Die Hausboot-Detektei - Tödliche Farben - Amy Achterop - E-Book

Die Hausboot-Detektei - Tödliche Farben E-Book

Amy Achterop

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Beschreibung

Vier Privatdetektive, fünf skrupellose Freunde und ein verschollenes Gemälde – der vierte Wohlfühl-Krimi mit der Amsterdamer Hausboot-Detektei Der alte Onno hat gleich zwei Probleme: In seinem Wohnzimmer sitzt ein toter Mann, an seiner Wand fehlt ein Bild. Den Mann kennt er nicht, aber das Bild ist die selbst angefertigte Kopie eines verschollenen Gemäldes. Da Onno nicht will, dass die Polizei von seiner kurzen und wenig erfolgreichen Zeit als Kunstfälscher erfährt, wendet er sich an die Hausboot-Detektei. Die Ermittlungen führen Arie, Maddie, Jan und Elin auf eine wilde Schatzsuche quer durch Amsterdam, und sie müssen feststellen, dass es Menschen gibt, die für Kunst über Leichen gehen …

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Seitenzahl: 344

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Ähnliche


Amy Achterop

Die Hausboot-Detektei - Tödliche Farben

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Vier Hobby-Detektive, fünf skrupellose Freunde und ein verschollenes Gemälde

Der alte Onno hat gleich zwei Probleme: In seinem Wohnzimmer sitzt ein toter Mann, an seiner Wand fehlt ein Bild. Den Mann kennt er nicht, aber das Bild ist eine selbst angefertigte Kopie des verschollenen Gemäldes »Farbenzauber«. Da Onno nicht will, dass die Polizei von seiner kurzen und wenig erfolgreichen Zeit als Kunstfälscher erfährt, wendet er sich an die Hausboot-Detektive. Die nehmen sogleich die Ermittlungen auf und müssen bald feststellen, dass es Menschen gibt, die für Kunst über Leichen gehen ...

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Amy Achterop alias Heidi van Elderen wollte eigentlich selbst auf ein Hausboot in Amsterdam ziehen. Dann wurde ihr klar, dass man dort zwar Hunde, aber keine Esel und Schafe halten kann. Deshalb genießt die am Niederrhein aufgewachsene Autorin heute nur echte und fiktionale Ausflüge in die Grachtenstadt. Die übrige Zeit lebt sie zusammen mit ihrem niederländischen Ehemann, ihren Kindern und vielen Tieren auf einem kleinen Bauernhof in Schweden.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

[Leseprobe]

1. Kapitel

1

Es ist einer dieser Tage in Amsterdam, die man am besten nackt auf dem Balkon oder in einer Badewanne mit Eiswasser verbringt. Onno van der Vlist zieht trotzdem ein langärmliges weißes Hemd, eine seiner schicksten bunten Westen, lange Hosen und die Halbschuhe aus Leder an. De Poezenboot, das schwimmende Tierheim für Katzen, hat heute, am Dienstag, dem 27. August, zur jährlichen Mitgliederversammlung geladen, und Onno hält ganz und gar nichts von der Unsitte, zu wichtigen Terminen in Shorts und Badelatschen zu erscheinen. Das einzige Zugeständnis, das der 76-Jährige an die schwüle Spätsommerhitze macht, ist ein eleganter schwarzer Herrenfächer, das Geschenk einer alten Freundin aus Barcelona. Er nimmt ihn aus dem Wohnzimmerschrank und fächert sich probeweise etwas Luft zu. »Fast so gut wie eine Meeresbrise«, stellt er zufrieden fest, steckt den Fächer in die Westentasche und, kurz darauf, den Kopf durch die Küchentür. »Auf Wiedersehen, meine Damen. Spätestens um halb sieben bin ich wieder da.«

Die vier Angesprochenen blinzeln nur schläfrig. Weil es so heiß und sie über alle Maße faul sind, liegen sie lang ausgestreckt auf den kühlen Küchenfliesen. Onno wirft noch einen Blick in den Flurspiegel – die Kleidung sitzt, die weißen Haare nicht, aber da ist sowieso nichts zu machen.

 

Um vier Minuten nach vier erreicht Onno das Katzenboot: ein langer Kahn mit rotbraunem Holzaufbau und einem mit Maschendraht eingezäunten Außenbereich. Von Backbord kommt ein zartes Miauen: Zwei grau-schwarz getigerte Tiere schlendern durch den abgezäunten Außenbereich. Eine weiße Katze beobachtet die Schwäne in der Gracht, die übrigen Tiere schlafen.

Onno wird von Alex begrüßt, einem einäugigen, übergewichtigen Kater, der wie so oft gleich neben dem Eingang thront. »Bist du noch immer hier«, stellt Onno fest und krault Alex das Doppelkinn.

»Willst du ihn nicht?«, fragt eine helle Stimme hinter ihm. Es ist Karima, eine der vielen Freiwilligen hier. »Deine vier Süßen wären von Alex sicher entzückt.«

Onno denkt an Lady Ella, die fast alle Männer mag, die meisten Kater aber nicht ausstehen kann. Bedauernd schüttelt er den Kopf. »Ich fürchte nicht.«

Im weiß gefliesten Innenraum tummeln sich weitere Katzen auf Kratzbäumen und in Schlafmulden, einige streifen mit hungrigen Blicken um den Tisch in der Mitte, an dem drei Frauen sitzen. Sie trinken Kaffee und mosern, wie man es in Amsterdam gerne und ständig tut, über die meteorologische Lage. Recht macht es das Wetter den Bewohnern der Stadt so gut wie nie – ist es nicht zu nasskalt und zu windig, dann ist es eben zu heiß.

»Und schwül. Dass es Ende August noch so warm und schwül wird, das hat es früher nicht gegeben«, seufzt Marlinde und tupft sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Früher war sowieso alles besser«, stimmt Aalke zu.

Da ist Onno sich nicht so sicher. Außerdem weiß er, dass selbst die klebrige Hitze ihre Vorteile hat: Nie spürt er die Arthrose in seinen alten Knochen weniger als bei über dreißig Grad. Er klappt den Fächer auf und macht vor Marlindes rundem Gesicht ein bisschen Wind.

Sie schließt lächelnd die Augen. »Das nenne ich einen Gentleman.«

Aalke serviert Filterkaffee (dafür ist es nie zu heiß!), dann reden sie über Neuzugänge auf dem Poezenboot und schwer Vermittelbare, über Platzmangel, geplante Renovierungsarbeiten und das Budget fürs nächste Jahr und natürlich darüber, dass Katzenstreu schon wieder teurer geworden ist.

Um viertel vor sechs sind sie fertig. Genau zwölf Minuten und dreißig Sekunden später steigt Onno die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, schließt die Tür auf und tritt ein. Aus der Küche ertönt leises Schnarchen, irgendwo summt eine Fliege. Ansonsten ist es still. Onno tauscht die Lederschuhe gegen Pantoffeln, zieht seine Weste aus und hängt sie an die Garderobe. Dann geht er in die Küche, sagt Hallo zu der dösenden Madame Fleurot und zu Mrs Mirren, die mit einem vorwurfsvollen Blick antwortet – möglicherweise, weil er nach fremden Katzen riecht. Er trinkt ein Glas Leitungswasser, nimmt ein Kunstmagazin vom Tisch und steuert seinen Lieblingssessel an. Doch dieser, ein äußerst bequemes Exemplar mit Ohrenpolstern und pastellfarbenem Blumenmuster, ist schon besetzt.

Vor Schreck lässt Onno die Zeitschrift fallen, schließt die Augen und öffnet sie wieder, so als könnte er das schaurige Bild einfach wegzwinkern. Aber der Fremde sitzt noch immer da, und er trägt immer noch ein pompöses gelbes Kleid. Auf seinem Schoß liegt Lady Ella und schnurrt. Der Kopf des Mannes ist gegen die Lehne gekippt und man könnte meinen, er würde schlafen, wäre da nicht das hässliche Loch in seiner Stirn.

Onno berührt ihn vorsichtig am Arm, so, wie man den fremden Sitznachbarn im Zug vor der nächsten Haltestelle aufwecken würde. Es dauert einen Moment, dann begreift Onno, dass nichts und niemand diesen Mann in die Welt der Wachen zurückholen kann. Zwei weitere Sekunden, während derer Onno auf die leeren Hände und den Teppich neben den Sessel schaut, dann geht ihm die ganze Wahrheit auf.

»Erschossen«, murmelt er fassungslos und realisiert im gleichen Augenblick, dass der Mörder noch in der Wohnung sein könnte. Blitzschnell dreht Onno sich um und sucht mit den Augen den Raum ab, während er reflexartig nach der nächstbesten Waffe – der Leselampe – greift. Im Duell gegen eine Pistole ist die wahrscheinlich unterlegen, aber dennoch besser als nichts.

Mit der Lampe in der Rechten und dem Gefühl, dass ihm vor lauter Aufregung gleich die Halsschlagader platzt, schleicht Onno erst ins Bad, das leer ist, dann zum Schlafzimmer. Die Tür steht halb offen. Er späht durch die Öffnung, stößt die Tür dann ruckartig auf und springt mit erhobener Lampe in den Raum hinein. Nichts zu sehen. Er bückt sich und schaut unters Bett, entdeckt aber nur einen verlorenen Socken. Ein leises Rascheln, Stille, dann ein Atmen, wie wenn einer versucht, dabei jegliches Geräusch zu unterdrücken. Mit drei großen Schritten ist Onno neben dem alten Schrank, reißt in einer für sein Alter überraschend fließenden Bewegung die leicht angelehnte Tür auf, und hebt gleichzeitig den Arm mit der Lampe, bereit, sie dem Eindringling über den Schädel zu ziehen. Er holt aus und guckt in zwei grüne Augen mit vor Schreck geweiteten Pupillen. Vor Schreck gerät er ins Taumeln, lässt die Lampe fallen, muss sich aufs Bett setzen.

»Mevrouw Westerdijk, dieser Schrank ist kein Schlafplatz«, seufzt er, als sich das Zimmer nicht mehr dreht. Immerhin: Wer auch immer den Mann in seinem Wohnzimmer erschossen hat, befindet sich nicht mehr in seiner Wohnung. Mevrouw Westerdijk streckt ihre Pfoten aus, krallt ihre Nägel kurz ins Schrankpapier, das Onnos Kleider vor Splittern und Holzgeruch schützt, dann hüpft sie ihm vor die Füße und anschließend aufs Bett.

»Sie waren also mindestens zu zweit und einer von ihnen ist jetzt tot. Aber was wollten sie in meiner Wohnung?«, überlegt Onno laut. »Und wie sind sie überhaupt hereingekommen? Die Tür war doch abgeschlossen.«

Mevrouw Westerdijk gähnt.

Onno geht in die Küche und hält sein Gesicht unter den Wasserhahn. Seine Zeit als Profi-Einbrecher mag lange her sein, aber so viel hat er behalten: Wenn es brenzlig wird, ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Zurück im Wohnzimmer fällt sein Blick erst auf das offene Fenster (aber da kann niemand reingekommen sein, er wohnt im zweiten Stock), dann auf die Wand hinter dem Sessel. Dort, wo am Morgen noch sein Farbenzauber-Gemälde hing, ist jetzt nur noch ein Nagel. Der Mörder hat das Bild also mitgenommen, vermutlich ohne zu ahnen, dass das ein verdammt schlechter Deal war. Zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten fühlt es sich an, als würde die Welt bedrohlich ins Schwanken geraten. Onno lehnt sich gegen den Türrahmen und denkt nach. Wenn er wegen der Leiche die Polizei anruft, würden die Beamten fast zwangsläufig auch über das Bild und seine Entstehung sprechen wollen.

Polizei ist also keine gute Idee. Aber welche Alternativen hat er? Onno geht ein paar Schritte auf den Sessel zu und betrachtet den toten Unbekannten. Er ist ungefähr so groß wie Onno, etwa 1,90 Meter, dafür sicher fünfzehn Kilo schwerer. Das ist zu viel Gewicht, um die Leiche allein wegzuschaffen, selbst an einem Tag, an dem die Arthrose kaum zwickt.

Maddie, denkt er. Maddie, seine großartige Nachbarin, und ihre Kollegen, die Hausboot-Detektive – seines Wissens nach ebenfalls sehr nett und noch dazu moralisch flexibel. Die haben bestimmt eine gute Lösung parat. Er wählt Maddies Nummer, aber sie geht nicht ran. Stimmt, fällt ihm ein, heute war doch Isas große Modenschau. Obwohl – war die nicht schon am Vormittag? Dann sind sie jetzt sicher bei der After-Show-Party oder wie man das heute nennt. Isa hatte ihn gefragt, ob er mitmachen wolle, in dem bunten Frack, den sie erst vor kurzem für ihn genäht hatte. »Ich bin kein Mann für den Laufsteg«, hatte er dankend abgelehnt. Genug Models hat Isa trotzdem gefunden, mitgemacht haben unter anderem alle Hausboot-Detektive und Juanita, Maddies beste Freundin und ebenfalls Onnos Nachbarin. Vielleicht hört Juanita ihr Telefon klingeln.

Viermal tutet es, dann meldet sie sich.

»Ich habe zwei Probleme«, sagt Onno. »An meiner Wand fehlt ein Bild, und in meinem Sessel sitzt ein toter Mann.«

2

Als Elin das Wohnzimmer betritt, sieht sie zuerst die Möwe. Das Tier sitzt bewegungslos im offenen Fenster, mit hungrigem, lauerndem Blick starrt es Richtung Ohrensessel. Sein Gefieder ist leuchtend weiß, einzig auf der Brust sind rostrote Flecken, die Elin an Blut denken lassen.

Eigentlich mag Elin Blomgren Möwen und ihr wildes, helles Lachen, das selbst an den düstersten Tagen nach Sommer klingt. Fast so klug wie Papageien und Raben sind sie außerdem, das hat Elin irgendwo mal gelesen. Aber ausgerechnet in dieser kuriosen Wohnung, in der sich außer dem Vogel und ihr noch die drei anderen Hausboot-Detektive, etliche Katzen, der erstaunlich gefasste Onno sowie eine Leiche mit bemerkenswertem Modegeschmack befinden, fällt ihr noch etwas anderes aus der Rubrik Tierwissen ein: Möwen mögen nicht nur Fischbrötchen und Eiswaffeln, sie fressen auch Aas.

Plötzlich hat Elin einen schlechten Geschmack im Mund. Sonst ist sie nicht so empfindlich, schließlich war sie Ziegenbäuerin in Lappland, bevor sie vor einigen Jahren nach Amsterdam gezogen ist. Wer einen Bauernhof hat, arrangiert sich zwangsläufig mit dem Tod, Aasfresser inklusive. Doch es ist eine Sache, wenn sich der Vielfraß über einen Rentierkadaver hermacht oder, gruselig genug, die Raben einem totgeborenen Zicklein die Augen aushacken. Und eine komplett andere Sache, wenn eine Möwe einem toten Menschen …

Elin denkt das lieber nicht zu Ende. Mit lautem Händeklatschen versucht sie die Bilder im Kopf und den Vogel im Fenster zu verscheuchen. Die Möwe öffnet ihren Schnabel, kreischt – und bleibt sitzen.

»Sie tut nichts«, sagt Onno, ob über die Möwe zu Elin oder über Elin zur Möwe, das ist schwer zu sagen. Dann bietet der Alte an, das Fenster zu schließen, nur um es sich gleich darauf wieder anders zu überlegen. »Ist vielleicht doch keine gute Idee – wegen der Seele.« Er macht eine vage Bewegung in Richtung Sessel.

Elin hat keine Ahnung, wie lange so eine körperlos gewordene Seele braucht, um das Weite zu suchen, und ob sie im Notfall nicht einfach durch Wände fliegen könnte. Aber sie ahnt, dass es auch geruchstechnisch besser ist, wenn das Fenster offen bleibt. Und wer weiß, vielleicht befinden sich am Fenster auch Fingerabdrücke, Haare oder irgendwelche anderen Spuren, die besser nicht verwischt werden.

»Soll ich die Polizei rufen?«, fragt sie.

»Aber nein«, protestiert Onno, dessen Nachnamen Elin nicht kennt. Vor diesem Abend ist sie ihm nur ein paarmal im Hausflur begegnet, weil er Maddies und Isas Nachbar ist. Er sieht aus wie ein in die Jahre gekommener, zu groß geratener Hobbit, mit kleinen, wachen Augen, einer knubbeligen Nase und weißem Haar, das fast wie Zuckerwatte aussieht.

»Gleich«, sagt Arie und nickt Elin zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann im Sessel richtet. Arie ist der Gründer der Hausboot-Detektei und als Ex-Polizist der einzige Profi-Ermittler der Truppe. Er war es auch, der alle Detektive vor Betreten der Wohnung mit Schuhüberziehern aus Plastik und Gummihandschuhen ausgestattet hat. Aber Schuhüberzieher hin oder her – Unbekannte würden Arie im Moment wohl eher für einen Straßenkünstler halten, mit seinem grauen Patchwork-Anzug und dem T-Shirt, auf das Isa einen schlummernden Fettschwanzmaki gezeichnet hat.

Ursprünglich sollte der kleine Primat Arie beim Einschlafen helfen, doch nun hatte er auf Isas erster Modenschau einen großen Auftritt. Isa ist Maddies Schwester, und Maddie arbeitet wie Elin in der Hausboot-Detektei. Diese hat (wenn auch auf nicht ganz legalem Weg) dafür gesorgt, dass Isa ihre Kollektion auf der Amsterdam Fashion Week präsentieren kann. Und weil sie inzwischen füreinander mehr Familie als Kollegen sind und Isa kein Geld für richtige Models hatte, sind sie eben alle eingesprungen. Elin schaut an ihrem Kleid hinunter, ein wie von Elfen gesponnener Traum aus grüner Spitze. Auf dem Laufsteg hat es viel Applaus bekommen, zur After-Show-Party auf dem Hausboot hat sie es auch gleich angelassen. Dann hat Onno angerufen, und die Sache schien zu dringend, um sich umzuziehen. Die Outfits der Hausboot-Detektive könnten für den Anlass kaum unangebrachter sein, andererseits fällt das in dieser Wohnung gar nicht besonders auf, so vollgestellt mit Kuriositäten ist sie. Sie würde fast als Trödelladen durchgehen.

Und zur Leiche passt das Erscheinungsbild der Hausboot-Detektive eigentlich auch ganz gut.

Elin tritt neben Arie und betrachtet den Mann, wegen dem sie hier sind. Er trägt ein voluminöses gelbes Rüschenkleid mit Korsett, das Elin an Rokoko und alte Sissi-Filme denken lässt, dazu graue Socken, keine Schuhe. Zwischen Socken und Kleid sieht man nur wenige Zentimeter hell behaarter Beine.

Für einen Moment richtet Elin ihre Augen auf die schwarze Katze, die lang ausgestreckt auf dem Schoß des Mannes liegt und leise schnurrt. Dann atmet sie aus und hebt den Blick zum Kopf des Toten, der wie bei einem Nickerchen ein wenig zur Seite gekippt ist. Blonde Haare, militärisch kurz geschnitten, die Haut ist grau und großporig. Elin schätzt den Mann auf Mitte Fünfzig. Sein eckiges Kinn ist glattrasiert, der Mund steht leicht offen und entblößt die untere Reihe auffällig kleiner Zähne. Die Augen sind geschlossen, auf dem geraden Nasenrücken klebt Blut. Sehr wenig Blut, wenn man bedenkt, dass sich zwei Zentimeter über der Nase ein rundes Einschussloch befindet.

»Durchschuss, nicht aufgesetzt«, murmelt Arie leise.

Elin sieht, dass sich das in Pastellfarben geblümte Polster des Sessels rund um den Hinterkopf des Toten dunkel verfärbt hat. Sie guckt schnell wieder weg, hinüber zu Jan.

Der steht in einem bunten Kapuzen-T-Shirt und mit nachdenklichem Gesicht zwischen der Schaukel, die von der Decke hängt, einer Zimmerpalme und einer mannshohen gelb-türkisen Holzgiraffe und schaut sich suchend um. Das tut Jan öfters, wenn er woanders ist, meist um zu verhindern, dass Fru Gunilla, sein Eichhörnchen, zu wild auf Lampenschirmen schaukelt oder Teetassen zerdeppert. Aber an diesem warm-schwülen Abend Ende August ist Fru Gunilla wegen Onnos Katzen gar nicht mitgekommen. Ob Jan Ausschau nach der Waffe hält?

Elin folgt seinem Blick. An der hellblauen Wand hängt wenig überraschend keine rauchende Pistole, dafür sonst allerlei Kram: eine Wolldecke an einem schmiedeeisernen Haken, zwei schauerliche Masken, Hummeln aus Glas, drei Hängekörbe mit und ohne Pflanzen, ein alter Strohhut, Gemälde sowie Schwarz-Weiß-Fotografien von schönen Frauen und noch schöneren Katzen.

Ein Bild fehlt. Man sieht nur noch den Abdruck auf der Wand, etwa fünfzig Zentimeter breit und dreißig Zentimeter hoch.

Onno räuspert sich. »Können wir die Leiche irgendwo anders hinbringen?«

»Hast du uns deshalb angerufen?«, fragt Maddie.

Onno zuckt mit den Schultern. »Allein kann ich ihn nicht tragen.«

Das stimmt. Es stimmt auch, dass es nicht die erste Leiche wäre, die mit Hilfe der Hausboot-Detektive … nun ja, ihren Standort ändert. Aber letzteres sollten weder Onno noch sonst irgendjemand, der nicht dabei war, erfahren.

Arie wechselt das Thema: »Hast du ihn erschossen, Onno?«

Onno verzieht entrüstet den Mund. »Ich kenne den armen Kerl doch gar nicht. Außerdem habe ich keine Pistole und war auch nicht hier, sondern auf dem Poezenboot. Als ich zurückgekommen bin, saß er tot in meinem Lieblingssessel.«

»Wie sind sie denn überhaupt in die Wohnung gekommen?«, fragt Jan. »Da es nicht so aussieht, als hätte er sich selbst erschossen, müssen es ja mindestens zwei gewesen sein.«

Onno reibt sich die Stirn. Plötzlich sieht er um zwanzig Jahre gealtert und sehr müde aus. Maddie nimmt ihn am Arm und führt ihn zu einem rubinroten Rokokosofa auf der anderen Seite des Zimmers, dann verschwindet sie in der angrenzenden Küche. Onno lässt sich ächzend auf das Polster fallen, und wie auf Kommando springt die schwarze Katze vom Schoß des Toten. Sie rennt durch den Raum und legt sich neben ihren Besitzer.

Maddie kommt mit einem Glas Wasser zurück, neben ihr läuft ein weiterer Stubentiger, dieser ist rot-weiß und langhaarig. Onno trinkt einen Schluck, dann schaut er Jan an: »Die Wohnungstür war abgeschlossen, das Schloss ist unversehrt. Ich würde sehen, wenn sich da jemand dran zu schaffen gemacht hat.« Er fügt hinzu, dass er vom Fach ist, schließlich hatte er früher einen Schlüsseldienst.

Was Onno nicht sagt, Elin aber weiß, weil Maddie es ihr mal erzählt hat: Vor dem Schlüsseldienst war er einige Jahre lang erfolgreich als Einbrecher tätig. Er ist also doppelt kompetent, was aufgebrochene Türen angeht.

»Und das Fenster?«, fragt Arie.

»Ist im Sommer fast immer offen«, sagt Onno. »Damit die Katzen über die Katzentreppe raus und rein können. Und damit Kimiko sich ihren Nachmittagssnack abholen kann.«

»Kimiko?«, fragt Jan nach.

Onno deutet auf die Möwe, die immer noch an der gleichen Stelle sitzt. Hinter dem Vogel schimmert das Licht der Abendsonne wie flüssiger Honig auf den Grachtenhäusern und ihren langen, schmalen Hinterhöfen.

Arie schaut, als könnte er sich nur mit Mühe eine Belehrung zum Thema Einbruchschutz verkneifen.

Völlig übertrieben, findet Maddie: »Wie soll denn hier jemand einsteigen? Es gibt hintenraus weder Balkone noch eine Feuerleiter. Und ich glaube nicht, dass die Katzentreppe einen Menschen trägt. Außerdem sind wir hier im zweiten Stock und es wäre bestimmt aufgefallen, wenn ein Einbrecher die Hauswand hochklettert.«

»Hat irgendjemand einen Zweitschlüssel?«, fragt Jan.

»Nur Maddie«, sagt Onno. »Und die erschießt keine Leute in meinem Wohnzimmer.«

Maddie und Arie tauschen einen Blick, dann verlässt Maddie Onnos Wohnung.

»Warum würde überhaupt jemand einen Mann in einer fremden Wohnung töten?«, wundert sich Elin und findet gleich darauf einen möglichen Grund: »Könnte es sein, dass dir jemand einen Mord in die Schuhe schieben will?«

Onno streichelt seine schwarze Katze, während sein Blick ein Foto an der Wand streift. Es ist die Porträtaufnahme einer jungen, lachenden Frau, deren Zöpfe nur notdürftig ihre nackten Brüste bedecken. Im Hintergrund sieht man Strand und Meeresbrandung. »Es ist wirklich lange her, dass ich irgendetwas angestellt habe, dass jemanden so wütend machen könnte.«

»Und das hatte mit dieser Frau zu tun?«, hakt Arie nach und deutet auf die Schwarz-Weiß-Aufnahme.

»Marlene.« Onno seufzt. »Alle waren verrückt nach ihr. Natürlich wusste ich, dass sie verheiratet war, aber …«

»Aber du hast trotzdem ein Verhältnis mit ihr angefangen«, vervollständigt Elin den Satz.

Zum ersten Mal, seit sie hier sind, verziehen sich Onnos Lippen zu einem Lächeln. »Stimmt, das war eine schöne Zeit, wenn auch viel zu kurz. Soweit ich weiß, lebt Marlene schon ewig als Künstlerin in Indien, ihr damaliger Mann ist vor Jahrzehnten verstorben.«

Die Wohnungstür wird geöffnet und Maddie betritt wieder den Raum. Alle drehen sich zu ihr um, doch sie schüttelt den Kopf: »Onnos Zweitschlüssel hängt nach wie vor bei uns an der Garderobe. Wenn sie einen Schlüssel hatten, dann nicht diesen.«

Elin überlegt weiter: »Der Tote könnte auch ganz einvernehmlich zusammen mit einem Komplizen hier eingestiegen sein, um etwas zu stehlen. Es gab wegen irgendetwas Streit und, zack, war einer tot. Bewahrst du etwas Wertvolles in der Wohnung auf, Onno?«

»Vier Katzen. Aber die sind noch alle da.«

»Ein ziemlich auffälliges Outfit für einen Einbrecher«, gibt Arie zu bedenken.

»Er sieht nicht wie der Typ Mann aus, der so ein Kleid freiwillig anziehen würde«, stellt Jan fest.

»Auch nicht wie einer, der seine Schuhe vergisst«, ergänzt Elin. »Obwohl man sich auf Socken natürlich super anschleichen kann.«

»Aber falls man schnell weglaufen muss, sind Schuhe doch besser«, sagt Onno.

»Wo bekommt man überhaupt so ein Kleid? Aus dem Museum?«, fragt Elin.

Maddie, die sich wegen Isa ein wenig in Sachen Stoffe und Mode auskennt, meint, dass das Kleid dafür zu neu und zu gelb aussieht. »Kostümverleih vielleicht.«

»Könnte man ihm das Kleid auch nach seinem Tod angezogen haben?«, überlegt Jan.

»Theoretisch schon«, weiß Arie. »Aber nach einem Kopfschuss wäre das kaum möglich, ohne Kleid und Sessel komplett einzusauen. Alternativ könnte ihn der Mörder oder die Mörderin auch vor seinem Tod gezwungen haben, sich umzuziehen. Dann bleibt nur die Frage: warum?«

Er schaut Onno an, der erwidert den Blick nicht, zuckt aber mit den Schultern.

Maddie will etwas anderes wissen: »Was ist eigentlich mit dem Bild, Onno? Vorhin am Telefon hast du gesagt, dass eines deiner Gemälde verschwunden ist.«

Onno überlegt so lange, dass Elin schon glaubt, er hätte Maddie nicht gehört. Aber dann antwortet er mit einer Gegenfrage: »Müsst ihr gleich wirklich die Polizei rufen?«

Arie nickt.

»Das ist auch in deinem Interesse«, erklärt Jan. »Die Polizei wird dein Alibi prüfen und feststellen, dass du zum Zeitpunkt der Tat gar nicht hier warst. Stell dir dagegen vor, wir bringen die Leiche woanders hin, wo sie dann in ein paar Tagen oder Wochen wahrscheinlich doch entdeckt wird. Die Polizei findet deine DNA-Spuren auf dem Kleid oder sie kommen irgendwie anders dahinter, dass er zuletzt bei dir war, können aber nicht mehr feststellen, wann genau er gestorben ist. Oder jemand beobachtet uns dabei, wie wir ein langes Paket in die Gracht werfen oder irgendwo im Wald ablegen.«

Onno winkt ab, er hat verstanden. Zögerlich nestelt er an seiner Weste herum. »Wenn ich länger darüber nachdenke, bin ich gar nicht mehr so sicher, ob das Bild wirklich erst seit heute weg ist. Vielleicht habe ich es auch mal abgenommen, um den Rahmen gründlich sauber zu machen, und dann verlegt.«

»Verlegt«, wiederholt Arie. Es klingt wie: Ganz schlechte Lüge.

»Das kann in meinem Alter schon mal passieren. Bücher, das Telefon, die Brille, Gemälde – da kommt ständig was weg.«

»Es hing dort drüben, nicht wahr?« Arie deutet auf die freie Stelle an der Wand.

»Mmh«, brummt Onno zustimmend, wenn auch etwas widerwillig.

»War das Bild gestohlen?«, vermutet Maddie.

»Ich habe schon lange keine gestohlenen Bilder mehr«, sagt Onno, er klingt ein bisschen empört. »Es war einfach ein kleines Bild, überhaupt nichts wert. Auch deshalb glaube ich ja, dass ich es einfach verlegt habe.«

»Onno, wir können dir nur helfen, wenn du uns die Wahrheit sagst«, mahnt Maddie.

Onno schaut auf seine Füße, die in bunt bestickten Pantoffeln mit kleinen Bommeln stecken. »Ich habe es selbst gemalt.«

Elin schaut sich das Durcheinander an der Wand noch mal genauer an. Die meisten der gemalten Bilder sind Aquarelle im typisch japanischen Stil, sie zeigen Tempel, Kraniche, Kirschblüten. Es gibt ein großes poppiges Bild von einem Fuchs, der Kaffee trinkt. Auf einem Ölgemälde schlafen eine Frau und eine Katze in einer Blumenwiese, ein anderes zeigt eine holländische Mühle. »Sind davon auch welche von dir?«

»Die Aquarelle hat Kimiko gemalt, die anderen Bilder habe ich auf Märkten entdeckt.«

Jan betrachtet Onno mit unverkennbarer Besorgtheit. »Kimiko, die Möwe?«

»Kimiko, meine Ex-Freundin.« Onno zeigt auf ein Foto, auf dem eine Frau mit kinnlangen schwarzen Haaren, Regenmantel und Gummistiefeln auf einem Boot steht und angelt. »Ich habe die Möwe nach ihr benannt.«

Elin überlegt, ob Onno mit allen Frauen, von denen Fotos in seinem Wohnzimmer hängen, einmal zusammen war.

Aber offenbar denkt Arie, dass es wichtigere Fragen gibt. »Hast du ein Foto von dem Bild, das gestohlen wurde?«

Onno schüttelt den Kopf. »Es war wirklich nichts Besonderes, eine kleine Ölmalerei, inspiriert von der Kunst der Barockzeit. Ich habe keine Ahnung, warum irgendjemand so etwas mitgehen lassen sollte.«

Maddie hat irgendwo Papier und Stift aufgetrieben. »Kannst du eine grobe Skizze von dem Bild machen?«

Elin sieht, wie ihr Arie zunickt.

»Wenn ihr darauf besteht«, sagt Onno ein wenig widerstrebend, nimmt den Bleistift, lässt ihn einen Moment über dem Papier schweben, steckt ihn dann aber hinters Ohr, grummelt etwas, steht auf, geht zum Bücherregal, das wie eine alte Eiche aussieht, zieht eine Zeitschrift heraus, kommt zurück und legt sie auf den Tisch. Majesteit steht auf dem Titel, darunter kuscheln zwei weiße Katzenbabys.

»Eine Katzenzeitschrift?«, fragt Jan, obwohl das ja nun recht eindeutig ist.

»Seite 32«, sagt Onno.

Maddie blättert, bis sie zu einem Artikel über Onno kommt. »Der Katzenpate aus dem Grachtenviertel«, liest sie die Überschrift vor.

Elins Blick fällt auf das Foto: Ein selig lächelnder Onno sitzt in seinem geblümten Lieblingssessel, auf seinem Schoß liegen drei Katzen, die vierte balanciert auf seiner Schulter. Hinter dem Sessel ist die hellblaue Wand zu sehen, und an der Wand hängt das Bild, das nun fehlt. Arie setzt seine Lesebrille auf, Elin beugt sich über die Aufnahme, bis Onno eine Lupe über den Tisch schiebt. »Damit geht es besser.«

Auf Onnos Bild tanzen fünf Frauen in langen Kleidern auf einer sonnengefluteten Lichtung, umgeben von buntem Herbstlaub. Ihre Gesichter wirken entrückt, ihre Bewegungen fließend, und nach wenigen Sekunden hat Elin das Gefühl, ebenfalls in diesem Wald auf dem raschelnden Blätterteppich zu tanzen, in wilden Kreisen, rundherum, bis ihr vor Freude ganz schwindelig wird. Sie lächelt und schaut Onno an. »Du hast ein Stück Glück gemalt.«

Onno winkt ab, ihm scheinen seine Malkünste im Moment ziemlich egal zu sein. »Ich verstehe das mit der Leiche, aber das hier müssen wir der Polizei doch nicht zeigen, oder?«

»Warum?«, will Maddie wissen.

Onno antwortet nicht.

Arie, der das Bild nun auch aus der Nähe betrachtet hat, legt seine Stirn in sorgenvolle Falten. »Das Kleid«, sagt er und tippt auf die Zeitschrift. »Schaut mal, das Kleid.«

Und tatsächlich: Eine der tanzenden Frauen trägt ein bodenlanges gelbes Rüschenkleid, fast identisch mit dem des Toten.

3

Wenn es das Schicksal gibt, dann ist es gegen ihn. Dabei zählt Wessel de Boer keineswegs zu der Sorte Mensch, die dauernd mit dem Lauf der Dinge hadert – dafür ist er zu sehr ein Mann vom alten Schlag, ein vielbeschäftigter noch dazu. Aber wie unwahrscheinlich ist es bitte, dass all dies gleichzeitig passiert? Unerträglich schwüles Kopfschmerzwetter, Sannes 55. Geburtstag, der geplante Restaurantbesuch und jetzt eben auch noch dieser mysteriöse Mordfall: Albert de Wit, einer der bekanntesten Filmkritiker des Landes, sitzt tot – mit Kopfschuss und einem gelben Fummel – in einer Wohnung im Grachtenviertel.

»Woher wissen wir, dass es sich um Albert de Wit handelt?«, fragt Wessel den jungen Streifenpolizisten, der ihn vom Tatort aus angerufen hat. »Hat er Papiere dabei?«

»Nein, aber ich lese das Feuilleton.«

Das ist nichts, womit man sich brüsten sollte, findet Wessel, doch in diesem Fall hat es ausnahmsweise mal praktischen Mehrwert.

Während er in seine schwarzen Sportschuhe schlüpft, erfährt er außerdem, dass ein gewisser Onno van der Vlist ausgesagt hat, den Toten in seiner Wohnung gefunden zu haben. »Angeblich kennt er de Wit nicht, hat keine Waffe und für den Nachmittag ein Alibi.«

»Onno van der Vlist«, wiederholt Wessel.

»Rentner, 76 Jahre alt. Mehrfach wegen Diebstahls vorbestraft, vor über vierzig Jahren hat er zusammen mit einem Komplizen einen Geldtransporter gestohlen, indem er sich als Angestellter der Firma ausgegeben hat. Danach noch einige Schmuckdiebstähle; soweit bekannt ist, war er nie bewaffnet.«

»Wann hat er die Leiche entdeckt?«

»Kurz nach sechs, sagt er. Wir wurden allerdings erst um 18.57 Uhr, also vor exakt elf Minuten, informiert.«

So etwas kann Wessel gar nicht leiden. »Was hat er denn in der Stunde gemacht? Formel 1 geguckt? Spuren beseitigt? Seine Mama angerufen?«

Sanne stöckelt in den Flur, sie trägt die großen Perlenohrringe und ein violettes Kleid, an das sich Wessel nicht erinnern kann. Wir sind spät dran, sagt ihr Blick. Damit er es auch wirklich versteht, tippt sie mit dem rechten Zeigefinger auf eine imaginäre Armbanduhr am linken Handgelenk. Wessel hebt die Hand und versucht ein beruhigendes Lächeln: Nur einen kurzen Moment.

Der Polizist am anderen Ende der Leitung räuspert sich. »Nicht seine Mutter, sondern die Hausboot-Detektive.«

»Was?«, schreit Wessel.

Sanne zuckt zusammen. Der Kollege offenbar auch, jedenfalls klingt er wie eine verschreckte Erstklässlerin, als er weiterspricht. »Arie Poepjes, Jan van Dijk, Elin Blomgren und Maddie Hornix. Letztere wohnt zusammen mit ihrer Schwester eine Etage über Onno van der Vlist.«

Arie, auch das noch. Wessel erlaubt sich einen kurzen Moment des Selbstmitleids. Warum fühlt es sich an, als ob sich alle gegen ihn verschworen haben, in seinem so hart erkämpften neuen Leben, das ihn doch endlich glücklich machen sollte?

»Was sollen wir jetzt machen, Chef?«, fragt der Streifenpolizist.

»Die Spurensicherung informieren, falls das noch nicht passiert ist. Und weder diesen Onno noch einen der anderen Anwesenden aus den Augen oder der Wohnung lassen. Ich fahre sofort los.« Wessel legt auf.

»Zum Golden Forks, hoffe ich«, zischt Sanne, die jetzt wie eine Walküre in der Haustür steht und es offensichtlich überhaupt nicht mag, wenn er Versprechen bricht. Obwohl sie das nach so vielen Jahren als Polizisten-Ehefrau (die meisten davon mit Arie) eigentlich mit mehr Gleichmut hinnehmen sollte.

»Es tut mir leid, Schatz. Ein Mord«, erklärt er.

»Gemordet wird dauernd, aber ich werde nur einmal 55«, entgegnet Sanne.

Eine Feier im engsten Familienkreis hat sie sich gewünscht, ein dekadentes Essen im Golden Forks. Vor anderthalb Jahren hat Wessel da mal ermittelt, ohne der damaligen Besitzerin jedoch etwas nachweisen zu können. Weil die Medien den Fall trotzdem aufgegriffen hatten, war Femke Baas nach Frankreich gezogen. Ihren Laden im Hafenviertel hatten zwei Brüder mit einem Faible für Meeresfrüchte und exorbitante Preise übernommen. Innerhalb weniger Monate war das Golden Forks zum Zwei-Sterne-Restaurant avanciert, für das man vier Monate im Voraus reservieren musste.

Das hatte Wessel, der eigentlich lieber ins Steakhaus gegangen wäre, auch getan: erst für die ganze Familie, inklusive Sannes Sohn Matts und seiner schwangeren Freundin Natascha. Sannes betagte Eltern sollten auch kommen, obwohl sie Wessel in den Wahnsinn trieben, weil sie ihn ständig mit »Arie« anredeten.

Sohn und Quasi-Schwiegertochter hatten als Erste abgesagt. Offiziell, weil es so kurz vor dem Geburtstermin sei und Natascha seit der Schwangerschaft Meeresfrüchte schlecht vertrage. Die Wahrheit war aber möglicherweise auch, dass Matts einfach keinen Bock auf seinen neuen Stiefvater hatte.

Später hatten auch die Schwiegereltern ihr Fernbleiben verkündet. Wegen Trunkenheit am Steuer musste Sannes Vater seinen Führerschein für einige Wochen abgeben, und ihre Mutter hatte seit der Corona-Pandemie eine Bus- und Bahn-Phobie.

»Dann wird es eben ein romantisches Abendessen zu zweit, ist doch auch schön«, machte Sanne, wenn auch etwas schmallippig, gute Miene zum bösen Spiel.

»Ganz wie in alten Zeiten«, stimmte Wessel zu und dachte, dass er so auch eine Menge Geld sparen würde.

Jetzt, im Hausflur, sagt er: »Es tut mir leid, Schatz. Aber ich versuche, so schnell wie möglich nachzukommen.«

Sanne sieht aus, als wäre ihr der Appetit sowieso schon vergangen. »Wenn ich erst einmal Hoofdcommissaris bin, kann ich Jobs delegieren. Dann gibt es keine einsamen Weihnachts- und Geburtstagsfeste mehr«, wiederholt sie mit dieser skalpellscharfen Stimme, was er wahrscheinlich irgendwann mal so oder so ähnlich gesagt hat.

»Ich kann nichts delegieren, wenn das halbe Dezernat mit Magen-Darm über der Schüssel hängt«, erinnert er sie.

Dann überlegt er, was er noch sagen könnte. Etwas Versöhnliches, Liebevolles sollte es sein, aber bevor ihm etwas einfällt, schiebt Sanne ihn schon zur Seite, stürmt ins Gäste-WC und schlägt die Tür hinter sich zu.

 

Eine Viertelstunde später, fast zeitgleich mit zwei seiner Assistenten, Pieter und Diederick, und einer Truppe von der Spurensicherung, betritt ein ziemlich verschwitzter und ausgesprochen mürrischer Hoofdcommissaris die Wohnung von Onno van der Vlist.

Falls man das hier überhaupt Wohnung nennen kann, denkt Wessel. Jahrmarkt würde es besser beschreiben. Welcher erwachsene Mann hat in seinem Wohnzimmer eine Schaukel hängen? Und das ganze Zeug, das überall rumsteht! Die Spurensicherung wird sich bedanken – und dabei hat er noch nicht mal an die vielen Menschen und die Katzenhaare gedacht.

»Was machen eigentlich all die Viecher hier?«, wendet sich Wessel an den anwesenden Streifenpolizisten.

Der zuckt mit den Schultern, dafür antwortet ein alter Mann, der an einem kleinen Tisch sitzt und die Figur eines Ringkämpfers und das Gesicht eines Märchenonkels hat: »Keine Viecher, Katzen. Die wohnen bei mir.«

Mit weiß behaarter Hand deutet er zum Fenster, in dem eine Möwe sitzt. Zuerst denkt Wessel, sie sei ausgestopft, aber dann klappt sie den Schnabel auf und wieder zu. Wessel blinzelt. »Und das ist Kimiko, sie wartet auf ihr Abendessen. Ihr Kollege hat mir aber verboten, sie zu füttern, für den Fall, dass irgendwelche Spuren am Fenster sind.«

»Sowieso«, sagt Wessel. Möwen sollten ohnehin nicht in Wohnzimmerfenstern sitzen und gefüttert werden. »Onno van der Vlist, nehme ich an?«

Der andere nickt.

»Wessel de Boer, Hoofdcommissaris.«

In den Augen des alten Mannes flackert ein kurzes Erkennen auf, als Wessel seinen Namen nennt. Ob sie mal beruflich miteinander zu tun hatten? Aber das kann nicht sein: Als Onnos Einbrecherkarriere zu Ende ging, freute sich Wessel gerade über den ersten zarten Bartflaum.

Dann begreift er. Maddie Hornix hat ihrem Nachbarn sicher einiges über ihn erzählt. Schließlich war es Wessel gewesen, der Maddie schon mal in Untersuchungshaft gesteckt hatte, wenn auch viel zu kurz. Und dann weiß Onno wahrscheinlich auch, dass Wessel einst seinem Kollegen und besten Freund Arie – derselbe Arie, der jetzt Maddies Kollege und guter Freund ist – die Frau ausgespannt hat. Sicher hat Maddie erzählt, dass Arie Sanne und ihn in flagranti erwischt und ihm daraufhin seine Dienstwaffe an den Kopf gehalten hat. Diese unschöne Episode kannten inzwischen alle – auf dem Revier, in der Nachbarschaft, in der Familie.

Das an sich wäre nicht dramatisch, hätten die Leute nur angemessen reagiert. So in der Art von: »Kein Wunder, dass sie sich von diesem unbeherrschten Arie-Monster getrennt hat, inzwischen ist der ja auch völlig abgestürzt.« Oder: »Na ja, an Sannes Stelle hätte ich mich auch für Wessel entschieden.«

Aber nein. »Der arme Arie, da hätte doch jeder so reagiert«, wurde auf den Fluren mehr laut als leise geflüstert.

Und inzwischen: »Wie gut, dass die Sache für ihn ein Happy End hatte. Habt ihr schon gesehen? Die Hausboot-Detektei war wieder in der Zeitung. Sooo cool, dass die jetzt auch eine Buchreihe haben.«

Tatsächlich ziehen diese Möchtegern-Detektive pressewirksame Fälle an wie Kacke die Fliegen. Daher sollte es ihn eigentlich nicht überraschen, dass sie ihm hier in die Quere kommen. Wessel wirft einen Blick auf das altmodische rote Sofa, auf dem vier der unsäglichen Truppe sitzen, in so hippen Klamotten, als kämen sie geradewegs von einer Modenschau. Wessel unterdrückt das plötzliche Verlangen, den Reißverschluss seines weißen Ganzkörperanzugs zu öffnen, um zu zeigen, dass auch er einen ziemlich feschen Anzug trägt. Stattdessen fragt er: »Fehlt da nicht noch einer?«

»Guten Abend, Wessel. Jack Addington arbeitet nicht mehr bei uns«, sagt Arie.

Im Hintergrund klicken die Kameras, die Spurensicherung macht die ersten Leichenfotos. Es wurmt Wessel immens, wie entspannt Arie klingt und dass er die Leiche vor ihm gesehen hat. Aber aufklären, denkt er, aufklären werde ich diesen Fall.

»Pieter, Diederick, bringt bitte alle aufs Revier«, weist er seine Kollegen an und macht eine Handbewegung in Richtung der Detektive und Onno. »Dort nehmt ihr ihre Aussagen auf und überprüft so schnell wie möglich eventuelle Alibis.«

Den Streifenpolizisten schickt er los, um die Nachbarn abzuklappern, dann, als die Detektive endlich alle aus der Wohnung getrampelt sind, tritt er zur Leiche.

Dieses Kleid! Für einen Moment spielt Wessel mit dem Gedanken, dass Albert de Wits Tod die Folge einer queerfeindlichen Gewalttat sein könnte. Andererseits wirkt der Filmkritiker kein bisschen trans.

»Vielleicht hat er diesen Fummel nicht freiwillig angezogen? Dann ist die Frage, was uns der Mörder damit sagen wollte«, überlegt er laut und spürt im gleichen Moment dieses ungute Kribbeln im Nacken. Es ist dieser fast animalische Instinkt, der die kleinsten Hinweise und Indizien schneller und sinnvoller kombinieren kann als jedes Gehirn und der einen mittelmäßigen von einem guten Ermittler unterscheidet. Jetzt sagt ihm genau dieser Instinkt, dass es möglicherweise nicht bei diesem einen Mord bleiben wird.

»Wenn du fertig bist, würden wir ihn gerne ausziehen«, sagt ein Kollege von der Spurensicherung.

Die Stimme kommt Wessel bekannt vor, ihm fällt aber der Name nicht ein. Schutzanzüge und Masken machen es nicht einfacher. Wessel nickt und schaut zu, wie die Männer den Toten vorsichtig auf den Boden legen und das Kleid aufschneiden – eine Routinemaßnahme, bevor der Körper in der Gerichtsmedizin obduziert wird.

Außer der Einschussstelle auf der Stirn hat Albert de Wit keine sichtbaren Verletzungen. Auf den ersten Blick ein durchschnittlicher, nicht dicker, aber auch nicht sonderlich trainierter Mittfünfziger, an dessen Körper Zeit und Schwerkraft die ersten Spuren hinterlassen haben. Die Hände sind faltig, die Brust hängt ein wenig, auf dem Bauch sieht Wessel kleine Geweberisse, am linken Bein tritt eine Vene hervor.

»Die Totenstarre hat vor nicht allzu langer Zeit eingesetzt, ich denke nicht, dass er länger als drei, vier Stunden tot ist«, hört Wessel.

Er schaut auf die Uhr. 20.35 Uhr. Ob Sanne schon beim Nachtisch ist? Und ob er sie anrufen soll? Er entscheidet sich dagegen, er könnte doch nichts sagen, außer dass es wohl leider länger dauert. Wenn er hier fertig ist, muss er ja selbst noch aufs Revier.

»Wessel«, spricht ihn jemand von der Seite an und lenkt seine Konzentration zurück auf den Fall. »An der Wohnungstür sind keine Einbruchspuren.«

Das bedeutet, dass der Täter oder die Täterin einen Schlüssel hatte oder in die Wohnung gelassen wurde. Also falls es nicht doch Onno (aber das wäre fast ein bisschen zu einfach) oder einer der Hausboot-Detektive (das wäre zu schön) war. Alternativ bleibt noch das Fenster. Könnte jemand die Außenmauer hochgeklettert sein?

»Schuschschusch«, sagt Wessel zur Möwe und wedelt mit der Hand. Der Vogel pickt nach seinem Finger, Wessel springt zurück. Dann erst dreht sich die Möwe halb um die eigene Achse, stößt sich vom Fenstersims ab und fliegt mit einem gespenstischen Lachen davon.

4

Es ist bereits das dritte Mal in ihrem Leben, dass Maddie unfreiwillig in einem Polizeirevier sitzt, aber eine Premiere, dass sie nicht als Tatverdächtige, sondern als Zeugin vernommen wird.

»Es würde mich nicht wundern, wenn sich das schnell ändert. Wir kennen schließlich unsere Pappenheimer«, sagt Pieter mit einem dümmlichen Grinsen.

Klar, denkt Maddie, das würde Wessel und seine Fans natürlich freuen, wenn sie den Mord in Onnos Wohnung einem von ihnen oder am besten gleich allen auf einmal in die Schuhe schieben könnten. Dann hätten sie ihren neuen Fall in Rekordzeit gelöst. Außerdem wäre die Hausboot-Detektei Geschichte und Wessel hätte endlich allen bewiesen, dass Sanne gut daran getan hat, Arie zu verlassen und ihn zu heiraten. Maddie kräuselt unwillkürlich die Lippen. Arie war schon geschieden, als er ihr nach ihrer Gerichtsverhandlung (immerhin: dieses zweifelhafte Vergnügen hatte sie erst einmal) einen Job in seiner frisch gegründeten Detektei angeboten hat. Sie kennt Sanne also nicht, aber sie kennt Arie und Wessel und ist deshalb davon überzeugt, dass bei der Frau etwas gewaltig schiefgelaufen sein muss.

Von Sanne hüpfen ihre Gedanken unverhofft wieder zurück zu der Leiche, die eben noch in Onnos Wohnung war, jetzt aber wahrscheinlich schon auf dem Weg in die Rechtsmedizin ist. Auf den ersten Blick passt bei dieser Geschichte nichts zusammen: Die Tat nicht mit der verschlossenen Wohnung, das Opfer nicht zu seinem Outfit, und ein gestohlenes, selbst gemaltes Bild nicht zu einem Mord. Die einzige augenfällige Verbindung, die es gibt, ist die zwischen dem gelben Kleid auf dem gestohlenen Bild und dem gelben Kleid des erschossenen Mannes, aber das macht das Ganze ja nun nicht weniger rätselhaft. Dieser Fall ist von Anfang an so knifflig, dass Maddie nicht ganz sicher ist, ob sie froh oder ein bisschen neidisch ist, dass nicht die Hausboot-Detektei, sondern die Polizei ihn lösen wird.

»Hallo?«, reißt Pieter sie aus ihren Gedanken und stellt dann drei Fragen auf einmal. »Also noch mal: Wann hat Onno dich angerufen und wo warst du zu diesem Zeitpunkt und was hat er gesagt?«

»Das habe ich eben doch schon erzählt«, sagt Maddie und setzt in Gedanken ein Idiot hinter den Satz.

Pieter lehnt sich am Schreibtisch zurück. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält er einen Kugelschreiber, als würde er mit einem Giftpfeil auf sie zielen.