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Ein Mensch stirbt – und findet sich in einer Realität wieder, die jenseits von Zeit und Raum existiert. Dort beginnt eine Reise, die kein Ziel kennt, nur den Weg. Eine Reise, in der es um alles geht: um Schuld, Verantwortung, Erinnerung und Wahrheit. Doch niemand klagt an, niemand richtet. Was bleibt, ist das, was man selbst in sich trägt. Die Konfrontation mit dem eigenen Leben wird zur einzigen Prüfung, die zählt. Der Leser begleitet diese Reise durch Räume des Bewusstseins, durch Stille, Licht und Dunkelheit. Es ist ein stilles Buch, getragen von der Kraft der Gedanken, eine Einladung zur Reflexion über das eigene Sein. Wer bin ich gewesen? Wer bin ich? Was bleibt?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Es gibt Fragen, die sich irgendwann aufdrängen, unabhängig davon, ob man bereit ist, sie zu stellen. Was bleibt von mir? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein, in einer Welt, die sich nicht erklärt? Gibt es einen Sinn – oder ist das nur ein Wort, das wir benutzen, um Ordnung in das zu bringen, was uns fremd bleibt?
Die heiligen Hallen ist mein Versuch, diesen Fragen einen Raum zu geben. Ich wollte kein Buch schreiben, das einfache Antworten liefert oder vorgibt, mehr zu wissen, als wir Menschen je wissen können. Im Gegenteil. Mich hat die Vorstellung interessiert, was geschieht, wenn ein Mensch mit sich selbst konfrontiert wird. Nicht als Urteil von außen, nicht als Bestrafung, sondern als Dialog – als das letzte, unausweichliche Gespräch, das jeder irgendwann führen muss.
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Es dient ausschließlich der literarischen und philosophischen Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen. Die im Buch dargestellten Gedanken, Konzepte und Beschreibungen sind nicht als Anleitung zu spirituellem, religiösem oder praktischem Handeln zu verstehen. Der Autor übernimmt keine Haftung für Handlungen oder Entscheidungen, die auf der Interpretation oder Anwendung der im Buch dargestellten Inhalte beruhen.Menschen, die sich in einer psychischen oder existenziellen Krise befinden, wird empfohlen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Michael Reekers
Die heiligen Hallen
© 2025 Michael Reekers
Umschlag, Illustration: Michael Reekers
Lektorat, Korrektorat: Mciahel Reekers / ChatGPT 4o
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 4044, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback978-3-384-56298-2
Hardcover978-3-384-56299-9
eBook978-3-384-56300-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 4044, 22359 Hamburg, Deutschland.
S
chatz, hast du meinen Kalender gesehen?" Dennis' Stimme klang angespannter, als er selbst wahrhaben wollte. Er hastete wie ein aufgescheuchtes Huhn, in Hemd und Unterhose, barfuß, durch das Wohnzimmer. Der kalte Dielenboden warf die Kälte in seine Beine, aber das störte ihn nicht. Er fuhr sich fahrig mit der Hand durch die kurzen Haare, ließ seine Finger im Nacken liegen, als könnte er dadurch seinen aufkommenden Frust im Zaum halten. Es war nicht die Uhrzeit, die ihn drängte – eigentlich hatte er noch ausreichend Puffer, um pünktlich im Büro zu erscheinen. Es war das Gefühl, das ihn innerlich aufscheuchte. Das Wissen, dass er die Kontrolle verlor.
Im Bad stand Kassandra vor dem Spiegel. Ihre Finger glitten langsam und präzise durch ihr langes Haar, während sie es zu einem glatten Zopf band. Die Sonne fiel durch das halb geöffnete Fenster, zeichnete warme Lichtbahnen in das klare Spiegelglas. Sie wirkte gelassen, fast schwerelos in ihrer Bewegung. Sie hörte Dennis' Frage, doch sie antwortete zunächst nicht. Ihr Blick ruhte auf sich selbst, als prüfe sie ihr Spiegelbild auf Standfestigkeit.
„Dennis...", sagte sie schließlich ruhig, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme war weich, mit einem Ton, den er kannte, der ihn in anderen Momenten beruhigt hätte. Jetzt fühlte er sich fast provoziert.
„Wo hast du ihn denn zuletzt gesehen?"
Der Satz war so einfach, so klar – und für Dennis so überflüssig wie eine Mahnung zum Atmen.
„Wenn ich das wüsste, müsste ich nicht durch die Wohnung stürmen!“ Seine Stimme war lauter als nötig, ein Anflug von Ungeduld mischte sich hinein. Er hielt inne, schloss für einen Moment die Augen. Atmete langsam ein, zählte innerlich bis drei, bevor er die Augen wieder öffnete.
„Ich hab ihn gestern noch gehabt. Ich habe doch alle Termine für die kommende Woche eingetragen...", murmelte er, mehr zu sich selbst als zu ihr, während er erneut die Couchkissen aufwühlte. Er suchte mit hektischen Bewegungen, doch eigentlich wusste er, dass das Kissenchaos kein Ergebnis bringen würde. Er wollte die Kontrolle über das Chaos, das er selbst erzeugte.
Kassandra trat aus dem Bad, noch immer in ihrer sorgfältigen Ruhe. Ihre nackten Füße setzten sich leise auf den Boden, als gehörten sie nicht zu einem Körper, sondern zu einer Erscheinung, die nur auf Abruf in diese Welt getreten war. Sie blieb an der Tür zum Wohnzimmer stehen, die Hände locker an ihre Hüften gelegt, beobachtete ihn.
„Du bist dir im Klaren darüber, dass es nur ein Kalender ist?“
Der Ton war sanft, fast zärtlich. Doch Dennis hörte den Unterton, den liebevollen Spott.
„Du hast ihn doch auch digital."
Dennis blieb stehen. Er drehte sich zu ihr um, als habe sie gerade das Entscheidende gesagt – oder als habe sie nichts verstanden.
„Es ist mein Kalender“, erwiderte er leise, fast trotzig.
„Papier. Seiten. Handschrift. Gedanken zwischen den Terminen.“
Er hielt inne, fuhr sich wieder durch die Haare, als müsse er sich selbst beruhigen.
„Da steht nicht nur, was ich zu tun habe. Da steht... da bin ich.“
Er sah in ihre Augen, und für einen Moment war er überrascht von dem milden Ausdruck darin. Kein Spott. Kein Widerstand. Nur stilles Verständnis, das sich nicht aufdrängte.
„Ich weiß“, sagte sie nur. „Du brauchst das. So, wie du es brauchst.“
Sie trat näher an ihn heran, legte ihre Hände an seine Wangen, die noch warm vom Aufruhr waren.
„Aber du bist nicht verloren, nur weil Dir ein Büchlein fehlt.“
Dennis ließ zu, dass sie ihn ansah, ihn hielt. Aber es nagte an ihm.
„Wenn es weg ist, was sagt das dann über mich? Ich kann nicht mal mein zeug zusammenhalten.“
Kassandra lächelte. Es war dieses Lächeln, das weder Mitleid noch Geduld war, sondern eine Einladung, wieder zurück in die Ruhe zu finden.
„Das sagt, dass du ein Mensch bist, Dennis.“
Für einen Moment schwieg er. Dann seufzte er, tief, fast ergeben.
„Ich habe die Termine ja auch im PC“, sagte er schließlich, als müsse er sich selbst davon überzeugen.
Er zwang sich zu einem kleinen Lächeln.
„Du bist manchmal zu klug für mich.“
„Deshalb liebst du mich“, entgegnete sie.
Er griff nach seinem Jackett, zog es sich über. Dabei spürte er, dass seine Hände wieder ruhiger wurden.
„Wir sehen uns nach der Messe“, sagte er, und diesmal war seine Stimme wieder geerdet.
„Ich hole dich ab, dann starten wir das freie Wochenende.“
„Das ist eine gute Idee“, erwiderte sie. „Eine von den vielen, die du hast, mein Superman.“
Er lachte leise, küsste sie, und diesmal ließ er die Zeit sich selbst regeln. Kein hektischer Aufbruch, sondern ein stiller Übergang.
Er hielt sie einen Moment länger, bevor er sie schließlich losließ, seine Tasche griff und zur Tür ging.
Die Tür fiel mit einem satten Geräusch hinter ihm ins Schloss.
Er machte sich auf den Weg zur Tiefgarage, aber sein Schritt klang durch die Eile härter als sonst auf den Fliesen. Vor dem Aufzug blieb er kurz stehen, starrte auf das glänzende Metall der Türen, in dem sich sein eigenes Spiegelbild verzerrte. Seine Finger schwebten über dem Knopf. Dann ließ er die Hand sinken.
Die Treppe.
Du wirst schnell genug alt, dachte er.
Die Stufen waren glatt, weiß, elegant. Seine Lederschuhe quietschten leise auf dem Belag. Er nahm sie zwei auf einmal, spürte den leichten Druck in den Knien. Es war das leise Aufbegehren des Unvermeidlichen, eine kleine, unscheinbare Rebellion seines Körpers gegen die Hast.
Im Treppenhaus roch es schwach nach Reinigungsmittel und Metall. Das Echo seiner Schritte vermischte sich mit einem entfernten Summen, vielleicht von der Lüftungsanlage, vielleicht nur von seinem eigenen Blut, das durch die Adern rauschte.
An der Tür zum Keller hielt er kurz inne.
Die schwere Feuerschutztür leistete wie immer etwas Widerstand, als er sie aufstieß. Einen Moment lang blieb er stehen, die Hand noch auf der kalten Metallklinke. Es war dieser absurde Gedanke, der ihn jedes Mal hier überkam: Was genau sollte hier eigentlich brennen? Betonwände, Betonboden, Fliesen, Putz, nackte Rohre. Soweit Dennis wusste, brannte Beton nur sehr spärlich. Doch wer war er schon, einen Architekten verstehen zu wollen?
Er lächelte flüchtig, ohne wirklich zu wissen warum, trat dann durch die Tür und ließ sie krachend ins Schloss fallen.
Der Keller war still. Nicht die angenehme, beruhigende Stille, sondern die Art von Stille, bei der man unweigerlich sein eigenes Atmen hörte. Die Luft war kühl und unbewegt, roch nach Beton – neutral, leer. Dennis kannte diesen Weg, er ging ihn jeden Tag, und trotzdem kam er ihm immer ein wenig unheimlich vor. Vielleicht, weil es einfach so war.
Er blieb einen Moment stehen, spähte in den Gang, lauschte. Da war nichts. Nur sein eigener Herzschlag, den er als dumpfes Pochen in den Ohren spürte. Es erinnerte ihn daran, dass er es eigentlich eilig hatte. Er schüttelte leicht den Kopf und ging weiter.
Die Neonröhren summten leise. Ein Rohr irgendwo in der Wand knackte, kaum hörbar – und trotzdem fuhr er kurz zusammen, ohne es zu wollen.
Seine Schritte hallten von den Wänden zurück. Nicht laut, aber so, dass es auffiel. Er versuchte, in einen gleichmäßigen Rhythmus zu kommen, merkte aber, dass sein Tempo unruhig blieb. Vielleicht lag es an der Eile. Vielleicht auch einfach an diesem Gang, der nie einladend wirkte.
Er drückte die Tür zur Tiefgarage auf und trat ein. Die Luft war anders hier, ein wenig wärmer, schwerer. Es roch nach Öl, nach kaltem Metall, nach Autos, die die Nacht über hier gestanden hatten. Das Licht war schwach, das Flackern der Neonröhren ließ die Schatten an den Wänden zittern, als würde alles hier leise atmen. Aber nichts bewegte sich.
Er griff in seine Jackentasche und suchte den Schlüsselbund. Die Finger fanden das Gewirr aus Ringen und Schlüsseln, schlossen sich darum, prüften das Gewicht, als müsste er sicher sein, dass alles noch da war. Dann drückte er die Taste der Fernbedienung. Zwei kurze Signaltöne hallten durch die Halle, und das vertraute Aufblinken der Scheinwerfer ließ ihn einen Moment zur Ruhe kommen.
Das Aufblinken der Scheinwerfer ließ ihn einen Moment zur Ruhe kommen.
Der Wagen – kompakt, zuverlässig, Grün-Metallic – wirkte im trüben Licht dunkler als sonst. Als er näher kam, strich er mit der Hand über die Motorhaube, mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit. Der Lack fühlte sich kühl und glatt an, genau so, wie er es erwartete. Diese Bewegung war ein Ritual, nichts Besonderes, aber vertraut.
Er öffnete die Tür, stieg ein und ließ sich in den Sitz sinken. Alles war an seinem Platz, wie immer. Die Hände griffen nach dem Lenkrad, und für einen kurzen Moment hielt er sie dort, ohne etwas zu tun. Hier drinnen war es anders. Ruhiger.
Das Radio sprang an, noch bevor der Motor lief.
Ein leises Klicken, dann ein sanftes Rauschen, und schließlich setzte die Musik ein.
Ella Fitzgerald sang Somewhere Over the Rainbow.
Langsam, fast beiläufig, mit einer Klarheit, die nichts erklären musste. Die Töne hatten Zeit, jede Silbe stand für sich. Er kannte diese Version, aber in diesem Moment klang sie, als hörte er sie zum ersten Mal.
Er schloss kurz die Augen und atmete tief ein.
Er lehnte sich zurück, ließ die Hände am Lenkrad ruhen, ohne Druck.
Die Musik füllte den Innenraum, dämpfte das Flackern der Neonröhren draußen, ließ die Schatten an den Wänden der Tiefgarage verblassen.
Für einen Moment war alles weich.
Nach ein paar Sekunden griff er zum Schlüssel, schob ihn in die Zündung und drehte ihn herum.
Der Motor sprang sofort an, ohne Zögern, das vertraute Geräusch.
Er legte den Gang ein, prüfte die Spiegel, fuhr langsam an.
Der Tag konnte weitergehen.
Dennis setzte den Wagen zurück und fuhr, so zügig es seinem sportlichen Modell entsprach, durch das Parkdeck der Garage. Als er ans Tor kam, lehnte er sich aus dem Fenster und gab den dreistelligen Code ein. Der Motor des Rolltors krächzte, das Tor rollte langsam nach oben. Die Sonne fiel durch die Ausfahrt und blendete ihn für einen Moment. Er griff in die Tasche, zog seine Sonnenbrille heraus und setzte sie auf.
Dann trat er aufs Gaspedal und lenkte den Wagen auf die Straße, hinein in den fließenden Verkehr.
Er war ein ruhiger Fahrer und fühlte sich in seiner Rolle sicher. Unfälle oder ähnliches waren für ihn nie ein Thema gewesen. Er dachte auch jetzt nicht daran.
Sein Kopf war schon bei den Terminen des Tages, die langsam Form annahmen. Gedanklich sortierte er, stellte Reihenfolgen auf, verschob Prioritäten.
Kassandra blickte über ihre Kaffeetasse hinweg zum Tisch. Einen Moment lang schien sie unsicher, ob sie sich das einbildete – doch da lag er. Der Kalender.
„Meine Zeit“, stand in großen Buchstaben auf dem Einband. Dennis’ Handschrift, eindeutig.
Sie zog die Zeitung beiseite, unter der er halb verborgen gelegen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert.
„So geht in ihm Frieden.“
Die letzten Worte des Gottesdienstes veranlassten Dennis, sich zu erheben, sich noch einmal in Richtung Altar zu verbeugen und die Kirche zu verlassen.
Die Predigt hatte ihn nicht besonders interessiert. Es war um den Propheten Daniel gegangen:
„Und zu jener Zeit wird der große Engelsfürst sich aufmachen, denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen.“
Dennis kannte die Verse, doch er hatte keine Lust, sich Gedanken über ihren Sinn zu machen. Dennis wusste diese Passage stammte aus dem Buch Daniel.
Was ihn an der Messe hielt, war nicht die Predigt, sondern die Atmosphäre, die sich jedes Mal ganz allmählich in ihm ausbreitete, sobald er Platz genommen hatte. Es war das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, das ihm gefiel – auch wenn er die meisten der Anwesenden nur vom Sehen kannte –, und die stille Nähe zu etwas Größerem, das ihn in diesem großen, alten Gotteshaus auf eine unaufdringliche Weise berührte. Die dicken Steinwände strahlten eine Ruhe aus, die ihn jedes Mal umfing, sobald er die Schwelle überschritt, und die Höhe des Kirchenschiffs zwang seinen Blick immer wieder nach oben, dorthin, wo das Licht durch die hohen Fenster fiel und die Malereien an Decke und Wänden in gedämpften Farben leuchten ließ. Manchmal fragte er sich, wer diese Kirche wohl erbaut hatte, mit welcher Geduld, welchem Glauben und welchem Ziel – und obwohl er keine Antwort darauf fand, war die Hingabe, die in jedem Detail steckte, unübersehbar. Vielleicht war es genau das, was diesen Ort so beständig machte.
Jetzt aber war die Messe zu Ende, und es wurde Zeit, aufzubrechen. Für ihn war dieser Moment immer eine Art Übergang gewesen – der Schlusspunkt unter die Anforderungen der Woche und der Beginn einer Zeit, die leichter war, in der es nichts zu erledigen gab, sondern nur Dinge, die man tun wollte. Es war später Nachmittag, und während er die Kirche verließ, spürte er schon, wie seine Gedanken sich sortierten. Auf dem Weg zum Parkplatz legte er sich im Kopf den Ablauf zurecht: Kassandra abholen, gemeinsam irgendwo essen gehen, vielleicht noch ein Spaziergang, danach heimfahren. Nichts Besonderes, aber angenehm. Das Wochenende würde so weitergehen, mit kleinen Verabredungen, vielleicht einem Ausflug, ein paar offenen Stunden, in denen er endlich das Buch zu Ende lesen konnte, das seit Tagen aufgeschlagen auf dem Couchtisch lag.
Er fühlte sich wohl in seinem Leben. In gewisser Weise hatte er das erreicht, was er sich immer vorgestellt hatte: eine Wohnung, in der er gern lebte, eine Partnerin, die klug, schön und selbstständig war, ein Job, der ihm finanzielle Sicherheit gab und genug Freizeit ließ, damit er nicht das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen. Sein Wagen stand da, wo er ihn morgens abgestellt hatte, ein Auto, das er sich nicht gekauft hatte, weil er es brauchte, sondern weil er es wollte. In der Gemeinde war er kein Außenseiter; man kannte ihn, und das genügte ihm. Es gab nichts, worum er sich wirklich sorgen musste.
Und während er den Schlüssel aus der Jackentasche holte, dachte er – ohne es sich groß bewusst zu machen –, dass es gern noch eine Weile so weitergehen konnte.
Auf der Straße erwartete ihn die strahlende Sonne des Freitagnachmittags, und er fühlte sich vollkommen gut. Die Anlage vor der Kirche war sorgfältig gepflegt. Blumenbeete säumten die Wege, die zum Parkplatz führten. Dennis ging mit schnellen Schritten die massiven, behauenen Stufen der alten Steintreppe hinunter, bog schwungvoll um die letzte Hecke – und stieß Kopf an Kopf mit einem jungen Mann zusammen, der plötzlich dahinter hervorkam.
„Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen", sagte Dennis sofort, gefasst und höflich, obwohl ihn die Situation unangenehm berührte. Solche Missgeschicke passten nicht zu dem Bild, das er von sich hatte.
Der junge Mann lächelte. „Ja, das ist mit vielem so“, antwortete er, und setzte seinen Weg fort.
Dennis blieb einen Moment stehen. Der Satz beschäftigte ihn, während er weiterging.
Das ist mit vielem so.
Dummes Zeug, dachte er. Er war in seinen Augen jemand, der aufmerksam war, umsichtig im Umgang mit anderen und mit sich selbst. Da konnte ihm keiner großartig etwas Neues erzählen.
Was Dennis jedoch nicht wusste, war, dass er seit seiner Geburt ein Aneurysma, eine kleine, beulenartige Aussackung, in einem seiner Blutgefäße, in seinem Gehirn, mit sich herumtrug, das bis heute weder aufgefallen war noch Probleme gemacht hätte. Nur in diesem Moment, jetzt, ohne einen erkennbaren, auslösenden Grund, ohne Warnung, gab die Wand der Aussackung nach. Es bildete sich ein kleiner Riss in der Wand des Blutgefäßes und durch den lief das Blut in das umgebende Nervengewebe. Damit wurde ein Teil seines Gehirns nicht mehr durchblutet. Was nicht so schlimm gewesen wäre, hätte es nur diesen stechenden Kopfschmerz verursacht, den Dennis jetzt spürte. Doch das Blut, das ihm nun ins Gewebe lief, bildete dort eine Kammer, wo keine sein sollte. Diese Kammer drückte auf ein anderes Gefäß, und das wiederum versorgte einen wichtigen Teil seines Stammhirns. Dieser Teil legte großen Wert auf seine Versorgung.
Denn er spürte einen Schmerz, als er in den Wagen einstieg. Einen stechenden Kopfschmerz, wie eine heiße Nadel, die sich aus einer grotesken inneren Lage in eine andere verschob und dabei durch tausend Schmerzbahnen musste, dann liegen blieb und sich beinahe noch entschuldigte, denn der Schmerz war plötzlich wieder verklungen. Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um aufmerksam nach der Ursache des Schmerzes zu suchen. Doch da war nichts.
Er öffnete die Autotür, setzte sich hinein und schloss sie mit einer fließenden Bewegung. Der Innenraum war angenehm kühl. Er startete den Motor, griff in das CD-Fach, schob eine Disc ins Autoradio und ließ die Seitenscheibe herunterfahren. Nina Simone setzte ein – Feelin’ Good –, ihre Stimme füllte den Wagen, während er den ersten Gang einlegte und vom Parkplatz auf die Straße bog.
Er fuhr zügig, nahm die Strecke zur Landstraße, die ihn nach Hause bringen sollte, fast mechanisch. Seine Gedanken gingen noch einmal die Termine durch, die vor ihm lagen.
Dabei spürte er einen leichten Druck hinter der Stirn, nicht unangenehm, aber auffällig genug, dass er kurz blinzelte. Er schrieb es der Sonne zu, die tief stand, oder vielleicht der Müdigkeit nach der Woche.
Dann, ohne Vorwarnung, wurde sein Kopf leicht.
Für einen Moment fühlte es sich an, als würde der Druck sich auflösen, nachlassen – aber an die falsche Stelle.
Er spürte, wie er nach vorne sank.
Das Lenkrad kam ihm plötzlich viel zu nahe.
Der Wagen schlingerte, prallte gegen eine Hauswand.
In den Boxen sang Nina Simone weiter, als sei nichts geschehen.
Dennis betrachtete das Ganze aus einer Perspektive, die ihm sofort falsch vorkam. Er versuchte, die Arme zu heben, das Lenkrad zu greifen – aber da waren keine Arme. Er wollte den Kopf heben, doch er hatte keinen Kopf. Seine Füße sollten bremsen, doch es gab keine Füße mehr, die auf die Pedale hätten treten können.
Er sah alles, als wäre er Zuschauer. Als wäre er nicht mehr in seinem Körper, sondern nur noch ein Blick.
Aber es war ihm vollkommen klar: Das hier passierte ihm.
Und es gab nichts, was er tun konnte.
Er hörte das Krachen, das Splittern auf dem Beton, sah die Ziegel auf die Scheibe fallen. Es staubte. Er wollte sogar den Staub schmecken, doch da war nichts. Stattdessen war ihm nur bewusst, dass es staubte.
Der Wagen stoppte mit einem Heulen. Dann erstarb der Motor, und ein letzter Ruck ging durch die Karosserie.
Dennis' Kopf lag auf dem Lenkrad.
Beweg dich. Steh auf. Es tut dir nichts weh, sagte er zu sich selbst.
Wow, ich hätte tot sein können.
Komisch. Warum kann ich mich nicht bewegen?
Eine junge Mutter kam als Erste an das Auto. Sie hatte den Kinderwagen abgestellt und schaute durch die Seitenscheibe hinein.
„Es geht mir gut“, sagte Dennis. Seine Stimme klang für ihn normal, als hätte er sie gerade gesprochen.
Die Frau tastete an seinem Hals nach dem Puls. Ihr Gesicht blieb ruhig, fast konzentriert.
Sie öffnete die Tür, beugte sich über ihn.
„Schon gut, ich steige aus“, sagte er. Er wunderte sich, warum sie ihn nicht verstand.
Doch sie löste den Gurt, legte einen Arm um ihn und zog ihn vorsichtig aus dem Sitz. Ein weiterer Passant kam dazu, fasste mit an. Gemeinsam legten sie ihn auf den Bürgersteig.
„Machen Sie sich keine Mühe“, sagte Dennis. Es kam ihm unnötig vor. Aber niemand reagierte.
Der Passant kniete sich neben ihn, hielt sein Ohr dicht an Dennis’ Mund, als wolle er etwas hören, das Dennis nicht sagte. Dann sah er zu der jungen Mutter hoch und schüttelte den Kopf.
„Er atmet nicht.“
Natürlich atme ich. Oder?
Dennis versuchte, es zu spüren, wartete auf das gewohnte Heben und Senken seines Brustkorbs.
Aber da war nichts.
Und ich habe keine Schmerzen, dachte er.
Als würde das irgendetwas beweisen.
Die Mutter kramte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Notrufs. Neben ihr beugte sich der Passant wieder über ihn, blies ihm Luft in den Hals und begann, sich rhythmisch auf seinen Brustkorb zu stemmen.
Was soll denn das?, fragte sich Dennis.
Es ist alles so suspekt.
Was machten Sie da? Er war doch in Ordnung.
Er konnte alles fühlen, was passierte – den Druck auf seinen Brustkorb, die Hände an seinem Hals. Und er hatte ihnen doch gesagt, dass es ihm gut ging.
Immer mehr Leute versammelten sich um den Wagen und um ihn. Einige knieten sich neben ihn, lösten einander ab bei der Herzdruckmassage, gaben ihm Atemspenden.
Einer hatte seine Jacke ausgezogen und sie unter seinen Kopf gelegt. Eine junge Frau hielt seinen Kopf in ihren Händen, vorsichtig, als wäre er zerbrechlich.
Dennis hörte einen der Männer leise sagen:
„Na los, Junge, komm schon zurück.“
Zurück?
Ich bin doch da.