Die heroische Leidenschaft - Giordano Bruno - E-Book

Die heroische Leidenschaft E-Book

Bruno Giordano

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Beschreibung

Es gibt im Menschen eine angeborene Sehnsucht nach Gott, nach Transzendenz. C.G. Jung nannte dies den "Archetyp Gottes". Diese Sehnsucht nach dem Göttlichen steht in enger Beziehung zur menschlichen Liebesfähigkeit und Sexualität. Wer sich nicht der Mystik oder Religiosität verdächtig machen will, nennt dies die Suche nach Sinn. Anknüpfend an die antiken Mysterien von Einweihung und Erleuchtung beschreibt Giordano Bruno in diesem Buch die bewusste spirituelle und kontemplative Suche nach dem Göttlichen, die er als "heroische Leidenschaft" bezeichnete. Das Ziel dieser Suche ist die Erfahrung der lebendigen Gottheit und die Erweckung des geistigen Potenzials, das in jedem Menschen schlummert, so dass er Wahrheit und Sinn seiner Existenz verstehen und nicht induktiv forschend, sondern in intuitiver Schau alles Sein begreifen kann. Mehr über die Bücher von Giordano Bruno unter: https://erikarojas.de/GiordanoBruno/GB.html

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Die heroische Leidenschaft

Die heroische LeidenschaftEinleitung von Erika RojasVorwort des NolanersErster Teil - Erster DialogErster Teil - Zweiter DialogErster Teil - Dritter DialogErster Teil - Vierter DialogErster Teil - Fünfter DialogZweiter Teil - Erster DialogZweiter Teil - Zweiter DialogZweiter Teil - Dritter DialogZweiter Teil - Vierter DialogZweiter Teil - Fünfter DialogImpressum

Die heroische Leidenschaft

Giordano Bruno

Der Nolaner

Die heroische Leidenschaft

(De gli eroici furori)­

Dem hochedlen Ritter Sir Philip Sidney

Übersetzt von Erika Rojas

Einleitung von Erika Rojas

Giordano Brunos Werke und Denken sind für Menschen unserer Zeit schwer verständlich. Er vermischt Dinge, die für das moderne Verständnis nicht vermischt werden dürfen, wie Intuition und Logik, Emotionen und Intellekt, Spiritualität und Wissenschaft. In der abendländischen Tradition wird der Mensch seit hunderten von Jahren schon in der Kindheit dazu erzogen, diese Fähigkeiten zu trennen. Es heißt: Jetzt wird gelernt, nicht gespielt! Träum nicht, pass auf! Erkenntnisse müssen objektiv sein, Subjektives ist wertlos! Emotional ist gleichbedeutend mit primitiv und ungebildet, intellektuell mit gebildet und kultiviert. Die menschlichen Fähigkeiten werden fein säuberlich in Schubladen eingeteilt, die nichts miteinander zu tun haben dürfen. Giordano Bruno schreibt:

Veggiamo bene che mai la pedantaria è stata più in exaltazione per governare il mondo, che a’tempi nostri.

(Es ist gut zu erkennen, dass die Pedanterie noch nie mit solchem Enthusiasmus die Weltherrschaft anstrebte wie in unseren Tagen.)

So macht Giordano Brunos Denken den Eindruck, er habe den Inhalt all dieser Schubladen auf einen Haufen geworfen und dann gründlich durcheinandergewirbelt, denn für ihn kann nur der Mensch als Ganzes mit allen seinen Fähigkeiten und Eigenschaften die Wahrheit begreifen.

Was bedeutet heroische Leidenschaft?

Es gibt im Menschen eine angeborene Sehnsucht nach Gott, nach Transzendenz. C.G. Jung nannte dies den „Archetyp Gottes“. Diese Sehnsucht nach dem Göttlichen steht in enger Beziehung zur menschlichen Liebesfähigkeit und Sexualität. Wer sich nicht der Mystik oder Religiosität verdächtig machen will, nennt dies die Suche nach Sinn.

Das bewusste spirituelle Empfinden und kontemplative Begreifen dieser Sehnsucht nach Gott nannte Giordano Bruno heroische Leidenschaft. Sie weist den Weg zum lebendigen Gott und zum göttlichen Potenzial, das in jedem Menschen schlummert und das zur Verwandlung des Menschen in ein göttliches Wesen führt, so dass er Wahrheit und Sinn seiner Existenz verstehen und nicht induktiv forschend, sondern in intuitiver Schau alles Sein begreifen kann.

Nel qual stato ritrovandosi, viene a perder l'amore et affezzion d'ogni altra cosa tanto sensibile quanto intelligibile; perché questa congionta a quel lume dovien lume essa ancora, e per consequenza si fa un Dio.

(Wer sich auf dieser Stufe befindet, verliert die Liebe und das Verlangen nach allem anderen, sei es sinnlich oder geistig wahrnehmbar, denn wer sich mit diesem Licht verbindet, wird selbst zu Licht und verwandelt sich somit in einen Gott.)

Im Buch „Die Fackel der dreißig Statuen“ stellt Giordano Bruno die Schöpfung der Welt in vier Stufen dar, was jedoch kein zeitlicher Ablauf, sondern ein ewiger Schöpfungsakt ist: Aus dem Geist, dem universalen Licht, Gott, entsteht das universale Bewusstsein, in dem Gott sich selbst betrachtet, und aus dieser Selbstbetrachtung Gottes kommt die Liebe hervor, die als Spiritualität des Universums in die Welt strömt. Sie wird Seele der Welt genannt und bringt durch die Verbindung mit der Materie, die dem Chaos, dem Orkus und der Dunkelheit entstammt, die sichtbare materielle Welt hervor.

Dum mens se ipsam contemplatur, circulum quendam producit et primum generat intellectum.

(Während der Geist sich selbst betrachtet, bringt er einen Kreis hervor und zeugt das erste Bewusstsein.)

Qua conceptione perfecta in imagine essentiae suae sibi complacens fulgorem emittit, quem amorem appellant.

(Durch diese vollkommene Empfängnis sendet er einen Strahl aus, während er sich am Bild seines Wesens erfreut, den sie Liebe nennen.)

Primus intellectus concipit sui ideam et in simplici illa specie ideas universorum, quarum specie delectatus quasi calore quodam percitus spiritum producit, qui ab eo procedit veluti a luce fulgor; hic sane fulgor implet universa, in omnia se totus diffundit, et sicut intellectus intelligit omnia in omnibus, ita este affectat omnia in omnibus, operatur omnia in omnibus; unde anima mundi dicitur et spiritus universorum.

(Das erste Bewusstsein empfängt die Idee seiner selbst und in jenem einfachen Anblick die Ideen der ganzen Welt. Durch deren Anblick erfreut und wie durch eine gewisse Wärme erregt, bringt es die Spiritualität hervor, die aus ihm entsteht wie der Glanz aus dem Licht. Dieser Glanz erfüllt wahrlich alles, in alles strömt er als Ganzes ein, und wie das Bewusstsein alles in allem versteht, so will er alles in allem ergreifen und bewirkt alles in allem. Deshalb heißt er die Seele der Welt oder die Spiritualität des Universums.)

Von der Spiritualität des Universums heißt es:

(Actio illius non pendet a tempore, a casu et a fortuna, sed ab ipsa pendet tempus et certa ratione quicquid nobis casuale videtur et fortuitum.)

(Ihr Wirken hängt nicht von der Zeit ab, vom Zufall oder vom Glück, sondern die Zeit hängt von ihr ab, und auf gewisse Weise alles, was uns als vom Zufall oder vom Glück abhängig zu sein scheint.)

Die Kräfte des Erkennens und Begehrens

Wie aus dem göttlichen Geist das Bewusstsein und die Spiritualität des Universums hervorkommen, so kann der Mensch durch die Verbindung von Bewusstsein (intellectus), und Spiritualität (spiritus) das göttliche Potenzial, die Quelle der Liebe, den Geist (mens), in sich erwecken. Die Voraussetzung dafür ist der harmonische Zusammenklang von Denken und Fühlen, der von Giordano Bruno durch die Augen und das Herz symbolisiert wird. 

O chi disunirà quel che m’annoia e danna, da quel che sì mi piace et apremi le porte del cielo, perché gradite sieno le fervide fiamme del mio core, e fortunati i fonti de gli occhi miei?

(Wer wird trennen, was mich ermüdet und quält, von dem, was mich so erfreut und mir die Pforte des Himmels öffnet, auf dass mir die heißen Flammen meines Herzens willkommen sind und der Born meiner Augen mich beglückt?)

Mit diesen beiden Fähigkeiten, fühlend und denkend, nimmt der Mensch die Welt und sich selbst in der Welt wahr: Sie werden auch als Wollen und Begreifen, Wille und Vorstellung oder Eros und Logos bezeichnet. Wie durch das gleichzeitige Sehen mit dem rechten und dem linken Auge das Bild der Welt Tiefe gewinnt, so gewinnt durch die Verbindung von Gefühltem und Erkanntem die Welt Realität.

Là si manifesta qualmente la volontà è risvegliata, addirizzata, mossa e condotta dalla cognizione; e reciprocamente la cognizione è suscitata, formata e ravvivata dalla volontade, procedendo or l’una da l’altra, or l’altra da l’una. Là si fa dubio se l’intelletto o generalmente la potenza conoscitiva, o pur l’atto della cognizione, sia maggior de la volontà o generalmente della potenza appetitiva, o pur de l’affetto: se non si può amare più che intendere, e tutto quello ch’in certo modo si desidera, in certo modo ancora si conosce, e per il roverso.

(Hier lässt sich erkennen, wie das Wollen vom Begreifen erweckt, aufgerichtet, bewegt und geführt wird, und umgekehrt das Begreifen vom Wollen erregt, gestaltet und neu belebt wird, wobei bald das eine dem anderen, bald das andere dem einen vorangeht. Hier wird erörtert, ob das Bewusstsein oder generell die Erkenntnisfähigkeit oder das reine Erkennen Vorrang habe vor dem Wollen oder generell der Fähigkeit des Begehrens oder den reinen Emotionen, ob man nicht mehr lieben als verstehen kann, und ob man alles, was man in bestimmtem Maße begehrt, auch in bestimmtem Maße begreift und umgekehrt.)

In jeder Kultur wird der Zusammenklang von Denken und Fühlen auf die eine oder andere Weise unterbunden. Sie werden einander entfremdet und wenden sich gegeneinander. Entweder unterdrückt das Erkennen das Begehren mit Hilfe der Moral oder das Fühlen das Denken mit Hilfe von Tabus. Der Zugang zur Realität geht verloren und wird durch kulturelle Wertvorstellungen ersetzt, obwohl selbst innerhalb der Kultur die Realität geheilt und die Verbindung von Denken und Fühlen vorübergehend wiederhergestellt werden kann, zum Beispiel durch Drogen und Sex.

Auch Neues entsteht, wenn sich in der Alchemie der Seele Denken und Fühlen in ihren jeweiligen Formen verbinden, um ein Drittes zu zeugen. Durch die Verbindung von Emotionen und Verstand wird die Kreativität im Menschen erweckt. In ihrer höchsten Form, der Kunst, öffnet sich dem Menschen in der künstlerischen Inspiration ein neuer Blick auf die Realität. Auch das passive Erleben von Kunst als vorübergehender Kurzschluss zwischen Denken und Fühlen kann in der Ekstase einen Blick auf die Realität gewähren.

Im Gespräch zwischen dem Herz und den Augen stellt Giordano Bruno die Verbindung von Bewusstsein und Spiritualität, von Erkennen und Begehren des göttlichen Lichts, dar. Die Gleichwertigkeit in dieser Verbindung ist die Voraussetzung für das Erwecken des göttlichen, geistigen Potenzials, denn wenn eines stärker wäre, könnte es das andere überwältigen und die Wahrnehmungsfähigkeit würde zerstört. Da es im Endlichen keine absolute Gleichheit gibt, müssen das Streben das Streben des Bewusstseins nach dem Wahren und das Sehnen der Spiritualität nach der göttlichen Schönheit und Güte zumindest potenziell ebenso unendlich sein wie die Gottheit. So entsteht zwar kein statisches, aber ein dynamisches Gleichgewicht.

In questo dumque che l’intelletto concepe la luce, il bene, il bello, per quanto s’estende l’orizonte della sua capacità, e l’anima che beve del nettare divino e de la fonte de vita eterna per quanto comporta il vase proprio; si vede che la luce è oltre la circunferenza del suo orizonte dove può andar sempre più e più penetrando; et il nettare e fonte d’acqua viva è infinitamente fecondo, onde possa sempre oltre et oltre inebriarsi. Da qua non séguita imperfezzione nell’oggetto né poca satisfazzione nella potenza; ma che la potenza sia compresa da l’oggetto e beatificamente assorbita da quello. Qua gli occhi imprimeno nel core, cioè nell’intelligenza, suscitano nella volontà un infinito tormento di suave amore, dove non è pena, perché non s’abbia quel che si desidera: ma è felicità, perché sempre vi si trova quel che si cerca; et in tanto non vi è sazietà, per quanto sempre s’abbia appetito, e per consequenza gusto...Atteso che la felicità de dèi è descritta per il bevere non per l’aver bevuto il nettare, per il gustare non per aver gustato l’ambrosia.

(In diesem Fall begreift das Bewusstsein das Licht, das Gute und das Schöne ebenso weit, wie sich der Gesichtskreis seiner Aufnahmefähigkeit ausdehnt, und die Seele trinkt so viel vom göttlichen Nektar und aus der Quelle des ewigen Lebens, wie sie in sich als seinem Gefäß aufnehmen kann. Dadurch zeigt sich, dass das Licht weit über den Umkreis des Horizonts hinausreicht, in den das Bewusstsein immer weiter eindringen kann, und dass der Nektar und die Quelle des lebendigen Wassers unendlich ergiebig sind, weshalb sich die Seele immer von neuem daran berauschen kann. Daraus folgt nicht die Unvollkommenheit des Ziels noch eine geringere Befriedigung für sein Streben, sondern dass sein Streben vom Ziel umfasst und auf beglückende Weise in ihm aufgenommen wird. Dies prägen die Augen dem Herzen, dem Bewusstsein, ein und erregen im Verlangen eine unendliche Qual süßer Liebe. Dort gibt es kein Leid, weil man nicht hätte, wonach man sich sehnt, sondern Glück, weil man immer findet, was man sucht. Dabei gibt es dort keine Sättigung, denn man kann immer Verlangen fühlen und deshalb auch immer Lust...Denn die Seligkeit der Götter wird durch das Trinken des Nektars beschrieben und nicht dadurch, dass sie ihn getrunkenen haben, durch das Kosten von Ambrosia und nicht dadurch, dass sie davon gekostet haben.)

Aktaion als Symbol der Individuation

Or l'esca de la mente bisogna dire che sia quella sola che sempre da lei è bramata, cercata, abbracciata, e volentieri più ch'altra cosa gustata, per cui s'empie, s'appaga, ha prò e dovien megliore: cioè la verità.

(Als einzige Speise des Geistes muss nun jene bezeichnet werden, die er stets begehrt, sucht und ergreift, die ihm besser als alles andere schmeckt, die ihn sättigt und zufriedenstellt, die ihm bekommt und ihn verbessert: Diese Speise ist die Wahrheit.)

Realistisch betrachtet kann niemand, der dies ernst nimmt, ein normales Leben führen, denn die gesellschaftliche Normalität beruht auf Anpassung, das heißt auf Unterwerfung unter Illusionen und Unwahrheiten. Wer es trotzdem versucht, wird entweder seelisch gebrochen oder ausgeschlossen und verfolgt.

Anzi insani son chiamati quelli che non sanno secondo l'ordinario, o che tendano più basso per aver men senso, o che tendano più alto per aver più intelletto.

(In der Tat werden jene verrückt genannt, deren Wissen nicht der Norm entspricht, weil sie entweder herabsinken und weniger verstehen, oder weil sie höher streben und mehr Bewusstsein haben.)

Wer konsequent stets der Wahrheit den Vorrang gibt, kommt früher oder später an einen Punkt, an dem er sich außerhalb der Mauern des angepassten menschlichen Miteinanders befindet, außerhalb des Bereichs, in dem sich das Rad der Normalität dreht, das angetrieben wird vom Streben nach Glück (Akzeptanz, Reichtum, Status) und Angst vor Leid (Ausgrenzung, Armut, Verachtung).

Non tante e tante altre condizioni de cose che noi ordinariamente admiriamo: perché non queste cose delle quali si desidera la copia ne rendeno talmente ricchi, ma il dispreggio di quelle.

(Es sind nicht all die vielen Eigenschaften und Güter, die normalerweise bewundert werden, nicht all das macht so reich, was die Menge begehrt, sondern dessen Verachtung.)

Aus „De Immenso“: Dives est qui multa habet, ditior cui pauca sufficiunt, ditissimus qui haec omnia contemnit.

(Reich ist, wer vieles besitzt, reicher, wer wenig benötigt, am reichsten, wer dies alles verachtet.)

Auch seine eigene soziale Identität muss der Suchende irgendwann in Frage stellen. Denn er muss sich nicht nur mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung, sondern auch mit dem eigenen kritischen Denken auseinandersetzen. Er wird entscheiden müssen, ob er Beschimpfung und Verachtung ertragen kann und will, oder ob er sich nicht doch lieber den Illusionen und den als notwendig bezeichneten Unwahrheiten der Normalität unterwirft. Er wird entscheiden müssen, ob er sich der Kritik seiner Gedanken stellt, die ihm klar machen, dass seine soziale Rolle im Widerspruch steht zu dem, was er als wahr erkannt hat, oder ob er sie lieber zum Schweigen bringt. Dieser innere Konflikt wird in dem aus dem Altertum stammenden Satz ausgedrückt:

Impius animam dissidentem habet: unde nec secum ipse convenire potest neque cum aliis. (Der Ruchlose hat eine zerrissene Seele, weshalb er weder mit sich selbst noch mit anderen übereinstimmen kann.)

In der Gestalt des Jägers Aktaion wird der Verlust des angepassten Ichs auf der Suche nach dem Wahren sinnbildlich dargestellt. Er jagt mit der Meute seiner großen Hunde, seiner Gedanken, nach der Wahrheit. Als er sie in Gestalt der Göttin Diana erblickt, werden seine Gefühle von ihrer Schönheit überwältigt, so dass er ihr Bild in sich aufnimmt. Dadurch verwandelt er sich in einen Hirsch und wird zur Beute seiner eigenen Gedanken, seiner Hunde, die ihn verschlingen.

Alle selve i mastini e i veltri sclaccia

Il giovan Atteon, quand’il destino

Gli drizz’il dubio et incauto camino,

di boscareccie fiere appo la traccia.

Ecco tra l’acqui il più bel busto e faccia

Che veder poss’il mortal e divino,

in ostro et alabastro et oro fino.

Vedde: e’l gran cacciator dovenne caccia.

Il cervio ch’a‘ più folti

Luoghi drizzav’i passi più leggieri,

ratto voraro i suoi gran cani e molti.

I' allargo i miei pensieri

ad alta preda, et essi a me rivolti

morte mi dan con morsi crudi e fieri

(Windhunde und Doggen hetzt Aktaion heute,

Der Jüngling, den des Schicksals Schluss

Voll Leichtsinn auf gefahrvoll' Wege führen muss.

Ins tiefe Dickicht folgt der Fährte seine Meute.

Dort im Wasser: Voll Anmut die Gestalt, das Antlitz hold,

Herrlicher als je es Menschen oder Gott erfreute.

Aus Purpur, Alabaster, laut'rem Gold.

Der große Jäger sah's und wurde selbst zur Beute.

In einen Hirsch verwandelte er sich,

Der flüchtig flink ins Dickicht wich,

Doch schnell zerfetzte ihn die Meute seiner großen Hunde.

Edle Beute jagten die Gedanken zu dieser Stunde,

Doch sie jagten mich und haben mich zerrissen,

Gaben mir den Tod mit erbarmungslosen Bissen.)

Er wird ein Einzelner, Anderer, denkt unerlaubte Gedanken, stellt Tabuisiertes in Frage, verlässt die fraglose Gemeinsamkeit mit der sozialisierten Menge. Für seine Mitmenschen ist er gestorben, denn seine Gefühle und Gedanken sind nicht mehr die gemeinsamen Gefühle und Gedanken aller anderen normalen Menschen.

Ecco dumque come l'Atteone, messo in preda de suoi cani, perseguitato da proprii pensieri, corre e drizza i novi passi: è rinovato a procedere divinamente e più leggiermente, cioè con maggior facilità e con una più efficace lena a'luoghi più folti, alli deserti, alla reggion de cose incomprensibili; da quel ch'era un uom volgare e commune, dovien raro et eroico, ha costumi e concetti rari, e fa estraordinaria vita... Qua finisce la sua vita secondo il mondo pazzo, sensuale, cieco e fantastico; e comincia a vivere intellettualmente: vive vita de dèi, pascesi d'ambrosia et inebriasi di nettare.

(Sieh also, wie Aktaion als Beute inmitten seiner Hunde von den eigenen Gedanken verfolgt wird, fortläuft und neue Wege einschlägt. Er ist wiederhergestellt und läuft göttlich, lockerer, mit größerer Schnelligkeit und Ausdauer ins Dickicht, in die Einöde, zu Bereichen des Unbegreiflichen. Er war ein normaler und gewöhnlicher Mensch, jetzt ist er andersartig und heroisch, hat seltene Gewohnheiten und Überzeugungen und führt ein außergewöhnliches Leben...Hier endet sein Leben für diese verrückte, sinnliche, blinde und irreale Welt und er beginnt bewusst zu leben, lebt das Leben der Götter, nährt sich von Ambrosia und berauscht sich an Nektar.)

C.G. Jung nannte die Individuation den unvollendbaren Weg zum Selbst, ein fernes Ziel, dass immer angestrebt, aber niemals erreicht werden kann. Doch es ist wohl eher so, dass dieses Ziel nie erreicht werden soll oder darf, denn dort wartet der endgültige und riskante Bruch mit Normen und Konventionen. Dualität wird wieder zu Polarität, einander ausschließende Gegensätze werden zu einander ergänzenden Polen, die letztlich ein- und dasselbe sind: Glück und Leid, Leben und Tod, Arm und Reich, Macht und Ohnmacht, Gut und Böse. Während die seelische Stabilität normaler Menschen auf dem Glauben an die Wirklichkeit ihrer wertenden Dualität beruht – unabhängig davon, welche konkreten Werte je nach Ort und Zeit darin eingesetzt werden - beruht durch die Individuation die geistige und emotionale Freiheit auf der Überwindung dieses Glaubens. Doch wer die allgemeingültige Realität in Frage stellt, gilt als gefährlich.

Ho notato un luogo che dice esser stolti e pazzi tutti quelli che hanno senso fuor et estravagante dal senso universale de gli altri uomini; ma cotal estravaganza è di due maniere, secondo che si va estra o con ascender più alto che tutti e la maggior parte sagliano o salir possano: e questi son gli inspirati de divino furore; o con descendere più basso dove si trovano coloro che hanno difetto di senso e di raggione più che aver possano gli molti, gli più, e gli ordinarii.

(Ich las eine Stelle, wo stand, dass alle närrisch und verrückt seien, die auf eine abweichende Weise wahrnehmen und sich außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung der anderen Menschen stellen. Doch von einer solchen Abweichung gibt es zwei Arten. Denn entweder stehen sie außerhalb, weil sie sich zu einer größeren Höhe erheben als alle, und als der größte Teil erreicht oder erreichen könnte, denn sie werden von göttlicher Leidenschaft beseelt, oder weil sie tiefer sinken, wo sie sich bei Menschen wiederfinden, die mehr als die Vielen, die Meisten und die Normalen an Wahrnehmungs- und Denkstörungen leiden.)

Die Überwindung der wertenden Dualität wird auf verschiedene Weise beschrieben: 

Giordano Bruno:

Coincidentia oppositorum

(Zusammentreffen der Gegensätze)

Perché questo male non è absolutamente male: ma per certo rispetto al bene secondo l’opinione, e falso; quale il vecchio Saturno ha per condimento nel devorar che fa de proprii figli.

(Denn dieses Böse ist nicht absolut böse. Doch sicher ist es falsch, wenn man es in Beziehung setzt zu der Meinung darüber, was gut sei. So verschlang auch der alte Saturn seine Speisen mit den Gewürzen, die er aus seinen eigenen Kindern gewann.)

Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse

Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas Seltenes –

aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. 

Laotse: 

Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,

so ist dadurch schon das Nicht-Gute gesetzt.             Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.

Wer diese Grenze überschreitet, stürzt entweder in eine tiefe psychische Krise oder er erlebt - wenn die seelische Stabilität groß genug ist - eine tiefgreifende Verwandlung: Ihn berührt die Gegenwart des Göttlichen. Er spürt sie in seiner eigenen Seele, in seinem Bewusstsein, in der Natur. Alle Einschränkungen, die für normale Menschen gelten, verlieren ihre Wirksamkeit. Götter kennen weder Moral noch Tabus und deshalb auch keine Scham oder Furcht. Erkennen und Begehren stehen sich plötzlich nackt gegenüber. Dies löst eine rauschhafte Euphorie aus, ein Gefühl des Alleins-Seins, das ein unvorbereitetes Gemüt die Bodenhaftung verlieren lässt. Das Wort „furore“ bedeutet im Italienischen nicht nur „Leidenschaft“, sondern auch „Wut“, „Raserei“, „Rausch“, „Euphorie“, „Ekstase“ und „Wahnsinn“. Alle diese Bedeutungen hat das Wort „furore“ auch in diesen Texten: Es ist die leidenschaftliche Suche nach Gott, die Ekstase in der Vereinigung mit der Gottheit, die rasende Wut in der Verteidigung der Wahrheit, die Bedeutung des menschlichen Wahnsinns in der Gegensätzlichkeit von Normalität und Individuation zu begreifen, und die rauschhafte Euphorie der Individuation. Die dafür nötige seelische Stabilität beruht auf dem, was Giordano Bruno als invitto (unbesiegt, unbeugsam) bezeichnete.

Come, dico, volete ch'io possa esprimere quella allegrezza e tripudio de voci, di spirto e di corpo, che lor medesimi tutti insieme non posseano esplicare? Fu per un pezzo il veder tanti furiosi debaccanti, in senso di color che credono sognare, et in vista di quelli che non credeno quello che apertamente veggono.

(Wie, sage ich, könnte ich euch die Freude und den Jubel der Stimmen, der Spiritualität und der Körper wiedergeben, die sie sich selbst alle zusammen nicht erklären konnten? Für eine Weile zeigten sie sich als ekstatische Bacchanten, wie jene, die sich im Traum wähnen, und sie schauten drein wie jene, die nicht glauben können, was ihnen offen vor Augen steht.)

Onde da volgare, ordinario, civile e populare, doviene salvatico come cervio, et incola del deserto; vive divamente sotto quella procerità di selva, vive nelle stanze non artificiose di cavernosi monti, dove admira gli capi de gli gran fiumi, dove vegeta intatto e puro da ordinarie cupiditadi, dove più liberamente conversa la divinità.

(Dadurch verwandelt er sich von einem normalen, gewöhnlichen, bürgerlichen und geachteten Menschen in einen wilden, der wie ein Hirsch in der Wildnis lebt, wie ein Gott unter dem hohen Laubdach des Waldes, in den natürlichen Räumen der zerklüfteten Berge, wo er die Quellen der mächtigen Ströme bewundert, wo er sich rein und unberührt von gewöhnlichen Begierden heilt, wo er freier mit der Gottheit sprechen kann.)

Qua non bisognano altre armi e scudi che la grandezza d’un animo invitto, e toleranza de spirito che mantiene l’equalità e tenor della vita.

(Dafür sind keine anderen Waffen und Schilde nötig, als die Größe eines unbeugsamen Gemüts und die Ausgeglichenheit der Spiritualität, die das Gleichmaß und die Spannkraft des Lebens bewahrt).

Friedrich Nietzsche riss ebenso wie Giordano Bruno die Mauern der Normalität durch kompromissloses Denken ein. Er nannte den Zustand der euphorischen Grenzerfahrung "Rausch der Nüchternheit". Er wollte alle Tafeln, alle Werte, jedes Gut und Böse zerbrechen. Inmitten all seiner zerbrochenen Tafeln bemerkte er, dass er ohne Tafeln selbst zu Gott werden musste, zu jenem Gott, den er gerade für tot erklärt hatte. Friedrich Nietzsche aus einem Brief an Jacob Burckhardt v. 5.1.1889:

Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen.

Ein Gott aber, der nicht Herr seiner Gefühle ist, kann keine Welt erschaffen. Er wird zur Erde und in den Wahnsinn stürzen. Sein Schicksal wird in der Allegorie des siebten Blinden gezeigt:

Parla il settimo cieco

La beltà che per gli occhi scorse al core

Formò nel petto mio l’alta fornace

Ch’assorbì prima il visuale umore,

sgorgand’in alt’il suo vampo tenace;

e poi vorando ogn’altro mio liquore,

per metter l’elemento secco in pace,

m’ha reso non compaginabil polve,

che ne gli atomi suoi tutto dissolve.

Se d’infinito male

Avete orror, datemi piazza, o gente;

Guardatevi dal mio fuoco cuocente;

Che se contagion di quel v’assale,

crederete che inverno

sia, ritrovars’al fuoco de l’inferno.

(Es spricht der siebte Blinde:

Die Schönheit, von den Augen dem Herzen verkündet,

Hat in der Brust einen feurigen Ofen gezündet,

Der zuerst die Feuchtigkeit der Augen verglühte,

Und sodann heftige Flammen aufsprühte.

Hierauf hat er all mein Nass verschlungen,

Und mich mit Dürre und Trockenheit bezwungen,

So dass alles als loser Staub verweht,

Sich in einzelne Atome auflöst und vergeht.

Fürchtet euch vor der unermesslichen Qual!

Öffnet den Weg, ihr Leute, ihr habt keine Wahl!

Weichet zurück vor meiner Flammen Schrecken!

Solltet ihr euch an diesem Fieber anstecken,

Ihr würdet glauben, es sei des eisigen Winters Wut,

Wenn ihr erleidet des Höllenfeuers Glut.)

Durch die Individuation und die Berührung des Göttlichen lockert sich die Bindung der Seele an die Materie. Ein Teil löst sich aus dem Körper und strebt zum immateriellen Bewusstsein, zur lebendigen göttlichen Gegenwart, die Giordano Bruno bald als holdes Antlitz bezeichnet, dann wieder als erbarmungslose Bestie oder als wilde Göttin, die das Herz in ihren Krallen hält und die Seele in Stücke reißt. Diese konfliktbeladene und ängstigende allmähliche Loslösung der Seele vom Körper wird im vierten Dialog dargestellt, wenn die Seele klagt:

Come potrò io sol pascermi di specie intelligibili, come di pane intellettuale, se la sustanza di questo supposito è composta? Come potrò io trattenirmi nella domestichezza di queste amiche e care membra, che m’ho intessute in circa, contemprandole con la simmetria de le qualitadi elementari, se mi abandonano gli miei pensieri tutti et affetti, intenti verso la cura del pane immateriale e divino?

(Wie soll ich mich alleine von geistigen Bildern wie von einem geistigen Brot ernähren, wenn dieses Wesen auf Zusammensetzung beruht? Wie soll ich mich in der vertrauten Gemeinschaft dieser lieben und teuren Gliedmaßen bewahren, die ich um mich verwoben habe, in denen ich die elementaren Eigenschaften harmonisch anpasste, wenn mich all mein Denken und Fühlen verlassen hat und zum immateriellen und göttlichen Brot strebt.)

A che il senso riman, o avari cieli?

A che queste potenze tronche e guaste,

se non per farmi materia et essempio

de sì grave martir, sì lungo scempio?

(Wofür, geiziger Himmel, soll ich noch empfinden?

Wofür soll ich diese zerstörten Kräfte binden?

Wenn nicht, um mich als Beispiel vorzuführen,

Wie es ist, so große Qualen zu verspüren.)

Cossì l’anima ch’è nell’orizonte della natura corporea et incorporea, ha con che s’inalza alle cose superiori, et inchine a cose inferiori... Le potenze che non son comprese e cattivate nel grembo de la materia, e qualche volta come sopite et inebriate si trovano quasi ancora esse occupate nella formazion della materia e vivificazion del corpo; tal‘or come risvegliate e ricordate di se stesse riconoscendo il suo principio e geno, si voltano alle cose superiori, si forzano al mondo intelligibile come al natio soggiorno... Qua se per virtù di contemplazione ascende o è rapita sopra l’orizonte de gli affetti naturali, onde con più puro occhio apprenda la differenza de l’una e l’altra vita, all’ora vinta da gli alti pensieri, come morta al corpo, aspira ad alto.

(Denn die Seele befindet sich an der Grenze zwischen der körperlichen und unkörperlichen Natur. Sie erhebt sich einerseits zu Höherem und neigt sich andererseits zu Niederem herab... Die Kräfte, die nicht im Schoß der Materie umschlossen und eingekerkert sind, sind zuweilen wie schlafend oder berauscht, als ob sie immer noch mit der Gestaltung der Materie und der Belebung des Körpers beschäftigt wären. Wenn diese nun gleichsam erwachen, sich an sich selbst erinnern, ihren eigenen Ursprung und ihre eigene Art erkennen, wenden sie sich Höherem zu und drängen wie zum Ort ihrer Geburt zur geistigen Welt zurück... Sobald die Seele sich kraft der Kontemplation über den Horizont des natürlichen Empfindens erhebt oder auch entführt wird, kann sie mit reineren Augen den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Leben erkennen. Sie wird übermannt von den hohen Gedanken, es zieht sie nach oben und sie ist im Körper wie erstorben.)

In vorchristlicher Zeit und im Neuplatonismus wurde der bewusste spirituelle Weg zu Gott als Einweihung und Erleuchtung (illuminatio) bezeichnet. Mysterienschulen leiteten Menschen auf diesem Weg an. Doch das Christentum, dessen Macht und Reichtum auf der Monopolisierung des Zugangs zu Transzendenz und Spiritualität aufgebaut ist, versperrte diesen Weg. Individuation und lebendige Spiritualität wurden als Ketzerei und Hexerei verfemt, und jeder Verdächtige landete auf dem Scheiterhaufen. In der Aufklärung wird dieser Kampf fortgesetzt, denn wer heute nicht fähig oder willens ist, sich anerkannten Wertvorstellungen zu unterwerfen oder gar sagt, Gott habe zu ihm gesprochen, gilt als krank und muss von seinem Wahn geheilt werden. Die teilweise Loslösung der Seele vom Körper, wodurch körperliche und seelische, materielle und immaterielle Realität als zwei gleich intensiv erfahrbare Wirklichkeiten gleichzeitig und parallel nebeneinander erlebt werden, wird als Schizophrenie bezeichnet und mit harten Medikamenten und Schocktherapien bekämpft.

Die Wege zur Rechten

Es gibt zwei Richtungen, die zur Individuation führen: Die rechten und die linken Wege. Diese unterschiedlichen Wege stellte Pythagoras im Buchstaben Y dar, wo der linke Balken der leichtere, aber am Ende verderbliche Weg ist und der rechte Balken den schwierigen, harten, dornenreichen Weg symbolisiert, der am Ende zu Gott und zur Wahrheit führt. Auf den Wegen zur Rechten geht das Ego zugrunde, um frei zu sein für die Begegnung mit Gott. 

Alle selve, luoghi inculti e solitarii, visitati e perlustrati da pochissimi, e però dove non son impresse l’orme de molti uomini, il giovane, poco esperto e prattico, come quello di cui la vita è breve et instabile il furore, nel dubio camino de l’incerta et ancipite raggione et affetto designato nel carattere di Pitagora, dove si vede più spinoso, inculto e deserto il destro et arduo camino.

(Ins tiefe Dickicht, zu unwegsamen und einsamen Orten, nur von sehr wenigen besucht und erkundet, wo deshalb nicht viele Menschen Spuren hinterließen. Er ist ein Jüngling, unerfahren und ungeübt, wie jene, deren Leben kurz und deren Leidenschaft unstet ist. Auf gefahrvolle Wege, mit unsicherem und zwiespältigem Denken und Fühlen, wie in jenem Bild des Pythagoras beschrieben, wo der schwierige Weg zur Rechten dorniger, unwegsamer und verlassener ist.)

Wer den Weg zur Rechten gehen will, muss drei Bedingungen erfüllen:

Erstens darf er nie unethisch handeln. Damit ist nicht das sittlich-moralische Handeln gemeint, sondern das im Menschen angelegte natürliche ethische Prinzip, die Synderesis: „Denn furchtbar ist es, dem lebendigen Gott zu begegnen." Dies bedeutet, sich dem eigenen wahren Selbst stellen zu müssen.

Cossì in tutto e per tutto approva quel ch’è bene e quel tanto che la natural legge e giustizia gli definisce: e mai affatto approva quel che è altrimente.

(In allem und durch alles stimmt er dem Guten zu, und dies ebenso weit, wie das Gesetz der Natur und die Gerechtigkeit es für ihn festlegen, und nicht im Geringsten billigt er je etwas anderes.)

Zweitens dürfen die Emotionen niemals das Denken überwältigen. Wer sich auf diesem Weg von Liebe, Hass, Wut, Angst, Gier oder Panik beherrschen lässt, wird zur leichten Beute des Wahnsinns. 

Stante che chi vuole apprendere il vero per via di contemplazione deve essere ripurgatissimo nel pensiero.

(Wer deshalb das Wahre auf dem Weg der Kontemplation begreifen will, muss auf die äußerste Reinhaltung seines Denkens achten.) 

Drittens muss er sich dem lebendigen Gott bedingungslos verpflichten:

Farsi come con indissolubil sacramento congionto et alligato alle cose divine.

(Er bindet sich wie mit einem unauflöslichen Sakrament an das Göttliche und gibt sich ihm zu eigen.)

Die Wege zur Linken

Auf den Wegen zur Linken wird das Ego selbst zu Gott. Ein gemeinsames Merkmal aller Wege zur Linken ist die alles beherrschende Gier nach Reichtum. Die göttliche Liebe wird als Instrument der Macht benutzt, denn in der Liebe, die nicht mit der Sexualität verwechselt werden darf, drückt sich die unbewusste menschliche Sehnsucht nach Gott und Sinn aus. 

Tutti gli amori (se sono eroici e non son puri animali, che chiamano naturali e cattivi alla generazione, come instrumenti de la natura in certo modo) hanno per oggetto la divinità, tendeno alla divina bellezza.

(Das Ziel jeder Liebe - die heroisch ist und nicht rein animalisch oder natürlich, wie es auch heißt, und unter dem Joch der Fortpflanzung als ein Instrument der Natur dient - ist das Göttliche, denn sie strebt zur göttlichen Schönheit.)

Für Menschen ohne intakte Spiritualität, die nicht in der Lage sind, zwischen der unbewussten Sehnsucht nach Gott und der Liebe zu einem Menschen zu unterscheiden, kann dies sehr gefährlich sein. Wenn der geliebte Mensch ihn verschmäht, verlässt oder verrät, kann dies für den Liebenden zu Verzweiflung und einer tiefen Sinnkrise führen, denn für sein Unbewusstes hat Gott selbst sein Dasein für sinn- und wertlos erklärt, ein Urteil, dem er sich nur sehr schwer wieder entziehen kann. 

Vor dieser Art von Liebe, die den Menschen und seine geistigen und spirituellen Kräfte als Geisel nimmt und zur Sklaverei erniedrigt, warnt Giordano Bruno. Was er über Frauen sagt, gilt auch für Männer:

Quel che voglio conchiudere e dire, o Cavalliero illustre, è che quel ch’è di Cesare sia donato a Cesare, e quel ch’è de Dio sia renduto a Dio. Voglio dire che a le donne, benché talvolta non bastino gli onori et ossequii divini, non perciò se gli denno onori et ossequii divini.

(Was ich schließen und sagen will, oh hochedler Ritter, ist, dass man dem Kaiser geben soll, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist. Ich will damit ausdrücken, dass man den Frauen, obwohl ihnen manchmal selbst göttliche Verehrung und Anbetung nicht genügt, nicht deshalb auch göttliche Ehren und Anbetung zollen soll.)

Wie der Mensch, wenn er liebt, den geliebten Menschen unbewusst als Avatar Gottes wahrnimmt, so kann umgekehrt jeder, dem es gelingt sich durch die Individuation in einen Avatar Gottes zu verwandeln, in normalen Menschen Liebe und Bewunderung bis zur Hörigkeit auslösen. So fesseln die Wege zur Linken die Menschen mit der stärksten Kette, die es gibt, denn nicht Geld regiert die Welt, sondern die unbewusste menschliche Sehnsucht nach Liebe und Sinn. 

Atteso che avendo contratta in sé la divinitade, è fatto divo, e conseguentemente con la sua specie può innamorar altri.

(Denn da er das Göttliche in sich konzentriert hat, wird er göttlich, und kann somit durch sein Erscheinen in anderen Liebe auslösen.)

Außer der kompromisslosen Suche nach Wahrheit gibt es noch andere Methoden, um sich aus dem Hamsterrad der Normalität zu befreien, zum Beispiel Drogen, religiöse und sexuelle Mystik, Schamanismus, Mysterienschulen, traumatische Erlebnisse und das satanistische Ritual. Dessen Ziel ist es, bewusst ethische Prinzipen und herrschende Normen zu verletzen und zu durchbrechen. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Doch nicht nur die Gültigkeit von Normen, Werten, Moral und Tabus wird zerstört, sondern auch die Synderesis und damit das natürliche menschliche Fühlen, die Spiritualität. Der emotionale Realitätsbezug, Empathie und Hingabefähigkeit gehen verloren, wodurch sich auch der Zugang zum höheren Bewusstsein, zum Geist, schließt.

Doch ohne höheres Bewusstsein kann die Euphorie der Individuation nicht überwunden werden, und so wird der Satanist zu einer lächerlichen Mischung aus geistloser Intelligenz und euphorischem Größenwahn, die sich als Drittes zur Menschenverachtung verbinden. Dadurch ist er auch leicht zu erkennen: Die Geistlosigkeit, die jeden menschlichen Reifeprozess unmöglich macht, äußert sich in scheinbar ewiger kindischer Jugendlichkeit und der Größenwahn zeigt sich als triumphierend-euphorisches Dauergrinsen, das schwer fällt zu unterdrücken, besonders, wenn eigentlich Ernsthaftigkeit gefordert wäre. Wer macht so etwas? Nun, vor allem Sektenführer und Gurus, aber auch Ärzte und Therapeuten, die eine zahlungskräftige Klientel an sich binden wollen, fanatische Weltverbesserer, außerdem noch Oligarchen, die sich ein zuverlässiges Netzwerk in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft aufbauen.

Ihre Opfer erkennt man an innerer Widersprüchlichkeit, rational schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, emotionaler Teilnahmslosigkeit, unstetem Blick, unterdrückter Nervosität und Sucht nach Akzeptanz und Anerkennung.

Die Gottheit der Satanisten entstammt dem Christentum. Um das Numinose in der Natur und das Spirituelle in der Sexualität zu dämonisieren, machte die Kirche Pan, den Gott des Waldes und der Natur zu Satan, den Gott der Lüge, der Grausamkeit und der sexuellen Perversion. 

Die neun Blinden

In den Schicksalen der neun Blinden werden neun Arten der Blindheit auf dem Weg zum Erblicken des göttlichen Lichts gezeigt, wobei jede die Möglichkeit des Scheiterns in sich trägt. Sie sind eine Auseinandersetzung Giordano Brunos mit eigenen Erfahrungen, um deren Überwindung er kämpfen musste:

Là dove forzandomi convien ch’io emende tutte le mende mie; dove pervenendo il mio spirito vale più ch’il rivale, perché non v’è oltraggio che li resista, non è contrarietà ch’il vinca, non v’è error che l’assaglia.

(Dort, wo es mir bestimmt ist, hart an der Überwindung all meiner Fehler zu arbeiten, wo meine spirituelle Kraft stärker ist als ihre Gegner, weil keine Beleidigung sie mehr treffen, keine Missbilligung sie besiegen und keine Täuschung sie mehr in die Irre führen kann.)

Der erste Blinde ist blind geboren. Ein Schicksal, das er mit allen Menschen teilt, denn am Anfang des Lebens ist die Seele ganz im Körper eingeschlossen. Die Befreiung beginnt mit der Hinwendung zu Kontemplation, Bewusstsein und Geist.

Questo non è subito nel principio della generazione quando l’anima di fresco esce ad esser inebriata di Lete et imbibita de l’onde de l’oblio e confusione: onde il spirito vien più cattivato al corpo e messo in essercizio della vegetazione, et a poco a poco si va digerendo per esser atto a gli atti della sensitiva facultade, sin tanto che per la razionale e discorsiva vegna a più pura intellettiva, onde può introdursi a la mente.

(Dies geschieht nicht sofort am Anfang des Lebens, wenn die Seele von neuem hervorkommt, berauscht vom Wasser der Lethe und vom Trank des Vergessens und der Verwirrung, denn dann ist die Spiritualität tief im Körper eingekerkert, mit dessen Entwicklung sie beauftragt ist. Da sie die Fähigkeit des Empfindens lenkt, kommt sie allmählich zu sich, bis sie über das rationale und logische Denken zum reineren Bewusstsein gelangt, von wo aus ihr Zugang zum Geist gewährt wird.)

Den zweiten Blinden blendet das Gift der Eifersucht. Er will die Wahrheit vor Verleumdung und Pervertierung schützen und wird dafür selbst beschimpft und verrückt genannt.

Alla cui similitudine costui tien fisso il spirto, senso et intelletto, là dove non ha sentimento di tempestosi insulti.

(Auf ähnliche Weise soll man die Spiritualität, die Sinne und das Bewusstsein festigen, damit wüste Beschimpfungen sie nicht kränken können.)

Den dritten Blinden blendet der plötzliche Anblick des sehr hellen göttlichen Lichts, das seine Augen nicht ertragen können, da er bisher in der Finsternis lebte.

Qualmente il sole in vano se dice lucere e scaldare a quelli che son nelle viscere de la terra et opaco profondo...Percioché l’adamantino suggetto non ripercuota dalla sua superficie il lume impresso: ma rammollato e domato dal calore e lume, vegna a farsi tutto in sustanza luminoso, tutto luce, con ciò che vegna penetrato entro l’atteffo e concetto.

(Wie man sagt, dass die Sonne vergeblich jenen Licht und Wärme sendet, die sich in den Eingeweiden der Erde und in tiefer Finsternis befinden ... konnte sein diamantenes Herz das empfangene Licht von der Oberfläche nicht zurückstrahlen, wurde von der Wärme und dem Licht aufgelöst und überwältigt, verwandelte sich als Ganzes in ein leuchtendes Wesen, wurde ganz Licht, das in sein Fühlen und Denken eindrang.)

Der vierte Blinde versinkt ganz in die Betrachtung des göttlichen Lichts und wird gleichgültig für alles andere, das er deshalb auch nicht mehr sehen kann.

Al perfetto, se è perfetto, non è cosa che si possa aggiongere: però la volontà non è capace d’altro appetito, quando fiagli presente quello ch’è del perfetto, sommo, e massimo.

(Dem Vollendeten, wenn es vollendet ist, lässt sich nichts hinzufügen. Deshalb kann der Wille nach nichts anderem verlangen, wenn ihm die höchste und größte Vollendung gezeigt wird.)

Dem fünften Blinden wird die Sicht auf das Göttliche durch religiöse und kontemplative Trugbilder (Phantasmen) versperrt. Denn es ist eher hinderlich als hilfreich, sich dem Anblick der Gottheit mit intellektuellen oder religiösen Hilfsmitteln nähern zu wollen.

Per aprir gli occhi al cielo, alzar alto le mani, menar i passi al tempio, intonar l’orecchie de simulacri, onde più si vegna exaudito...o per mezzo de l’essere procedere alla speculazion de l’essenza: per via de gli effetti alla notizia della causa.

(Wenn wir zum Himmel blicken, die Hände erheben, die Schritte zum Tempel lenken oder für die Ohren von Heiligenbildern singen, als ob sie uns hören könnten..., wenn wir vom Sein zum Spekulieren über das Wesen oder von der Wirkung zum Erkennen der Ursache gelangen wollen.)

Der sechste Blinde kann das göttliche Licht nicht sehen, weil er selbst zu veränderlich ist, um das Unveränderliche wahrnehmen zu können, denn wer sich nicht von seiner körperlichen Existenz löst, dessen Wesen

ha più de non ente che di ente: atteso che sempre è altro et altro, e corre eterno per la privazione...Conchiudesi dumque che a chi cerca il vero, bisogna montar sopra la raggione de cose corporee.

(hat mehr vom Nichtsein als vom Sein, da er immer wieder anderes und anderes ist, und ewig der Vergänglichkeit unterliegt ... Daraus folgt, wer nach der Wahrheit sucht, muss die Seinsweise des Körperlichen überwinden.)

Der siebte Blinde wird von seinen Gefühlen überwältigt und verliert dadurch die Klarheit des Denkens und seine bewusste Wahrnehmungsfähigkeit.

Oimé che son constretto dal furore

D’appigliarmi al mio male,

ch’apparir fammi un sommo ben Amore.

Lasso, a l’alma non cale

ch’a contrarii consigli umqua ritenti;

e del fero tiranno,

che mi nodrisce in stenti

e poté pormi da me stess‘ in bando,

più che di libertad‘ i‘ son contento.

Spiego le vele al vento,

che mi suttraga a l’odioso bene:

e tempestoso al dolce danno amene.

(Oh weh! Die Leidenschaft hat mich bezwungen,

Und üble Lust lässt Amor in mir gären,

Als hätt' ich höchstes Gut errungen,

Doch Hilfe will die Seele nicht gewähren.

Kein Ratschluss hebt mir auf den Bann,

Mich zu befreien vom Tyrann,

Der mich beköstigte mit Pein,

Der mich mir selbst entfremden kann,

Und schöner scheint als frei zu sein.

So setz ich Segel in Wind und Flut,

Um mich zu retten vor dem verhassten Gut

Und süßem Verhängnis in Sturmes Wut.)

Der achte Blinde wird geblendet, weil seine Spiritualität in ihrem Hochmut versucht, in den Anblick des Göttlichen einzudringen und plötzlich in den unermesslichen Abgrund seiner Unbegreiflichkeit stürzt, so dass er nichts mehr sehen kann.  

L’ingegno umano il quale attento a la divina impresa in un subito talvolta si trova ingolfato nell’abisso della eccellanza incomprensibile, onde il senso et imaginazione vien confusa et assorbita, che non sapende passar avanti, né tornar a dietro, né dove voltarsi, svanisce e perde l’esser suo non altrimente che una stilla d’acqua che svanisce nel mare, o un picciol spirito che s’attenua perdendo la propria sustanza nell’aere spacioso et inmenso.

(Das menschliche Gemüt, das auf der Suche nach dem Göttlichen plötzlich in den Abgrund der unbegreiflichen Erhabenheit stürzt, wo die Sinne und die Vorstellungskraft verwirrt und überwältigt werden, wo er weder weiß, wie er nach vorne noch wie er zurückgelangen kann, noch wohin er sich wenden könnte, wo sich das eigene Sein auflöst und vergeht, nicht anders als ein Tropfen Wasser sich im Meer auflöst oder ein schwacher Hauch, der schwindet und seine eigene Substanz im unermesslich großen Luftraum verliert.)

Der neunte Blinde wagt es nicht, sich dem ersehnten Licht zu zeigen und sich ihm mitzuteilen. Deshalb ist er nicht nur blind, sondern auch stumm.

Per che lui tace, e non dimanda, per téma d’offender l’onestade…Mostrasi dumque disposto di suffrir più presto per sempre il proprio tormento, che di poter aprir la porta a l’occasione per la quale la cosa amata si turbe e contriste.