Sherlock Holmes reist nach Gerresheim - Stephan Peters - E-Book

Sherlock Holmes reist nach Gerresheim E-Book

Stephan Peters

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Beschreibung

„Ob ich an den Teufel glaube? Ich bin ihm begegnet, als ich 12 Jahre alt war. Ich habe ihn so deutlich gesehen, wie ich Sie sehe, Herr Kommissar. Es war Liebe auf den 1. Blick!“

 

Drei morbide Novellen, bei denen selbst Sherlock Holmes in Panik gerät!

Abgründiger Liebeswahn, mörderische Besessenheit und Naziterror:

Im beschaulichen Gerresheim geschehen einmal mehr die furchtbarsten und seltsamsten Dinge.

 

Das neue Werk vom Meister des Grauens Stephan Peters.

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Stephan Peters

Sherlock Holmes reist nach Gerresheim

und zwei weitere verstörende Novellen

Ein großer Dank geht an meine Frau Betty und Peter Stegt, deren kundiges Lektorat mich vor Kerker, Blamage und Schandpfahl bewahrt hat! Sollte es noch Fehler geben, gehen diese ausschließlich auf meine Rechnung, da Ungeduld mein zweiter Vorname ist. Zudem danke ich sehr: Wine van Velzen (Umschlaggestaltung/Layout) Markus Berghahn Hanno Parmentier „Die dunkle Bruderschaft, Luzifer“. BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1. Auflage 2021

© Derricks Verlagsgesellschaft GbR (Düsseldorf)  

 

 

3 morbide Novellen aus Gerresheim

 

1 Sherlock  Holmes reist nach Gerresheim

 

2 Die Rückkehr des Magiers                            

 

3 Das siebzehnte Grab 

Sherlock Holmes reist nach Geresheim

 Sein unheimlichster Fall

 

Ja, ich gebe es zu. Wir haben dem fünfzehnjährigen Mädchen Ruby Trevor ein ganzes Magazin Kugeln in den Leib gejagt. Ich, Dr. Watson, zusammen mit Sherlock Holmes, mitten in Gerresheim. Doch bevor Sie den Stab über uns brechen und entsetzt zusammen fahren, hören Sie sich meine Geschichte an. Am Ende werden Sie uns vielleicht fragen: Warum haben Sie das nicht schon vorher getan?

 

Am Ende meines abenteuerlichen Lebens angekommen, eines Lebens, das mich fast täglich mit dem Tode konfrontierte, sei es durch meinen Beruf als Arzt, oder als getreuer Adlatus meines Freundes Sherlock Holmes, fühle ich mich alt und grau wie ein Leichentuch. Der kurze Aufenthalt in Gerresheim hat Sherlock Holmes und mich um Jahre altern lassen. In der Erwartung, bald einzugehen in eine andere, unbekannte Welt, deren Schönheit ich jetzt bereits erahnen kann, fange ich nun an, Ihnen die denkwürdigen und entsetzlichen Ereignisse anzuvertrauen, die ich in Gerresheim, kurz vor meinem Ruhestand, durchstehen musste. Meine Hand zittert, wenn sie die Feder ergreift und niederschreiben soll, was mich seitdem nicht mehr hat schlafen lassen.

 

1

 

Wenn mir jemand an diesem trüben Novemberabend des Jahres 1904 erzählt hätte, dass mein Freund Sherlock Holmes, der sich zu diesem Zeitpunkt wieder einmal kokainträge und melancholisch auf der Couch herumdrehte und der in über tausend Fällen dem Guten zum Siege verholfen hatte, zum Mörder werden sollte, dann hätte ich diesen Jemand schallend ausgelacht.

 

Doch nur wenige Tage später trat das Unfassliche tatsächlich ein: Der größte Detektiv aller Zeiten streckte mit sechs Schüssen aus seinem Revolver ein Mädchen nieder. Dabei hatten wir eigentlich nach dem grässlichen Fall vom Hund der Baskervilles etwas Muße verdient - zumindest ich.

 

Beinahe noch ungeheuerlicher sind die Geschehnisse, die dazu geführt haben, und voll Abscheu und Unglauben blicke ich auf die mysteriösen Verstrickungen in Gerresheim zurück, die diese Bluttat ausgelöst haben. Ein Miasma von Vermutungen, Ehebruch, Obsessionen und … ich scheue mich, dieses Wort zu gebrauchen … Nekrophilie, also Leichenschändung. Doch ich greife vor, eine Untugend, die einem Chronisten nicht ansteht. Aber je mehr ich diesen Fall rekapituliere, desto mehr neige ich dazu, das Geschehen als den Albtraum zweier nicht mehr ganz junger Gentlemen zu betrachten.

 

Heute litt Holmes wieder an mittleren Depressionen, wie immer, wenn kein neuer Fall in Sicht war. Selbst Geigenspiel und eine siebenprozentige Kokain-Lösung vermochten ihn nicht aufzuheitern.

 

Schon der Nachmittag war nass und trübe, welkes Laub bedeckte die Baker Street, und durch den trägen Nebel eilten frierende Menschen nach Hause. Das Haus gegenüber wurde renoviert, und die Anstreicher waren sehr schnell. In Windeseile hatten sie die triste Farbe in ein leuchtendes Orange verzaubert. Nun waren sie bereits über der Haustüre, und morgen wäre das Werk bestimmt fertig. Es würde wohl ein Restaurant werden, denn das Wort Nirwana stand groß darüber. Ein Maler war gerade dabei, mit dem Pinsel kunstvolle Girlanden zu zaubern, und war bereits beim V angekommen. Ich habe noch nie einen Anstreicher gesehen, der so schnell gearbeitet hat.

 

Ich blickte auf die große Standuhr, deren schwerer Perpendikel stillstand. Das konnte eigentlich nicht sein, denn das Stück kam aus der Schweiz und war das Dankeschön eines Bankers aus Genf.

 

Aber nun standen die Zeiger auf der Vier. Holmes interessierte das alles nicht, trotzdem korrigierte ich die Zeit auf achtzehn Uhr. Mein Blick fiel gelangweilt auf die burgunderfarbene Seidentapete, dann auf den mittlerweile fünfzigjährigen Freund und Partner, der mir nun gar nicht gefallen wollte. Sein scharf geschnittenes Gesicht war gelblich, und seine Augen noch trüber als der Nebel draußen. Er starrte mit leerem Blick ins Kaminfeuer und sog an seiner Pfeife. Der Shag-Tabak bedeckte seinen roten Morgenrock aus Brokat, auf dem chinesische Drachen eingestickt waren, die mich böse fixierten, als wollten sie Holmes vor meinen Blicken schützen.

 

Neben der Couch lagen wahllos aufgeschlagene Magazine und Bücher herum, ein Zeichen seiner Desorientierung und Langeweile. Eine Gaslampe warf seltsame Schatten auf Reagenzgläser, und ich war froh, dass diese Erfindung, die seit über zehn Jahren in den Haushalten Einzug hielt, das garstige Petroleum ersetzt hatte. Aber ich durfte mich von dieser bleiernen Stimmung nicht anstecken lassen. So überlegte ich mir krampfhaft einen Grund, dieses Mausoleum für ein paar Stunden verlassen zu können. Unsere Haushälterin Mrs. Hudson, unser guter Geist, machte Urlaub in Kent. Doch angesichts dieses trüben Wetters würde sie mich für übergeschnappt halten.

 

Beinahe hätte die Resignation meine Knochen völlig erstarren lassen, als ich einen jungen Mann im Ulster zielstrebig auf die Baker Street 221 B zueilen sah. Mir fiel ein Stein vom Herzen, und meine Muskeln entkrampften sich. Es war wohl ein neuer Klient, und inzwischen war es mir völlig gleichgültig, was er von uns wollte, denn ich ahnte nicht, in welchen Strudel von Schrecken und Wahnsinn wir durch diesen jungen Mann gerissen werden sollten. Holmes, der von seiner Liege natürlich nicht das Geschehen auf der Straße verfolgen konnte, griff in die Zigarrenkiste und sagte:

„Ich bin gespannt, was uns der junge Mann mitzuteilen hat.“

„Woher, um alles in der Welt, wissen Sie, dass es sich um einen jungen Mann handelt? Es könnte ja auch eine ältere Lady oder ein alter Mann sein. Oder eine junge Frau und ...“

Holmes paffte gelangweilt blaue Wolken in den Kamin.

„Beobachtung, Watson! Beobachtung! Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen? In der langen Zeit unserer erquicklichen Partnerschaft stellte ich fest, dass Sie siebzehn verschiedene Mienen zur Verfügung haben, wenn Sie Menschen beobachten. Ein älterer Gentleman konnte es also nicht sein, denn dann hätten Sie Ihr Gesicht nicht bewegt, sondern zur Zigarette gegriffen. Bei einer alten Lady hätten Sie die rechte Braue emporgehoben, bei einer jüngeren beide und zur Zigarette gegriffen, wobei Sie mit dem rechten

Nasenflügel geschnuppert hätten.“

„Ich bin kein Kaninchen!“

„Wissen Sie eigentlich, wie viele Mienen mir zur Verfügung stehen?“

Ich hielt den Atem an und dachte verlegen und angestrengt nach. Eigentlich keine, fiel mir erschrocken auf. Vielleicht zwei oder drei. Der Mann schien äußerlich keiner Gefühlsregung fähig, doch seine langsame oder hektische Art zu rauchen, die Nuancen seiner Stimme, das nervöse Spiel seiner feingliedrigen Finger, sagte doch etwas anderes aus.

Bevor ich antworten konnte, klingelte es. Ich eilte nach unten und öffnete die Tür. Ein sehr gut gekleideter Mann mit einem feinen Gesicht samt Backenbart, hastete die Stufen hinauf und stellte sich Sekunden später vor.

„Ozias Midwinter mein Name“, sagte der gut gekleidete Gent und verbeugte sich linkisch. Holmes, der wie ich über diesen seltsamen Namen schmunzeln musste, stellte uns kurz vor, ohne sich von seinem Lager zu erheben. Eine unkorrekte Seltenheit, die ich auf seinen Drogenkonsum zurückführte. Trotzdem mochte ich wetten, dass er binnen dreier Sekunden wusste, welchen Beruf und welche Passion unser Klient ausübte. Doch auch mir als Arzt fiel sein wächsernes Gesicht und das Zittern seiner Hände auf, das mir ebenso wenig gefallen wollte wie das ständige Zucken seiner Augen in Richtung Fenster, als erwarte der elegante Gentleman, um die Vierzig einen Dämon hereinfliegen zu sehen. Ich bot ihm einen Sherry an, den er hastig hinunterstürzte. Erst dann entspannten sich seine Glieder, und er streckte die Beine vor dem Kaminfeuer aus.

„Meine Herren, der Grund meines Hierseins wird Ihnen gewiss so erstaunlich erscheinen, dass Sie mich sofort ins Sanatorium der Irrsinnigen einweisen werden.“

„Beruhigen Sie sich«, sagte Holmes lächelnd. »Von uns wurde bisher noch niemand dorthin geschickt. Und selbst wenn Ihr Bericht nicht stimmen sollte, wovon ich nicht ausgehe, stört uns das nicht weiter.

Hauptsache, die Story ist spannend!«

Ich schenkte den verblüfft dreinschauenden Besucher nach, und leichte Röte stieg in sein nervöses Gesicht.

„Ich leite eine Bank in Paddington“, begann er seine Erzählung, „und bin gewiss schon deshalb allem Mysteriösen, Unbegreiflichen abhold.“ Er räusperte sich beklommen.

„Die Visionen des Mr. Leeds zum Beispiel, der seinerzeit Königin Victoria beraten hat, halte ich für baren Unfug. Ich bin seit sieben Jahren glücklich verheiratet, das heißt, wenn man von dem schrecklichen Zeitpunkt der Geschehnisse absieht, aufgrund derer ich hier bin. Es war in Gerresheim bei Düsseldorf, in diesem falschen Spätsommer. Es war weder heiß noch kühl, was meine Nerven immer beansprucht. Während Susan, meine Frau, wegen einer Influenza bettlägerig war, verbrachte ich ein paar Tage in dieser Stadt, um mit einem deutschen Bankier über Geschäfte zu reden.“

 

Ich konnte beobachten, wie Holmes verhalten gähnte. Bei Düsseldorf wurde ich hellhörig, denn ein Konsul aus Deutschland verlangte vor einiger Zeit unseren Dienst, und da Holmes natürlich ein Alleskönner ist, war ihm die Sprache zumindest teilweise geläufig. Und ich tat mein Bestes in dieser Hinsicht…

„Der kleine Ort Gerresheim liegt in Deutschland, in der Nähe von Düsseldorf, der wohl in ein paar Jahren in die Großstadt eingemeindet werden soll. Die angehende Metropole am Rhein war um diese Zeit alles andere als gut besucht. Die Königsallee war leer gefegt und die Pensionen verlassen. Gottlob wurde vor wenigen Jahren das Parkhotel eröffnet, in dem ich angenehm speiste. Man sehnt sich nach einem guten Gespräch. Als ich abends an der Bar saß und bei einem Sherry den Möwen nachsah, die im Nebel des nahe liegenden Rheins verschwanden, setzte sich eine junge Dame zu mir an den Tisch. Wir waren die einzigen Besucher des Hotels. Ich muss Ihnen gestehen, dass mir beim Anblick des zarten, engelsgleichen Geschöpfes, dessen rote Haare vom Wind zerzaust waren und ihr wild ins Gesicht hingen, der Atem stockte. Sie legte ihr schwarzes Cape ab und sagte:

„Ich hoffe, mein Herr, ich störe Sie nicht? Mein Name ist Ruby.“ Ohne auf Anstand und Sitte zu achten, setzte sie sich neben mich. Ihre Stimme war zaghaft, aber klar. Das Mädchen hatte etwas Katzenhaftes, Laszives. Sie blickte mich mit ihren hellblauen Augen an, als sei sie in Trance. Ihre Stimme war warm, hypnotisch und voller Sinnlichkeit.

Ich verneinte vehement, und sie bestellte sich zu meiner Verblüffung Soda mit Eis.

„Wissen Sie, es gibt Menschen, die nur von dem leben können, was sie sind. Ich bevorzuge daher etwas Kühles.“

„Können Sie Ihren Bericht nicht etwas forcieren, wir haben heute noch einen wichtigen Termin“, unterbrach ihn Holmes ungeduldig.

„Wie Sie wünschen.“ Ozias Midwinter sah auf seine Uhr und dann wieder gehetzt zum Fenster.

„Aber jedes Detail ist wichtig, und Sie werden mir vielleicht mehr Aufmerksamkeit schenken, wenn ich Ihnen sage, dass dieses Mädchen, das sich zu mir setzte, eine Tote war.“

Sogar der hart gesottene Holmes zuckte bei dieser Bemerkung zusammen, doch sein Blick in meine Richtung verriet mir, dass unser Klient vielleicht der erste Fall war, dem wir die Behausung der Irrsinnigen anempfehlen würden. Zumindest hatte Midwinter es erreicht, dass wir beide auf einmal sehr wach wurden. Im Nachhinein muss ich allerdings gestehen, dass es im weiteren Verlauf der Ermittlungen fast dazu gekommen wäre, dass Holmes und ich uns in einer solchen Anstalt wiedergefunden hätten. Ozias Midwinter griff dankbar in die von Holmes angebotene Zigarrenkiste. Midwinter und ich rauchten, sodass es im Zimmer dadurch noch nebeliger als draußen wurde. Holmes zündete sich indes eine Pfeife an. Die Lampe warf unsere Schatten gespenstisch an die Wand, und Regen prasselte gegen das Fenster. Ich warf gedankenversunken ein paar Holzscheite ins Kaminfeuer. Ich war dem Mann dankbar, dass er uns aus der Lethargie gerissen hatte. Ozias Midwinter fuhr fort:

„Es ist mir peinlich, es zu sagen, aber das Mädchen konnte nicht viel älter als fünfzehn sein.“ Mr. Midwinter errötete leicht, und Sherlock und ich blickten uns tief in die Augen.

„Unter ihrem Cape trug sie eine weiße Spitzenbluse, über der Halsketten lagen, die ein Vermögen wert sein müssen. Sie trug schwarze Reitstiefel, was an einem Ort wie dem Park-Hotel nicht gerne gesehen war. Ein Oberkellner rümpfte verächtlich die Nase. Und dann die Ringe… Aber ich schweife ab. Rubys Haut war ebenso kindlich wie ihr zartes Gesicht. Aber wenn sie sprach, redete sie mit hoher Stimme wie eine reife Frau. Voller Leben und der Erfahrung einer Fünfzigjährigen. Um es kurz zu machen: Ich verliebte mich Hals über Kopf in die Lady, wohlwissend, dass mich eine Gattin zu Hause erwartete. Einmal berührte ich in einem kurzen Glücksmoment die Hand meines Gegenübers und nahm sie schnell wieder zurück, als ich eine eisige Kälte spürte. Meine Schönheit sprach über Kunst, Literatur, Politik und Liebe. Sie plapperte nichts nach, wie es in diesem Alter oft der Fall ist. Bald musste ich feststellen, dass diese junge Frau Macht über mich hatte. Alleine durch ihren festen, durchdringenden Blick aus hellblauen Augen, der mich lähmte.“

 

Wieder sahen Holmes und ich uns fragend an. Mein Freund hüstelte pikiert und kommentierte:

„Die junge Dame hat wenigstens Stil. Ihre erotische Zone beschränkt sich offensichtlich nicht auf die Oberweite, sondern genau zwischen den Ohren. Frauen sollten sich mehr um die Entwicklung ihrer grauen Zellen im Gehirn kümmern, als um die perfekte Figur, dann müssten sie später auch keine Angst vor Jüngeren haben. Ihr fünfzehnjähriges Mädchen hat

Esprit. Respekt!“

Midwinter nickte und sagte: „Immer wieder musste ich auf ihren sinnlichen Mund blicken, in ihre abgründigen, hellblauen Augen, die irgendwo aus der Tiefe des Universums zu glimmen schienen wie zwei sterbende Planeten.“

„Sollte Ihre Bank in Paddington einmal nicht mehr liquide sein“, frotzelte Holmes, „könnten Sie sich als Dichter einen Namen machen!“

Mr. Midwinter verzog verärgert den Mund. „Ich wusste, Sie würden mir nicht glauben.“ Er hielt zitternd ein Streichholz an seine Zigarre, um diese neu zu entzünden, und fuhr fort:

„Das Unfassbare geschah, Gentlemen, denn ich verbrachte mit Miss Trevor eine Liebesnacht. Sie wohnt im sogenannten ‚Haus zur letzten Laterne‘ in Gerresheim. Mit einer Kutsche erreichten wir die morbide Villa. Es war die Zeit der Dämmerung, die düsterer ist als die Nacht. Und dort lag das Haus in feuchter Nebelflut. Ein paar kranke Pflanzen hingen von der Traufe hinab bis auf den Boden wie Lianen und verschlangen sich unten zu seltsamen Gebilden. Es war eine Absteige für zwielichtige Gestalten oder heimliche Liebesstunden, das nur ab und zu benutzt wurde. Der Butler, der die Tür öffnete, hatte zündholzdürre Arme und einen Totenschädel. Beim Öffnen legte er seinen langen Zeigefinger vor die schmalen Lippen. „Pssst“, machte er. „Es gilt, in diesem Hause absolute Stille zu bewahren!“ So traten wir leise ein, und der Diener machte eine tiefe Verbeugung. Das Mädchen gab ihm ein paar Mark in die Totenhand hinein.

 

Innen sah es aus wie in einer alten, verfallenen Kirche. Es gab marmorne Wendeltreppen. Gänge, zunächst schmal und ängstlich wie in einem Bergwerk, dann breiter werdend. Überall waren die Schatten vergangener Zeiten. Dann die Spinnweben, die überall herumhingen. Es war modrig wie in einem Grab. Aber der Duft meiner Begleiterin raubte mir die Sinne. Die azurblauen Vorhänge waren verschlissen. Das Haus schien Dutzende von Zimmern zu besitzen, obwohl es von außen gar nicht so gewaltig aussah. Über knarrende Dielen ging es nach oben, und ein paar fette Ratten huschten zwischen meinen Beinen hindurch. Aber nichts konnte meine Aufmerksamkeit von meiner begehrenswerten Begleiterin ablenken.

Keinen Augenblick lang dachte ich dabei an meine mich liebende Ehefrau Susan, die mir täglich Liebesbriefe ins Hotel schickte. Dafür schäme ich mich nun sehr. Überall standen Porzellanchinesen herum und grinsten mich an. Die hohen Fenster waren erblindet, und die großen Bilder von Heiligen – die eher Toten glichen, waren vom Alter, Staub und Kaminfeuer verblasst. In diesem Ambiente liebten wir uns. Bitte fragen Sie nicht nach den Einzelheiten dieser Nacht, so schön und entsetzlich zugleich sie war.“

Holmes winkte theatralisch mit der Geste eines Dirigenten ab, der einen Moll-Akkord begleitet. Nun war es an mir, einen Whisky zu trinken und mir eine Pfeife anzuzünden. Viermal fiel mir dabei das Streichholz aus der Hand.

„Ruby geleitete mich in ihr Schlafzimmer, in dem es modrig roch, aber ein starkes Kaminfeuer sorgte für Wärme und die orientalischen Lampen für einen orangenen Schein in dieser Liebesgruft. Der Mond warf sein fahles Licht auf den wunderschönen Körper meiner Begleiterin, sie hatte sich rasch ausgezogen.

Mir stockte der Atem bei diesem Anblick.

Vom Baldachin herabhingen löchrige, schwarze Vorhänge aus Samt. Dann warf ich mich auf sie, wobei ich meine Kleider auszog. Auf dem Bett lagen blutrote Seidenkissen. Der Wind tobte im Schornstein und pochte wie wild an die verschmutzten Fensterscheiben.“ Sherlock Holmes sah in diesem Augenblick konsterniert zur Seite.

„Ruby blickte mich mit einem überirdischen Schmerz an, der mir den Verstand raubte. Ich presste meinen Mund auf ihre eiskalten Brüste, und sie stöhnte vor Lust. Es war, als würde mir diese Teufelin alles Blut aus den Adern saugen, als sie meinen Kuss gierig erwiderte. In ihren Armen fühlte ich mich wie in einem Leichentuch, das von heißen Flammen vernichtet wurde. Ruby lachte und weinte gleichzeitig, als habe sie den Verstand verloren. Dann riss sie mir in Wollust mit ihren schwarzen Krallennägeln meine Haut auf. Mein Blut tropfte langsam auf den verschlissenen Teppich. Mit ihren gierigen Küssen raubte sie mir das Leben. Ich dachte, ich schwimme in kochender Lava.

 

Ruby war eine Mystikerin der unkeuschen Triebe, ein Labyrinth aus Wahnsinn und Leidenschaft, aus dem es kein Entrinnen gibt. Einmal schrie sie: ‚Ja, fass` mich an den Haaren und schmeiß` mich auf den Boden! Genau das liebe ich!‘

Nach dieser Nacht wusste ich alles über die Liebe - und alles über den Tod. Ich blickte in wollüstige Paradiese und finstere Höllen.

Midwinter machte eine denkwürdige Pause. „Nur eines lassen Sie mich Ihnen noch verraten: Rubys Körper war zu keiner Sekunde warm, und ich glaubte, auf unserem Liebeslager aus Samt, Moschus und Weihrauch den pestgetränkten Hauch des geöffneten Grabes zu spüren. Und das allerschlimmste war: Es hat mir gefallen!“

 

Nach einer kurzen Pause sagte Holmes: „Das Ganze hört sich sehr arrangiert an. Diese Geschichte könnte in einem Buch von Sacher-Masoch stehen, nach dem der Masochismus und eine Torte aus Wien benannt sind. Die Torte ist mir wesentlich lieber“, meinte Holmes endlich wieder sachlich.

„So war es auch“, stellte Midwinter unvermittelt fest, „mein Zimmer war in ein orientalisches Chambre séparée verwandelt worden. Erlesene Speisen und süßliche Weine umrahmten das Bett, und schwarze, parfümierte Kerzen erhellten den Raum.

 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag Ruby stocksteif neben mir. Ihr nackter, weißer, samtener Körper schien aus Marmor zu sein, der mit regennassen Spinnweben im Herbstnebel überzogen war. Ich schrie sie voller Sorge an: ‚Ruby! Ruby! Was ist mit dir? Wach auf!!'Da erwachte sie, träge und matt, wie aus einem Opiumrausch.“

Holmes zuckte zusammen. Unser Klient hatte genau den Zustand beschrieben, in dem er selbst häufig war. Er berichtete weiter:

„Als sie sich langsam anzog, bewegte sie sich wie eine Marionette. Ich wollte wissen, ob sie krank sei, doch sie schüttelte nur müde den Kopf.“

„Ich bin tot“, antwortete sie. „Ich bin tot.“ „Du bist vollkommen verrückt!“, schrie ich.

„Nein, glaub es mir, mein Schatz“, sagte sie. „Es gibt nur wenige von uns, Gott sei Dank. Und ich kann dir auch nicht sagen, warum das so ist. Ich weiß es selbst nicht. Es gibt böse Geheimnisse auf dieser Welt.“ Nach einer weiteren kurzen Pause fuhr Midwinter fort: „Wissen Sie, Mr. Holmes, die junge Frau hatte eine unheilvolle Aura um sich. Ich konnte die unsichtbaren Fäden sehen, die aus ihrem schönen Körper kamen und sich in meiner Seele einnisteten. Ich war wie ein Insekt in einem Spinnennetz gefangen. Liebe auf den ersten Blick könnte man profan sagen. Aber hier war Schlimmeres, weitaus Schlimmeres am Werk. Sie fraß meine Seele.“

Holmes und ich blickten uns ungläubig an.

„Unwillkürlich tastete ich damals meinen Hals ab. Als sie dies sah, lachte sie: ‚Nein, nein. So geht das nicht. Ich bin kein Vampir. Aber ich bin tot und somit vielleicht schlimmer als ein Blutsauger. Weißt du, in dem Haus zur letzten Laterne gab es eine Bruderschaft, die aus Magiern bestand. Frauen waren auch dabei, alle waren sie lüstern und machtgierig. So wie ich. Wir veranstalteten teuflische Rituale, von denen du dir keine Vorstellung machst. Eines Nachts lag ich nackt auf dem Boden, und Dutzende von Menschen in schwarzen Kutten sangen teuflische Choräle. Wir tranken Absinth und rauchten Kokain. Und im Schleier der letzten Erinnerung sah ich, dass sich diesmal kein Mann auf mich herabließ, um mich in Ekstase zu versetzen. Aus halb geöffneten Augen erblickte ich … eine … riesige … Ratte. Und plötzlich stieß mir jemand eine lange Klinge ins Herz hinein, und ich schrie durch das ganze verfluchte Haus.‘

 

Bei diesen Worten ging ein Ruck durch den herrlichen Körper meiner Konkubinen, dann flüsterte sie todernst:

"Mein lieber Ozias, mein gutmütiger Ozias. Ich möchte dich bitten, dass wir uns nie wiedersehen werden. Denk doch mal an deine Frau! Du hast wenigstens jemanden, der auf dich wartet. Mir bleibt nur das Grab, dem ich ab und zu entsteige, um der ewigen Einsamkeit und Kälte zu entgehen. Ab und zu verliebt sich ein Mann - oder eine Frau - in mich, doch ich bringe ihnen nur Unglück. Sie werden allmählich gefühlskalt, kapseln sich völlig von der Außenwelt ab, um dann irgendwann im Wahnsinn zu enden. Wenn sie Glück haben, begehen sie Selbstmord. Wenn nicht, werden sie wie ich. Denn sie haben das Unfassbare kennengelernt. Jenseits der Realität und jenseits des Traums. Sie vegetieren in einem seltsamen Zwischenreich und sind nirgends zu Hause. Ich bitte dich, Ozias, verlasse mich! Und trotzdem liebe ich dich. Wir können uns nie wiedersehen. Und wenn du mich dennoch sehen solltest – töte mich! Es gibt keine Sicherheit auf dieser Welt. Wenn du so fest daran glaubst‘, antwortete ich sarkastisch, ‚wie kannst du da so sicher sein? Solche Sätze plappern nur Menschen ohne Willen und Macht nach; das ist eine Sklavenmoral, die jeder zweite auf sein Panier schreibt. Aber du, Ruby, du und ich, wir sind mächtig, weil wir wissen, was genau wahre Liebe ist. Nicht das, was der Plebs sagt. Und noch mehr: Wir wissen, was der Tod ist! Du hast es ja eben selbst gesagt: Jenseits der Realität und jenseits des Traums liegt das Unfassbare!"

 

Sie zuckte resigniert mit den Schultern. Dann sagte sie matt: