang nicht daran gedacht.«

»Mir fällt das Geld ein, das ich an dich verloren habe«, Birk ließ sich nicht beirren. Sicher war es das Fieber. Schattich zog denn auch die Brauen hoch.

»An mich? Du solltest dich schonen, alter Freund. Freue dich lieber, daß du bei dieser unsicheren Zeit kein Geld hast. Wir haben es alle nur auf Widerruf und leben in ewiger Angst. Die Begehrlichkeit der Massen! Moskau! Die Wirtschaftskrise!«

Gram und Verbitterung zeichneten den Mann. Sichtbar wurde, daß der Generaldirektor, genau wie seine fristlos kündbaren Untergebenen, Angst hatte zu verhungern. Auch er unterlag dem Zeitgeist.

Glücklicherweise ging es vorbei. Bei seinen Angestellten hielt es auch nicht an. Alle hatten die Flüchtigkeit gemeinsam. Dies dachte sich Birk in seinen Kissen, indes Schattich schon abging.

»Du mußt ausruhen«, sagte Margo. »Papa, jetzt lasse ich dich allein.«

»Nimm deinem Mann das Päckchen mit!«

»Hat es nicht Zeit, bis du gesund bist? Er wird Dummheiten machen mit deiner Erfindung.«

»Das kann er nicht. Niemand wird herausfinden, was es ist. Mein Geheimnis liegt schriftlich bei einem Notar, und er gibt es euch nur, wenn ich selbst es nicht mehr holen kann.«

»Emanuel wird alles – aber auch alles tun, um darauf Geld zu bekommen«, sagte sie ohne Besinnen. »Papa! Er liebt Inge.«

Sie hatte ein weißes, verzweifeltes Gesicht. Ihr armes Gesicht war ganz klein geworden. Der Vater nickte.

»Gib es ihm! Mein Kind, es wird dir helfen.«

Dies begriff sie nicht; aber aus Gewohnheit glaubte sie ihrem Vater. Sie steckte das Päckchen in ihren Mantel, dann küßte sie Birk, der schon die Augen geschlossen hatte. Er öffnete sie wieder und sagte: »Verliere den Mut nicht, wenn es erst einmal schlimmer kommt!«

Sie ging durch das Haus, dabei fiel ihr zum Glück ihre aufgeworfene Nase ein. Immer, wenn ihre Schwester Inge im Vorteil war, hielt Margo sich ihr eigenes dreistes Profil vor. Mit einem Gesicht, das nach Belieben frech sein konnte, war untätige Schwermut ein Widersinn. Margo, die sonst vielleicht dahin geneigt hätte, fand auch diesmal neue Kraft in sich dank ihrer Nase.

Sie dachte: ›Hallo. Wenn er mit der Erfindung Geld macht, werden wir schon sehen, für wen. Bringt sie ihm aber Unglück, dann bin ich auch da.‹

Als sie aus der Haustür trat, wer stand noch immer davor und wartete?

»Gnädige Frau«, begann Schattich sogleich, »das einzige, was mich stört, ist, daß Sie ein Kind haben. Sonst würde ich vorschlagen: Sie verlegen Ihre Tätigkeit aus den Büros der Direktion in meine Wohnung.«

»Als Ihre Sekretärin?«

»Ja. Aber Sie werden immer fortwollen, weil das Kind zu Hause schreit.«

»Ich habe gar keins«, erklärte sie mit der größten Natürlichkeit. »Ich schwindelte Sie an, weil Sie mir etwas wegnehmen wollten.«

»Großartig!« rief er.

»Was ist daran großartig? Sie halten mich doch selbst für gerissen genug, um Ihre Sekretärin zu sein.«

Schattich lachte – anders, als er im Zimmer ihres Vaters gelacht hatte.

»Jetzt denken Sie, ich stelle Sie an, damit ich Sie leichter verführen kann. So denkt ihr Mädels euch immer den Chef.«

Er sagte es in einer Art, die alles nur bestätigte.

Margo erwiderte: »Jedenfalls würde ich mir verbitten, daß Sie mich übersehen.«

»Aha! Oho! Und na also!«

»Meine Sache ist es, daß Sie kein Glück haben.«

»Jetzt kenn ich Sie«, sagte er und streckte nach ihr den Zeigefinger aus.

Sie hatte einfach beschlossen, nicht dauernd nur eifersüchtig und hingebend zu sein. Neben aller Angst um ihren Emanuel dachte sie sich einen Spaß zu gönnen, und wer weiß, wofür er gut war.

»Sie sind ä Luder«, schloß Schattich. »Meine Wenigkeit is sowieso ä Luder. Es freut mich nur, daß sie ooch eins sind.«