Die großen Unbekannten der Mathematik - Kate Kitagawa - E-Book

Die großen Unbekannten der Mathematik E-Book

Kate Kitagawa

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Beschreibung

Die Revolution der Mathematik: Kitagawa und Revell schreiben die Geschichte der Disziplin neu - über sechs Kontinente hinweg und Tausende von Jahren unerzählter Geschichte

Wussten Sie, dass die Analysis gar nicht zuerst von Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton beschrieben, sondern bereits im 14. Jahrhundert in Indien entworfen wurde? Dass Europa kleiner als Südamerika ist, aber dennoch größer kartografiert wurde, und dass es in der langen Geschichte der Mathematik viele Frauen gab, die einfach verdrängt worden sind. Trotz ihres Rufs eine neutrale Wissenschaft zu sein, die grundlegende Wahrheiten einfach berechnet, ist auch die Mathematik nicht gefeit vor patriarchalen und eurozentristischen Narrativen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Die Historikerin Dr. Kate Kitagawa und der Wissenschaftsjournalist Dr. Timothy Revell unterziehen die rechnerische Disziplin einer kalkulierten Prüfung, stellen einige vermeintliche Wahrheiten richtig und verdeutlichen, dass die Mathematik schon immer ein globales Unterfangen gewesen ist, das nicht allein von weißen Männern mit Bart betrieben wurde, sondern von Menschen überall auf der Welt. Eine scharfsinnige, kluge und längst überfällige Neuerzählung über die großen unbekannten Mathematiker*innen der letzten 3000 Jahre.

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Buch

Wussten Sie, dass die Analysis gar nicht zuerst von Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton beschrieben, sondern bereits im 14. Jahrhundert in Indien entworfen wurde? Dass Europa kleiner als Südamerika ist, aber dennoch größer kartografiert wurde, und dass es in der langen Geschichte der Mathematik viele Frauen gab, die einfach verdrängt worden sind? Trotz ihres Rufs, eine neutrale Wissenschaft zu sein, die grundlegende Wahrheiten einfach berechnet, ist auch die Mathematik nicht gefeit vor patriarchalen und eurozentristischen Narrativen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Die Historikerin Dr. Kate Kitagawa und der Wissenschaftsjournalist Dr. Timothy Revell unterziehen die rechnerische Disziplin einer kalkulierten Prüfung, stellen einige vermeintliche Wahrheiten richtig und verdeutlichen, dass die Mathematik schon immer ein globales Unterfangen gewesen ist, das nicht allein von weißen Männern mit Bart betrieben wurde, sondern von Menschen überall auf der Welt. Eine scharfsinnige, kluge und längst überfällige Neuerzählung über die großen unbekannten Mathematiker*innen der letzten 3000 Jahre.

Autor*innen

Dr. Kate Kitagawa ist eine der weltweit führenden Expertinnen der Mathematikgeschichte. Sie promovierte an der Princeton-Universität, lehrte Geschichte an der Harvard-Universität und forschte in Großbritannien, Deutschland und Südafrika. Ihr erstes Buch war ein Bestseller in Japan, und sie wurde von Nikkei Business zu einer der 100 einflussreichsten Personen in Japan ernannt. Derzeit ist sie Direktorin des Büros für Weltraum-Bildung bei der Japan Aerospace Exploration Agency (JAXA).

Dr. Timothy Revell ist Wissenschaftsjournalist und Mathematiker. Als stellvertretender Redaktionsleiter des New Scientist in den USA ist er auf Technologie und Mathematik spezialisiert und deckt alles ab von künstlicher Intelligenz bis hin zum Abelpreis. Regelmäßig tritt er in Radiosendungen und Podcasts auf, um über die neuesten Entwicklungen in der Wissenschaft zu berichten. Er hat einen Master in Mathematik und einen Doktortitel in Informatik.

KATE KITAGAWA TIMOTHY REVELL

DIE GROSSEN UNBEKANNTEN DER MATHEMATIK

WARUM DIE GESCHICHTE DER MATHEMATIK ÄLTER, ÖSTLICHER UND WEIBLICHER IST, ALS WIR GLAUBEN

Aus dem Englischenvon Nastasja S. Dresler

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Secret Lives of Numbers bei Viking, einem Verlag der Penguin General. Penguin General ist Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2023

Copyright © Kate Kitagawa and Timothy Revell, 2023

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SB ∙ CF

ISBN 978-3-641-29208-9V002

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1Am Anfang

2Die Schildkröte und der Kaiser

3Eine Stadt namens Alex

4Der Anbruch der Zeit

5Über die Ursprünge der Null

6Das Haus der Weisheit

7Der unmögliche Traum

8Die (ersten) Pioniere der Infinitesimalrechnung

9Newtonismus für Damen

10Eine große Synthese

11Die mathematische Meerjungfrau

12Revolutionen

13

14Sterne kartieren

15Codes entschlüsseln

Epilog

Danksagung

Quellenverzeichnis

Bildnachweis

Weiterführende Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorwort

In einer Szene des US-amerikanischen Politdramas The West Wing – Im Zentrum der Macht starren zwei hochrangige Regierungsmitarbeiter ungläubig auf die Folie einer Präsentation. Eine Gruppe von Kartografen versucht zu erklären, dass die Weltkarte, wie sie sie ihr ganzes Leben lang gekannt und auf die sie vertraut haben, nur eine unter vielen ist. »Wollen Sie damit sagen, dass die Karte falsch ist?«, fragt ein Berater fassungslos.

Keine Karte unseres Planeten fällt wirklich ganz genau aus: Das ist schlichtweg mathematisch nicht möglich. Die Oberfläche einer Kugel lässt sich nicht ohne Verzerrungen auf eine zweidimensionale Zeichnung übertragen. Doch wie die Kartografen erklären, vermittelt diejenige Karte, die sie betrachten, eine eurozentrische Sicht auf die Welt. Europa scheint größer zu sein als Südamerika, aber in Wirklichkeit ist Südamerika doppelt so groß. Deutschland liegt auf der Karte in der Mitte, obwohl es sich eigentlich im nördlichsten Viertel der Erde befindet. Es ist ein gänzlich verfälschtes Bild von der Welt.

Gezeichnet wurde ebenjene Karte von dem flämischen Kartografen Gerardus Mercator im 16. Jahrhundert. Sie war ursprünglich für Seeleute gedacht, und nicht für politische Strategen, die geopolitische Erwägungen anstellten. Sie wurde über Generationen hinweg weitergegeben und hat Menschen auf der ganzen Welt den Eindruck vermittelt, dass die Welt tatsächlich genau so aussähe, und nicht, dass es sich hierbei nur um eine Sichtweise handelt.

Die Mercator-Projektion.

Die Geschichte der Mathematik verläuft ähnlich. Obwohl ihr der Ruf vorauseilt, ein Studium grundlegender Wahrheiten, kühler solider Berechnungen und unwiderlegbarer Beweise zu sein, ist die Mathematik den mächtigen Personen und Strukturen, die Wahrheit und Wissen modelliert haben, nicht entronnen. Ganz im Gegenteil: Die Geschichte der Mathematik hat über Jahrtausende hinweg Vorurteile angehäuft – von der Art und Weise, wie wir bestimmten mathematischen Grundlagen und Mathematikern selbst huldigen, bis hin zu den Geschichten, die über ihre Ursprünge kolportiert werden. Es ist an der Zeit, dieses Muster einer Revision zu unterziehen und die Geschichte neu zu erzählen.

Als wir, Kate und Timothy, uns das erste Mal getroffen haben, um ein gemeinsames Buchprojekt zu besprechen, konnten wir nicht ahnen, wohin dies führen würde. Bei einer Tasse Tee in einer Buchhandlung in Charing Cross, London, sprachen wir über unsere gemeinsame Liebe zur Mathematik und darüber, dass wir eine leicht zugängliche Geschichte des Fachs schreiben sollten. Da wir uns auf Kates Fachwissen als Mathematikhistorikerin und Timothys mathematische und journalistische Qualifikationen berufen konnten, dachten wir, dass es ein leichtes Unterfangen werden würde.

Wir haben uns geirrt. Je mehr wir uns mit der Geschichte der Mathematik auseinandersetzten, desto mehr fanden wir heraus, wie diese verzerrt worden war. Und umso mehr sahen wir uns dazu veranlasst, dem etwas entgegenzusetzen.

Die Ursprünge der Mathematik sind äußerst vielfältig. Ihre Ideen sind keineswegs nur einem Ort entsprungen, sondern wurden im Laufe der Geschichte immer wieder abgewandelt, was aufzeigt, wie stark doch die menschliche Neigung zum Denken ausgeprägt ist. Ideen ignorieren oft nationale Grenzen, und so hat sich die Mathematik über Handelswege und kulturellen Austausch von einem Ort zum anderen verbreitet. Der Fortschritt der Mathematik verläuft allerdings nicht linear. Sie hat sich vorwärts und rückwärts bewegt, ist um den Planeten gesprungen, hat sich auf abenteuerliche Tangenten begeben und ist manchmal in Sackgassen geraten. Und dadurch wird sie umso reicher. Trotz ihres Rufs, sich logisch weiterzuentwickeln, ist die Mathematik eine weitaus chaotischere Angelegenheit.

Dabei wird die Geschichte der Mathematik so üblicherweise natürlich nicht erzählt. Die alten Griechen werden auf ein Podest gestellt, als wären sie in irgendeiner Weise die Urheber der modernen Mathematik, dabei stammt so vieles von dem, was heute in unser weltumspannendes Wissen einfließt, ebenso aus vielen anderen Regionen, wie dem alten China, Indien und der arabischen Halbinsel. Diese Annahme, dass die europäische Art, Dinge zu tun, überlegen ist, hat ihren Ursprung nicht in der Mathematik – sie ist das Ergebnis des jahrhundertelangen westlichen Imperialismus –, aber sie hat diese gleichermaßen durchdrungen. Die Mathematik außerhalb des antiken Griechenlands wird oft als »Ethnomathematik« abgetan, als ob es sich um ein separates Fach handelte, eine Nebengeschichte zur eigentlichen Geschichte.

Während wir uns durch die Jahrtausende der Mathematik gearbeitet haben, wurde fast alles, was wir zu wissen glaubten, auf die eine oder andere Weise infrage gestellt. Manche bekannten Geschichten entpuppten sich als falsche Darstellungen und andere als komplette Erfindungen, und viele Mathematiker und ihre Beiträge wurden zu Unrecht aus der Geschichte ausgeschlossen. Auf den folgenden Seiten werden wir einige der Pfade aufzeigen, auf denen die Geschichte der Mathematik verzerrt wurde. Die wahre Geschichte ist die eines weltumspannenden Unternehmens. In der Mathematik geht es um Ideen und darum, Wege zu sondieren, diese bis in letzter Konsequenz zu durchdenken. Die Vielfalt des Denkens ist in der Mathematik nicht nur wichtig, sie ist grundlegend.

Denken Sie nur an die Infinitesimalrechnung. Diese mathematische Theorie zur Beschreibung und Bestimmung, wie sich Dinge im Laufe der Zeit verändern, ist eine der nützlichsten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Sie ist für technische Konstruktionen von wesentlicher Bedeutung – ohne sie könnten wir keine Brücken oder Raketen bauen –, und sie findet in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung, um die Welt besser zu verstehen. Viele Aspekte unseres heutigen Lebens wären ohne sie nicht möglich.

Wem gebührt also das Verdienst? Die gängige Variante der Geschichte lautet, dass Isaac Newton, ein englischer Mathematiker, und Gottfried Wilhelm Leibniz, ein deutscher Mathematiker, etwa zeitgleich im 17. Jahrhundert unabhängig voneinander ihre eigenen Versionen der Infinitesimalrechnung entwickelt haben. Das stimmt soweit auch, aber sich auf diesen Wissensstand allein zu berufen, ist in etwa so, als würde man Mercators Karte betrachten – es handelt sich um eine verzerrte Sichtweise. Die Ideen, die der Infinitesimalrechnung zugrunde liegen, entstanden schon viel früher.

Im 14. Jahrhundert wurde eine Schule in Kerala, Indien, zum Schmelztiegel für Mathematiker. Ihr Gründer, Madhava von Sangamagrama, war ein brillanter Mathematiker des Mittelalters, zu dessen Leistungen auch die Beschreibung einer Theorie der Infinitesimalrechnung gehört. Er erforschte die Schlüsselideen, die die Infinitesimalrechnung möglich machen, und die dann von den nachfolgenden Mathematikern der Schule von Kerala ausgefeilt wurden. Diese Theorie war weder vollständig noch perfekt, aber das ist bei etwas Neuem immer der Fall. Viele der ersten Glühbirnen brannten aufgrund von Konstruktionsfehlern zu schnell durch und das Glas wurde schwarz, aber der US-amerikanische Unternehmer Thomas Edison wird immer noch zu Recht als deren Erfinder im 19. Jahrhundert anerkannt. Es ist an der Zeit, dass wir auch Madhava anerkennen.

In der Geschichte der Mathematik stehen die Ideen im Vordergrund, aber man kann sie nicht von den Menschen trennen, die diese gehabt haben. Um die Ursprünge der Mathematik wirklich und wahrhaftig darzustellen, müssen wir auch die Herkunft der Mathematiker in den Blick nehmen – und Mathematiker:innen Einige der in diesem Buch vorkommenden Personen waren nicht nur beeindruckende Mathematiker:innen, sondern haben auch Hürden niedergerissen und dazu beigetragen, die Mathematik zu einem inklusiven und globalen Fach zu machen. Im Folgenden rücken wir diese vergessenen Mathematiker:innen stärker in den Vordergrund und erklären, wo sie ihren Platz in der traditionellen Geschichte finden sollten, und korrigieren Unwahrheiten und falsche Darstellungen über sie. Bedeutende Menschen, die nicht in das gängige Bild eines Mathematikers passten, wurden nicht nur zu Lebzeiten unterdrückt, sondern waren seither immer wieder dem Angriff von Historikern und Kommentatoren ausgesetzt.

Schauen wir uns nur einmal Sophie Kowalewski an, die 1850, kurz vor dem Krimkrieg, in Moskau geboren wurde.1 Ihr ganzes Leben lang hat man sie immerzu entmutigt und ihr verboten, sich mit Mathematik zu beschäftigen. Ihr Vater verweigerte ihr den Zugang zu einer angemessenen Ausbildung, da er der Meinung war, dass eine Tochter, die eine gelehrte Frau war, ihm Schande bereiten würde. Solche Ansichten waren zu dieser Zeit weit verbreitet. Sie widmete sich der Mathematik nichtsdestotrotz und legte Arbeiten vor, die ohne Weiteres für einen Doktortitel ausgereicht hätten. Doch wegen ihres Geschlechts ließen viele Universitäten sie nicht zu der notwendigen Prüfung zu, um einen solchen Titel zu erwerben.

Aufgrund ihrer außerordentlichen Entschlossenheit gelang es Kowalewski dann schließlich doch, eine Stelle an der Universität Stockholm zu erhalten und die weltweit erste Mathematikprofessorin zu werden. Doch ihre Professur war unbezahlt – sie musste von ihren Studenten persönlich Geld einsammeln, um ihr Auskommen zu sichern. Einigen Leute missfiel, dass sie überhaupt eine solche Position erlangt hatte. Der berühmte schwedische Dramatiker August Strindberg bezeichnete die Idee einer weiblichen Professorin als eine »gefährliche und unerfreuliche Erscheinung«.[1]

Nach ihrem Tod wurde Kowalewskis Vermächtnis von einigen Biografen entstellt, die sich viel öfter auf Geschlechterstereotypen beriefen, um ihre Geschichte zu erzählen, anstatt die Tatsachen ihres Lebens wiederzugeben. Sie war eine außergewöhnliche Mathematikerin, wurde jedoch als eine Art Femme fatale dargestellt, die sich auf ihr Aussehen und ihren Charme verließ, um voranzukommen, obwohl es hierfür kaum Beweise gibt. Es ist an der Zeit, verunglimpfenden Narrativen wie dem von Kowalewski ein Ende zu bereiten.

Wir sind der Überzeugung, dass diese Nacherzählung der Geschichte der Mathematik von Wichtigkeit ist, aber wir hoffen, dass sie mehr sein wird als das. Die Mathematik ist seit Jahrtausenden voll von faszinierenden Charakteren. Sie ist ein Fach auf der Suche nach der Wahrheit, nach augenöffnenden Denkweisen und Theoremen, um Sie in Erstaunen zu versetzen. Es ist keine leidenschaftslose, sondern eine kreative Suche. Wie Kowalewski einmal sagte: »Sie ist eine Wissenschaft, die gehörig viel Vorstellungskraft erfordert.«[2] Die Historie der Mathematik ist eine unübersehbare Saga von größtem Format.

Kein Buch allein kann alles Unrichtige berichtigen oder die Geschichte wirklich vollumfänglich rekapitulieren, aber so wie eine neue Karte unsere Sicht auf die Welt verändern kann, kann dies auch eine neue Geschichtsversion. In unserem Buch erzählen wir die Historie der Mathematik so, wie sie wirklich ist – herrlich chaotisch und kollaborativ. Die Mathematik von heute ist eine beeindruckende Verschmelzung von Konzeptionen aus aller Welt, die von einer Gruppe mathematischer Grenzgänger vorgebracht wurden, von Menschen, die sich über die Einschränkungen hinweggesetzt haben, die ihnen die Gesellschaft aufgrund ihrer Ethnie, ihres Geschlechts und ihrer Nationalität auferlegt hat. Die Mathematik ist ein Fach mit einer ereignisreichen und vielfältigen Geschichte. Es ist an der Zeit, sie zu erzählen.

1Für Kowalewskis Namen gibt es verschiedene Schreibweisen. In ihren akademischen Veröffentlichungen verwendete sie meist »Sophie Kowalewski«, weshalb auch wir uns für diese Variante entschieden haben.

2 Die Schildkröte und der Kaiser

Die Legende besagt, dass eines Tages, vor etwa 4000 Jahren, Yu der Große eine Pause von seinen Pflichten als Kaiser von China einlegte und am Ufer des Gelben Flusses entlang spazieren ging. Als er den Blick über das fließende Wasser schweifen ließ, nahm er ein dunkles, sich bewegendes Objekt zu seinen Füßen wahr. Er schaute hinab und sah, dass es eine Schildkröte war. Aber es war nicht nur irgendeine Schildkröte. Er blickte genauer hin. Der Panzer der Schildkröte wies Risse auf, die ein quadratisches Raster aus chinesischen Ziffern mit drei Feldern zu den jeweiligen Seiten bildeten, das er schnell erkannte. Es war ein Sinnbild mathematischer Perfektion.

Das Muster, das er wahrnahm, ist heute als magisches Quadrat bekannt und kann wie folgt transkribiert werden:

Zu beachten ist, dass die Summe aller Spalten, Zeilen und Diagonalen 15 ergibt. In den Augen der Menschen im alten China war diese numerische Koinzidenz ein Glück verheißendes Zeichen. Die Kaiser galten als die wichtigsten Personen im Staat und führten Riten durch, um sicherzustellen, dass die Harmonie des Kosmos erhalten blieb. Yu gründete die älteste Dynastie Chinas, die Xia, und trug die volle Verantwortung für das, was sich in seinem Reich zutrug, wobei die Ergebnisse von Weissagungen eine wichtige Rolle spielten, sei es bei Schlachten, Geburten, Krankheiten oder der Ernte. Als Yu dieses Glück verheißende Muster entdeckte, erlangte er die Befugnis, sich als rechtschaffener Führer des Landes zu präsentieren. Er hielt das sogenannte Mandat des Himmels inne.

Mit Geschichten wie dieser nimmt die Mathematik in China ihren Anfang. Im Laufe der nächsten tausend Jahre wurden Mathematik und Wahrsagerei zum Herzstück einer jeden Dynastie. Die Herrscher bauten auf ihre Ergebnisse: Sie gebrauchten diese für praktische Zwecke wie den Handel oder sahen sie als göttliche Führung, indem sie mit mathematischen Methoden versuchten herauszufinden, was das Universum für sie bereithielt. Mathematik im alten China war der Inbegriff von Macht.

Obwohl sie außerhalb Ostasiens häufig unterschätzt wird, war die Mathematik, wie sie in dieser Zeit entwickelt wurde, durchaus elaboriert, elegant und ihrer Zeit weit voraus. Magische Quadrate beispielsweise tauchten das erste Mal in China auf, dann aber auch in Indien, dem Nahen Osten und viel später erst in Europa. Aus diesen sollte sich ein Muster entwickeln. Im Laufe der Geschichte würden Mathematiker weltweit auf vermeintlich neue Entdeckungen stoßen, und erst später würde sich herausstellen, dass diese Entdeckungen Hunderte – wenn nicht Tausende – Jahre zuvor bereits in China gemacht worden waren.

Das Zählen von Stäbchen (und Segnungen)

Die ältesten mathematischen Aufzeichnungen, die uns aus China vorliegen, sind Knochen – genauer gesagt, Knochen, die für Prophezeiungen verwendet wurden. Auch wenn Yu zufällig über eine Schildkröte gestolpert war, die eine Botschaft übermittelte, war es üblich, dass Wahrsager versuchten, bei bestimmten Anliegen etwas nachzuhelfen. Sie versuchten, direkt mit den Göttern ins Gespräch zu kommen, indem sie Fragen in die Panzer toter Schildkröten oder in die Schulterknochen von Rindern ritzten, die sie dann erhitzten, bis sie barsten. Die hieraus resultierenden Muster wurden als himmlische Antworten auf die gestellten Fragen gedeutet.

Nachbildung eines Schildkrötenpanzers für Weissagungen.

Yu hat Hunderte von Jahren vor den ältesten schriftlichen Aufzeichnungen in China gelebt, sodass über seine tatsächliche Biografie keine Einigkeit besteht. Was wir über ihn wissen, wurde über Generationen hinweg mündlich tradiert und erst viel später aufgezeichnet. Allerdings finden sich viele Überreste dieser Weissagungen auf sogenannten Orakelknochen. Und anhand dieser können wir auch sehen, wie das älteste chinesische Zahlensystem als Teil der Orakelknochenschrift gebraucht wurde – als ein früher Vorläufer der modernen chinesischen Schriftzeichen aus dem 14. Jahrhundert v. Chr.

Die Orakelknochenschrift war ein Zahlensystem zur Basis 10, aber es war kein Positionssystem. Stattdessen wurden Ziffern kombiniert, um größere Zahlen darzustellen (siehe die dritte Zeile unten); dieses Vorgehen stieß jedoch an seine Grenzen. Die größte Zahl, die Archäologen auf einem Orakelknochen gefunden haben, ist 30000.

Orakelknochen mit Ziffern.

Orakelknochen-Zahlen ließen sich auch für einfache Brüche verwenden. Dies zeigt sich anhand der ältesten uns bekannten Dezimal-Multiplikationstabelle, auf die man stieß, als im Jahr 2008 fast 2500 Bambusstreifen aus der Zeit um 300 v. Chr. an die Tsinghua-Universität in Peking gespendet wurden. Es ist nicht genau bekannt, woher die Streifen ursprünglich stammten, aber bevor sie an die Universität gelangten, wurden sie wahrscheinlich nach einer illegalen Ausgrabung zum Verkauf angeboten.[1] Zu der Sammlung gehörten 21 Bambusstreifen, die eine Multiplikationstabelle bilden und zeigen, wie sich jede ganze oder halbe Zahl zwischen 0,5 und 99,5 multiplizieren lässt. Solche Tabellen wurden wie Taschenrechner verwendet, um komplizierte Summen schnell zu berechnen. Die alten Babylonier verfügten ebenfalls vor etwa 4000 Jahren über Multiplikationstabellen, früher als die Chinesen, allerdings nicht im Dezimalsystem. Die frühesten uns bekannten Multiplikationstabellen im europäischen Raum datieren hingegen (erst) in die Renaissance.

Bambusrohlinge aus der Zeit um 300 v. Chr. Öffentliches Eigentum, aber im Shanghai-Museum verwahrt.

Einige Zeit nach der Herstellung dieser Bambusstreifen kam in China ein anderes Zahlensystem auf, das sich für Händler als besonders nützlich erweisen sollte – die Stäbchenzahlen. Bei den Stäbchenzahlen wurden Zahlensymbole auf der Grundlage von Linien verwendet, die sich leicht in Schlamm oder Sand einkratzen ließen, wobei viele Menschen tatsächlich physische Stäbchen verwendeten. Die Händler in China gehörten zu dieser Zeit zur wohlhabenden landbesitzenden Elite und trugen stets ein Bündel von Bambus-Zählstäbchen bei sich, um spontan Berechnungen vorzunehmen.

Zentrales Merkmal des Stäbchenzählsystems war ein raffinierter Trick, um größere Zahlen aus kleineren zusammenzusetzen. Dabei wurden zwei Systeme zur Darstellung der Zahlen von 1 bis 9 miteinander verschränkt. Im ersten System wurden die Stäbchen vertikal angeordnet, um die Zahlen 1 bis 5 darzustellen. Bei den Zahlen 6 bis 9 bildete wiederum ein horizontales Stäbchen die 5 ab, und für jede weitere Zahl wurden vertikale Stäbchen hinzugefügt. Im zweiten Fall verhält es sich mit den horizontalen und vertikalen Stäbchen jeweils genau andersherum. Aus der folgenden Tabelle kann man zum Beispiel ersehen, dass die Zahl 7 entweder mit zwei senkrechten und einem waagerechten Stäbchen oder mit zwei waagerechten und einem senkrechten Stäbchen geschrieben werden kann.

Beispiele von Stäbchen, die Zahlen darstellen.

Für die Darstellung größerer Zahlen wurden diese beiden unterschiedlichen Systeme für die Zahlen 1 bis 9 abwechselnd verwendet, wobei die überwiegend senkrechten Stäbchen für die Einer, die überwiegend waagerechten Stäbchen für die Zehner und so weiter verwendet wurden. Die Zahl 264 ließe sich entsprechend so schreiben:

Auch wenn es noch keine Schreibweise zur Kennzeichnung einer Null gab, konnte diese durch die Anwendung des vertikalen oder horizontalen Systems in fortlaufender Reihenfolge angedeutet werden. Die Zahl 209 wurde so geschrieben:

Das Fehlen einer horizontalen Zahl zwischen den 2 Hundertern und den 9 Einern macht deutlich, dass es 0 Zehner gibt. Hunderte von Jahren bevor jemand ein Zeichen für die Null erfunden hat (eine Geschichte, auf die wir in Kapitel 5 zurückkommen werden), begriffen die chinesischen Mathematiker bereits, welchen Nutzen diese als Platzhalter hatte.

Diese Idee, dass Zahlen aus Ziffern bestehen, die an bestimmten Positionen angeordnet sind – wie es im alten China und in Babylonien der Fall war –, war wirklich revolutionär. Heute ist dies schwer vorstellbar, wo wir doch so vertraut mit der Anwendung eines positionalen Zahlensystems sind, aber dieser Sprung war das mathematische Äquivalent zur Erfindung des Düsentriebwerks, nachdem man zuvor darauf gebaut hatte, einfach mit den Armen zu schlagen und dann hoffte, man würde fliegen. Indem sie zwischen den beiden Darstellungsweisen von Ziffern wechselten, waren die altertümlichen Kaufleute und Mathematiker in der Lage, sich in der Zahlenreihe an größere Zahlen heranzutasten, ohne neue Symbole oder Namen für sie erfinden zu müssen – ein kleiner Satz von Symbolen und ihre Positionen waren alles, was man wissen musste.

Zählstäbchen wurden möglicherweise in China erfunden, obwohl es einige Hinweise darauf gibt, dass sie aus Indien stammen. Wie dem auch sei, in China waren sie ein Renner und erwiesen sich für die Menschen, die von ihnen Gebrauch machten, als große Bereicherung. Indem sie sich durch das Bewegen von physischen Stäbchen einfache Algorithmen aneigneten, konnten die Händler schnell und unkompliziert Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division durchführen. Um zwei Zahlen zu multiplizieren, wurden die Stäbe auf eine Oberfläche aufgelegt und in der jeweiligen Position kombiniert. Es gab sogar Methoden, um mit solchen Stäbchenanordnungen Quadratwurzeln zu ermitteln oder Simultangleichungen zu lösen – Gleichungen mit mehr als einer unbekannten Größe. Die alten Chinesen hatten auch ein Verständnis für negative Zahlen, indem sie schwarze Stäbchen für Zahlen im positiven und rote für Zahlen im negativen Bereich gebrauchten – wobei negative Zahlen nie in den Lösungen, sondern nur in Berechnungen auftauchten. Obwohl negative Zahlen heute als etwas ganz Normales erscheinen, waren alle Zahlen den überwiegenden Teil der Geschichte so eng mit physischen Objekten verbunden, dass viele über mathematische Grundlagen verfügende Hochkulturen außerhalb Chinas die Möglichkeit, dass negative Zahlen von Nutzen sein könnten, einfach nicht in Betracht zogen. »Minus sieben Schafe« schien schließlich nicht viel Sinn zu ergeben. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, war die chinesische Mathematik ungemein von der Grundannahme geprägt, dass sich Gegensätze die Waage halten, sodass diese Sichtweise möglicherweise zur Akzeptanz der Idee negativer Zahlen beigetragen hat.

Das Zählstäbchensystem war eine unglaubliche Innovation. Über Jahrhunderte hinweg würde es ein integraler Bestandteil des chinesischen Rechen- und Handelswesens bleiben. Schließlich wurden die Zählstäbchen von den Supercomputern der damaligen Zeit abgelöst: den Abakussen. Diese waren einfacher und schneller zu gebrauchen als die Stabzahlen und wurden in China um 190 v. Chr. zum vorherrschenden Zählwerkzeug:

Die alte chinesische Mathematik war nicht selten sehr praktisch veranlagt, aber sie stand auch oft in Verbindung mit dem Göttlichen. Ein Beispiel hierfür sind die Maßnahmen, die Yu ergriffen hat, um eine Wiederholung der schweren Überschwemmungen zu verhindern, zu denen es während der Herrschaft seines Vorgängers, Kaiser Shun, gekommen war. (Beide Männer haben in China einen halbmythischen Status, auch weil wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie wirklich existiert haben.) Yu studierte akribisch den Lauf der Flüsse und errichtete ein komplexes Kanalsystem, um das Hochwasser auf die Felder umzuleiten. Dreizehn Jahre lang soll er das Projekt persönlich beaufsichtigt, in den gleichen Unterkünften wie die Bauern geschlafen und bei der harten Arbeit geholfen haben, die das Ausheben der Flussbetten bedeutete.

Es hat funktioniert. Die Flüsse im Landesinneren Chinas, darunter der Gelbe Fluss und der Wei-Fluss, traten nicht mehr über die Ufer. Das war für die vielen Menschen, die an den Flüssen lebten und diese für Reisen und den Transport von Waren nutzten, von unglaublicher Bedeutung. Das Leben entlang der Ufergebiete gedieh, und Yu bekam den Namen »Großer Yu, der die Gewässer beherrschte«. Das Projekt in Angriff zu nehmen, muss großes Selbstvertrauen vorausgesetzt haben – die Art von Zuversicht, die man bekommt, wenn man eine Schildkröte mit einem magischen Quadrat sieht, die glückliche Zeiten verspricht.

Hexagramm-Guide durch die Galaxis

Neben der politischen Macht wuchs auch die mathematische Disziplin. Die Zhou-Dynastie, die von etwa 1046 bis 256 v. Chr. dauerte, war die am längsten bestehende in der Geschichte Chinas. Der Philosoph Konfuzius und der Militärstratege Sunzi lebten in dieser Phase, und die erhaltenen schriftlichen Dokumente sind weitaus komplexer als frühere. In mathematischer Hinsicht sind in dieser Zeit auch zwei der einflussreichsten Bücher aller Zeiten erschienen: Das Buch der Wandlungen und Die Neun Kapitel über die Rechenkunst.

Das Buch der Wandlungen – auch bekannt als I Ging – ist hinsichtlich seines Umfangs recht ambitioniert. Es zielt auf nichts Geringeres ab als darauf, eine umfassende Abhandlung über das Universum darzustellen, die uns den Weg weist, richtige Entscheidungen zu treffen, unsere Zukunft vorherzusagen und unsere schlussendliche Bestimmung zu finden. Über die Frage, ob dem Autor des Buchs das gelingt, lässt sich, gelinde gesagt, streiten, aber in kultureller und mathematischer Hinsicht kann die Bedeutung des Werks gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Seine genauen Ursprünge sind unbekannt. (Der Legende nach geht es auf den mythischen Kaiser Fuxi zurück, der als Sohn des Himmels ausgegeben wird.) Das Buch wurde wahrscheinlich irgendwann zwischen 1000 v. Chr. und 750 v. Chr. verfasst und schlägt eine Form der Weissagung vor, die als Kleromantie bezeichnet wird. Bei diesem Vorgehen werden Schafgarbenstäbchen mehrmals in die Luft geworfen, wobei das Muster, das sie bei der Landung bilden, als eines der vierundsechzig unten abgebildeten Symbole interpretiert wird, die wir heute als Hexagramme kennen. Jedes Hexagramm entspricht einem Kapitel des Buchs, sodass das entstandene Muster einen bestimmten Text ergibt, der gelesen und gedeutet werden muss – wenn die Interpretation der Bedeutung auch alles andere als einfach war.

Die im Buch der Wandlungen enthaltene Philosophie ist mit dem Konzept von Yin und Yang verknüpft, welches die alte chinesische Kultur durchdringt und besagt, dass zwei sich ergänzende Hälften zusammenkommen müssen, um eine Ganzheit zu bilden. Yin leitet sich ab von dem Wort, das die Schattenseite eines Hügels bezeichnet, und Yang von der Sonnenseite. Yin und Yang wird nachgesagt, dass sie die Grundlage aller Menschen und Dinge bilden. Das Buch der Wandlungen sollte dabei behilflich sein, die Dynamik der Welt durch diese Linse begreifen zu können. In den Hexagrammen stellen gestrichelte Linien das Yin und durchgezogene Linien das Yang dar, und das Diagramm zeigt die 64 Möglichkeiten auf, wie sich die beiden Symbole in Sechsergruppen kombinieren lassen. Über Hunderte von Jahren hinweg zogen die Großen und die Guten das Buch zurate, um Entscheidungen zu treffen und ihren Lebenszweck zu begreifen, und es erlangte eine solche Bedeutung, dass auch die Untertanen es sich zu eigen machen mussten.

Im Jahr 10 v. Chr. machte der Astronom Liu Xin vom Buch der Wandlungen Gebrauch, um seine Beobachtungen am Nachthimmel und damit einhergehende Berechnungen zu interpretieren. Sein dreifaches Konkordanzsystem beschrieb die Bewegungen des Mondes, der Sonne und der Planeten und verband sie mit den 64 Hexagrammen. Obwohl es seine Schwächen hatte, war es seinerzeit eines der komplexesten Modelle des Universums, das je formuliert wurde. Lius System berechnete die durchschnittliche Länge eines Mondmonats auf 29,5309 Tage, vergleichbar mit der Berechnung, welche die Maya angestellt hatten, und sie fiel unglaublich genau aus.

Zu dieser Zeit florierte die sich über weite Entfernungen erstreckende Seefahrt, und die katholische Kirche schickte Jesuitenmissionare nach China, um dort zu predigen, zu bekehren und den Glauben zu verbreiten. Diese Missionare wurden von den Chinesen willkommen geheißen. Der Kaiser Kangxi war besonders an »westlicher Bildung« interessiert und lud daher einige Jesuiten an den Hof ein, um Vorlesungen zu verschiedenen Themen zu halten, unter anderem auch über Mathematik. Die Jesuiten wiederum überstellten Berichte über die intellektuelle Kultur in China nach Rom, und Übersetzungen klassischer chinesischer Bücher gelangten nach Europa. Dieser beidseitige Austausch missfiel der katholischen Kirche allerdings, welche die Missionare schließlich ausgesandt hatte, um zu lehren und nicht um zu lernen, da sie glaubte, dass der christliche Glaube mit dem chinesischen unvereinbar sei. Einige Missionare waren zu dem Ergebnis gekommen, dass Europa und China eine gemeinsame Geschichte, Abstammung und einen gemeinsamen Gott hatten, was die katholische Kirche als blasphemisch ansah. Daher verbot die katholische Kirche jegliches weitere Erlernen chinesischer Sitten.

Nichtsdestotrotz gelang es dem deutschen Mathematiker und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert, eines Exemplars vom Buch der Wandlungen habhaft zu werden. Beim Lesen stellte er mit Erstaunen fest, dass es sich bei den Hexagrammen um eine bildliche Darstellung eines Zahlensystems handelte, an dem er gearbeitet hatte. »Wie erstaunlich, dass es so hervorragend zu meiner neuen Art des Rechnens passt«, schrieb er an Joachim Bouvet, den Jesuitenmissionar, der ihn auf das Buch der Wandlungen aufmerksam gemacht hatte.[2]

Ein Hexagramm aus dem I Ging. Dies war die Version, die Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert zu Gesicht bekam und sich dazu mit Tinte Notizen machte.

Leibniz’ Zahlensystem wurde aus der christlichen Unterscheidung zwischen zwei Seinszuständen geboren: Existenz und Nichtexistenz. Er stellte diese beiden Zustände als 1 und 0 dar und fand einen Weg, jede Zahl nur mit diesen beiden Ziffern darzustellen. Dieser Ansatz wurde als Binärsystem bekannt. Die Kombinationen von Einsern und Nullern, die er für die Zahlen 0 bis 63 verwendete, entsprachen den Kombinationen von durchgezogenen und gestrichelten Linien, wie sie in den Hexagrammen im Buch der Wandlungen gebraucht wurden.

Das Binärsystem im Buch der Wandlungen war tief in der Philosophie von Yin und Yang verwurzelt, und das leibnizsche Binärsystem wiederum wurzelte tief im Christentum. Und doch war die daraus resultierende Mathematik universell und sowohl mit der chinesischen als auch mit der europäischen Kultur – wie auch mit vielen anderen – kompatibel. Diese binär strukturierte Mathematik findet sich auch auf dem Papyrus Rhind, in der Mathematik Indiens im 2. Jahrhundert v. Chr. und, mindestens 300 Jahre vor Leibniz’ Geburt, im Zählsystem der Mangareva in Französisch-Polynesien wieder.