Die Hexe von Gerresheim - Stephan Peters - E-Book

Die Hexe von Gerresheim E-Book

Stephan Peters

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Beschreibung

Katja von Stahl ist wunderschön und – blutrünstig.Als Kind wurde sie in Gerresheim missbraucht. Sie kehrt nun zurück, um an ihren Peinigern grausame Rache zu nehmen.Die Polizei ist machtlos, nur Pater Martin von Sankt Margareta kann sich ihr in den Weg stellen. Der Mönch kämpft mit seinen Freunden gegen die Mächte der Finsternis.

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Stephan PetersDIE HEXE VON GERRESHEIM

In dieser Reihe bisher erschienen

3501 Thomas Ziegler Überdosis

3502 Renate Behr Tod am Dreiherrenstein

3503 Alfred Wallon Sprung in den Tod

3504 Ulli B. Entschärft

3505 Udo W. Schulz Unter Blendern

3506 Alfred Wallon Die Escort-Lady

3507 Stephan Peters Die Hexe von Gerresheim

3508 Uwe Voehl Mörderisches Klassentreffen

Stephan Peters

Die Hexe vonGerresheim

DER REGIONAL-KRIMIDüsseldorf

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannUmschlaggestaltung: Mario HeyerTitelbild: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-996-6

Der Mensch, der dieses Tal betritt,

wird in den Häusern Gestalten finden,

ungeheuerlich und schrecklich anzusehen.

Und über allem schwebt der Hauch des Todes.

(E.A. Poe)

Prolog

Jetzt, am Ende meines langen Lebens angekommen, ich bin nunmehr 89 Jahre alt, mache ich mich auf, dem zu begegnen, den ich mein Leben lang gesucht habe, denn die Ewigkeit wartet auf mich. Wir schreiben den Januar im Jahr des Herren 2020. Man hört von unbekannten, gefährlichen Krallen aus dem Osten der Welt, die bald unseren Erdkreis in ihrem grausigen Griff haben werden. In meinen Visionen sehe ich eine unbekannte Krankheit von dort auf uns zukommen, und danach das Kommen des Antichrist mit Feuer und Schwert. Gleichfalls aus dem Osten. Doch dann, so Gott will, bin ich längst gestorben und befinde mich dort, dessen Helligkeit ich bereits jetzt in Meditationen erahnen kann: im ewigen Licht!

Es ist rund zwanzig Jahre her, dass ich meine Pfarre Sankt Margareta in die Hände meines Nachfolgers, Pater Martin, gelegt habe. Mein Name spielt keine Rolle, denn Namen sind nur etwas für Leute mit Zukunft. Ich glaubte, mich von da an von der Welt zurückziehen zu können, um mich in meiner kleinen Wohnung, hoch über den Gipfeln Gerresheims, auf das Wesentliche zu konzentrieren, ja zu meditieren, streng nach der Regel: wir haben zwar viele Informationen, aber keine einzige Wahrheit.

Meine Hand zittert, wenn sie das niederschreibt, was all meine Pläne zunichte gemacht hat, und von jenen schrecklichen Ereignissen berichtet, die nur kurze Zeit nach meinem Abschied der Gemeinde widerfahren sind.

Es war an einem frostklirrenden Abend im Januar 2020, und ein Schneesturm heulte ums Haus. Ich bereitete mich für die Komplet vor und zündete drei Kerzen an, die auf meinem Schreibtisch standen. Plötzlich pochte es an meine Tür. „Herein!“ Schwester Felicitas vom Orden der Benediktinerinnen trat ein. Sie besorgte mir seit Jahren den Haushalt, aber nun konnte ich sie gar nicht gebrauchen, denn es war die Zeit der Meditation.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe. Aber ich habe im Keller der Basilika ein paar furchtbare Dokumente gefunden. Der Inhalt ist einfach grauenvoll. Die Niederschrift heißt: Die Hexe von Gerresheim.“

Felicitas Gesicht war kreidebleich, was ich an der fleißigen Nonne noch nie gesehen hatte. Dann bekreuzigte sie sich. So schnell, wie sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Widerstrebend las ich die ersten Blätter und erstarrte. Von Mord war da die Rede, von Inzucht, und möge mir der Herr Kraft verleihen: von Adolf Hitlers Droge, die es tatsächlich gegeben hatte. Der Autor sprach aber auch von Hoffnung, Humor und Liebe, ein Zeichen dafür, dass der Antichrist nicht endgültig den Sieg erringen wird. Das Manuskript ist nicht so alt, wie Felicitas glaubt, es scheint mir, als sei die Tinte immer noch frisch.

Und ich hoffe nun auf Kraft von oben, wenn ich ein paar Kapitel aus jenem Dokument lesen werde, das von der Presse, von den Medien und sogar von den Einwohnern verschwiegen worden ist. Ich lesen die grausigen Zeilen, die mir die Schwester in die Hand gedrückt hat. Und in wenigen Stunden ist Mitternacht.

*

An einem frostklirrenden Morgen des Jahres 2019, als der Winter seine Krallen über Düsseldorf ausstreckte, fuhr ein schwarzes Schiff in den Hafen der Landeshauptstadt ein. Es war von mittlerer Größe und bewegte sich schwerfällig über das Wasser. Der eingeknickte Turm von Sankt Lambertus lag unter einer weißen Haube. Träge wiegte sich das Restaurantschiff Kollers Kahn auf den schmatzenden Wellen. Undenkbar, dass hier im Sommer Tausende von Menschen auf den Stufen sitzen und in die untergehende Sonne hinter Oberkassel blicken. Der Kiel bahnte sich krachend eine Schneise durch Nebel und Eisschollen. Auf dem Deck war niemand zu sehen, mit Ausnahme der großen, schlanken Frau, über die Reling gebeugt, die sich lässig eine Zigarette mit einem alten, deutschen Armeefeuerzeug anzündete. Trotz der Kälte trug sie nur ein weinrotes Abendkleid und darüber eine dünne Robe. Auf ihrem schmalen, bleichen Gesicht lag ein Hauch von feuchtem Nebel, was sie nicht weiter zu stören schien. Die Fremde hatte ein beinahe ost­europäisches Gesicht mit hohen Wangen­knochen. Sie lächelte und zitierte leise Hamlet: „Nun ist die wahre Schreckenszeit der Nacht, wo Grüfte gähnen, und die Hölle selbst Pest haucht in diese Welt. Nun trink’ ich wohl heiß’ Blut, und tue bitt’re Dinge, die der Tag mit Schaudern sieht.“

Ein gieriger Möwenschwarm war im Begriff, seine Bahn über das schwarze Schiff zu ziehen. Sie flogen pfeilgerade. Aber als die Tiere das Boot mit der Frau darauf erblickten, änderten sie plötzlich ihre Route und schlugen laut krächzend einen Haken. Selbst den Vögeln war diese Szenerie zu unheimlich und der Blick der Frau zu bösartig. Sie hatte ihn erst vor sechs Stunden kennengelernt. Hier, am Hafen von Düsseldorf. Brown Jenkins hatte sie in einer riesigen Kiste mit dem Flugzeug bereits vorgeschickt, weil kein Kapitän dieses Ding mit an Bord haben wollte.

Am Hafen war Katja mit einem jungen Mann namens Toni Vogler ins Gespräch gekommen. Er bot sich an, ihre Koffer zu tragen. Natürlich hatte er auch noch etwas anderes im Sinn. Vielleicht …? Danach …? Und es gab ein danach. Er war Anton Vogler, eines der weniger gut aussehenden Mitglieder der Doomsday-Gang und einigermaßen intelligent.

Am Abend des gleichen Tages. Sie waren inzwischen in einem feudalen Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert angekommen. Es lag, von Bäumen und Ruinen versteckt, am alten Bahnhof in Gerresheim an einem verrosteten Bahngleis, zwischen dem sich bräunliches Unkraut, das aus dem Schnee herausragte, einen Weg nach oben bahnte. Die dicken Halme sahen aus wie Leichenfinger, die sich aus der Erde gruben. An der alten Rampenstraße hätte man Edgar-Wallace-Filme drehen können, und Klaus Kinski, der von Blacky Fuchsberger gejagt wurde, wäre nicht aufgefallen. Leider gibt es diese Gegend nicht mehr, denn Bagger haben alles zugeschaufelt, und jede Menge Flair einfach vernichtet, um neuen, sterilen Bauten ohne Vergangenheit Platz zu machen. Ein paar esoterische Gerresheimer nannten die Villa das Haus zur letzten Laterne. Mülltonnen standen absurderweise neben der eleganten, aber abbruchreifen Villa aus der Gründerzeit. Schiefe Schornsteine ragten gen Himmel, und eine alte Laterne warf ihr fahles Licht auf die düstere Szenerie. Der Mann, den Katja im Schlepptau hatte, blieb unvermittelt stehen. „Was geht hier vor“, fragte er und hatte dabei Angst. Katja blickte ihn fragend an. „Jedes Mal, wenn ich zum Dach hinaufschaue, sehe ich andere Formen. Vorhin hätte ich schwören können, dass da oben drei lange, alte Schornsteine in den Himmel ragen. Doch kaum ändert sich das Licht, ändert sich auch die Geo­metrie. Jetzt sind anscheinend fünf lange Verstrebungen zu sehen und erinnern mich an …“

„An einen Drudenfuß, das Zeichen des Teufels“, ergänzte Katja lächelnd. „Wenn die Arme nach oben zeigen, also die zwei Spitzen, bedeutet es geistige Gesundheit. Steht der Fünfzack allerdings auf dem Kopf, ist man vom Irrenhaus nicht weit entfernt. Aber hab’ keine Angst, vielen geht es so, die zum ersten Mal hier sind, denn hier weht ein anderer Wind.“

Schon beim Anblick der Villa hatte Toni ein düsteres Gefühl. Frostige Mauern vermischten sich mit einer eiskalten Umgebung. Die riesigen Fenster glichen toten Augenhöhlen, und die wenigen Bäume waren abgestorben. Über allem lag das Gefühl tiefster Trostlosigkeit. Alle Lebenskräfte waren erloschen. Es war, als erwache Toni aus einem Drogenrausch, der ihn in eine eisige und leere Realität zurückwarf. Es war das fürchterliche Zerreißen des verklärten Schleiers, der gnädig über der schrecklichen Realität lag.

Der Junge lächelte zaghaft. Er war gerade zwanzig geworden, lang und hager, ging aber gebeugt wie ein alter Mann. Seine schäbige Lederjacke schlotterte um seine schmale Brust, und die dunkle Haartolle war mit öliger Pomade nach hinten gekämmt. In Nase und Ohr trug er ein Piercing, das bei seiner Freundin Tammy gut ankam. Mit ihr wollte er glücklich werden und Kinder haben. Aber auf der anderen Seite hatte Toni Angst, dann keine andere Frau mehr ins Bett zu kriegen. So nutzte er jede Gelegenheit zu Abenteuern. Bald würde es für ihn zu spät sein, und die Doomsday-Gang würde ihn aus­lachen, weil er zum Pantoffelhelden degeneriert war. Die Gang und Tammy waren sein Zuhause, denn die Eltern waren zerstritten, hingen nur in Kneipen oder vor dem Fernseher herum und wollten von allem nichts wissen. „Mach doch deinen Scheiß alleine“, sagten sie immer, wenn er Rat suchte. Nur Pater Martin hatte für ihn jederzeit ein offenes Ohr, aber das wiederum durfte die Gang nicht erfahren. So war Toni Vogler mitten im Schla­massel. Aber heute vielleicht nicht, denn er hatte diese ungewöhnliche Dame kennengelernt. Vielleicht würde sie ihn für kurze Zeit in ein anderes Leben entführen? Wenn nicht, würde sich Toni wieder der Geschichte des Düsseldorfer Stadtteils Gerresheim widmen, unterstützt vom Magazin Gerrikuss.

Nun öffnete sich quietschend die verzogene Eichentür mit dem Löwengriff. Katja von Stahl knipste die Lampe an, und ihr Begleiter zuckte zusammen, als er schwere Eichenmöbel erblickte, über denen Staub und gelb­liche Abdecktücher lagen. Endlich, dachte sie, als sie die schwere Tür öffnete und Staub und Moder roch. Endlich! Wieder zu Hause. Ich kann mein Werk beginnen. Tief im Kellergewölbe hörte sie das Zischen und Geifern von Brown Jenkins. Er tobte gegen die Gitterstäbe. Toni verharrte still und lauschte.

„Das sind nur ein paar Mäuse“, kommentierte Katja sachlich. Ein riesiger, kalter Kamin, über dem ein Ölgemälde hing, das die alte Basilika im Winter am Gerricus­platz zeigte, war Mittelpunkt des Raumes. Die kostbaren Tapeten, auf denen exotische Vögel zu sehen waren, hingen abgerissen bis auf den Boden. Es roch muffig, und Katja öffnete eines der hohen Fenster mit teuren Einlege­arbeiten. Ihr Begleiter fühlte sich wie in einer Kirche. Und da hing auch schon ein zerbeulter Weihrauchkessel, der geräuschvoll hin und her schwang. Eine Wendeltreppe führte vom Wohnzimmer nach oben, direkt ins Schlafzimmer. Auch dort hing ein Weihrauchkessel und Katja von Stahl zündete die dicken Kerzen an, die auf Kandelabern standen. Hier war es weniger muffig, und in der Mitte stand ein großes Bett aus dem vorletzten Jahrhundert. Ein Baldachin war darüber gespannt, auf dem eine riesige Spinne eingestickt war. Der schwere Perserteppich verschluckte jeden Schritt. Sie ging lässig zu einem kleinen Beistelltisch und füllte zwei Gläser mit Sekt. Zwischen ihnen lagen dunkle, tote Rosen.

„Sekt ist dir doch recht“, fragte Katja.

„Ich habe lange keinen mehr getrunken“, antwortete Toni zögernd. So eine Umgebung war neu für ihn, er fühlte sich unsicher. „Sonst trinke ich immer nur Altbier. Kölsch mag ich gar nicht“, fügte er hinzu. Sie sah ihn fragend an. „Bei Kölsch hat man zwei Arten von Angst, weißt du? Bei der Ersten hat man Angst, gleich sterben zu müssen. Bei der zweiten hat man dann Angst, nicht sterben zu können.“

Katja verstand ihn nicht sofort und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. „Pssst“, sagte sie leise. „Mein kleiner Prinz redet zu viel. Du scheinst ziemlich nervös zu sein. Spar dir deine Kraft lieber für nachher. Entspanne dich!“ Ihr Haar fiel wie ein sanfter, weicher Wasserfall über sein erregtes Gesicht.

Ihre Augen waren dabei halb geöffnet, so wie ihr fleischiger, sinnlicher Mund. Sie war entrückt und vollkommen präsent zugleich. Der Mann kam sich wie ein Stück Fleisch vor, von seiner künftigen Herrin Zentimeter um Zentimeter gemustert. „Hab’ Geduld, mein kleiner Prinz. Gleich wirst du in den Genuss größerer Wonnen kommen.“

Der junge Mann war verwirrt und lächelte unbeholfen. Er stieg aus seinen Sachen, Pulli, Jeans und Stiefel flogen in die Ecke. Sein Gesicht war heiß, voller Erwartung, als ihm Katja die öligen Haare streichelte. Sie ging an einen kleinen Tisch, dessen Platte von einem geschnitzten Drachen getragen wurde, und drückte auf die Starttaste des riesigen Rekorders. Michel Cretu erklang mit Enigma. Das Schlafzimmer wurde von schweren Basstönen und Klangteppichen erfüllt, Gregorianische Choräle erklangen, und Sandra hauchte: Mea culpa! Der Chor antwortete mit Kyrie Eleison! Ein dumpfes Schlagzeug sorgte für Gänsehaut.

Der kleine Prinz stand unsicher auf und lächelte sie verlegen an. Was war mit ihm geschehen? Hatte sie ihn mit ihrer Selbstsicherheit aus der Fassung gebracht? War die Einsamkeit, die Atmosphäre daran schuld?

„Wir kennen uns ja eigentlich noch gar nicht. Willst du nicht wissen, was ich ...“ Dann sagte Katja: „Oh, ich denke, du bist wie alle. Du willst mich nackt auf dem Silber­tablett haben.“ Aber er schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete grinsend: „Nein. Ich will nur deine Seele und deinen Charakter kennenlernen. Dafür ist allerdings jedes Kleidungsstück vollkommen unnötig. Auf ein Tablett kann ich auch verzichten, auf alles andere aber nicht.“

Katja lächelte. „Mein Kompliment. Ein Rocker mit Verstand.“

„Ich möchte jetzt zu gerne mein Gesicht …“ Katja fuhr ihn wie eine Domina an: „Schweig!“

Er legte sich, wie ihm geheißen, auf den Rücken aufs Bett, das mit lilafarbenen Seidenstores verhangen war. Katja beobachtete wie eine Katze jeden seiner Schritte. Dann fesselte sie ihn mit den Lederriemen an die Pfosten. Ein Stromstoß der Lust durchzuckte seinen gierigen Körper. Anschließend verband Katja ihm die Augen mit einem roten Seidentuch. „Ich bin gleich wieder da“, versprach sie ihm und verschwand ins Badezimmer. Sie warf ihm mit der Handfläche einen Kuss zu. „Denk’ an mich, es wird sich lohnen. Sozusagen ein Vorgeschmack auf kommende Attraktionen, wenn du die Augen wieder öffnest.“

Er holte tief Luft und entspannte sich. Dabei dachte er an ihre süße Zunge, die sich wie eine Eidechse zwischen seine Lippen geschoben hatte. Er roch den schweren Duft des Parfüms, den zart eingecremten Körper, gleich einer ägyptischen Gottheit. Noch einmal atmete er tief durch und fühlte die Erregung in seinen Lenden. Es war totenstill. Beinahe zu still. Vogler fühlte sich plötzlich wie verlassen. Draußen hörte er einen Zug durch die Nacht fahren. Er hatte ein ungutes Gefühl, das er nicht näher beschreiben konnte. Was hatte er da eigentlich gemacht? Er kannte Katja nicht, und was wäre, wenn sie auf einmal wegginge? Er wünschte sich plötzlich, genau in diesem Zug zu sitzen, weit weg vom Haus zur letzten Laterne. Etwas zutiefst Böses lag in der Atmosphäre, vor allem in Katja von Stahl. Er kam sich nun tatsächlich wie eine Fliege in einem riesigen Spinnennetz vor. Aber dann vernahm er wieder Katjas Schritte und atmete erleichtert auf. Das Warten war unerträglich gewesen.

Im Bad hatte Katja ihre weinrote Robe abgelegt und war aus ihrem schwarzen Seidenkleid von Versace geschlüpft. Die Träger löste sie lasziv von ihren Schultern, lautlos glitt der Stoff zu Boden. Danach wechselte sie ihre Kleider und kam zurück ins Schlafzimmer. Sie war nackt und trug nur eine Metzgerschürze, die sie zur Hälfte gekürzt hatte. Katjas Beine steckten in schwarzen Gummistiefeln und um ihren Mund herum hatte sie sich eine Operationsmaske gebunden. Aber das Schlimmste war das, was sie in ihren Händen hielt. „Willst du mir nicht das Tuch abnehmen, ich möchte dich endlich nackt sehen.“ Schweigen. Toni standen die Haare zu Berge. Langsam setzte sich Katja rittlings auf ihn und starrte ihr Opfer aus ihren dunkel geschminkten Augen über den hohen Wangenknochen an. Sie fühlte seine ­Erregung unter sich, aber gleichzeitig wimmerte er: „Bitte, mach mich frei! Dann kannst du mit mir machen, was du willst! Bitte …“ Aber sie flüsterte nur: „Sex und Tod sind die besten Aphrodisiakum.“ Und dann schlug ihm das Mädchen die eiserne Maske, in der sich Eisendorne befanden, mit einem riesigen Hammer aufs Gesicht.

Die Maske trug die verzerrte Fratze eines Teufels mit langen Hörnern. Vogler hatte keine Chance zu entkommen. Dafür war die Maske zu schwer und die Schläge zu hart. Zwei Dornen bohrten sich in seine Augen, ein weiterer zerbrach die Zähne. Tonis Schreie waren entsetzlich, deshalb schlug sie mit dem Hammer heftiger auf die Maske ein und beobachtete aus den Augenwinkeln das Vibrieren des Mannes, als sei er unter Strom.

Aus Mund- und Augenöffnungen ergoss sich Blut, das leise auf den dicken Teppich floss. Die Schreie Voglers wurden von der vorbeirasenden S-Bahn verschluckt. Nach endlos lang erscheinenden Minuten herrschte Totenstille. Katja wischte sich mit einem Seidentuch den Schweiß von der Stirn und beobachtete fasziniert und erregt, wie das Blut des Fremden langsam von ihrer Metzgerschürze floss. Ihre Augen waren tiefschwarz, kalt, gefühllos – teilnahmslos und tot.

Tock, tock, tock. Sie summte leise dazu. Danach zündete sie sich eine Zigarette an und steckte eine zweite in den mit Blut besudelten Mund der Maske. Aus dem Rekorder drang die alte Scheibe von Enigma Je ne dors plus. Je suis folle! Je veux tout! Die Mönche, die elektronischen Töne und das Schlagzeug antworteten düster: Mea Culpa! Katja von Stahl spitzte die Lippen und flüsterte Toni ins Ohr: „Eine rauchen wir noch und dann gehen wir.“

*

Nebel. Soweit man blickte, nichts als Nebel. Pater Martin dachte: Ich brauche endlich Ruhe, und ich brauche Geld. Der Schneesturm tobte über die Felder zwischen Erkrath und Düsseldorf wie ein Löwe, der irgendein Tier zwischen seinen Zähnen hat.

Es war Anfang Dezember, der Winter zögerte noch, aber in dieser Nacht brach er wie ein Ungeheuer herein, das alles verschlingen wollte. Eine Nacht zuvor hatte eine Bestie bereits Toni Vogler wie ein Tier gerissen.

Bei gutem Wetter konnte man von den Gerresheimer Höhen aus schon den Fernsehturm der Landeshauptstadt sehen, aber heute nicht mal den nächsten Baum. Pater Martin fröstelte es unter seinem schwarzen Mantel. Er hatte anstrengende Arbeitstage hinter sich, denn die Weihnachtspredigten mussten vorbereitet werden. Dazu kamen etliche Beerdigungen. Im Winter gibt es bekanntlich die meisten Toten. Und die meisten Armen, die er mit einem kostenlosen Mittagstisch im Zentrum Plus erfreuen wollte. Doch die Bankenkrise veranlasste die Gerresheimer, mehr auf den Taler zu sehen. Man war nicht mehr so freigiebig. Martin war sowieso mehr ein Mensch der Literatur als ein Mann der Seelsorge. Er schrieb lieber anspruchsvolle Vorträge über das Kirchenrecht, als nachts aus dem Bett geklingelt zu werden, um Trost zu spenden. Seine Nerven waren einfach überreizt. Natürlich liebte Martin die Gemeinde, doch manchmal nervten ihn die immer gleichen, für ihn langweiligen Probleme derer, die ihn aufsuchten. Meine Frau hat mich verlassen! – hieß es häufig. Oder: Was soll ich nur mit meinen pubertierenden Töchtern anfangen? Der Geistliche richtete den Blick nach oben und dankte Gott für seine Berufung in höhere Gefilde. Die simplen Nöte seiner Gemeinde wären eher etwas für den Evangelisten Markus gewesen. Bodenständig, sachlich und überaus dröge. Aber Pater Martins Lieblings-Evangelist war Johannes. Welche ausufernde Weitsicht! Alleine schon die Worte Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht angenommen. Welche Weite, welche Tiefe, welche Gottversunkenheit.

Genau in diesem Augenblick der Seligkeit klingelte das Telefon: „Herr Pfarrer, mein Mann ist soeben besoffen die Treppe hinuntergefallen!“, kreischte Berta Buchleitner in den Hörer. Der Priester stöhnte laut auf und fragte sich, ob der Herr im Himmel nichts Besseres zu tun hat, als sich um solche Versager zu kümmern.

Unter seinem Hut türmte sich eine beachtliche Tolle aus dichtem, weißem Haar, das an den Ohren zu Koteletten wurde. Mehr als ein Tourist blieb verblüfft stehen, als er den hochgewachsenen Mann sah. Pater Martin war über sechzig, und viele dachten, dass Donald Sutherland in einer Rolle als Geistlicher unterwegs sein musste. Der Pater hatte das gleiche, dämonische Lächeln, über dem ein schmaler, eisgrauer Schnurrbart hing. Ein Lächeln, das rasch wieder todernst werden konnte. Der Hut warf einen bedrohlichen Schatten auf Martins Gesicht, der ihn unheimlich wirken ließ. Der Blick war voller Melan­cholie. Seine tiefen Furchen im Gesicht erzählten von alten, aber nun durch den Willen gebändigten Leidenschaften. Man wollte seinen stechenden, scheinbar allwissenden Augen, die tief in die Seele blicken konnten, gerne ausweichen.

Martin schauderte in der Einsamkeit. Dann dachte er an seine Vergangenheit.

Vor etwa vierzig Jahren war Martin ein Elitestudent in Rom. Später hatte ihn sein Weg nach Cambridge geführt. Ja. Die Wissenschaft war’s, die ihn begeisterte. Um geistigen Trugschlüssen zu entgehen, studierte der Wahrheitsbesessene Aristoteles, seine Logik oder Denklehre. Er promovierte in Theologie, später in Philosophie. Sein scharfer Verstand war gefürchtet. Nur wenige Atheisten konnten sich ernsthaft mit ihm messen, deren Philosophie er als ebenso abgedroschen wie schnell durchschaubar entlarvte. Vor allem als zu eindimensional. Er erwies sich als Fachmann in Kirchenfragen und wischte Argumente vom Tisch, die die angebliche Alleinherrschaft der katholischen Kirche und deren Machtanspruch anprangerte. Er liebte die Geschlossenheit theologischer Systeme und die Perfektion in der Philosophie. Mit einem kleinen Salär konnte er in exquisiter Umgebung seine Tage verbringen. Große Freude bereitete ihm sein geringes Interesse an sogenannten natürlichen Gelüsten. Seine Lust war das Studium, die Musik und Natur. Er schloss sich gerne übers Wochenende in seinem Zimmer in der Universität ein und studierte die Nächte durch. Ab und zu hörte er auf seinem Plattenspieler Gustav Mahler oder Quartette von Brahms. Er meditierte danach oder schrieb wissenschaftliche Artikel. Das zehrte an ihm mehr, als hätte er sich nächtelang in Discos aufgehalten oder auf Partys gefeiert. Obwohl er aus seiner Zelle nicht herauskam, machte der Theologe geistige Exkursionen, die die wenigsten nachvollziehen konnten. Sie fanden in seinem spartanischen Zimmer statt, das aus einem Metallbett, Schreibtisch, Stuhl und Tisch, sowie einem Betschemel bestand. Darüber ein schlichtes Holzkreuz, neben dem jeweils links und rechts ein Bücherregal hing. Ideal für sein ständiges Silentium Religiosum. Pater Martin hatte an seiner Gesundheit Raubbau getrieben, sodass er montags wie ein Gespenst aussah. Die Atemübungen des Yogas, spärliches Essen und Trinken, die durchlesenden Nachtstunden forderten ihren Tribut. Er war somit eine ähnliche Gestalt wie Gustav Aschenbach aus der Novelle von Thomas Mann Der Tod in Venedig.Wie dieser war Martin der Wissenschaft verpflichtet, jedoch nicht so fleischlich verführbar, schon gar nicht von Knaben, wie Manns Protagonist.

Später berief man ihn in ein kleines Dorf in Nieder­bayern zum Pfarrer, und in einem nahe gelegen Nonnen­kloster erteilte er Unterricht in Latein und Literatur.

Er wohnte über einer Dorfkneipe und fühlte sich dort zunächst sehr wohl. Aber später empfand sich Martin zu Höherem berufen.

*

Es war um das Jahr 1999, als eines Nachts folgendes, unerhörtes Gespräch stattgefunden hatte. Martin wälzte sich vorher unruhig auf seinem Bett herum. Der Schlaf wollte sich nicht einfinden und niemand war da, dem er seine Gedanken anvertrauen konnte. Niemand? Doch! Denn ganz in seiner Nähe wohnte Schwester Magdalena in einem kleinen Stift, mit der Martin Jugend­gruppen betreut hatte, oder beide hielten leicht verständliche Bibelstunden, die wegen ihrer Heiterkeit in der Gemeinde sehr beliebt waren. Unvergessen blieb das Seminar über die Ähnlichkeiten zwischen dem Buch Die Möwe ­Jonathan und dem Johannes-Evangelium. Obwohl zweitausend Jahre zwischen den Büchern liegen, handeln beide von Freiheit und dem Mut, sich nicht anzupassen, auch wenn es das eigene Leben kostet.

Schnell zog sich der Pater an und eilte wehenden Umhangs in Schwester Magdalenas Kloster Zum ­ewigen Gebet. Der Wind peitschte dem Priester ins schmale Gesicht, und er musste mit einer Hand seinen großen Schlapphut festhalten. Das Kloster hob sich gespenstisch vor dem Vollmond ab, der von Wolkenfetzen beinahe verdeckt wurde. Martin stolperte über uralte Grabkreuze, und es war gegen Mitternacht, als er an Magdalenas Zellen­tür pochte. Wie er die junge Nonne kannte, las sie gerade ein Buch über Psychoanalyse oder meditierte Za-Zen. Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Martin in ihre Zelle hinein. Zu seiner Verblüffung las die Benediktinerin gerade ein Asterix-Heft. Der Raum war klein, und überall stapelten sich Gelehrtenbücher, auf denen Kerzen standen. An den kargen Wänden hingen Fotos von indischen Heiligen oder Astrophysikern, die ein schlichtes Holzkreuz umrahmten.

Schwester Magdalena trug einen weißen Jogging­anzug, blickte Martin strafend an und sagte: „Ich bin zwar nur eine Nonne und dir unterstellt, trotzdem solltest du die Anstandsregeln einer Dame gegenüber nicht vergessen! Sieh` mal auf die Uhr! Du hättest zumindest vorher anrufen können.“ Der Geistliche erwiderte betroffen: „Oh, du tadelst mich zu Recht. Verzeihung. Ich benehme mich wieder wie der letzte Wilde. Aber es ist auch alles zu schrecklich!“

Magdalena ordnete ihre langen, roten Haare und reichte ihm einen Whisky. Sich selbst goss sie ein Glas Milch ein. Und als sie sah, dass Martin eine Zigarette hervorholte, rümpfte sie die Nase und kramte einen Aschen­becher in Form eines Totenkopfes hervor.

„Bist du gekommen, um mir die Bude voll zu stinken? Dann darfst du gleich wieder gehen.“

Er ging gar nicht darauf ein und setzte sich ächzend auf einen klapprigen Stuhl. Schwer atmend sagte Martin: „Ich bin nur von Idioten und Versagern umgeben!

Sie lächelte und antwortete: „Wie ich dich kenne, meinst du damit deine Gemeinde.“

„Genau – alles Knalltüten.“

„Es gibt ein Buch, das nennt sich Bibel, da steht allerdings etwas anderes darin. Solltest du mal lesen. Da ist von Schäflein die Rede, die der gute Hirte mit Demut und Liebe weiden sollte. Von Idioten und Versagern ist dort nichts zu finden. Und das alles hat unser lieber Herr Jesus im Neuen Testament gesagt.

Der Geistliche konterte: „Ja, ich weiß. Aber wenn er Bauer Huber und Frau Seppelmeier gekannt hätte, wäre das Evangelium anders geschrieben worden. Huber ist besoffen von der Treppe gefallen, und die minderjährige Tochter der Seppelmeier ist schwanger. Beide fragen mich um Rat. Mich! Bin ich der liebe Gott?

Magdalena lächelte: „Nicht? Ich dachte doch! Du führst dich zumindest immer so auf.“

„Sei nicht albern.“

„Aber leider ist es so.“

Martin wurde nachdenklich. Plötzlich schnupperte er wie ein Jagdhund und fragte: „Sind das die Räucher­stäbchen, die ich dir gestern geschenkt habe?“

„Nein. Das ist die Erbsensuppe von heute Abend.“

„Aha.“

Magdalena konterte: „Und deshalb bist du hier?“ Sie schenkte ihm ein neues Glas ein.

„Ja – auch. Mir steht das alles bis zum Hals. Ich arbeite lieber an wissenschaftlichen Texten, als mich mit Pfeif … mit den armen Schäflein herumzuplagen. Meine Berufung liegt im Studium und nicht in der Seelsorge. Ich will ein Buch über die Jesuiten schreiben und eines über den Heiligen Augustinus. Und keines über Frau Seppelmeier und Bauer Huber. Kurzum, ich habe mich nach Rom beworben. Ich habe die besten Voraussetzungen dafür. Mein Ruf als Theologe ist ausgezeichnet, vor allem bin ich frei … frei von den üblichen Anfechtungen, mit denen sich die meisten Priester herumschlagen müssen.“

Schwester Magdalena wurde bleich. „Nach Rom? Und unsere Arbeit hier? Wir kamen doch immer sehr gut miteinander aus, von der Gemeinde ganz zu schweigen. Du bist bei denen beliebter, als dir recht ist. Hast du unsere Spaziergänge vergessen? Unsere Diskussionen über Heidegger und Meister Eckehart?“

Martin schluckte und antwortete: „Ja, ich weiß. Aber wenn ich erst mal ein hohes Amt in der Glaubens­kongregation innehabe, kann ich dich jederzeit einfliegen lassen, oder ich komme hier her.“

„Du in der Inquisition! Das kann ich mir sehr gut vorstellen.“

„Die hieß früher so. Und so schlimm bin ich ja nun auch nicht.“

„Das stimmt, Gott sei Dank. Du würdest den Abtrünnigen eine Bußpredigt halten und sie nachher wieder in Ruhe ziehen lassen. Da bist du anders, als früher Ratzinger. Äh, ich meine, unseren Heiligen Vater.“

Beide schwiegen betroffen. Und hätte Martin gewusst, dass Magdalena drei Monate später überraschend an Herzversagen sterben sollte, wäre das Gespräch ganz anders ausgegangen. Oder es hätte gar nicht statt­gefunden …

Die Glocke der Klosteruhr schlug ein Uhr, in wenigen Stunden würde der Tag anbrechen. Martin erhob sich schwermütig und sagte zum Abschied das Übliche: „Gelobt sei Jesus Christus.“

Aber anstelle der Antwort: „In Ewigkeit, Amen“, sagte Magdalena: „Martin, komm doch noch einmal her.“ Er sah sie verblüfft an und setzte sich wieder. „Weißt du, was du bist?“ Er schüttelte den Kopf, wobei seine weiße Haartolle elegant über die hohe Stirn fiel. „Du bist ein ganz, ganz großes Ferkel.“

Pater Martin war entsetzt. So etwas hatte noch niemand zu sagen gewagt! Dazu noch eine junge, ihm untergebene Nonne! Er war sprachlos. Aber die Schwester fuhr fort: „Du glaubst, von allen Sünden frei zu sein. Prima! Also Gott, unser Herr, kann ja froh sein, dich zu haben! Was würde er ohne dich anfangen? Er könnte seinen Laden dichtmachen. Du bist so ein Paradestück an Unschuld und Gelehrsamkeit. Soll ich dir mal was sagen? Du hast dafür gegen fast alle Gebote verstoßen! Du bist selbstverliebt, eitel und voller Arroganz! Und somit hast du die schlimmste Sünde überhaupt begangen. Die Sünde wider den Heiligen Geist. Und nun – geh! Ich gebe dir einen Rat: Lauf ins Dorf und sündige mal richtig! Schau dich unter den Frauen der Gemeinde um. Aber das tust du ja sowieso nicht, weil dich das alles nicht interessiert. Du betrachtest Menschen wie Ameisen unter der Lupe und amüsierst dich königlich dabei!“ Aber da war die Tür schon zugefallen. Martin stand schwer atmend davor. So hatte er sich das Gespräch nicht vorgestellt. Aber verflixt – Magdalena hatte Recht. Das war ihm schlagartig klar geworden. Er erhob sich sehr nachdenklich, ging auf die Schwester zu und sie küssten sich, wie es der alte Brauch will, auf die Wangen.

Martin verabschiedete sich mit: „Schlaf schön. Ich werde mir deine Worte durch den Kopf gehen lassen.“

„Gelob sei Jesus Christus“, antwortete sie, nicht sicher, ob sie vielleicht doch zu weit gegangen war. Und eine Woche später war sie tot.

Martin war zutiefst erschüttert. Ein Herzklappenfehler, der von den Ärzten übersehen wurde, war der Grund. Martin haderte mit Gott. Das warf alle seine Pläne mit Rom über den Haufen. Sein Denken war auf den Kopf gestellt. Er wanderte ruhelos zwischen dem Kloster in Niederbayern und Pfarrkirche hin und her. Dann sah er auf arte einen Bericht über die Insel der Mönche: der Berg Athos, auf der seit tausend Jahren keine Kinder mehr geboren werden, weil man Frauen nicht gestattet, dort zu verweilen. Das ist doch etwas für mich!?, dachte er. Dort sagte Bruder Dimitros: „Wir tragen alle die Farbe Schwarz, weil wir eigentlich schon tot sind. Wir sind endlich von den Plagen der Welt erlöst und konzentrieren uns auf die Herrlichkeit Gottes.“ Aber vorerst saß Martin auf einer Bank hinter Magdalenas Kloster und blickte versonnen in den abendlichen Himmel. Er rauchte eine Zigarette und trank einen kleinen Schluck Brandy aus seinem teuren, silbernen Flachmann. Ein geliebtes Geschenk von Schwester Magdalena, deren Lachen ihm nicht aus dem Sinn ging, ebenso wenig wie die roten Haare im Wind.

„Du bist zu problematisch und zu unbedingt“, hatte sie ihm immer wieder gesagt.

Und er: „Das sagt mir eine Nonne, eine Frau des Glaubens?“

„Das sagt dir eine Frau. Und Frauen wären niemals auf komplizierte Probleme gekommen wie ihr Priester: Dreieinigkeit, was ist das überhaupt? Ist die Messe nur gültig, wenn man an die tatsächliche Gegenwart Christi glaubt? Und eure Erklärung der Jungfrauengeburt ist komplizierter als die Relativitätstheorie. Dazu kommen noch circa dreitausend andere Kirchenfragen. Probleme, auf die Frauen niemals kommen würden.“ Pater Martin lächelte nach diesem Vortrag: „Oink, oink, oink …“

Ihr Tod machte ihm zu schaffen. Rom hatte er ad acta gelegt, es war zu weit weg von ihr. Werde ich auch so reagieren wie sie, wenn es einmal so weit ist, dachte er ängstlich. Wenn Gevatter Hein an meine Pforte klopft?

Anstelle von Rom war er nun in Gerresheim einigermaßen zur Ruhe gekommen. Zunächst sträubte sich Martin, denn rheinische Gefilde waren ihm nicht geheuer. Zu groß der Unterschied der Dialekte und Seelenlandschaften. So unternahm er heimlich eine Schnüffeltour durch Düsseldorf und wurde von der Schönheit von Natur und Kirchen gefangengenommen. Sankt Suitbert in Kaiserswerth, oder die Kirche Sankt Cäcilia in Benrath. Und hatte Magdalena nicht oft darüber erzählt? Und war der Name Magdalena nicht ein Grund mehr nach Düsseldorf zu kommen? Sie war die Frau von Pfalzgraf Wilhelm, die 1677 zu Ehren der Schwarzen Madonna hat errichten lassen? Die Benrather hatten damals eine Marienerscheinung, ausgerechnet am Schwarzen Weg! Und wieso die Gottesmutter schwarz ist, bleibt bis heute unklar. Wurde das Holz einfach übermalt, oder dunkelte es von selber ab? Aber schon Salomon hatte gesungen: Nigra sum sed formosa! Ich bin dunkel, aber schön!

Zugleich wirkte die Madonna unheimlich auf den Mönch. Gewandet, wie eine strenge Königin, die ein schwarzes Kind auf dem Arm hält. Martin erschien sie sogar einmal als Alptraum. Dennoch verehrte er sie und verbrachte manche fromme Stunde vor ihr kniend auf dem Boden. Die Madonna hatte Martin überzeugt, nach Düsseldorf zu kommen. Die Madonna, die Kultur und die Reibekuchen.

*

An jenem denkwürdigen Morgen vor rund zwanzig Jahren, kurz nachdem er in Gerresheim seine Wohnung bezogen hatte, saß er in seinem alten Käfer, denn das Erzbistum in Köln hatte ihn gerufen, um an einem Seminar für Theologen teilzunehmen. Sein Koffer wog gut zwanzig Kilo, voller Bücher, versteht sich. Die Sonne ging allmählich auf, und diesige Sommerluft lag über dem Land zwischen Mettmann und Hochdahl. Er machte halt, um eine Tasse Tee zu trinken, da bemerkte er, wie sich der dichte Morgennebel auf seltsame Weise zu materialisieren schien. Und zwar genau da, wo sich die schmale Fußgängerbrücke befand. Martin dachte gerade über die Worte von Boethius nach, jenem römischen Gelehrten aus dem fünften Jahrhundert: Ewigkeit ist der vollkommene, in einem einzigen allumfassenden Jetzt gegebener Besitz grenzenlosen Lebens, als sich aus dem Nebel zwei dürre Hände formten. Danach zwei klapprige Ärmchen, die immer näherkamen. Pater Martins Hände zitterten leicht. Der Teebecher wäre um ein Haar seinen Fingern entglitten. Eine beinahe durchsichtige Erscheinung ging über die Brücke. Der Morgennebel war noch dicht, dennoch war die zarte, kindliche Gestalt eines Mädchens zu sehen. Es ging wie in Trance. Die Arme nach vorn gestreckt, die schwarzen Haare ungepflegt und wie in Öl getaucht. Ein Märchendichter hätte geschrieben: Das Kindlein war bettelarm, es war geschunden und trug ein armseliges Hemdchen.

Pater Martin erstarrte. Er hielt den Plastikbecher fest umklammert, als würde er ihm Halt gewähren. Dann stellte er ihn auf dem Autodach ab und ging auf das Mädchen zu. Es war höchstens dreizehn Jahre alt. Die großen, dunklen Augen lagen wie in Kohle, das Gesicht war ausgezehrt, ebenso der ganze Körper. Als Pater Martin die vielen Einstiche an den Handgelenken sah, die blauen Flecken an den Beinen, betete er unwillkürlich ein kurzes Vaterunser. Das Mädchen flüsterte beinahe unhörbar: „Jack in the box … Jack in the bohooxxx … Tu’s für van Gogh! Kamog, Kamog..! Du Sau musst gefickt werden!“

Der Pater fuhr zusammen. Das sind die Worte einer Wahnsinnigen …

Schaum stand auf den blau gefrorenen Lippen, die dunkle Zunge schnellte nach vorn, dann wieder zurück. Wieso ist sie so kalt?, dachte der Geistliche. Wir haben doch Sommer. Und dann brach es zusammen. Im letzten Augenblick gelang es ihm, es aufzufangen. Auf den Armen trug er das Mädchen in den Wagen und legte es vorsichtig auf die Rückbank. Er flößte ihm heißen Tee ein, der an den Mundwinkeln wieder hinunterlief. Was war zu tun? Wo mochte es hergekommen sein? Pater Martin überlegte fieberhaft. Er setzte sich in den Wagen und fuhr Richtung Wuppertal, wo sich ein Nonnenkloster befand, das er von früheren Vorträgen kannte. Er referierte damals über christliche Astrologie und mittelalterliche Metaphysik. Es galt, keine Zeit zu verlieren, denn Mobiltelefone gab es noch nicht.

Sein Wagen hielt kreischend vor der Klosterpforte, aus der Schwester Miriam geeilt kam. Groß, stattlich gebaut und im hohen Alter. Auf der Knollennase eine dicke, runde Brille. Sie schlug die Hände vors Gesicht, als sie das dürre Kind sah. „Gütiger Gott“, stammelte die Nonne.

„Lassen Sie uns sofort hinein“, befahl Pater Martin. „Sehen Sie nicht, dass es Hilfe braucht?“ Aber zugleich bemerkte er, dass die Nonne damit überfordert war. So wie ich eigentlich auch, dachte er. Auf praktische Nächstenliebe, die sie langzeitig gefordert hätte, war sie nicht vorbereitet. Dann lieber eine schnelle Suppe für die Armen, oder Wanderern Obdach gewähren. Aber das hier …?

„Das geht weiß Gott nicht, Pater. Wir sind doch kein Krankenhaus.“

Schroff unterbrach Pater Martin: „Wenn Sie nicht sofort aufmachen und die Krankenschwester rufen, sorge ich dafür, dass Sie bis ans Ende Ihrer Tage in Afghanistan Ihren Rosenkranz beten! Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich haben? Mein Name ist Pater Martin, mit zwei Doktortiteln davor. Ich habe beste Beziehungen zu Monsignore Dürckheim, und …“ Die Nonne erbleichte, verbeugte sich demütig und küsste dem Pater die Hand. Das Kind biss sie in die Hand, zappelte herum und fluchte: „Der Satan wird dich heute Nacht vergewaltigen, und der hat sieben Schwänze aus Draht!“

Doch anstatt zu protestieren, sah Miriam das Kind nur traurig an und streichelte ihr Haar: „Es wird alles wieder gut, meine Kleine. Es wird alles wieder gut.“ Danach wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht. Dann öffnete sie die Pforte und sorgte dafür, dass dem Kind die nötige Erste Hilfe zuteilwurde. Martin musste los, und Schwester Miriam versprach, sich um alles zu kümmern.

*

Als er sich drei Tage später im Kloster nach dem Zustand des Kindes erkundigte, wurde ihm mitgeteilt, dass alles bestens verlaufen sei und sich die Kleine wieder im elterlichen Hause befinde. Das Jugendamt wurde sogar wegen der Nadeleinstiche informiert, er brauche sich nicht zu sorgen. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.

Wenig später wurde in Düsseldorf eine Pfarrstelle frei. Genauer gesagt, in Gerresheim, dem Stadtteil, der vor einhundert Jahren eingemeindet wurde. Ihr Pfarrer war unerwartet verstorben, zwei andere erkrankt, und so entschloss man sich zu dem ungewöhnlichen Schritt, einen Mönch aus einer niederbayerischen Abtei kurzfristig einspringen zu lassen. Pater Martin hatte von der vakanten Stelle gehört und sich prompt beworben. Damals fühlte er sich ruhelos und griesgrämig, vielleicht würde ihn eine neue Aufgabe an einem gänzlich anderen Ort guttun? Er war ohnehin nicht in Bayern gebürtig, so hatte er keine festen Wurzeln. Die geistliche und weltliche Luftveränderung tat ihm gut, die Gemeinde Sankt Margareta schätzte ihn schon nach kurzer Zeit, und so wurde aus dem Klosterflüchtling ein handfester Priester.

Martin hatte sein altes Auto verkauft und fuhr lieber mit einem klapprigen Fahrrad herum, was ihn noch beliebter gemacht hatte. Das Geld spendete er der Armentafel. Das alte Fahrrad erinnerte ihn an seine Studienvorgänger in Tübingen. Der eine fuhr ein teures Auto und der andere schwang sich lieber auf ein Veloziped. Der Fahrrad­fahrer hat heute einen gewissen Rang erlangt, sein Name ist Benedikt XVI. Und der Autofahrer ist inzwischen sein ärgster Kontrahent geworden: Hans Küng aus der Schweiz. Die äußerst unterschiedlichen Fortbewegungsmittel symbolisieren trefflich die verschiedenen, theo­logischen Standpunkte. Beide fahren auf derselben Straße, aber sie trennen Welten …

Martin bezog ein altes Haus im wilhelminischen Stil auf der honorigen Lakronstraße, das eine Renovierung dringend nötig hatte. Aber dafür reichte das Geld nicht. Dicht wucherte Efeu an der dicken Häuserwand und fiel in Girlanden neben dem Türrahmen zu Boden. Eine alte Milchkanne stand daneben. Sie war mit brackigem Wasser gefüllt, ein paar alte Blätter schwammen darauf. Über dem Türbalken, mit Kreide gemalt, die Insignien der Sternsinger vom letzten Jahr. Die schmale Gasse bestand aus dicken Pflastersteinen, wie viele Straßen von Gerresheim. Die windschiefen, teilweise verrosteten Laternen der Stadt, stammten noch aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, aber man hatte das Gas durch Strom ersetzt.

*

Wir verlassen nun unser kleines Theater der Vergangenheit und wenden uns zwei Jahrzehnte später dem öst­lichen Düsseldorf zu. Dorthin, wo Toni Vogler am Anfang unserer Geschichte zu Tode gekommen ist. In Gerresheim war es noch ruhig. Die Psalmen des Kirchenchores von Sankt Margareta drangen fast unhörbar aus der dicken Eichentür, neben der das päpstliche Ehrenwappen angebracht ist. Hier ist es beinahe noch dörflich. In der Mitte thront die Kirche, umgeben von alten Fachwerkhäuser und ein Brunnen, wie im Bilderbuch. Die romanische Basilika, wurde um das Jahr 1236 fertiggestellt, doch es gehen ihre Wurzeln noch tiefer in die Vergangenheit hinein. Charakteristisch ist der achteckige Vierungsturm mit Giebeln und Rundbögen. Dazu kommen Rosetten-, Kleeblatt- und Kreisfenster. Das Idyll wird vom Grafenberger Wald umgeben, einem Vorläufer des Bergischen Landes. Die Eingemeindungsfeier des Stadtteils stand gerade bevor, denn vor genau einhundert Jahren wurde Gerresheim der Stadt aus ökonomischen Gründen angeschlossen. Angeschlossen, aber für sich abgeschlossen, denn Gerresheim war und ist ein Dorf für sich, in das das hektische Leben der City nicht eindringen kann. Hier wohnen die meisten Künstler der Stadt, was wohl auch an den pittoresken Häusern liegen mag. Manchmal meint man, in Liverpool zu sein oder sich im Urlaub in Italien aufzuhalten.

Vor allem im unteren Gerresheim, da, wo die Italiener wohnen, herrscht im Sommer mediterranes Flair. Man sitzt vor den Häusern, deren Türen alle offen sind, so, als gäbe es keine Diebe. Und die Männer vergnügen sich in den zahllosen Bistros auf der Heyestraße. Eine Galerie auf der Ottostraße öffnet sogar zwei oder drei Mal im Monat ihre Pforten für ein kleines Theater.

Während der letzten Fußballweltmeisterschaft wurde nach jedem Sieg der Italiener alles auseinandergenommen! Man hielt Straßenbahnen auf, und sie kamen wegen der triumphierenden Masse sowieso nicht durch. Die Polizei drückte ein Auge zu. Man lag sich lachend in den Armen, tanzte über die Gassen, und jeder wurde gedrückt, egal, ob er für oder gegen Italien war. Italienische Flaggen wurden geschwenkt, man tröstete, man trank, und man fiel in Ohnmacht vor Glück. Flavio Bucci, der Pizzabäcker, rief voller Freude: „Ich bin stolz, in Düsseldorf zu leben!“ Für solche Völkerverständigung müssen Politiker Millionen ausgeben …